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Wo findet man die Liebe, wenn nicht im Frühling in Paris?
Anouk hat der Liebe abschworen, seit sie von ihrem Exfreund übel hinters Licht geführt wurde. Sie will sich nur noch um ihren kleinen Antikladen kümmern und den Menschen helfen, das zu ihnen passende Schmuckstück zu finden – denn jeder ihrer Schätze hat eine eigene Geschichte zu erzählen. Dann begegnet sie auf ihrer Suche nach Antiquitäten dem mysteriösen Tristan, und schon bald merkt Anouk, dass seinem Herzen zu folgen ein bisschen so ist, wie sich in den Straßen von Paris zu verlieren – manchmal verwirrend und voller Irrwege, aber immer aufregend und voller einzigartiger Momente …
Eine junge Antiquitätenhändlerin ist auf der Suche nach einem besonderen Cello, und sie findet – die Liebe.
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Seitenzahl: 442
Rebecca Raisin ist eine wahre Bücherliebhaberin, und sie war schon immer verrückt nach guten Geschichten – vor allem natürlich nach Liebesgeschichten, die sie mit viel Herz und großem Erfolg schreibt. Mehr Informationen zur Autorin unter www.rebeccaraisin.com.
Annette Hahn übersetzte neben Fay Weldon, Susan Choi, Patricia Shaw u. a. “Sex and the City” von Candace Bushnell ins Deutsche.
Wo findet man die Liebe, wenn nicht im Frühling in Paris?
Anouk hat der Liebe abschworen, seit sie von ihrem Exfreund übel hinters Licht geführt wurde. Sie will sich nur noch um ihren kleinen Antikladen kümmern und den Menschen helfen, das zu ihnen passende Schmuckstück zu finden – denn jeder ihrer Schätze hat eine eigene Geschichte zu erzählen. Dann begegnet sie auf ihrer Suche nach Antiquitäten dem mysteriösen Tristan, und schon bald merkt Anouk, dass seinem Herzen zu folgen ein bisschen so ist, wie sich in den Straßen von Paris zu verlieren – manchmal verwirrend und voller Irrwege, aber immer aufregend und voller einzigartiger Momente …
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Rebecca Raisin
Mein wundervoller Antikladen im Schatten des Eiffelturms
Roman
Aus dem Amerikanischen von Annette Hahn
Inhaltsübersicht
Über Rebecca Raisin
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Epilog
Dank
Impressum
Für meine Mom,
die ohne alles ging,
damit wir alles hatten.
Der Duft von Vergissmeinnicht wehte mir in die Nase, als ein Windstoß durch meine Zeitung fuhr und die Seiten umknickte, so dass ich die Schlagzeile, die mir eben aufgefallen war, nicht weiterlesen konnte. Vom Balkon über mir rieselten ein paar himmelblaue Blüten aus den Blumenkästen. Ungeduldig schlug ich die Seiten aus, um das Papier wieder zu straffen, und hoffte, ich hätte mich verlesen, denn sonst wären es überaus schlechte Nachrichten.
»Was ist denn?«, fragte Madame Dupont, während sie eine Mokkatasse mit schwarzem Kaffee an ihre scharlachrot geschminkten Lippen hob. »Wenn Sie nicht aufpassen, färbt die Druckerschwärze ab, und dann laufen Sie den ganzen Tag mit einem spiegelverkehrten Artikel des French Enquirer im Gesicht herum.«
Amüsiert schüttelte ich den Kopf. So etwas konnte nur Madame Dupont einfallen. Sie war eine lebenslustige Mittsiebzigerin, die sich immer noch ausgiebig schminkte und so viel Rouge auftrug, dass ihre Wangen fast lila glänzten. Ihre dunkelbraunen Augen waren dick mit Kajal umrandet und von falschen Wimpern gesäumt, die wie schwarze Fächer auf und zu klappten. Dem Strahlen in ihren Augen nach wirkte sie jedoch nur halb so alt, und mit ihrer Energie und Dynamik war nur schwer mitzuhalten. Feine Rauchschwaden wirbelten um ihr sorgsam frisiertes graues Haar, das sie absichtlich nicht färbte, weil sie der Meinung war, die silberfarbenen Strähnen schmeichelten ihrem Teint. Man sah sie nie ohne eine Zigarette, die sie stets in einer Spitze aus Elfenbein hielt, dem Relikt aus einer anderen Ära. Ich hatte das gute Stück auf einem der Flohmärkte am Seineufer gefunden, und Madame hielt es in Ehren.
Wenn ich sie wegen ihrer Zigarettensucht tadelte, lachte sie nur und erklärte, ihre Laster hielten sie jung. Madame Dupont genoss das Leben in vollen Zügen, sprühte nur so vor Charme und Esprit. Sie war früher eine berühmte Chansonnette gewesen, hatte mit Künstlern aus der ganzen Welt verkehrt, und dieser Glanz haftete ihr noch immer an. Männer wie Frauen suchten ihre Gesellschaft und brannten darauf, ihre Geheimnisse zu ergründen. Ich fand es immer höchst amüsant, wie die Leute um ihre Aufmerksamkeit buhlten. Unsere morgendlichen Treffen hingegen fanden in einer ruhigen Pariser Seitenstraße statt, so dass wir uns ungestört austauschen konnten.
Die schwarz-weißen Zeitungsseiten raschelten im Wind, als wollten sie mich an den Artikel mit seiner beunruhigenden Überschrift erinnern. »Es hat eine Einbruchserie in Sorrent gegeben, in Italien«, sagte ich und reichte Madame Dupont die Zeitung. »Die Auktionshäuser Dolce und Rocher sind betroffen.«
»Was? Aber wir sind doch gerade erst dort gewesen!« Madame Dupont schob sich die diamantbesetzte Lesebrille auf die Nase und überflog den Artikel.
»Oui«, sagte ich. »Können Sie sich das vorstellen?« Über unsere italienischen Kollegen mit ihrem Angebot an Antiquitäten waren wir gut informiert. Ich begleitete Madame Dupont häufig auf Geschäftsreisen, denn dem Erlebnis, fremden Boden zu betreten, andere Luft zu atmen und den Sternenhimmel aus neuer Perspektive zu sehen, konnte ich einfach nicht widerstehen. Als Inhaberin des Time Emporium handelte Madame Dupont mit Uhren und suchte an allen Enden der Welt nach einzigartigen Exemplaren. Ich war auf französische Antiquitäten spezialisiert und bot bei Auktionen nur auf Stücke aus meinem Heimatland. Durch Nachlassverkäufe, Flohmärkte und andere Quellen hatte ich in Paris ausreichend zu tun, aber wenn mich die Abenteuerlust packte, zog es mich hin und wieder auch in die Ferne.
Madame Dupont hatte mich auf eine zweitägige Reise nach Sorrent, südlich von Neapel, mitgenommen. Ihre Ausdauer und Unternehmungslust waren zwar beeindruckend, aber so strapazierend, dass ich mir nachmittags lieber eine Auszeit genommen und Siesta gehalten hatte, um für den Abend wieder bei Kräften zu sein. Vormittags hatten wir die Antiquitäten in den erwähnten Auktionshäusern bewundert, und Madame Dupont hatte erfolgreich auf ein paar der wunderbaren Uhren geboten. Französische Antiquitäten waren nicht dabei gewesen, so dass ich nur herumgestöbert und mein Einkaufsbudget nicht strapaziert hatte.
Nun runzelte sie besorgt die Stirn. »O nein«, sagte sie und bewegte beim Weiterlesen stumm die Lippen. »Wie schrecklich, dass sie die Sammlungen L’amore di uno und L’arte di romanticismo verloren haben!« Die kostbaren Juwelen waren unter Händlern gut bekannt – bei den rosafarbenen Diamanten dachte jeder sofort an Coco Salvatore, die bekannte Sopranistin, die bis zu ihrem Tod vor einigen Jahren das Haus nie ohne eines dieser Schmuckstücke verlassen hatte.
Als wir die Juwelen in Sorrent dann mit eigenen Augen sahen, stockte uns fast der Atem. Sie schienen regelrecht zu pulsieren, als hätten sie einen Teil der Kraft und der Stimme der Sängerin in sich aufgenommen.
Madame Dupont legte sich eine Hand auf die Brust. »Schockierend! Was, wenn der Dieb direkt an uns vorbeigelaufen ist, ohne dass wir ihn bemerkt haben?«
Ich nickte und trank einen Schluck Café au lait. »Das wäre durchaus vorstellbar. Und wir hatten keine Ahnung.«
Madame Dupont strich ihren Rock glatt und schwieg einen Moment. Dann sagte sie: »Aber wie diese Diebe die Technik überlisten konnten, die doch beim feinsten Flüstern anschlägt, ist mir ein Rätsel. Sie müssen sich ausgezeichnet mit den heutigen Sicherheitssystemen auskennen. Da ich gerade mal in der Lage bin, eine E-Mail zu verschicken, empfinde ich beinahe Respekt vor dieser Leistung.«
»Madame Dupont! Sie dürfen doch keinen Respekt vor Dieben haben!« Ein Auto, das in eine winzige Parklücke manövrierte, zog unsere Aufmerksamkeit auf sich. Minis wie diesen gab es in Paris zuhauf, und geübte Fahrer schafften es in jeden noch so kleinen Zwischenraum.
»Warum nicht? Immerhin ist er ein Dieb mit sehr viel Intelligenz.«
»Er?«, fragte ich nach.
Sie verdrehte die Augen. »Natürlich ist es ein Er. Oder vielleicht ein Team von Ers. Frauen schätzen Diamanten viel zu sehr, als dass sie sie stehlen würden. Nun gut, einfacher wäre es natürlich, wenn der Täter nur eine Person wäre. Je mehr Menschen an einem Geheimnis teilhaben, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie geschnappt werden.«
Ich zog die Augenbrauen hoch. »Sie klingen ja, als sprächen Sie aus Erfahrung, Madame.«
Ich musste sie einfach ein wenig aufziehen. Madames Vergangenheit strotzte nur so von wilden Episoden, auch wenn sie selbst darüber Stillschweigen bewahrte. Um ihre glorreichen Tage rankten sich die abenteuerlichsten Geschichten. Die berüchtigste war, sie sei in den Sechzigern die Geliebte des umschwärmten Marquis Laurent gewesen, eines Mannes mit flamboyantem Lebensstil, fast unanständigem Reichtum und engen Verbindungen zu den höchsten europäischen Adelshäusern. Eine Affäre wäre aus diversen Gründen skandalös gewesen, noch skandalöser jedoch war das Gerücht um ihre Trennung – angeblich war Madame die erste Frau, die je sein Herz gebrochen hatte. Niemand trennte sich vom Marquis, wenn er es nicht wollte, aber Madame Dupont hatte es getan, weil sie keine Lust hatte, sich fest zu binden. Sie hatte es damals nicht gewollt und wollte es heute genauso wenig. Sie liebte ihre Freiheit und Unabhängigkeit, ob nun von Männern, Kindern oder anderen Verwandten.
»Wollen Sie damit andeuten, ich könnte im Laufe meines langen und erfüllten Lebens jemals auf irgendeine Weise kriminell gewesen sein?« Sie kicherte wie ein junges Mädchen.
»Ich traue Ihnen sogar das zu, auch wenn Sie es natürlich niemals eingestehen würden.« So war das nämlich mit ihrer Vergangenheit: Madame selbst schwieg wie ein Grab.
»Oui, meine Geheimnisse sind sicher verwahrt.« Sie schmunzelte. Ihr Blick schweifte in die Ferne, als würde sie überlegen. »Aber haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, Anouk, was für Aufgaben ein Krimineller heute bewältigen muss? Allein, was man können muss, um irgendwo nur hinein- und wieder herauszugelangen, ist unvorstellbar. Und erst der Verkauf! Diese Juwelen kann niemals jemand tragen, weil man sie sofort wiedererkennen würde.«
Ich brach ein Stück von meinem Croissant ab. Auf dem Tisch verteilten sich Krümel von Blätterteig. »Eine Schande, dass diese wunderbaren Schmuckstücke verschwunden sind. Es geht nicht nur um ihren materiellen Wert – es hängen so viele Geschichten an ihnen, die nun für immer verloren sind. Und wozu? Damit sie von der Öffentlichkeit ungesehen in irgendeinem Tresor verstauben.« Ich kaute bedächtig, lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und warf einen Blick auf den Eiffelturm, der von der Boulangerie Fret-Co abseits der Avenue de la Bourdonnais zu sehen war. Schon seit Jahren gingen Madame Dupont und ich hier gemeinsam frühstücken.
Hier änderte sich nichts: Stammgäste betraten die Bäckerei und kamen mit frischen Baguettes unter dem Arm wieder heraus. Der Kaffee war immer stark und gut, die Croissants weich und buttrig und die Sicht auf den Eiffelturm wunderschön und heute teils vom Blätterdach der Bäume verdeckt, das immer wieder aufriss, wenn der Wind hineinfuhr. Am Morgen war es hier zumeist ruhig, nur der bucklige Mann von nebenan schob pfeifend seine Postkartenständer herum und staubte sie gelegentlich ab.
Madame Dupont wohnte eine Straße weiter in einem Penthouse-Apartment an der Avenue Élisée-Reclus, nur einen Katzensprung vom Eiffelturm entfernt. Auch mein kleines Antiquitätengeschäft lag ganz in der Nähe, etwas dichter noch an der Avenue Gustave Eiffel, umgeben von Bäumen und Blumenbeeten, die je nach Jahreszeit hübsch bepflanzt wurden.
»Die reine Gier ist es«, schimpfte Madame Dupont. »Das allein treibt diese Schwarzmarktkäufer an. Die Juwelen werden aber nicht für immer verloren sein – ich bin sicher, die Carabinieri fangen den oder die Täter. Schließlich sind auch die heutzutage technisch bestens ausgestattet – irgendwer beobachtet immer alles.« Ihre Worte sollten mich beruhigen, doch der zwitschernde Tonfall ihrer sonst eher tiefen Stimme verriet ihre eigene Unsicherheit. Sie wusste ebenso gut wie ich, dass die Juwelen, falls sie das Land verlassen hatten, nie wieder auftauchen würden.
»Vielleicht«, sagte ich, wenig überzeugt. Allmählich erwachte die kleine Straße zum Leben: Autos hupten, neugierige Touristen spazierten auf der Suche nach einem Café umher – der übliche Hintergrund unserer morgendlichen Treffen und ein Signal, mit der Arbeit anzufangen.
Ich trank meinen Milchkaffee aus. »Seien wir auf jeden Fall dankbar, dass nicht Paris das Ziel dieser Diebe war.«
Kurz nach Mittag fiel der Schatten des Eiffelturms auf das Fenster meines kleinen Antiquitätengeschäfts und tauchte seine Schätze in sepiafarbenes Licht, so dass sie wie auf alten ausgebleichten Fotografien wirkten. Der ganze Raum erschien auf einmal wie aus einer anderen Welt, als wäre man wahrhaftig in der Zeit zurückgereist.
Allerdings hatte ich keine Zeit für nostalgische Träumereien, denn ich hatte Kundschaft.
»Du hast mein Wort, Anouk«, sagte Océane und sah mich mit ihren chinablauen Augen durchdringend an. Flüsternd fügte sie hinzu: »Ich kenne Agnes schon seit Ewigkeiten. Sie ist vertrauenswürdig, das kann ich versprechen.« Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf die schlanke Frau mit tiefschwarzem Haar, die ein paar Schritte weiter hinten stand und unter meinem prüfenden Blick errötete. Nervös spielte sie mit den Quasten ihrer Handtasche und senkte den Kopf.
»Ist sie Französin?«, flüsterte ich zurück, immer noch nicht überzeugt. Ich verkaufte prinzipiell nur an Leute, die mir von geschätzten Kunden persönlich vorgestellt wurden. Vielleicht eine Marotte, aber eine, die ich nicht ändern würde. Wenn ich einfach an jeden verkaufte, wer konnte dann wissen, was mit unserem Erbe geschah? Selbst in finanziell schwierigen Zeiten vergewisserte ich mich immer, dass meine Kunden vertrauenswürdig waren.
Hin und wieder verlor Agnes ihre sorgsam aufgesetzte Haltung und begutachtete meine antiken Schmuckstücke mit fast gierigem Blick. Solche Leute lehnte ich normalerweise direkt ab, weil ich ihren Motiven nicht traute. Möglicherweise waren sie nicht auf der Suche nach einem Stück Geschichte, einem Erbstück, das sie wertschätzen würden, sondern sie sammelten Dinge ohne Respekt vor deren Vergangenheit. Ich war jedoch der Meinung, dass gewisse Stücke mit sentimentalem oder historischem Wert geschützt werden mussten.
Wie auch immer: Océane von Once Upon A Time, dem kleinen Buchladen am Ufer der Seine, war eine treue und vertrauenswürdige Kundin und würde mir nur jemanden empfehlen, der ebenfalls verlässlich wäre. Es war lediglich der seltsame Blick dieser Agnes, der mich zögern ließ. Aber vielleicht hatte mich der Bericht über die Diebstähle in Italien übertrieben misstrauisch gemacht.
Fest stand dennoch, dass Antiquitäten angemessene Anerkennung erfahren sollten und ich stets bestrebt war, für meine Schätze die passenden Käufer zu finden. Ich bedauerte sehr, dass diese Tradition mehr und mehr verloren ging, weil die Menschen lieber an die Zukunft dachten als an die Vergangenheit. Technikbesessenheit und der Drang, sich alle Wünsche sofort zu erfüllen, überlagerten alte Werte. Allein bei diesem Gedanken wurde ich schon ganz deprimiert.
»Natürlich ist sie Französin«, sagte Océane jetzt. »Ihrer Familie gehört die Boulangerie an der Rue Saint-Antoine. Sie sucht einen kleinen Rubinanhänger für ihre Mutter. Ihre Eltern feiern bald ihren vierzigsten Hochzeitstag. Ich verspreche dir hoch und heilig, dass sie deine Kriterien erfüllt.«
Als Océane den Hochzeitstag der Eltern erwähnte, änderte sich die Haltung der fremden Frau sofort. Sie lächelte zaghaft, ihr Gesichtsausdruck entspannte sich, und sie blickte wie durch mich hindurch, als würde sie an ihre Eltern und alles Schöne denken, was sie in ihrer Ehe lebten. Ihr schien überhaupt nicht aufzufallen, dass ich sie beobachtete, da sie offenbar in Erinnerungen schwelgte.
Ich bekam eine leichte Gänsehaut, was ein sicheres Zeichen war, dass ich ihr meinen außergewöhnlichen Schmuck präsentieren konnte. Auf dieses Zeichen meines Körpers verließ ich mich oft mehr als auf andere Zeichen.
Agnes’ Blick fiel auf einen schlichten Rubinanhänger in meiner Auslage und verharrte dort. Sie war nicht gierig, sie wollte nicht alle, sondern nur ein perfektes Stück – das konnte man nun klar und deutlich an ihrem Gesicht ablesen.
Selbst im mittlerweile leicht trüben Licht des Nachmittags glitzerte das Schmuckstück aufreizend. Agnes spielte mit dem Saum ihrer Bluse, als wollte sie ihre Hände davon abhalten, nach dem Rubin zu greifen. Sie hatte eine gute Wahl getroffen. Klassisch, zeitlos und zauberhaft. Und von einem so tiefen Rot, dass man sich darin verlieren konnte.
Ich war stolz darauf, von jedem meiner Objekte die Herkunft ergründet zu haben, ohne die eine Antiquität meiner Meinung nach keinen speziellen Reiz ausstrahlen konnte.
»Treten Sie näher.« Ich winkte Agnes heran. »Diesen Anhänger habe ich vor ein paar Jahren bei einem Nachlassverkauf in der Provence erstanden. Würden Sie gern mehr über seine Herkunft erfahren?«
Sie nickte. »Sehr gern. Ich habe noch nie zuvor etwas gesehen, von dem ich auf Anhieb so überzeugt war, dass es zu meiner Maman passt. Alle anderen Schmuckstücke verblassen neben diesem.«
Es war der richtige Anhänger für die Mutter, dessen war auch ich sicher. Mit gedämpfter Stimme erzählte ich: »Als ich dort war, kam eine Nachbarin, um die Versteigerung des Nachlasses ihrer Freundin zu verfolgen, und ich fragte sie, was sie über diesen Anhänger wisse, welche Bedeutung er für seine Vorbesitzerin gehabt habe. So, wie es jetzt Ihnen ergeht, hat auch mich dieses eine Stück mehr als alle anderen der Auktion angesprochen. Die Nachbarin erzählte mir, die Frau habe schon als junges Mädchen die Liebe gefunden, die dann ein Leben lang gehalten hatte.«
Agnes lächelte. Vielleicht entsprach dies auch der Geschichte ihrer Eltern.
»Ihr Mann schenkte ihr den Rubin auf der Hochzeitsreise«, fuhr ich fort, »und sie berührte ihn ständig, wie um sicherzugehen, dass er noch da wäre. Von allen Dingen, die sie besaß, war dieser Anhänger der Gegenstand, der ihre Liebe und deren Unvergänglichkeit am besten repräsentierte.«
Agnes neigte den Kopf zur Seite. »Hatte sie ein gutes und langes Leben?« Wenn ein Kunde etwas so Besonderes wie den Rubinanhänger kaufte, setzte er die Geschichte seiner Vorbesitzerin auf gewisse Weise fort. Der Rubin nahm Anteile von Herz und Seele all seiner Besitzer aus Vergangenheit und Gegenwart in sich auf, die somit auf ewig Teil von ihm wurden.
Ich lächelte. »Das hatte sie. Beide wurden über achtzig Jahre alt; sie starb nicht lange nach ihm. Die Nachbarin sagte, es sei bei ihnen keinesfalls immer alles eitel Sonnenschein gewesen – sie hätten oft und laut über seine Arbeit gestritten, wegen der er im ganzen Land herumreisen musste, während sie allein zu Hause blieb. Sie stritten über ihr Haar: Er mochte es lang, also ließ sie es kurz schneiden. Einmal warf sie alle seine Kleider vom Balkon, und er lachte nur, was sie noch wütender machte. Aber sie hielten durch alle Höhen und Tiefen zusammen, wie Pech und Schwefel, und liebten einander voller Leidenschaft.« Ich unterbrach kurz und sah ein Leuchten in Agnes’ Augen. Das war das Schönste an meiner Arbeit: wenn ich überzeugt war, dass ein Stück nicht nur um seiner Schönheit, sondern auch um seiner Geschichte willen in Ehren gehalten würde.
»Sie waren zweiundsechzig Jahre verheiratet, als er starb«, fuhr ich fort. »Es heißt, sie hätte ihm danach jeden Tag einen Liebesbrief geschrieben, bis auch für sie die Zeit gekommen war. Ich wollte den Rubin schon für mich selbst behalten, so angetan war ich von seiner Geschichte.« An jenem Tag hatte es noch wertvollere und sicher leichter verkäufliche Schmuckstücke gegeben, aber ich war von diesem Rubin fasziniert gewesen und hatte ihn unbedingt haben wollen. Und jetzt wusste ich auch warum: für Agnes’ Mutter.
Wenn ich die Augen schloss, sah ich die Kette und den Anhänger dort, wo sie einst gewesen waren: auf einem gebräunten Dekolletee, in nach Lavendel duftender Luft, mit einem nahe gelegenen Olivenhain.
Agnes lächelte mich an. »Meine Eltern gehen immer noch Hand in Hand zur Arbeit. Sie streiten, wessen Baguette-Rezept das bessere ist, und ich meine damit richtig französisches Streiten, mit Händen auf den Hüften, roten Gesichtern und knurrigen Schimpfwörtern, bis jemand die beiden beschwichtigt, dass jedes ihrer Rezepte auf eigene Weise hervorragend wäre. Maman nennt ihn einen Esel, und er sagt, sie wäre eine Ziege, und sie ahmen Tiergeräusche nach, bis einer von ihnen lauthals loslacht und die Kunden erschreckt. An manchen Abenden reden sie nicht miteinander, weil sie den ganzen Tag über mit Kunden geredet haben und ihnen die Worte ausgegangen sind. An anderen Tagen legt sie den Kopf an seine Schulter, und er flüstert ihr etwas zu, als wären sie die einzigen Menschen auf der Welt. Ihre Liebe glüht noch immer …«
»… und jetzt strahlt sie ganz besonders«, fügte ich hinzu und lächelte.
Behutsam hob ich den Anhänger aus dem Schaukasten. Er glitzerte im Licht, als würde er uns zublinzeln und »ja« sagen. »Für Ihre Mutter«, sagte ich und ließ sie ihn genauer betrachten.
Mit leicht zitternder Hand nahm sie das Stück entgegen und flüsterte: »Er ist perfekt.« Als sie den Preis sah, wurde sie kurz blass, fing sich jedoch gleich wieder. Ein so einzigartiges und besonderes Geschenk war jeden Cent wert, und ich hasste es, darum zu feilschen. Zum Glück schwieg sie und akzeptierte den Wert, wie alle meine geschätzten Kunden es taten. »Darf ich ihn mitnehmen?«
Ich nickte. »Ich werde ihn noch einpacken.«
Océane nickte mir dankbar zu, während Agnes beobachtete, wie ich den Anhänger polierte, in eine mit Satin ausgeschlagene Schachtel legte, einwickelte und zum Schluss mit einem antiken Spitzenband verschnürte.
»Ich hoffe, Ihre Eltern haben noch viele weitere Hochzeitstage, die so schön werden wie dieser«, sagte ich. Agnes reichte mir einen Stapel Scheine und strahlte wie ein Kind am Weihnachtsabend. In Momenten wie diesem spürte ich deutlich, wie sehr ich meinen kleinen Laden liebte und dass ich einem Stück Vergangenheit eine passende Zukunft beschert hatte. Ich wusste, Agnes würde ihren Eltern die Geschichte der Vorbesitzerin erzählen, und dann wüssten auch sie, dass es um mehr ging als nur ein Schmuckstück. Und wenn sie es wiederum weitergaben, würde auch ihre Liebesgeschichte ein Teil des Rubinanhängers sein.
»Merci.« Agnes hielt die Schachtel so vorsichtig in der Hand, als wäre sie ein Vogelbaby.
In diesem Moment ging eine lärmende Touristengruppe am Fenster vorbei, und ich erstarrte.
»Mince alors! Davon kommen immer mehr«, meinte Océane und sah ebenfalls zur Gruppe hinaus, die der Stadtführer bestimmt absichtlich hierher gebracht hatte, weil er wusste, dass ich sie wieder verjagen würde.
»Schon wieder ein Andenken an diesen unsäglichen Joshua, den Amerikaner«, kommentierte Océane. Erst vor kurzem hatte ich ihr die Geschichte meines Exfreundes Joshua erzählt, der auf denkbar niederträchtige Weise den Herausgeber des Reisebuchverlags Solitary World über mein kleines Antiquitätengeschäft mit dem »geheimen Hinterzimmer« informiert hatte. Seitdem wurde ich ständig von Menschen belästigt, die hier Fotos machen und einen der Geheimtipps von Paris abhaken wollten.
Natürlich waren diese Leute enttäuscht, wenn sie dann von mir hören mussten, dass sie dieses Geheimnis nicht zu sehen bekämen. Aber mir war es eben wichtig, die wertvollen Stücke in meiner Obhut zu beschützen. Würde ich jedem einfach so die Türen öffnen, würden immer mehr Leute herbeiströmen und anders mit meinen Stücken umgehen, als ich es mir wünschte. Oder schlimmer noch: sie stehlen, und das wollte ich nie wieder erleben. Den Rest der bitteren Trennungsgeschichte hatte ich Océane nämlich nicht erzählt, weil ich nicht noch mehr Mitleid wollte, aber Joshuas Redseligkeit war noch das Geringste, womit er mir weh getan hatte.
»Willst du, dass ich den Stadtführer verjage?«, schlug Océane vor und starrte die Leute, die ihre Nasen gegen die Fensterscheibe drückten, böse an.
»Nein, ist schon gut. Der weiß ganz genau, dass er nicht willkommen ist, aber er macht das zu ihrer Unterhaltung. Die Pariser Ladenbesitzerin, die die Leute nicht bei sich kaufen lässt, ruft er immer, als wäre es etwas Einzigartiges. Wahrscheinlich ist das für diese Leute eine lustige Anekdote, die sie später zu Hause erzählen können.«
Ich ging zur Tür, drehte das Schild auf Geschlossen, ignorierte die Beschwerderufe und bedachte den Fremdenführer mit einem eisigen Blick.
»Aber was ist mit dem Geheimzimmer?«, rief jemand aus der Gruppe.
Das Hinterzimmer war eben genau das: geheim – und dort sollte kein klebriger Touristenfinger auf den kostbaren Sachen herumtatschen oder für ein »witziges« Foto den Auslöser drücken.
Der Touristenführer gestikulierte wild und zog für die Gruppe eine Show ab. »Um hier zu kaufen, muss man den geheimen Handschlag kennen«, behauptete er und sah mich durch die Scheibe grinsend an. »Anouk ist sehr unkonventionell – genau wie die Staubfänger, die sie in ihrem Laden sammelt. Eine Pariser Ladenbesitzerin, die die Leute nicht bei sich kaufen lässt.«
»Siehst du?«, sagte ich zu Océane. »Es ist so vorhersehbar.«
»Was für ein Idiot«, kommentierte sie.
Die Gruppe freute sich über dieses Kuriosum und beobachtete mich durch die Glastür hindurch. Ich tat mein Bestes, den Fremdenführer zu ignorieren, weil ich wusste, dass es ihm irgendwann langweilig werden würde. Jegliche Reaktion provozierte nur sein Wiederkommen.
Stattdessen ging ich zu Agnes, die immer noch wie verzaubert auf die Geschenkschachtel starrte und gar nicht mitbekam, was um sie herum vorging.
»Das nächste Mal«, sagte ich und fasste sie leicht am Arm, »dürfen Sie auch ohne Begleitung zu mir kommen.«
Sie machte große Augen. »Merci!«
Ich war mir sicher, dass ich Agnes vertrauen konnte. Normalerweise erlaubte ich niemandem, der das erste Mal bei mir kaufte, ohne die Begleitung eines Stammkunden wiederzukehren, und das über Monate, manchmal sogar Jahre. Aber trotz meines ersten unguten Gefühls spürte ich jetzt, dass Agnes zu den Menschen gehörte, die alte Schönheit zu schätzen wussten – das konnte man an ihrer unwillkürlichen Reaktion auf die Rubingeschichte ablesen. Mir gefiel, dass sie die Liebe ihrer Eltern nicht romantisiert hatte – sie hatte ihr Zusammenleben ungeschönt beschrieben. Mit dieser Haltung wirkte sie auf mich authentisch, und ich würde ihr meine Schätze ohne weiteren Vorbehalt anvertrauen.
»Merci, Anouk«, sagte Océane. »Du hast aus dem Hochzeitstag ihrer Eltern etwas ganz Besonderes gemacht. Bis bald!« Nach allgemeiner Verabschiedung mit Wangenküsschen traten sie wieder in die süße Luft des lauen Frühlingstags hinaus.
Durch die geöffnete Tür drang der fröhliche Lärm des Pariser Lebens in den Laden. Die Bäume blühten, die Touristenströme nahmen zu, die Sonne im kornblumenblauen Himmel hatte wieder mehr Kraft. Aus der Entfernung hörte ich das leise Tuckern der Schiffe auf der Seine, und der Wind wehte den erdigen Flussgeruch zu mir herüber.
Ganz benommen von diesen Eindrücken, zuckte ich zusammen, als mir ein Fotoblitz ins Gesicht leuchtete, und musste mehrfach blinzeln, bis ich wieder sehen konnte. Die Touristengruppe hatte offenbar auf mein Erscheinen gelauert, und nun hielten alle ihre Handys hoch, fotografierten und riefen: »Na los: cheese!«
Warum sagten das bloß immer alle? Cheese – Käse? Das ergab überhaupt keinen Sinn.
»Au revoir«, erwiderte ich kurzangebunden, verschwand wieder in meinen Laden und schloss die Tür.
Und dann verfluchte ich Joshua, dass er erst mein Vertrauen missbraucht und mir dann das Herz gebrochen hatte. Immerhin hatte ich eine wertvolle Lektion gelernt und wusste, dass so einen Fehler ich nicht noch einmal begehen würde.
Eine Frau aus der Gruppe lächelte entschuldigend durchs Fenster, und ich nickte ihr dankbar zu.
Bonjour, Anouk! Was gibt’s Neues?«, hörte ich die melodische Stimme meiner Schwester zwitschern, nachdem sie durch die Ladentür gestürmt und auf mich zugestürzt war. Mit ihrer festen Umarmung drohte sie mich im Dickicht ihrer pfirsichduftenden Locken fast zu ersticken. Sie sprudelte stets über vor Lebenslust und Ausgelassenheit, was grundsätzlich wunderbar war. Wenn man jedoch mehr als einen Tag mit ihr verbrachte, fühlte man sich völlig ausgelaugt, als würde sie ihre Energie auch aus den Reserven der anderen gewinnen. Es war schwer, mit ihrem Tempo und ihren Einfällen Schritt zu halten.
Unser Vater hatte sie zur Ausbildung nach Paris geschickt und gehofft, sie würde unter meiner Obhut ruhiger und vernünftiger werden. Lilou verspürte jedoch nicht die geringste Lust, sich seinen Plänen und Vorgaben zu fügen, was sie ihm natürlich weder ins Gesicht noch am Telefon sagte. Falls er sie tatsächlich einmal telefonisch erwischte, log sie ihn rundheraus an oder instruierte mich, ihn im Unklaren darüber zu lassen, was in ihrem Leben tatsächlich vorging. Es war ein Katz-und-Maus-Spiel, an dem ich unfreiwillig teilnahm.
Papa dachte, ich würde sie auf den rechten Weg führen, aber bisher war sie eher auf Abwege geraten, wenn sie ihre Ausbildung als Rechtsanwaltsfachangestellte wieder einmal als zu langweilig empfand und lieber loszog, um die Großstadt zu erkunden. Oft kam sie mir mehr wie mein eigenes aufmüpfiges Kind vor denn wie meine jüngere Schwester.
Wenn unser Vater wüsste, dass sie ihre Ausbildung vernachlässigte, wäre er außer sich. Doch wenn sie erst einmal in Fahrt war, war sie nicht mehr zu bremsen und äußerst geschickt darin, jede Situation zu ihrem Vorteil zu nutzen. Mit Sicherheit konnte ihr niemand vorwerfen, das Leben nicht in vollen Zügen zu genießen.
»Lilou, wo warst du die ganze Zeit? Papa hat jeden Tag angerufen.« Ich gab mir Mühe, streng zu wirken, was bei ihrem strahlenden Gesicht nicht leicht war. Trotz aller Verrückt- und Ungezogenheiten liebte ich sie doch sehr.
Sie zuckte mit den Schultern. »Papa soll anrufen, so oft er will. Ich hasse diese Ausbildung und werde sie nicht weitermachen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich will nie in einer Kanzlei arbeiten, da würde ich vor Langeweile umkommen.«
Ich unterdrückte ein Schmunzeln, denn ich wusste, sie hatte recht. Papa hatte sich in den Kopf gesetzt, dass Lilou Rechtsanwaltsgehilfin werden solle, nachdem ein Nachbar mit der Karriere seiner Tochter geprahlt hatte, aber es passte einfach nicht zu ihr. In einem Büro würde sie eingehen wie eine Primel ohne Wasser.
Das Leben in vollen Zügen zu genießen, wie sie es stattdessen tat, war allerdings keine langfristige Alternative, denn ich stimmte meinem Vater zu, dass sie eine solide Grundlage für ihr weiteres Leben brauchte. Ohne eine vernünftige Berufsausbildung und ohne rechtes Ziel würde sie sich sonst eines Tages verloren fühlen.
»Wenn du die Ausbildung abbrichst, gibt er dir aber kein Geld mehr, und wie willst du dann deine Miete bezahlen?«
Typischerweise ignorierte sie diesen Einwand und sagte: »Ich arbeite, ich brauche keine Ausbildung. Und zum Glück«, sie grinste, »gibt mir mein Job die Freiheit zu reisen. Ich muss nur noch mehr Geld verdienen, und das braucht Zeit. Es ist doch nichts falsch daran, seinen Lebensunterhalt mit Schmuck zu verdienen … Das ist auch eine Karriere.«
Es war offensichtlich, dass sie sich nicht umstimmen ließ. »Lilou, deine Entwürfe sind wirklich ein tolles Hobby, und es könnte daraus auch ein Beruf werden, wenn du daran arbeiten würdest, aber im Moment verdienst du nicht mal annähernd genug, um deine Miete zu begleichen. Mit deinen paar Verkäufen im Internet kannst du deine Rechnungen nicht bezahlen, geschweige denn das ausschweifende Leben, das du hier führst. Papa macht sich Sorgen, und das zu Recht.«
Lilous selbstgefertigter Schmuck war zauberhaft, brachte aber nicht viel ein, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie es auf eine Menge ausweitete, von der sie leben konnte, weil Anstrengung für sie ein Fremdwort war.
Lilou warf sich die Locken über die Schulter und verdrehte die Augen. »Irgendwo muss ich doch anfangen. Das Internet ist doch nur die erste Stufe. Natürlich bin ich noch nicht so weit, im siebten Arrondissement zu verkaufen«, sie schnitt eine Grimasse, weil sie mich wegen meiner Lage und der Exklusivität meines Geschäfts aufziehen wollte, »aber es ist ein Anfang. Papa soll sich lieber um seinen eigenen Kram kümmern – und du auch. Lass dich von ihm nicht zwingen, meine Aufpasserin zu spielen.«
»Gute Idee«, meinte ich sarkastisch und hob den Telefonhörer. »Dann ruf ihn an und erklär es ihm.«
Sie besaß den Anstand zu erröten, und mit dem rosa Schimmer auf ihren Wangen sah sie noch hübscher aus. »Hm … können wir vielleicht noch ein paar Wochen damit warten? Nur, bis meine Verkaufszahlen tatsächlich etwas steigen?« Sie sah mich flehentlich an. »Dann legen wir das erst mal ad acta, und ich erzähle dir von dem phantastischen Sonnenuntergang, den ich in Marseille erlebt habe. Als Andenken daran will ich eine ganze Kollektion in Orange machen. Lass uns was essen gehen, und ich erzähle dir alles. Ich habe Claude bei dir in der Wohnung gelassen, dann müssen wir uns nicht so beeilen.«
Sie lehnte sich über die Verkaufstheke, schnappte meine Handtasche und zog mich mit einem Schwung zur Tür hinaus. Ich suchte nach meinem Schlüssel.
»Claude ist in meiner Wohnung?«
»Ja, du hast gerade einen wichtigen Punkt angesprochen, über den ich vorher auch schon nachgedacht hatte: Mit dem bisschen Geld, das Papa mir gibt, und meinen noch geringen Einkünften kann ich mich tatsächlich kaum über Wasser halten. Also habe ich meine Wohnung aufgegeben und werde erst einmal bei dir einziehen – um Miete zu sparen. Ich wusste, du würdest meine Entscheidung unterstützen …« Beim Anblick meines entsetzten Gesichts hielt sie inne.
»Lilou …«
»Was? Du hast doch selbst gesagt, ich müsste meine Ausgaben reduzieren und langfristige Ziele setzen. Genau das habe ich getan. Ich werde meine Wohnung vermissen, aber ich muss nun mal Opfer bringen. Bei dir zu wohnen, wird ein riesiges Opfer, aber ich plane eben für die Zukunft – genau, wie du es wolltest. Und was meinst du, wie glücklich Papa und Maman sein werden, wenn sie wissen, dass du jetzt noch besser auf mich aufpassen kannst.«
Entwaffnet durch ihre wie immer clevere Art, atmete ich tief durch. Mit ihr zusammenzuwohnen wäre eine Übung in Geduld und Toleranz, vor allem in Sauberkeitsfragen. »Aber … ich brauche meine Privatsphäre, das weißt du.«
Sie nickte. »Claude und ich werden die Wohnung nur als Basis benutzen, mehr nicht. Keine Sorge, du wirst deine Privatsphäre behalten.«
Damit war das Thema für sie offenbar erledigt, denn sie hakte sich bei mir unter und marschierte los.
»Warte mal, wer ist eigentlich Claude?«, fiel mir in diesem Augenblick ein.
»Mein Freund.« Unbeirrt zog sie mich weiter, vorbei an all den Menschen, die ebenfalls diesen schönen Frühlingstag in Paris genossen.
»Und was ist aus Rainier geworden?«
Ehe Lilou vor drei Wochen verschwunden war, hatte sie sich in einen gutaussehenden Mann verliebt, dessen grüblerische, etwas unnahbar wirkende Art sie sehr reizte. Rainier war Winzer aus dem Haut-Médoc, der sich ein Jahr Auszeit genommen hatte, um sein Land besser kennenzulernen und seinen Horizont zu erweitern, natürlich ohne dabei das Trinken edler Weine zu vernachlässigen – er war ein Weinkenner, wie er im Buche steht, und konnte nach dem Riechen, Schlürfen und Schmatzen die Eigenschaften eines Weines formulieren wie ein Gedicht. Ich fand, er passte perfekt zu ihr, und fragte mich, was aus ihm geworden war.
»Oh.« Sie zögerte. »Wir waren einfach nicht mehr kompatibel. C’est la vie.«
»Schon wieder?« Ich konnte den Vorwurf in meiner Stimme nicht kaschieren. Es war eine Sache, jedes Mal Reißaus zu nehmen, wenn ein noch interessanterer Mann daherkam, aber mittlerweile ließ sie eine ganze Spur gebrochener Herzen hinter sich, und ich wusste nur zu gut, wie so etwas sich anfühlte. Natürlich konnte man niemanden überzeugen, Gefühle für jemand anderen zu haben – und sie würde mir ohnehin nicht zuhören –, aber es tat weh, dass sie mit den Gefühlen anderer so leichtfertig umging. Ich schob es auf ihre Jugend und hoffte, es würde sich irgendwann auswachsen. Wir waren sechs Jahre auseinander, aber manchmal fühlte es sich an wie zwanzig.
»Ich mochte Rainier gern. Er hatte etwas Besonderes.«
Sie überging meinen Kommentar und zwinkerte zwei jungen Kerlen zu, die auf einer Wiese saßen. Lilou flirtete für ihr Leben gern und würde es sich niemals ausreden lassen.
Dann drehte sie sich wieder zu mir. »Dann hätte ich euch doch verkuppeln können – hättest du nur was gesagt.«
Ich musste ob dieser lächerlichen Vorstellung loslachen. »Doch nicht für mich – für dich!«
Wir spazierten am Rand des Champ de Mars entlang. Die etwa 800 Meter lange Grünfläche wurde bis ins achtzehnte Jahrhundert landwirtschaftlich genutzt: Pariser Bürger bauten auf jeweils zugeteilten Flächen Obst, Gemüse und Blumen an, um sie auf dem Markt zu verkaufen. Heute war das Marsfeld ein Park mit weiten Rasenflächen, auf denen man Picknick halten und den Eiffelturm bestaunen konnte.
»Du hast Claude noch nicht gesehen! Und«, sie machte eine dramatische Pause, »sein Bruder Didier lebt ebenfalls in Paris und ist zufällig Kunstkritiker. Er liebt Kunst. Und du doch auch …«
Als ob das ausreichte, um mit jemandem ins Bett zu springen, wozu sie mich ständig drängte. Ich schüttelte vehement den Kopf.
»Tu das nicht, bitte … nicht noch mal.« Sie schien es als ihre Mission anzusehen, mich mit einem Mann zu verkuppeln, egal was für einem. Als Erstes hatte sie mir ein Rendezvous mit einem sechzigjährigen Grafen mit Zwirbelbart verschafft, dann mit einem Dreadlock-Gitarristen mit Hang zu biblischem Zungenreden und zuletzt mit einem Magier, der immer wieder drohte, er werde meine Kleidung verschwinden lassen. Bei der Erinnerung lief mir gleich wieder ein Schauer über den Rücken.
Den Rest des Wegs verbrachten wir schweigend und hielten das Gesicht in die Sonne. Eine gute Viertelstunde später erreichten wir eines unserer Lieblingslokale: das Mille, nahe Les Invalides. Dieser gigantische Gebäudekomplex war im siebzehnten Jahrhundert als Heim für Kriegsversehrte errichtet worden, heute beherbergt er mehrere Museen, und im dazugehörigen Invalidendom befindet sich das Grab von Napoléon Bonaparte.
Das Mille servierte traditionelle französische Küche und eine Auswahl erlesener Weine – perfekt für ein ausgedehntes Mittagessen. Außerdem konnte man hier wunderbar Leute beobachten, was zu meinen Lieblingsbeschäftigungen gehörte.
Der Empfangschef erkannte uns, eilte herbei und wies uns einen Tisch am Fenster zu. Mit klimpernden Wimpern bestellte Lilou sofort einen Weißwein.
»Ist Weißwein in Ordnung?«, fragte sie mich, als er Richtung Theke verschwand. Sie stützte den Kopf in die Hand und lächelte nonchalant.
»Du hast ohnehin schon bestellt, oder?« Ich runzelte die Stirn und strengte mich an, missbilligend zu gucken, doch es gelang mir nicht.
»Stimmt.« Sie lachte, und ihre blauen Augen blitzten. Wir sahen uns ähnlich, aber Lilou strahlte eine Leichtigkeit und Verspieltheit aus, die mir schon als Teenager gefehlt hatte. Während wir ähnliche Gesichtszüge hatten, war unser Stil doch merklich verschieden. Ich trug am liebsten Secondhand-Kleidung im Stil der Vierziger, Lilou hielt sich – selbst bei geringem Budget – gern an die neuesten Modetrends. Das lockige Haar trug sie offen, locker und leicht wie ein Shampoo-Model, meines war streng zurückgekämmt und lag am Kopf an. Sie bevorzugte natürliches Make-up, ich den dramatischen Look mit Smokey Eyes und dunkelrotem Lippenstift. Hin und wieder durchsuchte sie meinen Kleiderschrank allerdings nach passenden Tüchern oder Kleidern – typisch jüngere Schwester eben.
Ich überflog die Speisekarte und entschied mich für das Tagesgericht – ich wollte mich überraschen lassen. Lilou wählte Rinderfilet mit Sauce Béarnaise und Dauphinkartoffeln. Obwohl sie zierlich war, konnte sie so viel verdrücken wie ein ausgewachsener Mann. Sie bestellte immer auch Vor- und Nachspeise – von der ich mir dann ein paar Happen abzweigte – und danach meist eine zweite Flasche Wein. Ich kannte sie und wusste, dass ich es wäre, die das Essen wieder einmal bezahlen würde, aber ich genoss es sehr, mal abzuschalten und Zeit mit einem Menschen zu verbringen, der mich in- und auswendig kannte, bei dem ich ich selbst sein konnte. Ob sich das wohl ändern würde, wenn wir zusammenwohnten? Die Vorstellung, dass Lilou meine ordentliche Wohnung, in der alles seinen Platz hatte, komplett auf den Kopf stellte, ließ Bedenken in mir aufkeimen, ob ich ihren Plan nicht lieber ablehnen sollte – aber hatte ich überhaupt eine Wahl? Wohnungen in Paris waren teuer, und ich wusste, sie würde ihre ohnehin nicht mehr lange bezahlen können. Ich beruhigte mich mit dem Gedanken, dass ich konkrete Regeln aufstellen würde, die sie zu befolgen hätte. Sie würde es sich gewiss nicht mit mir verscherzen wollen.
Wir bestellten, und der Kellner füllte unsere Weingläser. Beim ersten Schluck schon spürte ich, wie ich entspannte.
»Wo waren wir stehen geblieben?«, begann sie. »Ach ja … Also, ich weiß, dass meine bisherigen Verkupplungsversuche nicht ideal waren, aber dieser Didier …« Sie tat, als müsse sie sich vor lauter Hitze Luft zufächeln, und wackelte bedeutungsvoll mir den Augenbrauen. »Wow! Im Ernst, du musst ihn kennenlernen!«
Ich schnalzte abschätzig mit der Zunge, wie Maman es immer machte, wenn Lilou zu sehr Lilou war. »Nein, danke. Deine bisherige Auswahl war komplett daneben.« Ich verdrehte die Augen. »Ein Magier? Ein sechzigjähriger Graf? Also wirklich! Ich bin zwar älter als du, aber doch auch erst achtundzwanzig, um Himmels willen! Ich glaube nicht, dass ich mich jetzt schon an solche Figuren halten muss. Und ganz bestimmt nicht an Männer, die mein Vater sein könnten!«
Sie lehnte sich vor und flüsterte: »Manche Frauen finden reife Männer mit etwas Patina durchaus sehr reizvoll.«
»Patina?«
»Oui«, erwiderte sie. »Du weißt schon … ein Mann mit silbernen Strähnen im Haar … und viel Erfahrung … und viel Sexappeal.« Sie schlug mit der Hand auf den Tisch und lachte vergnügt.
»Lilou … du meine Güte!« Alle Gäste sahen zu uns her.
»Was?« Sie blies die Backen auf. »Du kannst doch nicht auf ewig deinen Liebeskummer pflegen. Sechs Monate der Trauer reichen vollkommen – das ist für diesen Mistkerl schon viel zu viel. Was du jetzt brauchst, ist eine leidenschaftliche Affäre.«
Ich krümmte mich auf meinem Stuhl zusammen und hoffte, dass niemand genau verstand, was sie von sich gab. »Ich bin nicht in Trauer«, protestierte ich, »ich habe nur gerade keine Zeit für Männer, das ist alles.«
Die hässlichen Details meiner Beziehung zu Joshua kannte Lilou nur, weil die kleine Schnüfflerin in meinem Tagebuch gelesen hatte. Auch wenn ich ihr eigentlich alles erzählte, hatte ich die schlimmsten Fakten für mich behalten, denn wer ging mit so einer Demütigung schon gern hausieren?
»Und wenn ich tatsächlich einmal Zeit für eine Beziehung habe, dann suche ich mir bestimmt keinen Mann, wie du sie immer vorschlägst. ›Mit Patina‹ – also ehrlich!«
Sie lachte. »Du hast gesagt, du willst jemand Besonderen. Und Grau ist das neue Schwarz.«
»Der Meinung bin ich nicht, Lilou.« In manchen Dingen war sie ziemlich neben der Spur.
Kopfschüttelnd zupfte sie ihr Kleid zurecht und lehnte sich zurück. »Liebste Schwester, du hast recht: Du bist erst achtundzwanzig. Und nicht achtundachtzig. Warum willst du nicht ein bisschen Spaß haben, während du auf den Richtigen wartest? Sogar Madame Dupont hat mehr Sex als du, und die ist wirklich schon bald achtzig.«
Zwar wunderte ich mich, dass Madame Dupont meiner Schwester ihre Bettgeschichten anvertraute, aber wenn sie es wollte, konnte Lilou Geheimnisse tatsächlich bewahren. Und beide hatten entdeckt, dass sie sehr ähnliche Vorstellungen hatten, auch wenn sie ein halbes Jahrhundert versetzt lebten.
Als ich Lilous enttäuschten Gesichtsausdruck sah, musste ich an mich halten, nicht die Augen zu verdrehen. »Nicht für jeden dreht sich alles nur um Sex, weißt du? Zu Intimität gehört noch einiges anderes dazu.«
Sie seufzte. »Was willst du – Blumen, Schokolade? Ein Gedicht oder zwei? Dass dein Name in den Himmel geschrieben wird?« Sie tat, als müsse sie gähnen. »Eine Durchschnittsromanze? Nein, Anouk! Du solltest deine Reizwäsche entfusseln, dem nächstbesten gutaussehenden Mann auf den Schoß springen und die Natur ihren Lauf nehmen lassen. Stürz dich Hals über Kopf in ein Abenteuer, dann hast du diesen – wie hieß er noch gleich? – im Handumdrehen vergessen.«
Es war unmöglich, nicht zu lachen. Meine Reizwäsche entfusseln? »Danke für den Vorschlag, Lilou, aber ich halte das für keinen sehr weisen Rat. Wozu die Eile? Was, wenn der erste verfügbare Mann ein Soziopath ist? Verheiratet, egozentrisch, spielsüchtig? Mit behaartem Rücken? Einer Leidenschaft fürs Möbel-selbst-Zusammenbauen?« Ich unterdrückte ein Kichern. »Was ist so falsch daran, sich Zeit zu lassen, einander kennenzulernen und sich die Liebe dann durch kleine Geschenke zu beweisen? Meinetwegen auch einem Gedicht?«
»Das ist einfach so überholt – so letztes Jahrhundert.« Sie hob hilflos die Hände. »Und lass uns realistisch sein: In deinem Laden oder deiner Wohnung wirst du niemals jemanden kennenlernen. Ich habe jetzt schon deinen Grabstein vor Augen.« Sie sah über meine Schulter wie in weite Ferne, verzog das Gesicht, als müsse sie weinen, und sagte mit gespieltem Schluchzen: »Hier liegt Anouk La Rue. Geboren. Gearbeitet. Gestorben. Sie hinterlässt ihren geliebten Antikladen, der sie aufrichtig vermissen wird.« Zur Verstärkung schlug sie die Hände vors Gesicht und tat, als ob sie weinte, was erneut die Aufmerksamkeit aller Restaurantbesucher auf sich zog.
»Mit meinem Arbeitspensum ist alles in Ordnung, so was nennt sich« – ich sprach langsam und betont – »Ver-ant-wor-tung. Ein Polster für die Zukunft schaffen. Ein Mann würde das nur verkomplizieren. Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich wieder ausgehen, aber im Moment habe ich keine Minute am Tag übrig, um mir über jemand anderen Gedanken zu machen. Du klingst, als würden wir Frauen dringend einen Mann brauchen, um zu überleben. Aber das tun wir nicht!«
Sie nahm die Hände wieder herunter. »Keine Zeit? Du verbringst eine Ewigkeit damit, die Zeitung durchzulesen! Du spielst jeden Abend mit deinem Laptop herum! Wie viel Zeit brauchst du für die Liebe? Joshua war ein mieser Typ, das verstehe ich ja. Niederträchtig und dabei so charmant, dass er noch das sprödeste Herz hätte brechen können. Aber das ist eine Million Jahre her, und es wird Zeit, dass du ihn vergisst. Wenn du dich jetzt vor der Welt zurückziehst, lässt du ihn gewinnen. Und wir brauchen keine Männer, sagst du? Wein brauchen wir auch nicht, aber das Leben ist damit doch umso schöner.«
Ich schüttelte den Kopf. Sie verstand mich nicht und würde es auch nie tun. Lilou war ein sorgloser Mensch und ganz anders als ich. Der Gedanke an einen neuen Mann in meinem Leben war mir im Moment einfach zuwider. Mit Wein dagegen konnte ich mich sehr gut anfreunden.
»Und was Reizwäsche betrifft, Lilou: An der allein liegt es nicht, es ist viel komplizierter, und das weißt du auch. Nachdem Joshua einfach mein Klavier verkauft hat, muss ich jetzt doppelt, wenn nicht gar drei Mal so viel arbeiten. In dem Ding steckten meine ganzen Ersparnisse, und die Polizei war mir keine Hilfe. Ich bin immer noch damit beschäftigt, meine finanzielle Lage wieder ins Lot zu bringen, um wenigstens meinen Laden halten zu können. Und wenn das bei der Liebe herauskommt – nein, danke!«
Selbst nach all der Zeit schmerzte die Erinnerung an Joshuas Schandtat noch immer. Ich war so naiv gewesen, ihm jedes Wort zu glauben, das aus seinem honigsüßen Mund kam. Mit seinem amerikanischen Akzent klang er so exotisch, und seine Liebesbekundungen wirkten so aufrichtig. Dazu die strahlend blauen Augen …
»Ich habe keine Zeit, die Wahrheit zwischen all den Lügen herauszufiltern.« Dankbar für seine betäubende Eigenschaft, trank ich noch einen Schluck Wein.
»Nicht alle Männer lügen.«
Ich schnaubte. »Woher willst du das wissen? Deine längste Beziehung hat drei Wochen gedauert.«
Joshua hatte eine Reihe kostbarer Antiquitäten aus meinem geheimen Hinterzimmer genommen, einschließlich eines sehr seltenen – und sehr teuren – Flügels. Er hatte versprochen, sie würden adäquate neue Besitzer finden, Leute, die er schon ewig kannte, Franzosen natürlich, denen er uneingeschränkt vertraue. Und die umgehend bezahlen würden. Mit dem Geld wollte er unseren »großen Plan« finanzieren.
In meinem Liebestaumel hatte ich ihm alles geglaubt.
Umso größer war der Schock, als ich die Sachen im Internet bei einer Online-Auktion entdeckte. Ich stellte ihn zur Rede. »Non, non, non«, imitierte er meinen französischen Akzent, »erinnerst du dich etwa nicht mehr? Die Sachen gehören mir, Anouk, das hast du mehrfach gesagt. Au revoir. Es war schön, aber nun ist es vorbei.«
Tja, reingefallen.
Und die Polizei konnte mir nicht helfen. Sie sagten, ich hätte ihm die Sachen geschenkt, und hatten sogar Beweise: die Textnachrichten von meinem Handy, in denen genau das stand. O ja, Joshua war clever gewesen. Er hatte wie im Scherz immer davon gesprochen, ich solle die Sachen für unsere Zukunft »opfern«, sie ihm zum Weiterverkauf »überlassen«. Und liebesblind, wie ich war, hatte ich genau so geantwortet und monatelang darauf gewartet, dass die angeblichen Käufer die Ware bezahlten. Als ich merkte, was passiert war, hatte er bereits eine andere Frau im Arm. Die Antiquitäten waren futsch, und wie zum Hohn zeigte mir die Polizei meine eigenen Textnachrichten.
Der Flügel, auf dem einst Fania Fénelon spielte, gehört jetzt dir. Ein Opfer von mir für dich, ein Geschenk. In Liebe, Anouk
Seine kalte und berechnende Art war es, die mir noch immer Angst machte – die Vorstellung, dass ein Mann eine solche Liebe nur vortäuschen konnte, hatte etwas in mir zerbrochen. Ich flehte die Polizisten an, mir zu glauben, aber sie musterten mich nur gelangweilt und sagten, ich könne zurückkommen, wenn ich mehr Beweise hätte – als wäre es meine Aufgabe, ihren Job zu erledigen.
Joshua und ich hatten geplant, unsere Ersparnisse zusammenzulegen, die besten Antiquitäten zu kaufen und ein Museum zu eröffnen, damit jeder auf der Welt exquisite Schönheit bewundern konnte – nicht nur Menschen, die es sich als Luxus leisten konnten. Aber dafür mussten wir eben erst einmal ein paar größere Stücke verkaufen. Hätte ich geahnt, dass er einzig und allein seine Ersparnisse vergrößern wollte! Aber er hatte mich so leicht täuschen können, weil er schnell erkannte, dass dieses Museum mein großer Lebenstraum war.
Was am meisten weh tat, war, dass ich ihn wirklich aufrichtig geliebt hatte. Doch als alles ans Licht kam, ging mir auf, dass meine Gefühle einem Phantom gegolten hatten. Joshua war nicht der, der er zu sein vorgegeben hatte. Den Mann, den ich liebte – der beim Einschlafen meine Hand gehalten oder mich mit Schmetterlingsküssen geweckt hatte –, gab es in Wirklichkeit nicht. Wenn ich also gerade versuchte, Abstand von der Männerwelt zu bekommen, dann aus genau diesem Grund, und ich würde mich nicht dafür entschuldigen.
Leider arbeitete besagter Mistkerl noch immer in der Antiquitätenbranche, so dass er mir immer wieder über den Weg lief, was mir jedes Mal das Herz zerriss.
Lilou tätschelte meine Hand und holte mich damit zurück in die Gegenwart. »Drei Wochen mit einem Typen mag ja mein Limit sein, aber das kommt nur, weil ich noch keinen gefunden habe, mit dem ich es länger probieren will.« Sie zog eine Schulter hoch. »Ich weiß, was dieser Drecksack dir angetan hat und dass du jetzt noch an den Folgen zu knabbern hast. Wenn ich wüsste, dass ich seine Leiche unerkannt entsorgen könnte, würde ich ihn eigenhändig erwürgen.« Ihre Augen begannen zu leuchten. »Ich sage doch nur, dass du dich mit ein paar One-Night-Stands wieder in das Spiel um die Liebe einbringen solltest. Such dir einen heißen Typen, dem ›Beziehungsangst‹ auf der Stirn geschrieben steht, und dann sieh weiter …«
»Lilou. So etwas kann ich nicht. Ich muss mehr über einen Mann wissen, bevor er sich auf meinen guten Laken wälzen darf …«
Sie zog die Nase kraus. »Wieso? Weil die irgendwie antik sind? Dann hol dir für die eine Nacht eben mal billige Supermarktware.« Sie sprach immer lauter.
Ein Kellner, der einer Frau am Nachbartisch das Weinglas auffüllte, goss einen Schwung daneben, weil er aus dem Augenwinkel immer wieder zu uns hersah. Erschrocken schrie die Frau auf, und auf dem weißen Tischtuch breitete sich ein roter Fleck aus, woraufhin der Kellner zusammenfuhr und sich zerknirscht entschuldigte.
Lilou schwenkte einen Daumen in seine Richtung. »Perfektes Beispiel: knackiger Hintern, Schlafzimmerblick und sinnlich volle Lippen. Stell dir mal vor, wie er seine kräftigen Arme um dich schlingt, seine Beine sich im Bettlaken verfangen …«
Diesmal kippte der Kellner das Weinglas der Frau ganz um, und der Wein ergoss sich auf ihren weißen Rock. Lilou beobachtete die Szene interessiert. »Na gut, vielleicht doch nicht. Der ist zu ungeschickt.«
Der Mann wurde puterrot.
»Hör auf damit!«, zischte ich und hatte Mühe, die Fassung zu bewahren. »Ich sehe, worauf du hinauswillst, und werde es wohlwollend erwägen.«
Sie trank ihr halbes Glas Wein leer. »Ich hasse es, wenn du das sagst.«
***
Lilou und ich standen vor meinem Laden und nahmen uns zum Abschied in die Arme. »Wir sehen uns heute Abend«, sagte ich.
»Eher nicht.« Spitzbübisch zwinkerte sie mir zu. »Nachher fahre ich mit Claude zu einem Musikfestival in der Normandie. Ich dachte, ich mache mal eine Kollektion, die auf Klang basiert. Es ist also eine Reise zu Recherchezwecken.«
»Was?« Mein Verantwortungsgefühl als große Schwester nahm überhand. »Du bist doch gerade erst zurückgekommen. Du und Rainier, ihr wolltet damals nur eine Woche wegfahren. Jetzt sind es drei geworden, Rainier ist von der Bildfläche verschwunden, an seiner Stelle ist da ein Claude, und du willst schon wieder weg – auf ein Musikfestival? Ich dachte, du wolltest eine Kollektion anfertigen, die vom Sonnenuntergang inspiriert ist. Nein, Lilou! Eigentlich solltest du eine Ausbildung machen … Versuch doch zumindest, eine Homepage aufzusetzen, damit wir ein bisschen was vorzuweisen haben, falls Papa sich meldet.«
Sie stöhnte, als wäre ich ein sprichwörtlicher Stachel im Fleisch. Ich ahnte schon, was als Nächstes käme.
»Anouk, man lebt aber nur ein Mal!«
Na klar. Sobald Lilou sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war sie nicht mehr davon abzubringen. Auch wenn sie in ihrem Leben noch keinen rechten Plan hatte, war ich doch überzeugt, dass sie mit ihrem Charme und dem hellen Köpfchen immer irgendwie durchkommen würde – und wenn das nicht reichte, konnte sie dazu noch ihr gewinnendes Lächeln einsetzen. Ich wünschte, sie würde jemanden finden, bei dem sie lange genug zur Ruhe käme, um Wurzeln schlagen und einen Plan für die Zukunft fassen zu können.
Zum Teil beneidete ich Lilou; ich war nie so leichtlebig und unbekümmert gewesen. Meine Tage drehten sich um das Geschäft, um Reisen zu Nachlassverkäufen und Auktionen oder um das Aufstöbern von Schätzen auf Flohmärkten und Secondhand-Messen. Ich war mit Herz und Seele bei meiner Arbeit, da blieb für anderes nicht viel Zeit.
»Wenn Papa anruft … Was soll ich ihm sagen?« Ich versuchte, das nur allzu vertraute Gefühl der Angst abzuschütteln, bevor es sich breitmachen und mir die Stimmung verderben konnte.
Sie stöhnte. »Sag ihm, ich bin in der Bibliothek. Oder in einer Lerngruppe oder mit einem Anwalt essen oder sonst etwas … Ist doch egal.« Typisch Lilou.
»Er wird es irgendwann rausfinden, und dann kommen wir beide in Teufels Küche.«
Sie lachte nur. »Was kann er schon machen?«
»Er kann dir deinen Unterhalt streichen …«
Sie wurde blass. »Stimmt. Dann denk dir eine gute Lüge aus.« Sie küsste mich noch einmal und hüpfte davon. »Bin bald wieder da!«, rief sie mir durch die vom Duft der Seine geschwängerte Luft noch zu.
Ich sah ihr nach, wie sie mit wehenden Haaren und entschlossenen Schritten in den Sonnenuntergang davonzog.
Dabei nahm ich aus dem Augenwinkel wahr, dass mich jemand beobachtete. Ich drehte mich um und hoffte, es wäre nicht schon wieder ein unwillkommener Kunde. Auf einer der Bänke des Marsfelds saß ein Mann in heller Leinenhose und engem weißen T-Shirt. Als wir uns ansahen, lächelte er. Sein zurückgekämmtes blondes Haar wirkte, als wäre er gerade vom Segelboot geklettert, er wirkte athletisch, und seine Sonnenbrille spiegelte mir meinen eigenen überraschten Blick zurück. Ich fand ihn ziemlich attraktiv.