Mein Wabi Sabi-Garten - Annette Lepple - E-Book

Mein Wabi Sabi-Garten E-Book

Annette Lepple

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Beschreibung

Wabi Sabi kommt ursprünglich aus Japan und wird in diesem Buch zum ersten Mal auf den Garten übertragen. Das Ergebnis ist der perfekte unperfekte Garten, in dem man endlich findet, was man lange gesucht hat: Zufriedenheit, Achtsamkeit und Heiterkeit. Die für Ihre Gartengestaltung passenden Wabi Sabi-Elemente und -Materialien wie Wasser, Holz und Stein werden ausführlich vorgestellt. Lernen Sie typische Wabi Sabi-Pflanzen für einen naturhaften, einfachen und ästhetischen Pflanzstil kennen: versamende Pflanzen formen als streunende Vagabunden den Zauber des Zufalls im Garten, Stauden und Gräser sind selbst im Tod noch attraktiv und Bäume und Sträucher glänzen im Wandel der Jahreszeiten.

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Seitenzahl: 189

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Annette Lepple

MEINWABI SABIGARTEN

respektvoll gestalten, achtsam genießen

INHALT

Was ist Wabi Sabi?

Ursprung des ästhetischen Konzepts

Wabi Sabi als holistisches Prinzip

Bedeutung von Wabi Sabi heute

Wabi Sabi im Garten

Was bedeutet von Wabi Sabi inspiriertes Gärtnern?

Natürliche Anmut

Subtile Harmonie

Ein Plädoyer für die Tierwelt

Nachhaltige Praxis

Eine gesunde Basis

Zauber des Wandels

Elemente von Wabi Sabi

Wasser ist Leben

Gezähmte Wildnis

Asymmetrie – Perfekt ungleich

Kunstvoll – Handwerk schätzen

Upcycling – Alten Dingen Leben einhauchen

Natürlich – Gestalten mit Naturmaterial

Dezent und heiter – der Pflanzstil

Wabi Sabi-Pflanzen

Reiz des Zufalls – Ein- und zweijährige Vagabunden

Schön im Tod – Glanzvoller Abgang von Stauden und Gräsern

Stets im Wandel – Zauber der Jahreszeiten mit Gehölzen

Pittoresk – Malerische Wuchsformen

Service

Bezugsquellen

Lesetipps

Nachwort & Dank

Über die Autorin

WAS IST WABI SABI?

In einer Zeit, in der alles lauter, schriller und kurzlebiger wird und sich immer mehr Menschen nach Ruhe und wahren Werten sehnen, öffnet sich im Osten ein Türchen der Hoffnung: Wabi Sabi tritt herein. Still und bescheiden bietet es uns den Schlüssel zum Glück. Was sich hinter dieser japanischen Vorstellung verbirgt und was es mit der perfekten Unperfektion auf sich hat, erfahren Sie in diesem Kapitel.

URSPRUNGdes ästhetischen Konzepts

Das erste Mal stieß ich auf Wabi Sabi im Rahmen meiner Tätigkeit als Trendforscherin für ein bekanntes Gartenmagazin. Nachdem ich mich festgelesen hatte, erkannte ich schnell zwei Dinge. Wabi Sabi ist mehr als ein Trend. Es ist sogar eine Beleidigung, es als solchen abzutun, denn Wabi Sabi birgt den Schlüssel zum Glück. Zudem bemerkte ich mit Erstaunen und einer gewissen Zufriedenheit, dass ich auf einmal „im Trend liege“ und Wabi Sabi in manchen Bereichen schon viele Jahre praktiziere, ohne mir dessen bewusst zu sein. Zur Belustigung der Nachbarn mähe ich unseren Rasen jedes Frühjahr in kühnen Kurven, um die blühenden Inseln mit Gänseblümchen, Löwenzahn und Günsel – allgemein als „Unkraut“ verschrien – zu schonen. Laufe ich morgens barfuß mit der ersten Tasse Tee durch den Garten, freue ich mich mit den Insekten an den lieblichen Blüten. Es ist eine Art Meditation, die mich für den Tag wappnet. Positive Energien fließen durch meinen Körper und Geist, und nichts – oder wenig – kann mir danach etwas anhaben. Was für Außenstehende chaotisch anmutet, hat durchaus seinen Sinn, denn ich huldige Wabi Sabi!

Wabi Sabi steht simpel ausgedrückt für die perfekte Unvollkommenheit. Unkraut gibt es bei Wabi Sabi nicht! Natürlich steckt wesentlich mehr dahinter, als Wildkräuter im Rasen zu tolerieren. Aber nun hatte ich einen Namen für meine Lebensphilosophie – was mich so faszinierte, dass ich mehr darüber wissen wollte.

Wabi Sabi (japanisch ) ist ein ästhetisches Konzept, eine Weltanschauung, die eng mit dem Zen-Buddhismus verbunden ist. Sieben ästhetische Prinzipien unterstützen die Menschen beim Streben nach Wabi Sabi:

–kanso wörtlich „einfach, schlicht“

–yūgen wörtlich „unergründlich, verhüllt“, die verborgene Wesenheit

–shizen natürlich, wörtlich „das von selbst so Seiende“ – seijaku Stille, Ruhe

–datsuzoku frei von Konventionen

–fukinsei Asymmetrie, Unregelmäßigkeit

–kōko verwittert.

Alle diese Eigenschaften finden wir in der Natur, aber sie beschreiben auch erstrebenswerte, menschliche Charakterzüge. Ästhetische Eigenschaften sind in Japan eng verflochten mit ethischen Werten.

Seinen Ursprung hat Wabi Sabi nicht zuletzt auch in der japanischen Teezeremonie. Dabei geht es um mehr als nur eine Tasse Tee. Japanische und auch chinesische Teezeremonien sind die Crème de la Crème aller rituellen Teezubereitungen und Gesamtkunstwerke, bei denen es hauptsächlich um Ästhetik geht.

Am Ende steht zwar die wohlverdiente Tasse Tee, aber der Weg dahin ist so wichtig wie der Genuss derselben! Interessanterweise erfreuen sich Teezeremonien mittlerweile auch in der westlichen Welt zunehmender Beliebtheit, was nicht zuletzt an unserer schnelllebigen, hektischen Welt und dem Bedürfnis nach Verlangsamung liegt, aber darauf gehe ich später intensiver ein.

Zwei Männer beeinflussten das ästhetische und philosophische Konzept der Teezeremonie ganz besonders: der Zen-Mönch Murata Shukō (1423–1502, auch bekannt als Jukō) und der Zen-Laie Sen no Rikyū (1522–1591). Zu ihrer Zeit war der Genuss von Tee eine kulturelle Aktivität der Oberklasse und wurde entsprechend aufwendig mit kostbaren Utensilien und oft bei Vollmond zelebriert, um die Besonderheit des Anlasses hervorzuheben. Die Mönche steuerten dieser Entwicklung bewusst mit schlichtem Zubehör entgegen und ermutigten, beim Teetrinken auch einen bedeckten Himmel oder den Halbmond wertzuschätzen. Sie zählen zu den Wegbereitern von wabi-cha, einer Teezeremonie, die sich durch Schlichtheit auszeichnet. Von da an dominierte Minimalismus die Zeremonie und bereitete den Weg für Wabi Sabi.

Wabi Sabiist eine Weltanschauung, die sich aus dem Zen-Buddhismus und der Teezeremonie entwickelte und auf ästhetischen und philosophischen Prinzipien basiert. Das einst aufwendige, der Oberklasse vorbehaltene Teezeremoniell wurde mit der Zeit schlichter und zugänglich für alle. Es ist geprägt von Ruhe, Respekt, Reinheit und Harmonie.

Die Teilnahme an einer japanischen Teezeremonie ist etwas ganz Besonderes. Eine feierliche Stimmung liegt im Raum. Eine tiefe, samtene Stille erfüllt einen vom Kopf bis in die Zehenspitzen. Die Atmung wird ruhig und entspannt. Auf eine Art löst man sich von der Gegenwart, um sie intensiver und heiterer zu erleben. Die Zeremonie ist geprägt von Ruhe, Respekt, Reinheit und Harmonie. Es herrscht Ruhe im Sinne von heiterer Gelassenheit. Diese erlangt man, wenn man die Dinge akzeptiert, wie sie sind, und den Kampf gegen die Windmühlen aufgibt.

Respekt bedeutet, andere so zu akzeptieren, wie sie sind. Es bedeutet Rücksichtnahme und eine freundliche Gesinnung. Mitgefühl kann nur entstehen, wenn man mit offenen Augen durch die Welt geht und sich ab und zu in andere hineinversetzt. Bescheidenheit, eine freundliche Geste, ein Lächeln im Alltag machen keine Mühe und werden in den meisten Fällen genauso erwidert.

Respekt ist in der japanischen Gesellschaft tief verankert. Der tägliche Umgang ist ruhig und respektvoll; er ruft uns unwillkürlich die Wichtigkeit von Respekt in Erinnerung. Ist es nicht ganz essenziell, andere mit Respekt zu behandeln? Sollte es nicht selbstverständlich sein? Und wäre die Welt nicht ein besserer Ort, wenn wir uns gegenseitig mit mehr Respekt behandeln würden? Das bringt uns zu der Frage, wie wir ihn wieder zum Teil unserer Werte machen können. Respekt ist kein Privileg des Ostens – er war früher auch bei uns zu finden, bleibt heutzutage aber oft auf der Strecke.

Es ist wichtig und wohltuend, sich von Zeit zu Zeit von vertrauten Gegebenheiten zu distanzieren und sich auf einen anderen Bewusstseinszustand einzulassen.

Es macht keinen Sinn, sich vor negativen Reaktionen oder Ablehnung zu fürchten. Selbst wenn man unvermutet damit konfrontiert wird, besteht die Möglichkeit, dass sich der andere später Gedanken macht und künftig anders reagiert, wenn man freundlich bleibt. Die Welt wird immer unmenschlicher, aber das heißt nicht, dass es zu spät ist, um diese Entwicklung aufzuhalten.

Der Aspekt der Reinheit bezieht sich auf die Sauberkeit des Ortes und der Teilnehmenden. Bevor man den Raum betritt, in dem die Teezeremonie stattfindet, wäscht man sich am Eingang die Hände und zieht die Schuhe aus. In traditionelle Gebäude muss man gar in demütiger Haltung hineinkriechen. Man lässt den Lärm und Schmutz des Alltags hinter sich und begibt sich in ein stilles, reines Ambiente. Diese Reinheit umfasst aber auch jene des Herzens und der Seele.

Wenn man im Gleichgewicht mit der Natur, anderen und sich selbst lebt, stellt sich Harmonie ein. Harmonie ist die Basis für angenehme, stressfreie Beziehungen.

Haben Sie Lust auf eine japanische Teezeremonie bekommen? Greifen Sie die Gelegenheit beim Schopf, wenn sie sich bietet.

EINFACHHEIT UND AUTHENTIZITÄT

Wabi war durch seine sprachliche Verbindung zu Armut und Verzweiflung ursprünglich negativ belegt und bedeutet so viel wie elend, einsam und trostlos. Die dunkle Note verwandelte sich ab dem 14. Jahrhundert durch eine andere Gesinnung und Herangehensweise in etwas Positives, indem man Einsamkeit und Stille als wertvollen, erstrebenswerten Zustand erachtete. Man sieht, schon damals sehnten sich Menschen nach innerer Einkehr, und das in einer Zeit, die weitaus weniger hektisch und stressig war als die unsere.

Das Leben als Einsiedler wurde wabizumai genannt. Ehemals als traurigen, einsamen Paria bedauert, betrachtete man den Einsiedler plötzlich mit anderen Augen. Er galt als weiser Mann und frei von den Geißelungen der zunehmend künstlichen, affektierten japanischen Gesellschaft. Durch ein Leben in selbstauferlegter Einsamkeit und Armut gelangte man zu spirituellem Reichtum.

War ursprünglich die Armut im wahrsten Sinn des Wortes prägend für Wabi, so sah man es später vermehrt im Sinne einer Unabhängigkeit von materiellen Gütern. Man schüttelt den Materialismus ab, um sich ungestört der Natur hingeben zu können. Das Wegfallen der Abhängigkeit befreit daraufhin von Maßlosigkeit, Schnörkelei und Prunksucht. Der Mensch lernt, sich mit einfachen Dingen zu begnügen und sich an ihnen zu freuen.

In der Kunst entwickelte sich Wabi Sabi als Gegenentwurf zum Perfektionismus und zur Extravaganz, die die chinesische Kultur und Kunst prägen. Man begann, das chinesische Erbe abzulehnen und eigene Kreationen zu schätzen. In seinem Buch „The unknown craftsman“ behauptet Sōetsu Yanagi, der Vater der japanischen Kunstbewegung, dass Unvollkommenheit unsere Wertschätzung von Dingen und der Welt fördert. Man findet eine Ehrlichkeit und Authentizität in echtem Kunsthandwerk, die man in industrieller Massenware vergeblich sucht.

Ich stelle mir vor, der amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau (1817–1862) kam dem Konzept von Wabi Sabi ganz nah, als er zwei Jahre lang der Welt der industrialisierten Massengesellschaft den Rücken kehrte und in den Wäldern ein schlichtes Dasein pflegte. Er sagte damals über sein Projekt: „Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näher zu treten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hätte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte. Ich wollte nicht das leben, was nicht Leben war; das Leben ist so kostbar. Auch wollte ich keine Entsagung üben, außer es wurde unumgänglich notwendig. Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde.“ Ein Leben in Harmonie mit der Natur war für ihn gleichbedeutend mit dem „eigentlichen, wirklichen“ Leben. Wenn das nicht Wabi Sabi in Reinform ist!

Es bedeutet aber nicht, dass nur ein Einsiedlerdasein das einzig Wahre ist. Wir müssen nicht alles aufgeben und in eine Höhle im Wald ziehen, um uns und dem Leben nah zu sein. Es ist jedoch wichtig und wohltuend, sich von Zeit zu Zeit von vertrauten und normal gewordenen Gegebenheiten zu distanzieren und sich auf einen anderen Bewusstseinszustand einzulassen.

Dinge hinterfragen, die Last des Alltags abwerfen, den Geist befreien und die Lage mit frischem, ungetrübtem Blick neu betrachten und wenn nötig Konsequenzen daraus ziehen, zwischendurch die Scheuklappen ablegen, das Hamsterrad verlassen, die Welt mit anderen Augen sehen – wie sähe es wohl aus, würden wir diese Ratschläge ab und zu beherzigen?

Vollkommenheit als Illusion

Eines Tages bat Sen no Rikyū einen Schüler, den Garten zu rechen. Der Mönch tat wie geheißen und machte sich gewissenhaft an die Arbeit. Er war bestrebt, einen perfekten Job zu machen und seinen Meister zufriedenzustellen. Als er fertig war, kam Rikyū, um den Garten zu inspizieren. Nach einem kurzen Blick schüttelte er einen der Bäume, sodass einige Blätter zu Boden fielen. „Das ist besser“, murmelte er. Der perfekt saubere Garten präsentierte ein Ideal, das es nicht gibt und von dem man sich besser befreit. Wabi ist die Akzeptanz der Umstände – alles im Leben ist unvollkommen – und das Bestreben, Sinn und möglichst Schönheit in ihnen zu erkennen und das Beste aus ihnen zu machen. Es steht für Stille, Schlichtheit und das Erkennen von Schönheit in einfachen Dingen. Es geht darum, durch Bescheidenheit, Wertschätzung und natürliche Anmut zu mehr Zufriedenheit und innerer Ruhe zu gelangen. Im Idealfall distanziert man sich dabei von der materiellen Welt oder lässt sie langsam hinter sich.

EINE NEUE SICHTWEISE

Sabi bedeutet im ästhetischen Sinne Patina, Reife, geschmackvolle Einfachheit; gleichzeitig hat es aber auch einen Bezug zu Einsamkeit und Öde und verweist auf Alter und Verfall. Es ist die Verschmelzung von beiden Worten – Wabi und Sabi –, die eine Denkund Lebensweise beschreibt, die selbst Japaner nur schwer in Worte fassen können. Sie sind mit Wabi Sabi groß geworden und haben es verinnerlicht. Es ist ein intuitiver Bestandteil ihrer Kultur. In welchem Maße es der Einzelne beherzigt, sei dahingestellt. Wabi und Sabi sind untrennbar miteinander verbunden. Sie stehen sowohl für rustikale Einfachheit als auch anmutiges, würdevolles Altern.

Gemäß der buddhistischen Lehre ist unsere Existenz von drei Hauptmerkmalen geprägt: Vergänglichkeit (mujō Leiden (ku und Leere bzw. das Fehlen eines individuellen Selbst Letzteres ist ein ganz essenzieller Punkt: Der Mensch wird als Teil des großen Ganzen, als Teil des Kosmos betrachtet und nicht als Individuum überbewertet, wie es in westlichen Kulturen der Fall ist. Mensch und Natur sind eins. Diese Denkweise ermutigt von Anbeginn Bescheidenheit und Demut. Keiner stellt sich über andere oder Mutter Erde, denn jeder ist nur ein winziges Teilchen im gesamten Kosmos. Es gibt kein „ich“ nur ein „wir“. Alle tragen ihren Teil zum Funktionieren der Gemeinschaft bei. Jeder tut sein Bestes, weil er weiß, dass es das Los jedes Einzelnen beeinflusst. Ein Kontrast zum westlichen Denken, in dem sich alles ums „ich“ dreht. Diese Denkweise ist kontraproduktiv für die Gemeinschaft und gebiert lauter Einzelkämpfer, denen die anderen auf ihrem Ego-Trip ziemlich egal sind. Die Bienenstock-Mentalität mag uns extrem und fremd vorkommen, aber es würde unserer Gesellschaft guttun, wenn wir selbst ein bisschen mehr Biene wären. Man muss ja nicht immer von einem Graben in den anderen fallen. Leider zieht sich Extremismus jedweder Art wie ein roter Faden durch die Menschheitsgeschichte.

Dieses wunderschöne Eichenblatt symbolisiert die Grundprinzipien von Wabi Sabi: Alles ist vergänglich, unvollkommen und niemals fertig. Das Akzeptieren dieser Tatsache und das Erkennen von Schönheit im Verborgenen erheben unser Dasein auf eine spirituelle Ebene, die wahres und tiefgründiges Empfinden erst möglich macht.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Leiden, das alle Existenz durchdringt. Von der Geburt über die Jugend, den Höhepunkt unseres Schaffens bis zu Alter, Krankheit und Tod – alles ist mit Leiden verbunden. Indem wir aber die Dinge akzeptieren, wie sie sind, anstatt uns zu grämen, lindern wir die Intensität unseres Leidens. Leid ist nur eine von vielen Facetten des Seins.

Jede Etappe unseres Wegs birgt ihren eigenen Zauber und gibt uns Gründe für Dankbarkeit und Freude. Scheitern und Enttäuschungen sind zwar schmerzhaft, helfen uns aber zu wachsen. Sie sind genauso wertvoll und wichtig wie Freude und Glück. Aus jeder Erfahrung kann etwas gewonnen werden.

Gemäß Wabi Sabi ist alles vergänglich, nichts ist jemals fertig und nichts jemals perfekt. Bereits vor 700 Jahren betrachtete man diese Erkenntnis in Japan als Zustand der Erleuchtung. Aufgrund dieser Lehren ist die intuitive Wertschätzung des Vergänglichen und der subtilen Schönheit von Bescheidenheit, Unvollkommenheit und Verfall auch heute in Japan noch weit verbreitet.

Prinzipien von Wabi Sabi: Alles ist vergänglich. Nichts ist jemals fertig. Nichts ist vollkommen.

Wabi Sabi geht über das Offensichtliche hinaus und spricht das eigene Empfinden an. Wie man das Konzept lebt oder erlebt, ist individuell verschieden, denn jeder sieht die Dinge aufgrund seiner Erfahrungen anders. Die Prinzipien beziehen sich aber auf das Wesen des Lebens selbst und bleiben dieselben.

Wabi Sabi ist eine andere Art zu sehen, eine komplett andere Gesinnung. Es geht um die kleinen, subtilen Dinge, die oft im Verborgenen liegen und von gewöhnlichen Augen übersehen werden. Die Fähigkeit zu sehen und unter die Oberfläche zu schauen, kommt, wenn man sich aufrichtig und ohne Vorbehalte auf Wabi Sabi einlässt.

Neben Wabi Sabi existieren noch zwei weitere ästhetische Konzepte: Mono no aware und Ma. Mono no aware heißt so viel wie das „Pathos der Dinge“ und steht für das Gewahrsein von Vergänglichkeit und eine Art flüchtige Schönheit. Das Wissen um diese Unbeständigkeit geht mit einem Gefühl der Melancholie einher. Ma bedeutet so viel wie der Abstand zwischen zwei Dingen. In Japan wird dieser Zwischenraum nicht als Mangel oder trennendes Element, sondern als Bindeglied gesehen. Ma ist sowohl ein räumliches als auch ein zeitliches Konzept. Es steht für das Gleichgewicht zwischen den Dingen. Nehmen wir die Teezeremonie als Beispiel: Die Platzierung der Utensilien unterliegt strengen und präzisen Regeln. Der Ort wird im Geiste mit Linien unterteilt und die wertvollsten Gegenstände entlang der Mittellinie platziert. Dies jedoch leicht versetzt, und die dadurch entstehenden Räume sind ma. Eine poetischere Definition wäre eine „Leere voller Möglichkeiten“ oder ein noch zu erfüllendes Versprechen – das Wissen um Form und Formlosigkeit. Das Schriftzeichen von ma –  – illustriert den Sinn sehr schön, denn es vereint zwei Piktogramme: Tor und Sonne Das Tor ist weit offen, lässt das Licht herein und animiert zu Freiheit und Kreativität. Ma ist der Zeitraum zwischen Anfang und Ende, in dem wir das Leben erfahren. Es ist die Pause zwischen den Noten eines Musikstücks und den Sätzen in einem Gespräch. So wichtig ist ma.

WAS IST SCHÖN?

Der bekannte Kendo-Lehrer Shozo Kato beschreibt das westliche Schönheitsideal als strahlend, majestätisch, gewaltig und umfassend. Das Asiatische hingegen zeichnet sich aus durch Bescheidenheit, Ödnis und Schönheit im Verborgenen. Die westlichen Werte wurzeln im hellenistischen Weltbild, das von jeher Perfektion, Symmetrie und Grandeur wertschätzte. Bei uns werden Dominanz, Macht, Autorität und Kontrolle – sei es über Menschen oder die Natur – groß geschrieben. Wabi Sabi ist genau das Gegenteil und gerade deshalb entspannend und der Schlüssel zu einem zufriedenen Leben. Nichts währt ewig, nichts ist perfekt. Lasst uns den Augenblick genießen, statt immer mehr zu wollen und utopische Zustände anzustreben. Das Leben und die Kunst sind schön, weil sie unvollkommen und flüchtig sind. Diese Eigenschaften machen beides erst spannend.

Denken wir heute an Japan, kommen uns Millionenstädte, Lärm, Hightech, Moderne und schrille Buntheit in den Sinn. Menschenmassen, Leuchtreklame, immer mehr Wolkenkratzer, die sich einen Weg in den Himmel bahnen. Auch Japan hat sich mittlerweile dem Globalismus unterworfen und ist zum Schmelztiegel von Ost und West geworden. Japaner sind äußerst diszipliniert, strebsam und hart mit sich selbst und anderen. Wabi Sabi heißt nicht, dass man sich fügt und keine Anstrengung mehr unternimmt. Es fordert auf, die Prinzipien des Lebens anzuerkennen und aufzuhören, gegen sie zu kämpfen. Wir können die grundlegenden Gesetze der Natur nicht ändern – warum also unnötig Energie darauf verschwenden? Wabi Sabi motiviert dazu, intensiver zu schauen, zu leben und ein besserer Mensch zu werden.

Alles ist vergänglich. Nichts ist jemals fertig, und nichts ist jemals perfekt. Der Mensch gleicht einem Staubpartikel. Als Teil des großen Ganzen relativiert sich seine Bedeutung. Sein Aufenthalt in diesem Leben ist so flüchtig wie ein vorüberziehender Schatten. Aufgrund dieser Flüchtigkeit ist es umso wichtiger, Gelassenheit und Heiterkeit zu praktizieren.

Im Frühling zelebrieren Japaner mit Hanami die Schönheit der Kirschblüte. Der Kirschbaum verkündet das Erwachen des Frühlings und ist gleichzeitig ein Sinnbild für das Werden und Vergehen. In ihren Augen lebt der Baum für den Augenblick, indem er seine Vollkommenheit erreicht.

Ist die Grundeinstellung von Wabi Sabi im modernen Kontext überholt oder gar gestorben? Kritische Stimmen sagen, es habe in Japan an Bedeutung verloren. Dieses Buch ist keine Analyse oder Bewertung der japanischen Gesellschaft. Es ist der Versuch, einen anderen Weg aufzuzeigen als den zerstörerischen, auf dem wir uns befinden. Vielleicht hat auch Japan im Hinblick auf Wabi Sabi Auffrischungsbedarf. Auf jeden Fall ließe sich das Konzept überall und von jedem anwenden.

Man darf aber nicht vergessen, dass der harschen Realität noch immer die meditative Stille japanischer Gärten, der Teezeremonie und das alljährliche Hanami, wenn man im Frühling die Schönheit der Kirschblüte zelebriert, gegenüberstehen. Japanische Zierkirschen bilden keine essbaren Früchte, aber viele Blüten und künden das Erwachen der Natur an. Dabei sind es Aspekte der Schönheit und Vergänglichkeit, die in Japanern eine Saite zum Klingen bringen. In ihren Augen lebt der Kirschbaum für die kurze Zeit im Jahr, in dem er in vollendeter Anmut erblüht.

Wabi Sabi ist in Japan sehr wohl noch vorhanden, allerdings so subtil, dass es kaum auffällt. Es findet sich im verwitterten Holz der Tempel, in den Blüten auf moosbedecktem Grund und in der Tasse, aus der man Tee trinkt. Wabi Sabi beschwört heute nicht mehr die intensive Melancholie vergangener Tage herauf. Es ist vielmehr ein Vergnügen, das seinen Ausdruck in Authentizität, natürlichen, rustikalen oder gar mit Makeln behafteten Materialien findet. Es ermutigt, alle Bereiche des Lebens heiterer und schlichter zu gestalten.

WABI SABIals holistisches Prinzip

Wabi Sabi wird heute vor allem im Zusammenhang mit Kunst, Design und Einrichtungen erwähnt. Tatsächlich entwickelten sich viele japanische Kunstrichtungen aus dem Zen-Buddhismus, der auch die Unvollkommenheit und Vergänglichkeit aller Dinge akzeptiert. Beispiele hierfür sind neben der Teezeremonie bestimmte Typen von Keramik, Ikebana (japanische Kunst des Blumenarrangierens), Bonsai und Haiku (japanische Gedichtform). Wabi Sabi ist aber ein ganzheitliches Konzept, das alle Lebensbereiche durchdringt. Alles unterliegt den Regeln von Wabi Sabi.

In einer Welt, die von Wachstumswahn, Werte- und Sinnverlust geprägt ist, reicht uns diese Weltanschauung die Hand und bietet konstruktive, nachhaltige Lösungen. Aber was ist Nachhaltigkeit?

Der Duden bietet uns folgende Definitionen: Im Hinblick auf die Forstwirtschaft darf nicht mehr Holz gefällt werden als jeweils nachwachsen kann. Und in punkto Ökologie darf nicht mehr verbraucht werden als sich jeweils regenerieren kann. Es fällt mir schwer, einen Begriff zu benutzen, der regelmäßig für unlautere Zwecke missbraucht wird. Wir sind täglich Greenwashing ausgesetzt, wenn multinationale Konzerne unter dem Deckmäntelchen der „Nachhaltigkeit“ unaufhaltsam ohne Rücksicht auf Menschenrechte und die Umwelt ihrer Profitgier frönen. Es ist leicht, irgendein hübsches Logo zu entwickeln, das ein Produkt als „nachhaltig“ deklariert. Bürger – mittlerweile allseits auf Konsumenten reduziert – werden in den wenigsten Fällen recherchieren, ob es sich um Wahrheit oder Lüge handelt, sondern erleichtert zugreifen, weil das Produkt ja offiziell als okay eingestuft wurde. Das Gewissen ist rein, oder etwa nicht?

Die Freiheit, an der wir uns in unserem Teil der Welt erfreuen dürfen, bringt Verantwortung mit sich. Freiheit ohne Verantwortung gibt es nicht. Jeder von uns ist verantwortlich für sich selbst und die Folgen seines Wirkens auf andere und den Planeten. Mehr Macht, mehr Verantwortung – eine Gleichung, die leider keineswegs aufgeht, denn jene an der Macht sind überwiegend an ihrem eigenen Wohl interessiert. Vielleicht ist die beste Definition von Nachhaltigkeit ein achtsames, kritisches Erleben und Konsumieren.

Die Menschheit befindet sich in einer dramatischen Abwärtsspirale. Diese beängstigende Entwicklung kann man nur aufhalten, wenn ein radikales Umdenken stattfindet, ehe es zu spät ist. Wabi Sabi gibt uns die Chance zu erkennen, worauf es wirklich ankommt.

Natürlich ist es bequemer, mit einer Tüte Chips im Sofa zu versinken, sich eine sinnlose Seifenoper reinzuziehen oder unterschwellig frustriert seinem Instagram-Idol zu folgen. Es ist wenig hilfreich, wenn man sich sagt, dass man als Einzelner nichts auszurichten vermag. Wandel beginnt im Kleinen.