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Können seelische Wunden heilen? Jahrzehntelang litt die Autorin körperlich und psychisch an den Folgen eines Kindheitstraumas. Doch mit 58 Jahren wagt sie sich noch einmal an eine Therapie. In ihrer autobiografischen Erzählung verzichtet Christine Striebel auf Schilderungen des Missbrauchs. Stattdessen lässt sie uns Schritt für Schritt ihre Therapie begleiten: Wir begegnen Ängsten, Zweifeln und Rückschlägen - aber auch einem Team von inneren Helfern, einem sicheren Ort und der unbändigen Kraft der Fantasie. Ihre Mut machende Erfahrung: Die Heilung alter, seelischer Verletzungen ist möglich!
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Seitenzahl: 173
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Christine Striebel
Mein Weg aus dem Trauma
Wie es mir mit Traumatherapie und EMDR gelang, die Folgen des sexuellen Missbrauchs in der Kindheit zu überwinden und ein erfülltes Leben zu führen
© 2019 Christine Striebel
Umschlag: Susanne Beinhold
Illustration: iStock und pixabay
Lektorat, Korrektorat: Klaus Striebel
Klappentext und Vita: Marén Wiedekind
Portrait: Corinne Striebel und Tatiana Alekseeva
Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 42, 22359 Hamburg
2. überarbeitete Auflage 2019 von „Die Heilung meines Traumas“
978-3-7482-7099-7 (Paperback)
978-3-7482-7100-0 (Hardcover)
978-3-7482-7101-7 (e-Book)
Druck in Deutschland und weiteren Ländern
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Widmung
Dieses Buch widme ich Ihnen liebe Leserin und lieber Leser. Es möge Ihnen wertschätzendes Verstehen ermöglichen, Mutmacher sein und inspirierende Lebenshilfe bieten.
Von Herzen
Christine Striebel
Inhaltsverzeichnis
Eine Tasse Kaffee, bitte!
Ein erster Rückblick
Ein glücklicher Zufall
Start in die Trauma-Therapie
Therapiemonat 1 – 4
Testphase
Anamnesebögen
Das Gedankenkarussell beenden
Notfallkoffer für Panikstopp
Wahlmöglichkeiten entdecken
Mein inneres Team finden
Befürchtungen zum inneren Team
In stressigen Zeiten zur Ruhe kommen
Wandel 1: Am inneren, sicheren Ort
Wandel 2
Wandel 3
Wandel 4
Wandel 5
Therapiemonat 5 – 8
Wandel 6
Wandel 7
Vertrauenszuwachs
Wandel 8
Ein neues Thema tritt in den Vordergrund
Wandel 9
Wandel 10: Körperliche Reaktionen
Wandel 11: Einem Geheimnis auf der Spur
Wandel 12: Eskalation am ISO
Wie Weltsicht Realität erschafft
Ein Erklärungsversuch
Ein glücklicher Zufall
Wandel 13
Wandel 14: Ein besonderes Geschenk
Therapiemonat 9 – 12
Wandel 15: Unordnung
Die erste Paartherapie-Sitzung
Wandel 16
Die Paartherapie geht weiter
Krise
Therapiemonat 13 – 16
Freiraumerweiterung
Eifersucht ohne Liebe?
Der Haushalt
Wandel 17
Wandel 18
Therapiemonate 17 – 20
Das Trauma fordert Aufmerksamkeit
Wandel 19
Wandel 20
Wandel 21
Therapiemonate 21 – 24
Start ins EMDR
Erste EMDR-Sitzung
Zweite EMDR-Sitzung
Das ruhige Meer
Wandel 22
Urlaub
Dritte EMDR-Sitzung
Vierte EMDR-Sitzung
Wandel 23
Fünfte EMDR-Sitzung
Wandel 24
Sechste EMDR-Sitzung
Siebte EMDR-Sitzung
Mein neues Leben
Vorwort
Jeder Tag, jede Stunde und jeder Augenblick unseres Lebens trägt seine eigene Realität in sich. Diese Wahrheit kann sich durch neue Erfahrungen sowohl von innen als auch von außen verändern. Dies geschieht häufig völlig unerwartet, von einem Moment zum anderen. Und aus Dunkelheit wird Licht!
Mein Leben hat mich gelehrt, dass auch in den schwersten Momenten der Keim für Neues liegt. Ja, sogar erst aus der Not heraus sind wunderbare neue Energien in mein Leben gekommen. Denn alles, was mir widerfahren ist, ergibt rückblickend einen Sinn. Es liegt einzig an mir, wie ich die Ereignisse wahrnehmen und nutzen kann. Diese Erkenntnis ermöglicht mir auch in schwierigen Situationen, mein Leben immer zuversichtlicher zu betrachten und auf die göttlichen Fügungen zu vertrauen. Bei Problemen und Ängsten suche ich deshalb immer auch die Kehrseite der Medaille. Dadurch kann ich aktiv die Themen meines Lebens angehen und auf dem Fluss des Lebens vorankommen. Wachstum wird möglich. Dieses Buch entstand, um Vergangenes abzuschließen und Ihnen liebe Leserin, lieber Leser zu zeigen, dass selbst schwere seelische Verletzungen und ihre Folgen heilen können.
Eine Tasse Kaffee, bitte!
„Guten Morgen, mein Schatz! Machst du mir bitte eine Tasse Kaffee?“, sagte ich und lächelte Timm liebevoll an. Er küsste mich sanft auf die Stirn und strich behutsam über meine Haare. Dann verschwand er in der Küche.
Ein außenstehender Betrachter hätte vermutet, dass es sich bei dieser zärtlichen Begegnung um ein Morgenritual handelte, um die tägliche Selbstverständlichkeit eines frisch verliebten Paares. Doch in Wirklichkeit war es für dieses Paar, Timm und mich, ein ungeahnter Neuanfang nach sehr vielen schwierigen Ehejahren. Erst vor Monaten hatten wir unsere Liebe neu entdeckt. Diese morgendliche Szene wurde zum Startsignal für mein neues Leben.
Ich war Anfang sechzig. Meinen Job als Lehrerin hatte ich wegen jahrelanger Depressionen verloren. Als Hausfrau und Hobbyautorin hatte ich mein Leben neu eingerichtet. Morgens saß ich als erstes an meinem Schreibtisch und fixierte meine Morgenideen. Es waren Gedanken, die zwischen Schlaf und Erwachen ihren Raum einnahmen. Sie waren die Samenkörner für meine Geschichten und meine persönliche Weiterentwicklung.
Danach plante ich meinen Tag. Denn nachdem die Kinder aus dem Haus waren und kein Berufsalltag mehr gemeistert werden musste, war ich in einem nahezu terminfreien Raum gelandet. Der Tagesplan bot mir in der neuen Lebensphase Stütze und Orientierung.
Auch mein Mann Timm hatte sein Leben nach dem Berufsaus neu gestaltet. Er füllte sein Leben unter anderem mit Briefmarkensammeln und Radfahren.
Ich saß am Schreibtisch und hing meinen Gedanken nach. Kurze Zeit später brachte mir Timm eine heiße Tasse Kaffee. Ich gab ihm einen zärtlichen, wenn auch kurzen Kuss auf die Wange und nahm einige Zeit darauf die warme Kaffeetasse in die Hände. Vorsichtig nippte ich an dem goldbraunen, süßen Getränk. „Irgendetwas ist komisch“, dachte ich. Irgendetwas fühlte sich an diesem Morgen anders an als sonst!
Was war eben geschehen? Hatte ich wirklich Timm um einen Kaffee gebeten und ihn serviert bekommen? Woher kam die Selbstverständlichkeit mit der ich diesen Wunsch geäußert hatte? Hatte ich je in den vielen, vergangenen Jahren unserer Ehe meinen Mann um eine Tasse Kaffee oder Tee gebeten? Nein! Und nun schien es die größte Selbstverständlichkeit der Welt zu sein, dass für mich Kaffee bereitet und mir gebracht wurde. Ein sonderbares Ereignis.
Doch als ich mich den alltäglichen Aufgaben im Haushalt zuwandte, vergaß ich die Tasse Kaffee. Die Frage nach der Ursache für dieses fremde Verhalten blieb fürs Erste unbeantwortet. Vielleicht gab es auch gar keine Antwort, weil meine Bitte nur einer zufälligen Laune entsprungen war.
Wie immer gönnte ich mir um die Mittagszeit eine Tasse Tee. Ich saß gemütlich am Küchentisch, nippte vom Tee und schaute dabei aus dem geöffneten Fenster in den Garten. Die Blätter der Bäume begannen sich bunt zu färben. Der Wind brachte das Laub zum Rascheln. Vögel zwitscherten. Ich atmete frische Luft. Dieses friedliche Idyll bot mir Erholung nach getaner Hausarbeit. „Wie schön die Natur ist“, dachte ich, und entspannte.
Plötzlich spürte ich, wie kühl die Teetasse in meinen Händen geworden war. Hatte ich geträumt? Doch tatsächlich hatte ich meine ganze Aufmerksamkeit auf die obere rechte Ecke des Fensterrahmens gerichtet. Dort befand sich ein zartes Wesen, eine Spinne, die ihr Netz webte. Eine faszinierende Kunst, die mich zum Staunen brachte.
Ich schüttelte irritiert den Kopf. Was war denn jetzt schon wieder mit mir los? Weshalb rief ich nicht panisch nach Timm, damit er das Krabbeltier in den Garten entsorgte? Vorgestern hatte ich so reagiert, als mir im Flur eine kleine Spinne über den Weg gelaufen war. Und nun saß ich da und bewunderte ein solches Tierchen, wie es mit feinen Fäden von Speiche zu Speiche krabbelte und zartes Spinnengewebe befestigte, so dass das Netz von innen nach außen immer vollständiger wurde.
Irgendetwas Entscheidendes musste geschehen sein, dass ich mich so völlig anders benahm. Ob es etwas mit der tränenreichen EMDR1-Sitzung des gestrigen Tages zu tun hatte? Denn einige meiner bisherigen Lebensgewohnheiten schienen völlig außer Kraft gesetzt. Ich fühlte mich ausgezeichnet, wenn auch irritiert.
Wunderlichkeiten dieser Art gab es in den folgenden Tagen bis zur nächsten Therapiesitzung immer wieder. So suchte meine Zahnbürste plötzlich automatisch und völlig problemlos Ecken und Winkel des Mundes auf, die sie bisher gemieden hatte, weil sie einen Würgereiz ausgelöst hätte. Und auch das Eincremen nach dem Duschen fühlte sich alltäglich, ganz normal an. Mir wurde klar, dass ich meine Trauma-Therapeutin Frau Salim in der nächsten Sitzung unbedingt fragen musste, was mit mir geschehen war.
Tatsächlich war in meiner letzten Therapiesitzung Unglaubliches passiert. Mein Heilungsprozess nach dem Kindheitstrauma hatte seinen Abschluss gefunden. All meine bekannten Verletzungen durch das Trauma waren geheilt. Verschüttete und aus Angst verborgene Fähigkeiten hatte ich mir wieder zu Eigen machen können. Die gesundeten, kindlichen Befähigungen waren nutzbare Anteile der erwachsenen Frau geworden. Das Trauma verlor seine Schwere. Es gehörte von nun an zu meiner Lebensgeschichte, wie eine verpatzte Klausur oder ein gut verheilter Armbruch. Die Schrecken des Traumas und seine Folgen sollten behoben sein, was sich mit der Zeit zeigen würde. Für mich war ein Wunder geschehen – ein Wunder, das ich nicht einmal in meinen kühnsten Träumen für möglich gehalten hätte. Das Portal zu meinem neuen Leben hatte sich geöffnet. Das Ende der Traumatherapie war gekommen. Ein Abschied mit einem lachenden und einem weinenden Auge.
Nach dieser Erkenntnis begann ich, Stück für Stück mein neu geschenktes Leben zu begreifen. Denn in den folgenden Wochen und Monaten wurde mein bisheriges Leben weiter vollkommen auf den Kopf gestellt. Zwar hatte es während der zwei Jahre dauernden Traumatherapie immer wieder erfreuliche, größere Durchbrüche in ein zufriedeneres Leben gegeben, doch was dieses sich „vollständig“- und „richtig“-Fühlen bewirkte, war wundervoll. Mein Herz füllte sich mehr und mehr mit Glück, Leichtigkeit und Dankbarkeit. Ich fühlte mich mit fast 62 Jahren wie neu geboren. Bei mancher Veränderung, der Freude an einem Kinobesuch beispielsweise, fragte ich mich, ob ich das wirklich gerade erlebte. Dann zwickte ich mich in den Arm und konnte dies spüren. Ich war tatsächlich wach und erlebte alles selbst.
Ich fühlte mich wie ein Vogel, der lange in einem Käfig eingesperrt gewesen war und nun wieder frei fliegen konnte. Denn ich ging wie selbstverständlich aus dem Haus. Ich entdeckte Lebensgenuss, indem ich anfangs zaghaft, dann immer freudiger Theater, Konzerte, Kino, Kabarett und Vorträge besuchte. Und wenn ich im Theater mal ein stilles Örtchen aufsuchen musste, dann empfand ich das als normal. Eine ganze Reihe Theaterbesucher stand wie selbstverständlich auf, um mir Platz zu machen.
Und dann fragte ich mich irgendwann: „Gibt es überhaupt ein allgemeines ‚Normal‘?“ Ich begann, dies zu bezweifeln. Denn das, was vor vier Jahren noch ‚glücklich sein‘ für mich bedeutet hatte, war mit der aktuellen Qualität meines Glücksgefühls nicht zu vergleichen. Es entwickelte sich ein ‚neues Normal‘ für mich.
Einmal in dieser neuen Lebensphase wurde ich von meiner jüngsten Schwester Susanne eingeladen. Ich fuhr mit dem Zug zu ihr. Der gesamte Reiseablauf sowie der Zug selbst kamen mir fremd vor. Da erinnerte ich mich, dass ich 30 Jahre lang in keinem Zug mehr gesessen hatte. Es war also verständlich, dass ich mich wie ein Alien neu orientieren musste. Doch statt wie früher ängstlich zu sein, sog ich das Neue durstig wie ein Schwamm in mich auf. Denn was immer da Neues geschah, das passierte tatsächlich mir und nicht im Leben einer anderen Person, einem Glückspilz, der sich den Luxus des Reisens leisten konnte.
Mein bisheriger Drang diverse Vorabendserien „sehen zu müssen“, war verschwunden. Da ich nun selbst lebte, musste ich nicht mehr das Leben fiktiver Mitmenschen bis ins Detail miterleben. Nicht, dass ich nun keine Fernsehserien mehr angesehen hätte. Doch Ausflüge und andere Aktivitäten waren mir wichtiger geworden, als die täglichen Soap-Folgen. Auch begann ich, reale Kontakte den Mailkontakten vorzuziehen. Denn wenn ich all die vielen versäumten Unternehmungen nachholen wollte, musste ich mich ordentlich sputen. Diese Erkenntnis machte mich auch immer wieder sehr traurig. So viele Jahre hatte ich vor mich hinvegetiert, ohne etwas außerhalb der Familie wirklich zu registrieren und in mein Leben einbeziehen zu können. Und nun wusste ich manchmal nicht, wie ich vor lauter Gier nach neuen Unternehmungen alles genießen und in mich aufnehmen sollte. Dem Schlafen räumte ich zu Beginn dieser neuen Lebensphase wenig Raum ein. Doch das pendelte sich nach einiger Zeit in einen für mich angenehmen Lebensrhythmus ein.
Manchmal allerdings beäugte ich mein neues Leben etwas unsicher. Denn was, wenn dieses neue Lebensgefühl nur ein kurzer Rausch war? Ein Kartenhaus, das bei einem kleinen Sturm umfallen würde? Was, wenn erneut ein Absturz in die Panik und Angst kommen würde? Wie würde ich dann reagieren?
Tatsächlich gab es von außen betrachtet solche Rückschläge. Doch ich empfand diese nicht so. Für mich waren es Momente, die mich an früher erinnerten und die ich nun souverän meistern konnte. Ich hatte Wahlmöglichkeiten. Und das ist heute immer noch so, obwohl die Traumatherapie bereits viele Jahre zurückliegt.
Natürlich hätte ich meine Heilung, mein freies Leben, den Zugang zu meinen Gefühlen und das Erleben meiner selbstbestimmten, echten Partnerschaft einfach nur genießen können. Nach dem Motto: Egal, was passiert ist, Hauptsache, es geht mir gut. Doch dafür bin ich nicht der Typ. Als psychologisch interessierte Frau wollte ich verstehen, wie die Heilung meines Kindheitstraumas möglich geworden war. Auch mein Autorenhirn wollte mit Informationen gefüttert werden. Denn so eine spannende und gut endende Geschichte konnte ich doch nicht in der Schublade liegen lassen. Deshalb begab ich mich gedanklich auf die Reise in die Vergangenheit, um den Schlüssel meiner Heilung zu finden. Meine Therapietagebücher halfen mir dabei. Natürlich ist mir klar, dass meine Art der Heilung lediglich ein Weg von vielen ist und nicht der Heilungsweg schlechthin.
Ein erster Rückblick
Ich bin ein Kind der Nachkriegszeit und wuchs mit meinen zwei jüngeren Schwestern Carmen und Susanne auf. Unsere Eltern waren damit beschäftigt, ihr Leben nach dem 2. Weltkrieg neu zu ordnen. Sie hatten keine Zeit, ihre seelischen und körperlichen Kriegswunden zu beachten oder gar zu heilen. Wiederaufbau war angesagt. Seelische Verletzungen mussten verdrängt werden, um funktionieren zu können. Das ins Innere verschobene Grauen arbeitete im Verborgenen. Ein guter Nährboden für die Dramen in meiner Generation.
Nachdem ich als junge Frau – und besonders in meiner ersten Schwangerschaft – zunehmend das Gefühl hatte, dass mit mir etwas nicht stimmte, begab ich mich mit 30 Jahren in meine erste Psychotherapie. In den ersten 10 Therapiejahren hangelte ich mich von Sitzung zu Sitzung, um mein Leben mit Mann, Kindern und Beruf irgendwie bewältigen zu können. Und dann tauchte in einer therapielosen Zeit der Herbstblues erneut auf, so dachte ich.
Das Glück war mir hold. Ich fand eine Therapeutin die mir zuhörte und beim Thema ‚Sexualität‘ nicht erschrak und wie die anderen Therapeuten das Thema wechselte. Es war eine ältere, mütterlich wirkende, verständnisvolle Frau, der ich ganz zu vertrauen lernte. Diese Begegnung ermöglichte mir, mich an mein verdrängtes Kindheitstrauma zu erinnern.
Anfangs bezweifelte ich meine Erinnerungen an die sexuelle Gewalt in Kindertagen, obwohl die Situation wie ein offenes Buch vor mir lag: Ich befand mich im Gräbele2 bei meiner Großmutter und ihrem Freund. Ich spürte Hände auf meinem Körper, hatte Todesängste, fühlte Hilflosigkeit und starke Übelkeit. Die Bestätigung meiner Therapeutin und meine Gefühle gaben mir mehr und mehr die innere Sicherheit, dass ich mit den inneren Bildern aus meiner Seele richtig lag. Denn mit diesen auftauchenden Puzzleteilen ergab mein gesamtes bisheriges Leben einen Sinn. Alle Probleme und Nöte, die ich hatte, waren unter dem Blickwinkel eines erlebten Traumas nachvollziehbar und verständlich. Mit dieser Erkenntnis glaubte ich, in eine glückliche Zukunft gehen zu können. Nach dem Motto: Gefahr erkannt. Gefahr gebannt. Eine riesige Erleichterung breitete sich in mir aus.
Doch es sollte alles anders kommen als erwartet. Nach dem ersten Verstehen meines nun geöffneten Lebensbuches, rutschte ich tiefer und tiefer in eine Depression. Ich verfiel in Starre, Trauer, Hilflosigkeit und Verzweiflung, die nicht enden wollten. Mein Ritt durch die Hölle begann. Nur meinem Trotz und dem unbändigen Drang, der Welt in meinem Tagebuch zu beweisen, dass ich dieses Trauma bewältigt habe, verdanke ich mein Überleben. Allerdings bekam mein Beweistagebuch in den schlimmsten seelischen Tiefs keine Einträge. Dann konnte ich nur daran denken, wie ich aus dieser Hölle herauskommen konnte und wann endlich der Schmerz aufhören würde. Doch sobald ich mich etwas berappelte, ein kleiner Lichtstreif der Hoffnung am Himmel auftauchte, gewann die Sehnsucht auf Heilung erneut die Übermacht. Das Beweistagebuch wurde weitergeführt.
Eine sehr gute Freundin brachte mich zu den regelmäßigen Therapiesitzungen. Zu Hause erledigte ich alle Therapie-Hausaufgaben sehr gewissenhaft. Doch nie stellte sich eine stabile Besserung ein. Parallel dazu verschlang ich Ratgeber. Manchmal war es nur ein Satz, den ich in einem Buch las, der in mir Hoffnung auf Gesundung aufkeimen ließ.
Doch für meine Heilung war die Zeit damals offensichtlich noch nicht reif. Das ständige Thematisieren des Traumas ohne grundlegende Änderungsansätze, grub mein Leid damals nur noch tiefer ein. Das weiß ich in der Zwischenzeit. Heute bin ich mir sicher, dass über den Verstand alleine keine seelischen Verletzungen geheilt werden können. So wünschte ich mir nach den ersten Erinnerungen oft, all diese Erkenntnisse wieder komplett vergessen zu können.
Nicht nur für mich, sondern auch für meine komplette Familie begann eine Horrorzeit. Es waren Jahre der Gefühlsschwankungen, Unsicherheiten, Ängste und unendlicher Hilflosigkeit. Gleichzeitig war es auch eine Zeit, die jedes Familienmitglied auf seine besondere Weise prägte und es reifen und wachsen ließ. Unsere Familie wuchs dadurch fester zusammen, wie ich finde. Diese Erkenntnis erfüllt mich auch heute noch mit größter Dankbarkeit.
Nach drei Jahren tiefer Depressionen verlor ich meinen Job als Lehrerin. Es war eine Entscheidung über meinen Kopf hinweg. Ich fühlte mich hilflos, schwach und als Versagerin. So rutschte ich wieder tiefer in die Depression. Heute ist mir allerdings klar, dass der tägliche Kontakt mit Kindern zur damaligen Zeit unmöglich gewesen wäre. Denn in meiner Zeit als Lehrerin hatte ich ein besonderes Gespür für Kinder in Not. Oftmals lag ein familiäres Problem deutlich vor meinen Augen. Doch in den kleinen Orten, in denen ich unterrichtete, wollten die Schulleiter keinen Wirbel machen. Ich musste schweigen und so tun, als sei alles in Ordnung, meinen Unterricht durchziehen. Nachdem ich nun am eigenen Leib spürte, was Wegschauen anrichten konnte, hätte ich das Wegschauen und Schweigen bei Kindernöten nicht ertragen können.
Die Therapeutin, die mir geholfen hatte mein Trauma zu erkennen, sah es als ihr Unvermögen an, dass sie mich nicht arbeitsfähig machen konnte. Deshalb beendete sie von sich aus die Therapie. Ich fühlte mich im Stich gelassen, so wie als kleines Kind, als mir niemand aus der Not geholfen hatte. Wieder rutschte ich tiefer in die Depression. Leider war mir damals nicht bewusst, dass diese Trennung eine mutige und faire Entscheidung der Therapeutin gewesen war. Denn nur so fand ich eine Therapeutin, die mir in dieser Lebensphase besser weiterhelfen konnte. Nachdem die „Hebamme“ die Erinnerung zur Welt gebracht hatte, durfte nun die „Kinderärztin“ die Wegbegleitung übernehmen, was eine völlig andere Aufgabe ist. Ich lernte die ersten Ansätze der Arbeit mit dem inneren Kind und das NLP3 kennen. Ein erster Schritt in die richtige Richtung, das Beste, das es damals für mich gab.
Irgendwann hatte ich trotzdem genug davon, mit Strategie-Pflastern und Reaktions-Salben für Einzelfälle versorgt zu werden. Dann gab es den Tipp eines Arztes: „Sie müssen die alten, verletzenden Erinnerungen beiseiteschieben und vergessen.“ Das Geheimnis, wie ich dies konkret umsetzen könnte, blieb mir verborgen. Außerdem denke ich, dass es mir damit vermutlich auch nicht viel besser gegangen wäre, weil es unheimlich viel Kraft kostete, die heiße Lava der Erinnerung gedeckelt zu halten. Das hatte ich ja viele Jahrzehnte getan.
Unbewusst setzte dann trotzdem mein Überlebensmechanismus wieder ein, der automatisch das Trauma zu verdrängen begann. Die Seele schob die Erinnerungen in den Hintergrund und ermöglichte mir ein Überleben. Dies bedeutete erneute zunehmende Einschränkungen und den Drang, nach Hilfsmitteln - in Form von Tabletten - zu greifen. Doch es war das bestmögliche Leben, das mir damals zur Verfügung stand. Und irgendwann dachte ich sogar, ich wäre glücklich.
Ein glücklicher Zufall
Viele Jahre nach meiner letzten Therapiesitzung spielte mir der Zufall einen Zeitungsbericht über eine neue Trauma-Therapeutin in die Hände. In dem Artikel wurde eine Frau vorgestellt, die mit den Methoden der psychologischen Psychotherapeutin Michaela Huber arbeitete und die Eye-Movement Desensitization and Reprocessing-Methode4 anwendete. Die Technik des EMDR empfand ich als ein Zaubermittel. Und auch sonst schien diese Frau Salim Techniken zu kennen, die die Chance auf Heilung boten.
Dieser Zeitungsbericht entfachte in mir eine winzige Flamme der Hoffnung und die Sehnsucht, gesund werden zu können. Ich beschloss, noch einen letzten Therapieversuch zu starten. Um möglicherweise gesund zu werden, lohnte es sich, den Mut aufzubringen, das Haus zu verlassen. Tricks hierfür kannte ich ja. Mein Mann Timm bot mir an, mich zu chauffieren. Und in der Praxis gab es sicher für meinen verrückten Darm eine Patiententoilette.
Durch diesen Hoffnungsschimmer veränderte sich plötzlich die Wahrnehmung meiner aktuellen Lebenslage. Dabei spürte ich zunehmend die Sehnsucht aufkeimen, wieder einmal richtig gut schlafen zu können, alleine einkaufen zu gehen, einen Film auf einer großen Kinoleinwand zu betrachten, in einem Kabarett zu sitzen und entspannt dem Künstler zu lauschen, frei zu lachen und zu genießen, mit anderen bei einem Fest zu plaudern, einen berechenbareren, ruhigen Darm zu haben, mit Freunden Essen zu gehen, ohne Todesangst in den Urlaub zu fahren und wieder alleine Auto fahren zu können. Auch über den Verlust meiner Spannungskopfschmerzen würde ich nicht weinen. Und wenn es die Traumatherapie auch noch schaffen würde, dass die Warnung meiner Großmutter aus Kindertagen ihre Macht verlieren würde, dann könnte ich endlich angstfrei leben. Denn meine sexuellen Gewalterfahrungen waren durch eine massive Drohung verstärkt worden: „Wenn du jemandem von unserem Geheimnis erzählst, wird es heißen, du lügst oder du wirst für immer in die Psychiatrie eingesperrt.“
Lange nach diesen Übergriffen schaute Oma immer wieder mit mir Fotos des anderen Familienzweigs an. Dabei betonte sie stets: „Das ist deine andere Oma. Du siehst ihr sehr ähnlich. Sie wurde nervenkrank.“ Der ursprünglichen Drohung wurde durch diese Hinweise immer wieder Nachdruck verliehen. Meine Angst, für