Mein Sohn Marshall, mein Sohn Eminem - Debbie Nelson - E-Book

Mein Sohn Marshall, mein Sohn Eminem E-Book

Debbie Nelson

4,9
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"You selfish bitch, I hope you fuckin' burn in hell for this shit" ist nur eine Zeile aus Eminems weltweitem Hit Cleanin' out my closet, in dem er mit seiner Mutter Debbie Nelson abrechnet. Diesem Song nach musste er seine Kindheit in Sozialwohnungen mit einer tablettensüchtigen Mutter mit Münchhausen-Syndrom verbringen, die ihm eingeredet hatte, er sei krank. Schon seit Beginn seiner Karriere disste der Hip-Hop-Megastar seine Mutter auf der Bühne und bezeichnete sie in Interviews als "drogensüchtige Schlampe", woraufhin sie ihn 1999 erfolglos auf zehn Millionen Dollar verklagte. In Eminems Schauspieldebüt, dem stark autobiographisch geprägten Film 8 Mile, wird seine Mutter, gespielt von Kim Basinger, als alkoholkranke und sexsüchtige Rabenmutter gezeigt - damit geriet Debbie Nelson endgültig unter Beschuss. Teenager beleidigten und bespuckten sie auf offener Straße, ein Jugendlicher überfiel und beraubte sie sogar und auch die Medien ließen kein gutes Haar an ihr. Eminem hat den Kontakt zu seiner Mutter abgebrochen und verbietet ihr, seine Tochter zu sehen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 313

Bewertungen
4,9 (18 Bewertungen)
16
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Debbie Nelson (Mit Annette Witheridge)

MEIN SOHN MARSHALL, MEIN SOHN EMINEM

Die Wahrheit über mein Leben als Eminems Mutter

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Nico Laubisch

Schwarzkopf & Schwarzkopf

INHALT

Dieses Buch ist der Erinnerung an meine Brüder Ronald ›Ronnie‹ Polkingharn (1972 – 1991) und Todd Nelson Senior (1961 – 2004) gewidmet. Für meine geliebte Oma, Betty Whitaker (1912 – 2000). Und nicht zuletzt für DeShaun Holton, a.k.a. Proof (1973 – 2006). Mögen sie in Frieden ruhen.

Einleitung

Ausblick

Vor nicht allzu langer Zeit besaß ich alles, was ich mir jemals erträumt hatte: Meine liebevollen Söhne Marshall und Nathan, einen großartigen Job mit meinem eigenen Limousinen-Service und mehrere Häuser, aus denen ich ein gemütliches Heim gemacht hatte. Niemand war stolzer als ich, als Marshall sein Talent für Poesie in Rap verwandelte. Ich unterstützte ihn bei jedem einzelnen Schritt. Es war nicht leicht und Marshall wurde auch nicht über Nacht berühmt. Der »skinny white dude«, wie er sich nannte, wurde oft auf der Bühne ausgelacht und von den Hardcoremusikern und Radio-DJs aus Detroit verspottet, die er so gerne beeindrucken wollte. Irgendwann änderte er dann seinen ersten Künstlernamen M&M, der auf seine Initialen anspielte, und verwandelte sich in den vulgären Entertainer Eminem.

Anfangs spielte ich dabei Marshall zuliebe mit. Wenn ich als Mutter einen Fehler gemacht habe, dann den, dass ich jede Marotte meines ältesten Sohnes durchgehen ließ. Seinen Vater hatte er nie kennengelernt und ich versuchte alles, um ihn dafür zu entschädigen. Ich war nicht gerade begeistert, als er dann eine völlig neue Biografie für sich erfand – welche Mutter möchte schon als tablettensüchtige Alkoholikerin bekannt sein, die ihr ganzes Leben von Sozialhilfe gelebt hat?!

Ehrlich gesagt, hat es mir das Herz gebrochen. Immer mehr und immer schlimmere Lügen wurden verbreitet, und zwar nicht nur von Marshall. Einige Verwandte behaupteten, ich hätte ihn als Baby verlassen. Sein Vater beteuerte, er habe Jahre damit zugebracht, nach seinem Sohn zu suchen, aber wir seien einfach verschwunden. Nichts davon stimmte. Die Lügengeschichten wurden immer abenteuerlicher und letztlich entfremdeten Marshall und ich uns voneinander. Ich glaube, er hat unsere guten Zeiten komplett verdrängt. Dieses Buch ist mein Versuch, die Dinge wieder ins rechte Licht zu rücken.

Als Kind tobte Marshall immer in seinem Batmankostüm durch das Haus. Er hüpfte, gegen imaginäre Feinde ankämpfend, auf dem Sofa umher und landete dann in meinem Schoß. Bei uns zu Hause lag immer Musik in der Luft. Marshall sang vor dem Spiegel und füllte Notizbücher mit Gedichten und Zeichnungen von Superhelden. Im Alter von 11 bis 13 Jahren kassierte er von jüngeren Kids 25 Cent, damit sie ihm beim Breakdance zusehen durften.

Er war ganz vernarrt in seinen kleinen Bruder Nathan, der Marshall in allem kopierte. Auch Nathan liebte die Ninja-Turtles und andere Superhelden.

Marshall und ich waren uns so nah, dass Freunde und Verwandte immer behaupteten, man hätte bei uns versäumt, die Nabelschnur durchzuschneiden. Auch in den Teenagerjahren vertraute er mir und es gab keine Tabus. Wenn er entmutigt nach Hause kam, sagte ich ihm immer, dass er alles erreichen könne, was er wollte.

»Kim sagt, ich sei nichts weiter als ein Burger-Brater«, sagte er nach einem besonders schlimmen Streit mit seiner Freundin, als er noch für einen Stundenlohn von 5,50 Dollar in einem Fastfoodrestaurant arbeitete.

Wie jeder weiß, brachte Marshall seine Kritiker zum Schweigen. Er wurde einer der größten Stars der Musikszene, ausgezeichnet mit einem Oscar, neun Grammys und unzähligen MTV-Awards. Sein Marktwert geht in die Milliarden und er hat zahlreiche Verkaufsrekorde gebrochen. Nach der Veröffentlichung von 8 Mile war er der erste Künstler, der gleichzeitig mit einem Film, einem Album und einer Single an der Spitze der jeweiligen Charts stand. Ständig vergleicht man ihn mit Elvis Presley, der eine Generation vorher die Musik der Schwarzen adaptiert und sie populär gemacht hatte. Das Gleiche gelang Marshall mit Rap – allerdings zu einem unvorstellbar hohen Preis sowohl für ihn als auch für jene, die ihn liebten.

Als sein zweites Album Infinite floppte, legte er sich eine neue Identität als weißer Wohnwagen-Assi mit einer verrückten, arbeitslosen Mutter zu. Ich war vollkommen geschockt, als ich seine Texte zum ersten Mal hörte, zumal Marshall mir gegenüber nur sehr selten fluchte. Doch er versicherte mir immer wieder, dass alles nur ein großer Witz war.

»Je vulgärer ich bin, desto mehr lieben sie mich«, sagte er.

Die Eminem-Show hatte begonnen.

Viele Dinge sind über meinen Sohn gesagt worden, seit er 1999 mit The Slim Shady schlagartig berühmt wurde. George Bush, der Präsident der Vereinigten Staaten, nannte ihn »die größte Gefahr für amerikanische Kinder seit der Kinderlähmung«. Seine Texte wurden von Professoren analysiert und ich konnte es kaum fassen, als man seine Konzerte mit Versammlungen der Hitlerjugend in Verbindung brachte, weil er angeblich auf ähnliche Art und Weise zu Hass anstachelte. Gleichzeitig ist er auch mit Dichtern wie Robert Burns und Gerard Manley Hopkins verglichen worden. Je nachdem, wem man glaubt, ist er entweder ein Frauen- und Schwulenhasser oder ein Genie mit einem Talent für Ironie.

Marshall und Nathan gehörten zu den Menschen, die mich zu diesem Buch inspiriert haben, als sie begannen, mich über meine eigene Kindheit auszufragen. Sie wussten, dass ich ein schwieriges Leben hinter mir hatte und wollten mehr darüber wissen. Ich hatte ihnen verheimlicht, wie schwer es wirklich für mich gewesen war, sie aufzuziehen, weil ich nicht wollte, dass sie sich um irgendetwas Sorgen machten. Dann beichtete Marshall, er habe zeitweise so viel getrunken und Drogen genommen, dass er sich an das Jahr 1999 so gut wie gar nicht mehr erinnern konnte. Die Hits, die Konzerte und sogar seine erste Hochzeit waren nur noch verschwommene Erinnerungen.

Niemand bereitet einen Menschen auf die Kehrseiten des Berühmtseins vor. Für angehende Stars und ihre Familien gibt es keine Schulen, wo man etwas über die lauernden Gefahren lernen könnte. Marshall sagt, dass mit der Popularität jede Menge Probleme auftauchten, die er nicht erwartet hatte. Er traut niemandem mehr. Jeder will nur etwas von Eminem, dem Megastar, keiner etwas von Marshall Mathers. Für mich sind diese Leute wie kreisende Raubvögel – sie sehen Dollarzeichen und schießen im Sturzflug auf ihre Beute herab.

Mein Sohn wollte nie, dass ich gehasst werde. Er konnte es nicht glauben, als er erfuhr, dass seine Fans mich im Supermarkt bespuckten oder mir Kaugummi ins Haar klebten. Aber es sind nicht nur die Fans. Auch ihre Eltern sehen mich voller Verachtung an, weil sie nicht wissen, dass Marshall in einem kreativen Umfeld voller Liebe aufgewachsen ist. Ich behaupte nicht, dass ich eine perfekte Mutter war – davon war ich weit entfernt, wie Sie lesen werden – aber ich habe immer mein Bestes gegeben.

Ich wurde oft verleumdet. Missverstanden trifft es vielleicht besser. Wildfremde Menschen glauben, mich aufgrund von Songs wie Cleaning out my Closet (I’m Sorry Mama) zu kennen, aber die Wahrheit wissen bis heute nur Marshall und ich. Es ging nicht nur um die bitteren Vorwürfe, die mit Alkohol und Drogen zusammenhingen. Jeder glaubte, ich sei ein bösartiges, gewalttätiges Monster. Sogar Polizisten, Gerichtsdiener und Krankenhausmitarbeiter behandelten mich schlecht wegen der Gerüchte, die sie über mich gehört hatten.

In diesem Buch werde ich nicht nur erklären, wie es dazu kam, dass ich als Tabletten schluckende Alkoholikerin gebrandmarkt wurde, sondern auch die wahren Geschichten erzählen, die hinter den Songs meines Sohnes stecken. Ich werde von den glücklichen Zeiten, aber auch von den Schicksalsschlägen berichten. Zwei meiner Brüder kamen noch jung gewaltsam ums Leben. Auch ihre Geschichten möchte ich erzählen. Ich bin eine Kämpferin und werde niemals aufgeben. Meine geliebte Großmutter Nan hatte ein wunderschönes altes Lieblingssprichwort: »Die Wahrheit bleibt bestehen, auch wenn die ganze Welt brennt.« Eben darum geht es in diesem Buch.

Debbie Nelson

1. Kapitel

Bad Meets Evil – Wie alles begann

Ich war 14, als ich mich in Marshall Bruce Mathers Junior verliebte. Ich war auf einen großen alten Apfelbaum geklettert, um meinem betrunkenen Stiefvater zu entkommen, als Bruce auftauchte. Er bot meinem Stiefvater die Stirn und drohte ihm, dass er es bereuen würde, wenn er mich jemals wieder schlagen würde.

Bruce war vier Jahre älter als ich. Er war ein schlanker, knapp 1,90 Meter großer Junge mit wunderschönem, langem braunen Haar, das er immer zu einem Zopf gebunden hatte. Er spielte Schlagzeug und war ein Riesenfan von The Doors. Viele Mädchen in St. Joseph, Missouri waren in ihn verknallt. Ich war nur ein dürres, burschikoses Mädchen mit einem ziemlich schlimmen Überbiss, und eine Liebesgeschichte mit einem großen, starken Jungen wie Bruce war so ziemlich das Letzte, was ich erwartete. Aber dieser Tag veränderte alles: Er konnte mir etwas bieten, was mir bis dahin niemand hatte geben können – Schutz vor meiner Familie.

Es war vollkommen egal, was zu Hause schiefging, auf jeden Fall war es immer meine Schuld. An jenem Abend war meine Mutter auf mich losgegangen, weil ich das Geschirr nicht schnell genug abgewaschen hatte. Ich schaffte es, sie wegzuschubsen, aus dem Haus zu rennen und auf den Baum zu klettern.

Ich hörte meine Mutter von drinnen brüllen: »Finde das Balg und verprügle sie!«

Mein Stiefvater wedelte betrunken und fluchend mit einem Gürtel. Ein Apfel fiel auf den Boden und die Äste um mich herum knarrten. Ich hatte furchtbare Angst, dass sie mich entdeckten. Dann tauchte Bruce auf.

»Wenn du sie findest, wirst du ihr nicht ein Haar krümmen«, hörte ich ihn sagen. »Wenn du irgendwelche Waffen hast, schmeiß sie weg. Wenn du dich prügeln willst, schlag zu. Dann kämpfen wir Mann gegen Mann.«

Mein Stiefvater versuchte das Thema zu wechseln, indem er nach einer Zigarette fragte. Dann verschwand er wieder nach drinnen.

Es wurde gerade dunkel und ich befürchtete, dass Bruce wieder weggehen würde, also rief ich vom Baum herunter und bedankte mich dafür, dass er mich gerettet hatte.

»Was machst du denn da oben«, fragte er, überrascht, wie gut ich mich versteckt hatte.

Ich kletterte herunter und sprang das letzte Stück in seine Arme.

»Sie werden dich nie wieder anfassen«, sagte er. »Keiner wird dich jemals wieder verletzen.«

Er sah mir tief in die Augen und alle meine Ängste verflogen. Ich konnte es kaum fassen. Plötzlich gab es mit Bruce den großen Bruder, den ich mir immer gewünscht hatte. Und noch mehr: Er war der erste Mann in meinem unglücklichen Leben, der mir zeigte, dass er sich um mich sorgte.

Wenn ich nur damals schon gewusst hätte, wie sehr man sich irren kann.

Wenn ich auf meine Kindheit zurückblicke, gibt es nur wenige schöne Erinnerungen. Ich wurde 1955 auf einem Armeestützpunkt in Kansas geboren. Meine Eltern Bob und Netty Nelson stritten sich ununterbrochen. Ich war die älteste und ein totales Daddy-Girl. Wir lebten damals in Warren, Michigan. Ich erinnere mich daran, wie ich dort mit meinem Deutschen Schäferhund auf der Terrasse vor Nans Haus darauf wartete, dass mein Vater von der Arbeit zurückkehrte. Sobald ich versuchte, zur Straße zu gehen, zog mich der Hund immer wieder in die Richtung des Hauses.

Ich erinnere mich auch daran, wie ich mit meiner Mutter in einer alten Lagerhalle des staatlichen Sozialdienstes nach übrig gebliebenem Essen anstand. Nach der Geburt meiner beiden Brüder Steve und Todd war ich auch alleine dort, um Büchsenfleisch, getrocknete Bohnen, Eipulver und Milch zu holen, während meine Mutter im Auto auf mich wartete. Es konnte Stunden dauern, bis man an die Reihe kam. Manchmal halfen mir die Männer, die dort arbeiteten, die schweren Pappkisten zum Auto zu tragen. Manchmal brüllten sie aber auch nur, dass ich mich gefälligst beeilen solle. Mit elf Jahren musste ich mich auch schon um den Haushalt kümmern. Ich putzte, kochte und passte auf meine beiden Brüder auf.

Die Mutter meines Vaters, Bessie »Betty« Whitaker, die wir alle Nan nannten, war die einzige Frau in unserer zerrütteten Familie, von der ich mich geliebt fühlte. Sie war noch am ehesten so etwas wie eine Mutter für mich. Ich liebte es, die Sommer bei ihr zu verbringen, weil ich mich dann von der Hausarbeit, dem Geschrei und der Gewalt erholen konnte. Ich fühlte mich sicher, wenn ich mich an sie ankuscheln konnte.

Nans Haus in Warren war sehr ruhig. Wo ich mit meiner Familie wohnte – und wir zogen ständig um –, war immer Krach. Als meine Eltern sich trennten, war ich sieben Jahre alt. Todd war noch ein Baby und mein Vater behauptete, er sei nicht sein Sohn. Mein drei Jahre jüngerer Bruder Steve und ich blieben bei meinem Vater. Ich erinnere mich daran, wie ich versuchte, Frühstück zu machen und dabei die Pfanne in Brand setzte. Ich hatte Angst, dass ich das ganze Haus abfackeln würde. Wir gingen wieder zurück zu meiner Mutter.

Erst danach lernte meine Mutter Ron Gilpin kennen, der mein Stiefvater werden sollte. Mom benutzte mich immer als Ausrede, wenn sie sich aus dem Staub machte, um sich mit Gilpin zu treffen. Er schenkte mir immer sein Kleingeld und sagte, dass ich es nicht meinem Dad erzählen dürfe. Alles kam dann ungefähr zu der Zeit heraus, als 1964 meine Schwester Tanya geboren wurde. Dieses Mal suchte Dad sich selbst eine Freundin – sie hieß Geri – und ging für immer.

Er heiratete Geri und adoptierte ihre beiden Kinder. Eins von ihnen hieß Debbie, so wie ich. Es brach mir das Herz. Plötzlich gab es zwei Debbie Nelsons, und er zog ganz offensichtlich seine adoptierte Tochter vor. Er wendete sich von uns ab und benahm sich, als hätten wir nie existiert. Die arme Nan tat ihr Bestes, um sein Verschwinden auszugleichen. Sie versuchte auch, Treffen mit ihm zu organisieren, aber Dad kam fast nie, und wenn er doch mal auftauchte, verspottete er uns, weil wir so klein und dünn waren.

Ich zog mich in meine eigene kleine Scheinwelt zurück. Das Bild meines Vaters in seiner Air-Force-Uniform hatte ich immer dabei und erzählte meinen Schulfreunden, dass er tot sei und auf furchtbare Weise bei einem Zugunfall verstümmelt worden war. Manche Leute fanden, dass Dad aussah wie Elvis Presley, also behauptete ich, dass wir mit ihm und dem Sänger Ricky Nelson verwandt waren. Bevor er aus der Air Force ausgeschieden war, hatten wir ein Nomadenleben geführt und auf Truppenstützpunkten in Kalifornien, Italien und Deutschland gelebt. Manchmal schloss ich meine Augen und versuchte, uns wieder nach Europa zu zaubern.

Mom hatte Gilpin geheiratet, aber sie trennten sich auch immer wieder. Sie arbeitete hinter dem Tresen einer Stripbar und wirkte wie ein Magnet auf betrunkene Großmäuler. Dann passierte jedes Mal das Gleiche: Nach einer kurzen Werbungsphase folgten Alkohol und Streitereien, dann die Trennung. Es gab viele Nächte, in denen wir Kinder mit Mom auf der Veranda schliefen, um den Prügeln zu entgehen.

Der Fairness halber muss man hinzufügen, dass Mom es auch gar nicht anders kannte. Sie war erst 14, als sie meinen 19-jährigen Vater heiratete, um ihrer schrecklichen Familie zu entkommen und gerade mal 15, als sie mich bekam. Statt uns dann aber die glückliche Kindheit zu schenken, die sie nie hatte, machte sie uns das Leben zur Hölle. Aber das hielt sie nicht davon ab, noch mehr Kinder zu bekommen. Ich war 12, als sie wieder mit Gilpin zusammenkam und Betti Renee geboren wurde. Mom, die man heute »Big Betty« nennt, gab sich keine Mühe zu verheimlichen, dass sie die kleine Betti vorzog. Der Rest von uns war für Mom und Dad dumm und unerwünscht. Ist es ein Wunder, dass ich mit dem Gefühl aufwuchs, ich sei wertlos?

Im Alter von zwölf Jahren riss ich aus, nachdem mein Stiefvater mich angegriffen hatte. Ich war im Badezimmer im oberen Stockwerk gewesen, als er hereinplatzte, mich packte und versuchte, mir die Sachen vom Leib zu reißen.

Sein Atem stank nach Alkohol, und sein Gesicht war ganz entstellt vor Gier. Er beugte sich über mich und bewegte sich betrunken hin und her, während ich mir die Seele aus dem Leib schrie und meinen Brüdern zurief, dass sie die Polizei rufen sollten. Der damals neunjährige Steve und der sechsjährige Todd kamen ins Bad gerannt und versuchten ihn mit Tritten von mir herunterzustoßen, aber er war zu groß und zu stark für sie. Dann kam die Polizei. Als sie meinen Stiefvater in Handschellen abführten, war ich naiv genug zu glauben, dass ich ihn nie wieder sehen würde. Doch Mom wollte mir nicht glauben. Nach einer Nacht im Gefängnis kehrte er wieder zurück und ich verschwand. Ich hatte Angst, dass er mich umbringen würde, wenn er mich das nächste Mal in die Finger bekäme.

Ich wurde bei meinen besten Freundinnen Theresa und Bonnie aufgenommen. Ihre Mütter brachten mir bei, was Liebe und Familie bedeuten. Sie wollten mich adoptieren und gaben mir das Gefühl, ein echter Mensch zu sein.

Das Problem war, dass ich meine kleinen Brüder vermisste. Auch für sie war es zu Hause schrecklich, und sie sagten, dass es ohne mich unerträglich wurde. Wegzulaufen wurde trotzdem zu einer Angewohnheit für mich: Ich verschwand regelmäßig für ein paar Tage, bis Steve und Todd mich anbettelten, wieder nach Hause zu kommen. Wenn ich dann zurückkehrte, war eine Woche lang alles in Ordnung und dann ging das Gezanke wieder von vorne los.

Die Schule sorgte dafür, dass ich nicht den Verstand verlor, vor allem als Theresa und ich Cheerleader wurden. Ihre Mutter nähte unsere Kostüme, und zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, cool zu sein. Bonnie war ein paar Jahre älter und führte uns in die Welt der Musik ein. Sie spielte Gitarre. Wir vergötterten Janis Joplin und Jimi Hendrix. Wir waren Hippiemädchen und unserer Meinung nach sehr viel reifer, als unser Alter vermuten ließ.

Edna und Charles Schwartz lebten ganz in der Nähe. Sie hatten keine Kinder und kümmerten sich deshalb um ihren Neffen Bruce. Seine Familie lebte eigentlich in North Dakota, aber er besuchte sie häufig. Bruce wohnte bei ihnen, hatte aber keine Arbeit. Einige Monate später fand er einen Job in der Holzfabrik. Eigentlich war Bonnie verknallt in ihn und ich blieb schüchtern im Hintergrund, während sie alles versuchte, um ihm näherzukommen.

Wir verbrachten Stunden im Park und hörten Musik. Bruce, der behauptete, Schlagzeuger zu sein, sprach davon, eine Band gründen zu wollen. Er war auch nett zu meinen Brüdern, wenn wir ihm bei Baseballspielen begegneten. Ich fühlte mich wirklich wohl in seiner Nähe, was aber nichts mit sexueller Anziehung zu tun hatte. Er hörte mir zu, gab mir Ratschläge und brachte mich zum Lachen.

Im Vergleich zu allen anderen Jungs, die ich kannte, war Bruce anspruchsvoller, kultivierter und reifer. Was die Liebe betraf, schien er mir jedoch nicht in meiner Liga zu spielen. Nachdem er mich dann aber vor meinem Stiefvater gerettet hatte, begannen wir, über unsere Wünsche und Zukunftsträume zu sprechen. Ich erzählte ihm, dass ich jede Nacht betete, ein besseres Leben zu haben als meine Mutter. Ich wünschte mir nichts weiter, als einen Ehemann, der mich liebt, ein schönes Zuhause und viele Kinder. Bruce ging es ähnlich, und während wir in der Dunkelheit zusammensaßen und über die Zukunft redeten, war ich davon überzeugt, dass alle meine Träume in Erfüllung gehen würden.

2. Kapitel

Crazy In Love – Marshalls Vater

In Missouri kann man mit 15 heiraten, wenn man die Erlaubnis der Eltern hat. Eines Nachts, nach einem besonders schlimmen Streit zu Hause, sagte ich Bruce, dass ich wieder wegrennen wollte. Ich hatte genug vom Babysitten, meinem betrunkenen Stiefvater und den ewigen Auseinandersetzungen mit meiner Mutter. Zu meiner Überraschung machte er mir einen Heiratsantrag, den ich natürlich annahm. Ich war verliebt. Am Anfang weigerte sich Mom, mir die Erlaubnis zu geben.

Früher waren wir oft in Jonas’ Coffee House und hörten Musik. Ich sah bewundernd dabei zu, wie Bruce mit Stiften auf dem Tisch trommelte und so tat, als wäre er ein Schlagzeuger. Er war Heavy-Metal-Fan und ließ seine Haare fliegen, während er sich in einen Schlagzeugrausch trommelte. Er hatte die hohen Wangenknochen eines Blackfoot-Indianers und behauptete, dass die Mathers-Familie von Hexen abstamme.

Er neckte mich immer und sagte: »Du solltest vorsichtig sein, wenn du schlafen gehst. Ich verwandle mich nachts in einen Vampir.« Dann zeigte er mir immer seine Zähne. Es war nur ein Witz, aber ich hatte solche Angst vor Gewalt, dass ich mich duckte. Bruce legte dann seine starken Arme um mich und sagte mir, ich solle mir keine Sorgen machen.

Bruce hatte zwei Cousins, die beide auf mich aufpassten. Dann gab es noch Theresa, Bonnie und unsere Freunde. Wir waren eine große, fröhliche Gruppe, die viele Stunden in einem kleinen Park verbrachte. Irgendjemand hatte immer eine Gitarre dabei und wir saßen oft singend und redend im Kreis, bis dann gegen Mitternacht die Polizei auftauchte und uns verscheuchte. In ihren Augen waren wir nur eine nutzlose Hippiemeute.

Natürlich war auch nicht alles perfekt. Wenn es zum Beispiel um Sex ging, hatten Bruce und ich unterschiedliche Meinungen. Er wollte sofort, ich hingegen hatte vor, bis zu unserer Hochzeit zu warten. Obwohl ich meine Geschwister wie eine Mutter umsorgte und das Gefühl hatte, bereits ein Leben als geschundene Hausfrau hinter mir zu haben, wusste ich fast nichts darüber, wie man schwanger wird.

Meine katholische Mutter hatte mir schon früh eingetrichtert, dass Sex etwas Schmutziges ist. Als ich fast 13 war und meine erste Regel bekam, sagte sie: »Und jetzt werden die Jungs auftauchen, und bevor du dich versiehst, bist du schwanger.« Von Blumen und Bienen erzählte sie mir nie etwas, was dann freundlicherweise Theresa übernahm, die mich davor warnte, dass man schon schwanger werden konnte, wenn man von einem Jungen umarmt wird. Deshalb hatte ich große Angst, schwanger zu sein, nachdem ein Junge namens Mark versucht hatte, mit mir im Autokino zu kuscheln. Ich stieß ihn weg, ging nach Hause, füllte mein Schminkköfferchen mit Steinen und ließ es in der Hoffnung auf eine Fehlgeburt immer wieder auf meinen Bauch fallen. Als ich die Geschichte kurz darauf Theresa erzählte, lachte sie sich kaputt und nahm mich mit nach Hause, wo ich dann ein richtiges Gespräch mit ihrer Mutter hatte.

Bruce war mein erster Freund. Er war erfahren, aber es machte mir Angst, wenn er mich berührte. Wir küssten uns immer, aber jedes Mal, wenn er seine Hand unter meine Kleider schob, stieß ich ihn weg. Vielleicht war es nicht zu vermeiden, dass er woanders nach Sex suchte. Es gab Gerüchte, dass er mich betrog, aber er stritt es ab. Ich wollte ihm glauben. Ich wünschte mir einfach so sehr, dass alles zwischen uns stimmte. Also verschloss ich die Augen, dachte an unsere gemeinsame Zukunft und schenkte ihm meine Jungfräulichkeit.

Aber es war noch nicht genug. Einige Monate später telefonierte ich mit Bruce, als er gerade Besuch von einem Mädchen bekam, das allen als Flittchen bekannt war. Sie war in ihn verschossen und bemühte sich auch nicht, es vor mir zu verstecken. Ich schrie Bruce an, er solle sie nicht hereinlassen, aber er behauptete, dass sie nur befreundet seien und sagte, ich solle nicht so eifersüchtig sein. Ich knallte den Hörer auf und rannte zu seinem Haus. Sie hörte mich schreien und flüchtete über die Hintertreppe. Ich sagte Bruce ins Gesicht, dass ich ihn nicht heiraten werde und verschwand. Er rannte mir hinterher, packte mich an den Armen und flehte mich an, ich möge ihm glauben, dass nichts passiert sei. Ich wollte ihm wirklich gerne glauben, aber die Komplexe meiner Kindheit waren wieder da – ich fühlte mich hässlich und unbedeutend. Dass er später zugab, tatsächlich einmal mit ihr geschlafen zu haben, machte es nicht wirklich besser. Er behauptete, dass es ihm nichts bedeutet habe, fiel wieder auf die Knie und flehte mich an, ihn trotzdem zu heiraten.

Endlich stimmte Mom dann einer Heirat zu. Ich hatte die Unterlagen im Krankenhaus abgegeben, als sie krank war. Als ich die Dokumente einige Stunden später abholte, machte ich mir nicht die Mühe, die Unterschrift zu kontrollieren. Ohne zu wissen, dass meine Tante Martha die Unterschrift meiner Mutter gefälscht hatte, stürzte ich mich in die Hochzeitsvorbereitungen.

Ich hatte noch über Jahre hinweg ein schlechtes Gewissen, was vorehelichen Sex betraf, aber vom katholischen Glauben war ich schon abgekommen, als Mom Gilpin kennenlernte. Sie hatte auch die Kirche als Vorwand benutzt, um sich mit ihm zu treffen. Ich selbst probierte dann verschiedene Glaubensrichtungen aus und spielte sogar eine Weile mit dem Gedanken, mich den Zeugen Jehovas anzuschließen. Im Sommer 1970 war ich in der Assembly of God Church im Untergeschoss der St. Joseph’s East Hills Shopping Mall. Mir zuliebe begleitete Bruce mich, allerdings nur einmal. Ich entschied, dass die unterirdische Kapelle der perfekte Ort für unsere kleine Hochzeit war.

Wir heirateten am 20. September 1970. Ich trug eine rosa Samtweste und darunter ein cremefarbenes Kleid, das bis knapp über die Knie ging. Bruce hatte tief in die Tasche gegriffen und trug einen schicken Maßanzug. Sogar Dad war gekommen, um mich zum Altar zu führen und auch Mom, die uns endlich ihren Segen gegeben hatte. Meine ganze Familie und alle meine Freunde waren anwesend, unter anderem auch Bruce’ Vater Marshall und seine Mutter Rae. Ich war die glücklichste Braut, die man sich vorstellen kann, auch wenn die ganze Zeremonie illegal war, weil die Unterschrift auf der Einverständniserklärung nicht von meiner Mutter, sondern von meiner Tante stammte, was ich damals allerdings noch nicht wusste

Eine Hochzeitsreise konnten wir uns nicht leisten. Davon abgesehen war ich noch in der Schule und Bruce konnte nicht einfach Urlaub von seinem Job in der Holzfabrik nehmen. Ein neues Zuhause für uns zu finden, war auch nicht so leicht. Leute mit langen Haaren wurden damals meist für Faulenzer gehalten, weshalb Bruce seinen Pferdeschwanz immer unter einem Basecap versteckte.

Irgendwann fanden wir dann eine Zweizimmerwohnung in einem Zweifamilienhaus in der South 11th Street und ich versuchte, sie in ein echtes Heim zu verwandeln. Mein Leben bestand vor allem darin, Bruce glücklich zu machen. Meine Brüder und Schwestern verbrachten immer noch viel Zeit mit mir. Bruce war aber genervt, wenn sie tagsüber vorbeikamen und er sich nach seiner Nachtschicht ausschlafen wollte, also ging ich oft mit ihnen in den Park. Dann kochte ich uns allen ein großes Abendessen, bevor ich die Kids nach Hause schickte und Bruce zur Arbeit ging. Manchmal brachte ich Bruce belegte Brote in die Fabrik und half ihm bei der Arbeit. Ich liebte es einfach, Zeit mit ihm zu verbringen.

An den Wochenenden fuhren Bruce und ich oft gemeinsam mit unseren Hippiefreunden auf Musikfestivals oder Volksfeste. Absurd war, dass ich alt genug war um zu heiraten, aber nicht trinken durfte. Es war allerdings auch egal, weil ich Alkohol sowieso nicht ausstehen konnte. Er hatte meine Familie zerstört. Als Bruce und ich uns dann einen alten Chevy Camaro kauften, den wir später gegen einen Volkswagen eintauschten, war ich immer der Fahrer. Es machte uns nichts aus, zwei Stunden zu fahren, um Volksfeste zu besuchen. Einige aus unserer Clique nahmen LSD und rauchten Gras. Mich interessierte weder das eine noch das andere. Ich hatte zwar mit 13 angefangen zu rauchen, aber das war mein einziges Laster, auch wenn ich es ab und zu schaffte aufzuhören.

Eines Tages auf einer Kirmes bildete Bruce sich ein, dass wir von der Polizei verfolgt wurden. Ich sah mich sorgfältig um, konnte aber keine Beamten entdecken. Er schob mich in den »Tunnel of Love«, und als ich mich in das Boot setzte, wickelte er etwas aus einer Plastikfolie.

»Schnell, schluck das«, sagte er und drückte mir ein dickes Stück Löschpapier in die Hand. Ich hatte keine Ahnung, was los war, aber er bestand so hartnäckig darauf, dass ich es schluckte.

Das Boot fuhr in einen düsteren Tunnel. Obwohl es sehr dunkel war, sah ich plötzlich, wie sich Schlangen um meine Füße wanden. Ich schloss meine Augen – anscheinend hatte jemand den Tunnel of Love mit der Geisterbahn verwechselt. Ich konnte mittlerweile die Schlangen am ganzen Leib spüren. Ich öffnete die Augen und flehte Bruce an, mich von dort wegzubringen. Er lachte wie ein Verrückter und hatte sich in ein Monster mit Reißzähnen und Hörnern verwandelt.

Irgendwie schaffte er es, mich aus dem Boot zu bekommen. Als wir seine Cousins wiedertrafen, hörte ich ihn sagen: »Sie hat gerade eine Monsterdosis Orange Barrel Sunshine genommen.«

Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach und verstand nicht, warum er mich nicht in ein Krankenhaus bringen wollte. Ich wollte rennen, aber meine Beine gehorchten mir nicht. Schon Gehen war unmöglich. Der Boden kam mir immer wieder entgegen. Als es auf dem Weg nach Hause zu regnen begann, schimmerte jeder Tropfen in einer anderen Farbe. Bruce sagte immer wieder, dass ich essen müsste, um langsam wieder runterzukommen. Aber jedes Mal, wenn ich versuchte, etwas zu mir zu nehmen, wuchsen dem Essen Flügel und es flog vom Teller. Ich blieb drei Tage hintereinander wach. Ich glaubte, dass das Regenbogenfeuerwerk vor meinem Fenster nie wieder aufhören würde.

Endlich sagte Bruce mir, dass das Löschblatt mit LSD getränkt worden war. Er beteuerte, dass er es nur verkaufte, um Geld für uns zu besorgen. Außerdem behauptete er, dass er mich nicht gebeten hatte, das Löschblatt zu schlucken, sondern es in meinem Mund zu verstecken. Ich konnte nicht fassen, dass mein Ehemann mir so etwas antun konnte. Er hätte damit mein ganzes Leben zerstören können, aber ich vergab ihm – wie immer.

Dann schmiss ich die Schule. Das war wirklich dumm, weil ich eigentlich ziemlich klug war und meinen Mitschülern oft bei den Hausaufgaben half. Andererseits schien es für eine 16-jährige Ehefrau Sinn zu machen, sich auf den Nestbau zu konzentrieren.

Als Bruce und ich unseren ersten Hochzeitstag mit einem selbst zubereiteten, romantischen Festmahl feierten, dankte ich ihm dafür, dass er mich glücklich machte. Meine furchtbaren Kindheitserlebnisse gehörten der Vergangenheit an.

Das einzige Problem war, dass ich nicht schwanger wurde. Wir konnten es kaum erwarten, Eltern zu werden. Ungefähr alle zwei Monate rannte ich zum Arzt, aber es wollte einfach nicht passieren. Ich war sehr klein und schmächtig – nur 1,58 Meter groß und immer unter 45 Kilogramm. Der Arzt hielt mir andauernd Vorträge darüber, dass ich zu dünn sei, aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich hatte einen gesunden Appetit, war aber von Hause aus sehr schlank. Der Arzt schickte mich nach Hause und empfahl mir, ein wenig zuzunehmen und zu lernen, wie man sich entspannt. Mit ein bisschen Geduld würde es dann auch mit der Schwangerschaft klappen.

In der Zwischenzeit ließ Mom sich von Gilpin scheiden, heiratete Ronald Polkingharn und erwartete ihr sechstes Kind.

Für Bruce war es vermutlich kein leichter Einstieg ins Eheleben. Seine eigenen Eltern liebten ihn ohne Vorbehalte. Er hatte nur eine Schwester, die beim Militär diente und in Japan stationiert war. Einer Familie wie meiner war er vorher nie begegnet.

Er versprach mir, dass unsere Kinder nie so leiden würden wie ich. Ich betete also jede Nacht zu Gott, dass ich ein Kind bekomme. Im Januar 1972 wurden diese Gebete dann erhört. Nach 16 Monaten Ehe war ich endlich schwanger.

3. Kapitel

Remember – Eine schwere Geburt

Ich genoss meine Schwangerschaft sehr. Ich war wirklich stolz auf mein kleines Bäuchlein und streckte es ganz bewusst heraus. Die ganze Welt sollte wissen, dass ich schwanger war. Oft streichelte ich meinen Bauch und sang dabei. Baby Love und Love Child von Diana Ross and the Supremes waren besonders passend. Motown-Musik stammte ursprünglich aus Detroit, der Stadt, die nur wenige Kilometer entfernt von Nans Haus in Warren liegt, wo ich die einzigen glücklichen Tage meiner Kindheit verlebt hatte.

Nan war die Ahnenforscherin in unserer Familie. Sie war stolz auf ihre Cherokee-Wurzeln und hatte Kisten voller alter Dokumente und Fotos. Ich wollte jetzt alles über unsere Vorfahren wissen, damit ich es eines Tages meinem eigenen Kind erzählen könnte. Nan konnte die Familiengeschichte bis zu Betsy Webb zurückverfolgen, die während des brutalen Winters 1838/39 aus dem Deep South mit 17.000 Cherokees in Richtung Westen nach Oklahoma zwangsumgesiedelt worden war. Während der Reise, in die Geschichte eingegangen als »Pfad der Tränen«, kamen mehr als 4000 von ihnen ums Leben. Nan war stolz auf Betsy Webb, von der sie sagte, dass sie in vielen Geschichtsbüchern zu finden ist. Das Gleiche gilt für Washington Harris, einen weiteren Vorfahren unserer Familie. Viele Jahre später sollten sich Nans Nachforschungen als unbezahlbar herausstellen, als ich während einer Auseinandersetzung mit dem Kinderschutzbund auf unsere Verwandtschaft mit dem Stamm der Echota in Alabama zurückgreifen konnte. Aber dazu später mehr.

Mom konnte ihre Familie bis nach Großbritannien zurückverfolgen. Ihre Urgroßmutter Alisa Macallister kam 1870 im Alter von 23 Jahren aus Schottland nach New York. Von ihr erbte meine Urgroßmutter Martha Mount die schottische Liebe für Whisky. Sie ängstigte uns Kinder zu Tode, indem sie ihren Mann mit einem Schürhaken jagte. Den Schnaps ließ sie sich von Taxifahrern holen. Es gab einen niemals endenden Strom von Taxifahrern, die Flaschen an ihrer Haustür ablieferten.

Zu Großvater und den anderen Kindern konnte sie wirklich gemein sein, aber mich bevorzugte sie, weil ich an ihrem Geburtstag auf die Welt gekommen war.

Bruce, der nur wenige Kilometer diesseits der kanadischen Grenze in Fort Fairfield, Maine geboren wurde, hatte auch Blackfoot-Vorfahren. Die Mathers stammten wahrscheinlich aus Schottland, obwohl er der Meinung war, dass seine Vorfahren aus dem ländlichen Wales kamen. Er wuchs mit Geschichten aus einem Buch über schwarze Kunst auf, was ihm zufolge die Verbindung zwischen der Mathers-Familie und Hexerei bestätigte. Wir fanden auch einen unheimlichen britischen Okkultisten namens Samuel Liddel MacGregor Mathers, der den Orden »Golden Dawn« gegründet hatte und ein früher Mentor des hedonistischen Magiers Aleister Crowley gewesen war. Bruce war begeistert. Er war ein großer Heavy-Metal-Fan, und Jimmy Page, Sänger von Led Zeppelin, lebte in Crowleys Villa in Schottland.

Wenn Bruce seine Zähne fletschte und so tat, als sei er ein Hexenmeister, bekam ich große Angst. Auch meine Brüder, die viel Zeit bei uns verbrachten, erschreckte er damit. Ich hatte nichts dagegen, ihnen Essen zuzubereiten und bei den Hausaufgaben zu helfen, aber Bruce nervte es immer mehr – vor allem, wenn er sich nach seiner Nachtschicht ausschlafen wollte. Meistens ließ er seinen Ärger an Todd aus, der schon ziemlich groß war und sehr tollpatschig sein konnte. Ständig brüllte Bruce ihn an, er möge uns in Ruhe lassen.

Bruce hatte ein ziemlich aufbrausendes Temperament, aber bei mir hatte er sich immer unter Kontrolle gehabt. Das änderte sich im siebten Monat meiner Schwangerschaft. Ich war gerade damit beschäftigt, das Kinderzimmer zu renovieren. Der Arzt hatte mir gesagt, dass ich ein Mädchen erwartete, und ich wollte, dass alles perfekt für die große Ankunft vorbereitet war. Ich rief nach Bruce, der mir helfen sollte, die Farbeimer wieder nach unten zu tragen. Aus dem Nichts fing er an, mich anzubrüllen und zu beleidigen.

»Ich will kein Scheiß-Kind«, schrie er. »Was wird denn mit mir, du egoistische Kuh?«

Er kam die Treppe heraufgestürmt, baute sich vor mir auf und fragte, warum er und seine Bedürfnisse ignoriert werden. Ich sagte ihm, er solle aufhören und versuchte, an ihm vorbeizugehen. Er schubste mich. Ich geriet aus dem Gleichgewicht und stürzte die Treppe hinunter, wo ich hart auf die Seite fiel. Er war sofort bei mir und entschuldigte sich.

Er war vorher nie gewalttätig, und ich wollte nicht glauben, dass er es nun wurde. Ich wollte glauben, dass es nur ein Unfall war, aber ich verkraftete nicht, dass er mich verletzt hatte und vielleicht sogar das Baby, das wir uns so sehr gewünscht hatten. In jener Nacht schlief ich weinend ein und betete zu Gott, dass dem Baby nichts passiert war.

Dann war da noch der Sex. Bruce wollte zwei oder dreimal am Tag Liebe machen. Als der Geburtstermin immer näher rückte, konnte ich seine Bedürfnisse nicht mehr befriedigen. Er verschwand zu seltsamen Zeiten. Ich war überzeugt davon, dass er eine Affäre hatte, obwohl er es immer wieder abstritt.

Während meiner Schwangerschaft kam es immer wieder zu Menstruationsblutungen und ich befürchtete, dass ich das Kind verlieren würde. Ich ging regelmäßig zum Arzt und verlangte, den Herzschlag des Kindes zu hören. Am 13. Oktober platzte meine Fruchtblase. Bruce’ Tante Edna brachte mich schnell zum St. Joseph’s Sister’s Hospital, einem alten katholischen Krankenhaus am Cathedral Hill. Ich hatte leichte Wehen, die immer wiederkehrten und bis zum folgenden Tag andauerten.

Nach einer Weile begannen dann die Geburtswehen, die für die nächsten 72 Stunden anhalten sollten. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass ich eine Blutvergiftung hatte. Ich erinnere mich daran, wie ich, die Hand einer Krankenschwester haltend, die Punkte an der Decke zählte, um mich von den Wehen abzulenken. Da Kaiserschnitte damals von den Ärzten nur sehr selten durchgeführt wurden, bot man mir stattdessen nach sechzig Stunden Wehen lediglich einen kleinen Pappbecher mit Schmerzmittel an.

Ich hörte, wie eine Krankenschwester mich anschrie: »Ihr werdet beide sterben, wenn du nicht presst.« Ich erinnere mich auch daran, dass jemand sagte, es sei ein Junge. Als es vorbei war, wurde ich ohnmächtig.

Ich bekam einen Anfall und fiel im Aufwachraum in ein Koma. Es dauerte einige Tage, bis das Geräusch einer läutenden Glocke mich wieder zurückholte. Ganz langsam erkannte ich die Gestalt eines schwarz gekleideten Mannes, der eine Glocke schwang. Es war ein Priester, der mir offensichtlich gerade die Sterbesakramente erteilte. Als ich aufwachte, griff eine Krankenschwester nach meinem Arm und überprüfte meinen Puls. Allmählich wurden mir der Lärm und die Aufregung bewusst, die um mich herum herrschten. Am liebsten wäre ich sofort wieder eingeschlafen, aber dann brachte jemand mein Baby herein. Ich hatte einen kleinen Jungen!

Ich erkannte die Gesichter meiner Tanten, meiner Mutter und meiner Brüder Steven und Todd. Alle weinten und Dr. Claude Dumont saß mit einer unangezündeten Zigarre im Mundwinkel am Fußende des Bettes – damals war das Rauchen in Krankenhäusern noch erlaubt.

»Sie haben allen einen ziemlichen Schreck eingejagt«, sagte der Arzt. »Wir haben nicht geglaubt, dass Sie es schaffen würden.«

Bruce war nicht dabei, als ich das Bewusstsein wiedererlangte. Wie ich später erfuhr, feierte er die Geburt des Babys mit einer meiner Freundinnen, mit der er eine Affäre hatte. Aber alles, was ich mir in jenem Moment wünschte, war, mein Baby zu sehen.