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Eine gute Beziehung zum eigenen »inneren Kind« ist die beste Voraussetzung für eine gute Paarbeziehung. Mit diesem Ansatz zeigt die Autorin, wie die »Bedürfnis-Waage« in einer Partnerschaft wieder ins Gleichgewicht kommt. Wenn die eigenen Bedürfnisse in einer Liebesbeziehung keinen oder zu wenig Platz finden, wird ein entspanntes und zufriedenes Miteinander auf Dauer nicht möglich sein. Die Autorin sieht darin ein zentrales Problem bei Partnerschaftskrisen. Sie stellt in diesem Buch ihr erfolgreiches Konzept vor, das zum Ziel hat, die »Bedürfnis-Waage« neu auszutarieren. Hier ist es hilfreich, sich dem »inneren Kind« zuzuwenden und zu erforschen, wo die verschütteten Bedürfnisse liegen. Alexandra Hartmann zeigt anhand vieler Beispiele, wie die Beziehung zum »inneren Kind« wiederhergestellt wird: Sie schaut die wichtigsten Anlässe für Partnerschaftskonflikte wie Eifersucht, fehlendes Interesse am Partner oder Außenbeziehungen daraufhin an, wie die »inneren Kinder« beider Partner miteinander kommunizieren. Der Ansatz liefert sowohl Erfolg versprechende Lösungsansätze für Paartherapie und -beratung, als auch viele Anregungen für betroffene Paare selbst. Dieses Buch richtet sich an: - PaartherapeutInnen, PaarberaterInnen - PsychotherapeutInnen aller Schulen - Paare, besonders in längeren Beziehungen - Menschen mit Beziehungsschwierigkeiten
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Seitenzahl: 196
Veröffentlichungsjahr: 2017
Alexandra Hartmann
Meine Bedürfnisse,Deine Bedürfnisse
Dem Inneren Kind in der Partnerschaft Raum geben
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Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
© 2017 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Illustrationen: Birgit Berger
Cover: Jutta Herden, Stuttgart
Unter Verwendung eines Fotos von © Westend61/fotolia
Gesetzt von Kösel Media GmbH, Krugzell
Printausgabe: ISBN 978-3-608-96120-1
E-Book: ISBN 978-3-608-10094-5
PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20346-2
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
CPI – Clausen & Bosse, Leck
1. Nachdruck, 2019
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
Vorwort
Teil I
Das Innere Kind
Selbstvertrauen – Das Vertrauen in mich selbst
Selbstbewusstsein – Das Bewusstsein für meine Bedürfnisse
Die gestörte Beziehung zum Inneren Kind
Emotionale Abhängigkeit – Die Verantwortung für das Innere Kind dem Partner übergeben
Die Kollusion – Das abhängige Innere Kind
Teil II
Dem Inneren Kind in der Partnerschaft Raum geben
Die Beziehung – Was bestimmt den Kontakt zum anderen?
Wenn Emotionen überhandnehmen
Patchwork mit dem Inneren Kind in drei Schritten: Der Nähe-Distanz-Konflikt
Teil III
Patchwork mit dem Inneren Kind
Verlieben – Die Erfüllung kindlicher Sehnsüchte
Zur Liebe gehört eine Entscheidung – Die Erwachsenen kommen ins Spiel
Wer ist für mein Wohl verantwortlich? – Verantwortung für das eigene Kind übernehmen
Narzissmus – Nur Augen für das eigene Innere Kind haben
Eifersucht – Der Wunsch, das Innere Kind des anderen zu kontrollieren
Veränderungen – Das Innere Kind braucht einen neuen Platz
Lügen – Das Innere Kind verleugnen
Intimität – Die tiefe Verbindung zum Inneren Kind des Partners
Ich versteh dich nicht! – Das fehlende Interesse am Inneren Kind des anderen
Wir haben uns auseinandergelebt! – Das Innere Kind des anderen nicht mehr spüren
Wir sind ein gutes Team! – Die Inneren Kinder langweilen sich miteinander
Außenbeziehungen – Das Innere Kind an Dritte delegieren
Bindungsangst – Die Angst, das Innere Kind dem anderen zu überlassen
Literatur
Liebe Leserinnen und Leser,
wenn Bedürfnisse in der Beziehung keinen angemessenen Raum finden, ist ein entspanntes und zufriedenes Miteinander nicht möglich. Das führt dauerhaft zu Frust oder Enttäuschung und kann einen emotionalen Rückzug zur Folge haben. Die Paare, die zu mir in die Beratung kommen, sprechen oft davon, sich auseinandergelebt zu haben, den anderen nicht mehr zu spüren, sich nicht mehr zu erreichen oder nicht mehr zu verstehen. Viele beschreiben sich als gutes Team, beklagen aber, dass eine innige Verbindung zum Partner fehlen würde oder verloren gegangen sei. Einige vergleichen ihre Beziehung mit einer Wohngemeinschaft oder einem Bruder-Schwester-Verhältnis. Manche berichten von permanenten Streitereien oder haben bereits den Ausweg in eine Affäre gefunden, in der sie das, was ihnen fehlt, meinen zu bekommen, aber oft merken, dass das dauerhaft nicht funktionieren kann.
Gibt es eine Lösung, mit der man sich in der Beziehung dauerhaft wohlfühlt? Wie gelingt es, den eigenen Bedürfnissen innerhalb der Beziehung einen Platz zu geben? Einige Leser meinen vielleicht, der Partner sei darin viel besser, und selbst gehen sie Konflikten lieber aus dem Weg. Besser klein beigeben anstatt zu streiten bedeutet allerdings, die eigenen Wünsche um des lieben Friedens willen hintenanzustellen. In manchen Situationen ist das sicherlich auch sinnvoll. Wer immer seinen Kopf durchsetzen will, wird genauso wenig zu einem harmonischen Miteinander finden wie der, der immer nachgibt.
Ich möchte Ihnen ein von mir entwickeltes Modell vorstellen, das sich in meiner paartherapeutischen Praxis sehr bewährt hat. Sie können es immer dann anwenden, wenn sich Ihre Bedürfnisse nicht mit denen des Partners decken oder wenn Sie meinen, für Ihre Wünsche sei kein Platz. Es ist ein Hilfsmittel zum Ausgleichen von Differenzen, ohne dass Sie am Ende mit dem Gefühl, zu kurz gekommen zu sein oder den anderen übervorteilt zu haben, zurückbleiben. Ein schlecht verhandelter Kompromiss hinterlässt meist ungute Gefühle wie Frust oder Enttäuschung. Auf Dauer sind diese Emotionen Gift für eine Beziehung und zerstören schleichend die innige Verbindung zum Partner.
Viele Menschen haben nicht gelernt, den persönlichen Bedürfnissen einen angemessenen Raum zu geben. Das kann vielerlei Gründe haben. Manch einem wurde schon als Kind alles abgenommen und jeder Wunsch von den Lippen abgelesen. Das führte unweigerlich dazu, dass man nicht lernen konnte, für sich selbst zu sorgen. Erschwerend kommt noch hinzu, dass die Eltern einem so die Botschaft vermittelt haben: »Das schaffst du nicht. Ich mache das für dich.«
Andere haben schon als Kinder erfahren, dass es gar keinen Sinn hat, Bedürfnisse zu äußern, weil darauf sowieso nicht eingegangen wurde. Sie haben gelernt, sich bedingungslos den Wünschen der Eltern unterzuordnen. Ihnen wird es auch im späteren Leben schwerfallen, sich das Recht einzuräumen, eine Beziehung mitzugestalten. Ihr Glaubenssatz könnte lauten: »Wenn du dich dem Partner nicht anpasst, wird er dich nicht lieben.« Unsere Erziehung hat uns zu dem Menschen gemacht, der wir heute sind. Allerdings ist uns nicht immer bewusst, was uns von innen heraus antreibt.
Wer sein Verhalten verändern will, um sich besser zu fühlen, sollte zunächst seinen persönlichen Standpunkt kennen. Dafür ist es notwendig, sich mit den eigenen Prozessen auseinanderzusetzen. Es ist wichtig zu verstehen, wie es überhaupt dazu gekommen ist, auf eine bestimmte Weise mit den eigenen Bedürfnissen umzugehen. Diese Art der Selbstreflexion ist vielen Menschen zunächst fremd. Andere wiederum haben sich schon mit den eigenen inneren Prozessen auseinandergesetzt, sind aber vielleicht noch nicht so weit, die gewonnenen Erkenntnisse auch für ein verändertes Miteinander in der Partnerschaft zu nutzen. Die zusätzliche Schwierigkeit auf der Beziehungsebene ist, dass zwei Menschen beteiligt sind, die unterschiedliche Bedürfnisse und Verhandlungsstrategien mitbringen. Beide müssen die Bereitschaft haben, etwas verändern zu wollen. Allerdings nicht am Partner, wie viele meinen, sondern gemeinsam als Paar.
Die meisten Paare, die zu mir in die Praxis kommen, klagen über Kommunikationsprobleme. Manche reden gar nicht mehr miteinander, andere schreien sich nur noch an oder setzen sich einem Schlagabtausch aus, bei dem nicht selten Hiebe auch unter der Gürtellinie landen. Sie sind verzweifelt, weil sie es nicht schaffen, gute und lösungsorientierte Gespräche zu führen. Mir fällt oft auf, dass sie sich gegenseitig auch gar nicht mehr zuhören. Stattdessen sind sie in Auseinandersetzungen damit beschäftigt, den Gegenschlag zu planen oder gegen die Argumente des anderen zu mauern. Es geht oft mehr darum, recht zu haben und das Gefecht zu gewinnen, als um eine gemeinsame Lösung, die sich für beide gut anfühlt. Dafür ist die Atmosphäre oft schon zu vergiftet, und die Hoffnung auf eine harmonische Beziehung schwindet. Das sind schwere Voraussetzungen, um zu einem harmonischen Miteinander zurückzufinden. In meiner therapeutischen Arbeit hat sich das von mir entwickelte Modell »Patchwork mit dem Inneren Kind« als sehr hilfreich erwiesen, um Paaren in einer verfahrenen Situation einen Lösungsweg zu zeigen, den sie später in den unterschiedlichsten Situationen immer wieder anwenden können.
Sie müssen keine Kinder haben oder gar in einer Patchworkfamilie leben, um das Modell anwenden zu können. Tatsächlich geht es nicht um Kinder aus Fleisch und Blut, sondern um Ihre eigenen inneren Bedürfnisse. Es handelt sich bei meinem Modell um ein Handwerkszeug, das dauerhaft genutzt werden kann, um das Miteinander an veränderte Situationen anzupassen. Es kann nicht immer harmonisch zugehen in einer Partnerschaft. Wir sollten aber in der Lage sein, immer wieder zu einem harmonischen Miteinander zurückzufinden. Wenn uns das möglich ist, verlieren wir auch die Angst vor Konflikten und sehen sie nicht mehr als Bedrohung, sondern als Möglichkeit, unsere Beziehung zu entwickeln.
Die Voraussetzung für ein gutes Miteinander ist zunächst einmal ein bewusster Zugang zu den eigenen Bedürfnissen. Der Umgang mit den eigenen Instinkten und Gefühlen wird heute im psychologischen Kontext als »Arbeit mit dem Inneren Kind« bezeichnet und ist inzwischen häufig Teil des systemischen Arbeitens. Das Verständnis, das unser Erleben von einem Ich, einem Es und einem Über-Ich bestimmt wird, hat Sigmund Freud, der Vater der Psychoanalyse, entwickelt. Das Konzept des Inneren Kindes leitet sich davon ab und könnte nach Freuds Lehre auch als Es bezeichnet werden. Das Ich ist demzufolge die erwachsene Instanz oder Ratio und das Über-Ich die moralische Instanz.
Ich werde das Prinzip des Inneren Kindes noch genauer erklären. Mein Fokus richtet sich darauf, den Bedürfnissen innerhalb der Beziehung einen angemessenen Raum zu geben mit dem Ziel, dass sich beide miteinander wohlfühlen. Die Idee eines Patchworkmodells, bezogen auf das Innere Kind, bedeutet, dass wie in einer Patchworkfamilie jeder die Verantwortung für das eigene Kind behalten und eine Vermittlerrolle zwischen ihm und dem Partner einnehmen soll. Beide müssen bereit sein, dem Kind des jeweils anderen einen angemessenen Raum zuzugestehen, ohne dabei die Bedürfnisse des eigenen Kindes aus den Augen zu verlieren. Das ist nicht so kompliziert, wie es für manchen Leser vielleicht den Anschein haben mag. Im Gegenteil, Sie werden sehen, dass ich Ihnen eine Methode nahebringen werde, die naheliegend und verständlich ist und die Ihnen dabei helfen wird, die unterschiedlichsten Beziehungskrisen zu meistern.
Ich wünsche Ihnen ein erkenntnisreiches Lesen,
Ihre Alexandra Hartmann
Teil I
Das Innere Kind ist der ursprüngliche Teil eines jeden von uns, den es schon gab, bevor wir gelernt haben zu denken und zu reflektieren. Es sind unsere inneren Instinkte, unser Bauchgefühl, unsere Bedürfnisse, Wünsche und Emotionen. Leider bekommt dieser wichtige Teil unserer Persönlichkeit, der in psychologischen Zusammenhängen auch als Inneres Kind bezeichnet wird, oftmals nicht die notwendige Beachtung, um ihn angemessen in unser Handeln zu integrieren. Demgegenüber steht unsere rationale oder erwachsene Instanz. Die entwickeln wir später im Leben, auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Es kann passieren, dass diese Instanz unser Bewusstsein für unser Inneres Kind verdrängt. Das erkläre ich noch genauer. Jetzt möchte ich Ihr Bewusstsein für Ihre inneren Prozesse zunächst einmal wecken.
Mit der Geburt hat jeder von uns begonnen, Erfahrungen im Hinblick darauf zu machen, wie die Menschen, die uns nahestehen, auf unsere Bedürfnisse reagieren. Für die meisten Menschen spielt die Mutter zumindest am Anfang des Lebens die größte Rolle. Sie hat uns gefüttert, wenn wir hungrig waren, gewickelt, wenn es nötig war, und uns schlafen gelegt, wenn wir müde waren. Als Säuglinge sind wir völlig abhängig von den Zuwendungen unserer Mütter oder derer, die sie vertreten. Auch wenn wir uns später nicht mehr erinnern können, hat uns diese Zeit der körperlichen und emotionalen Abhängigkeit stark geprägt. An den Reaktionen unserer ersten Bezugspersonen, durch die Art, wie sie uns berührten oder ansahen, haben wir erfahren, ob das, was wir empfinden, gut und richtig ist oder eher auf Ablehnung stieß. Waren wir beispielsweise hungrig und haben geschrien, hat es einen Unterschied für uns gemacht, ob die Mutter darauf mit liebevoller Zuwendung reagierte oder ob sie eher genervt und verunsichert war. Wir haben dadurch gespürt, ob es in Ordnung ist, so wie wir sind, oder ob unsere Bedürfnisse abgelehnt wurden. Daraus haben wir erste Schlüsse gezogen. Ein Kind, das weitestgehend positive Erfahrungen machte, lernte schon früh, dass es ein Recht auf seine Bedürfnisse hat, weil auf diese angemessen reagiert wurde. Ein Kind, auf dessen Bedürfnisse mit Ablehnung oder Verunsicherung reagiert wurde, hat eventuell früh gelernt, sie zu unterdrücken oder sich dafür zu schämen.
Ich möchte an dieser Stelle einen wichtigen Hinweis machen und diesen kurz erklären:
Wer wir heute sind, hat mit unseren Eltern zu tun, aber verantwortlich dafür sind sie nicht!
Menschen, die in ihrem späteren Leben Probleme oder Misserfolge haben, machen oft die Eltern dafür verantwortlich. Das ist erstens nicht richtig, weil jeder erwachsene Mensch gelernt haben sollte, für sein Handeln die Verantwortung zu übernehmen, und zweitens, weil er nie etwas verändern wird, solange er sich als Opfer seiner vergangenen Erfahrungen sieht. Trotzdem ist es wichtig, die Ursachen unseres Handelns auch in ihren Wurzeln zu begreifen. Nicht, um einen Schuldigen zu finden, sondern um ein besseres Verständnis für das eigene Verhalten zu bekommen und um überprüfen zu können, ob es in der aktuellen Situation noch angemessen ist.
Ich lade jeden meiner Leser, der sich noch als Opfer seiner Kindheitserfahrungen sieht, dazu ein, erwachsen zu werden und Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen. Das gilt selbst bei Missbrauchserfahrungen, die schwer oder gar nicht zu verzeihen sind. Das ist auch nicht nötig, um die Verantwortung für den weiteren Weg zu übernehmen. Es genügt der Entschluss, sich emotional unabhängig von dem früher Erlebten zu machen. Manchmal geht das nicht ohne Hilfe. Sich Unterstützung zu holen, wenn man allein nicht mehr weiterkommt, halte ich für ein Zeichen von Eigenverantwortung und erwachsenen Handelns, nicht für eine Schwäche, wie es leider oft gesehen wird.
Es gab gute und schlechte Aspekte in der Erziehung eines jeden, die in uns Stärken und Schwächen hervorgebracht haben. Die guten Aspekte sind unsere Ressourcen, für die wir unsere Eltern wertschätzen sollten, die schlechten oder fehlenden sollten wir als Ansätze unserer persönlichen Entwicklung begreifen. Es ist nicht unsere Aufgabe, unseren Eltern irgendwann einmal ein Zeugnis für deren erbrachte Leistung auszustellen. Mal abgesehen davon, dass ich das für überheblich halte, müssten wir dann fairerweise berücksichtigen, welche Möglichkeiten sie hatten. Diese hätten damit zu tun, was sie wiederum von ihren Eltern mitbekommen haben, dann von den Möglichkeiten, die ihnen offenstanden, und von den Gegebenheiten zur Zeit unserer Kindheit. Ich schlage vor, unsere Zeit und Energie nicht damit zu verschwenden, einen Schuldigen für unser Handeln zu finden, sondern sie stattdessen lieber dafür einzusetzen, uns unserem Inneren Kind zuzuwenden, unsere inneren Beweggründe besser zu verstehen und Verantwortung für unser Handeln zu übernehmen.
Manch einer mag sich fragen, warum es überhaupt wichtig ist zu wissen, wer das Innere Kind ist. Gerade Menschen mit unangenehmen Kindheitserfahrungen schrecken davor zurück, sich nochmals mit dem früh Erlebten auseinanderzusetzen. Sie sind froh, dass die Zeit vorbei ist und sie heute erwachsen und unabhängig sind. Leider ist aber genau das ein Trugschluss. Wir sind nämlich nicht unabhängig von diesen ersten Erfahrungen. Gerade die Prägung unserer ersten Lebensjahre, die Zeit, in der sich unser Gehirn entwickelt hat und unsere Erfahrungen auf die Entwicklung unserer Nervenbahnen eine direkte Auswirkung hatte, bestimmt noch heute unser Handeln. Machen wir uns diese Prozesse nicht bewusst, werden wir quasi von diesen ersten Einflüssen fremdbestimmt. Sie werden später noch lesen, wie früh entstandene Glaubenssätze noch heute unser Leben prägen, ob wir wollen oder nicht. Ich halte es für sinnvoll, das, was uns leitet und beeinflusst, auch zu kennen. Nur dann besteht die Möglichkeit, gegenzusteuern und angemessenere Überzeugungen zu entwickeln. Das ist ein großer Schritt und kann starke Ängste auslösen. Es braucht Mut, sich der Auseinandersetzung mit sich selbst zu stellen.
Für den Leser, der jetzt erst anfängt, sich mit den inneren Beweggründen auseinanderzusetzen, wird es ein längerer Prozess werden, sich besser kennenzulernen. Lerne ich einen anderen Menschen kennen, der mich interessiert, ist es schließlich auch ein gewisser Weg, der irgendwann zu einer Freundschaft und einer tiefen emotionalen Verbindung führt. Genau wie bei einer Freundschaft, die sich erst langsam entwickeln muss, verhält es sich in der Beziehung zu sich selbst: Je mehr Zeit man sich für das Kennenlernen nimmt, desto schneller wird man sich selbst näherkommen. Vertrauen braucht in jedem Fall Zeit und positive Erfahrungen, um sich aufzubauen. Das gilt auch für das Selbstvertrauen. Die Bedeutung, die das Selbstvertrauen auf das Innere Kind hat, werde ich im folgenden Kapitel erklären.
Das Vertrauen, das mein Inneres Kind in mich als Erwachsenen hat, ist das Selbstvertrauen. Es ist das Vertrauen, gut für mich sorgen zu können. Für das Innere Kind bedeutet das, es kann sich darauf verlassen, dass ich mich als Erwachsener so verhalte, dass seine Bedürfnisse weitestgehend befriedigt werden. Wenn das einmal nicht möglich ist, sollten diese Bedürfnisse nicht von mir ignoriert oder übergangen werden, sondern eine Auseinandersetzung mit den inneren Wünschen stattfinden. Tatsächlich ist das auch die Voraussetzung für ein gutes Eltern-Kind-Verhältnis. Eltern sollten bereit sein, die Bedürfnisse ihrer Kinder im Blick zu haben. Die Bedürfnisse der Kinder, die nicht befriedigt werden können, sollten trotzdem anerkannt werden. Erwachsene, die von frühester Kindheit an die Erfahrung gemacht haben, dass angemessen mit ihren Bedürfnissen umgegangen wurde, und die ihren Eltern grundsätzlich vertraut haben, die für sie richtigen Entscheidungen zu treffen, konnten in der Kindheit ein gutes Urvertrauen entwickeln, das ihnen später bei der Entwicklung eines stabilen Selbstvertrauens hilft.
Nicht nur früheste Kindheitserfahrungen beeinflussen unser Selbstvertrauen. Die Erfahrungen, die später im Leben dazukommen, prägen ebenso. Negative Erfahrungen schwächen generell das Selbstvertrauen, und positive stärken es. Genauso kann es sein, dass sich in bestimmten Situationen, zum Beispiel am Arbeitsplatz, durch positive Erfahrungen ein höheres Selbstvertrauen entwickelt als in anderen Situationen, beispielsweise in Freundschaften oder Partnerschaften, die negativ erlebt werden. Das situative Selbstvertrauen kann somit abhängig von der Gesamtsituation stark variieren. Wie gut sich jeder in den verschiedenen Situationen selbst auffangen kann, hängt von den vorausgegangenen Erfahrungen, die in ähnlichen Situationen gemacht wurden, ab. Wie wir uns in unterschiedlichen Zusammenhängen fühlen, können wir beeinflussen und somit dafür sorgen, uns besser und entspannter zu fühlen. Das lässt unser Selbstvertrauen wachsen. Wie das gelingt, werde ich im Verlauf des Buches, mit dem Fokus auf Partnerschaften, beschreiben.
Auch wenn das Selbstvertrauen nicht nur von den frühesten Kindheitserfahrungen abhängt, ist das die Basis des späteren Vertrauens in mich selbst und andere. So hat ein Mensch mit guten Ursprungserfahrungen selbst in schwierigen Situationen das Gefühl, dass alles gut wird. Fehlt dieses Urvertrauen, hat die innere Stimme eine andere Botschaft, wie beispielsweise: »Das wird ein böses Ende nehmen!« oder »Das schaffst du nie!« Diese Glaubenssätze sind tief in uns verwurzelt. Sie sind die Stimmen unserer Inneren Kinder, die wir als Botschaften unserer Eltern mit auf den Weg bekommen haben. Wir sollten sie ernst nehmen und uns mit ihnen auseinandersetzen, denn sie steuern noch heute unser Verhalten, wenn auch oft aus dem Verborgenen unseres Unterbewusstseins heraus. Sind sie negativ, blockieren sie unser Handeln und wollen uns schützen. Positive Glaubenssätze hingegen spornen uns an. Der Einfluss, den unsere Glaubenssätze auf unsere Beziehungen haben, wird in späteren Kapiteln immer wieder deutlich.
Gerade in Situationen, die emotional angespannt sind oder die uns überfordern, kommt es dazu, dass unser Handeln emotional oder instinktiv gesteuert wird. Die Kinder haben dann quasi freien Lauf. Genauso wie es der Fall ist, wenn Eltern überfordert oder abgelenkt sind. Instinktive Entscheidungen, beispielsweise bei Gefahren, können allerdings auch sinnvoll sein. Unsere Inneren Kinder oder auch Instinkte haben nämlich meist ein gutes Gespür für das richtige Handeln in bestimmten Situationen. Beispielsweise bei Unfällen oder plötzlich auftretenden Situationen bleibt gar nicht die Zeit zum Nachdenken. Problematisch wird es, wenn generell das Innere Kind sich selbst überlassen und ihm wenig Führung angeboten wird. Das löst ein Gefühl der Überforderung oder Verunsicherung aus. Kinder sehnen sich nach Halt. Das gibt ihnen ein Gefühl der Sicherheit. Für das Innere Kind gilt das Gleiche. Dazu gehört auch, Grenzen zu setzen, um es zu schützen oder um anderen Raum für deren Bedürfnisse zu geben, auch wenn die den eigenen widersprechen. Wer diese Grenzen und die entsprechend liebevolle Führung von seinen Eltern nicht erfahren hat, hat oft eine Sehnsucht danach entwickelt, ein anderer möge für ihn sorgen. Dieser Wunsch wird in Beziehungen oft auf den Partner projiziert. Auch die Auswirkung, die das auf Partnerschaften haben kann, erkläre ich später.
Im Idealfall ist es so, dass der Erwachsene das Kind führt, allerdings mit Rücksicht auf dessen Bedürfnisse. Bezogen auf das Innere Kind sollte es auch so sein, dass die eigene erwachsene Instanz führt. Das heißt, unser Handeln sollte überlegt und auf unsere Bedürfnisse abgestimmt sein. Auf diese Weise kann sich auch noch später im Leben ein stabiles Selbstvertrauen entwickeln. Jeder erwachsene Mensch, zumindest in unserer westlichen Gesellschaft, ist vom Grundsatz her frei, eigene Wege zu gehen. Manch einer muss sich dieser Freiheit allerdings erst bewusst werden. Dazu kann es notwendig sein, sich von eventuell bestehenden Abhängigkeiten in der Partnerschaft, aber manchmal auch den eigenen Eltern gegenüber, zu lösen. Stimmt das eigene Handeln weitestgehend mit den inneren Wünschen überein, fühlt sich das stimmig an, und das Innere Kind kann sich entspannen. Hierbei geht es nicht um einen Perfektionismus, immer das Richtige tun zu müssen. Im Gegenteil, wer Selbstvertrauen hat, braucht keine Angst vor Fehlern zu haben. Er hat das Vertrauen in sich, diese korrigieren zu können.
Als Erwachsener muss ich keine vorgegebenen Wege mehr verfolgen, sondern kann meine eigenen entwickeln. Um den für mich passenden Weg zu finden, muss ich mit den eigenen Gefühlen im Dialog bleiben und darf meine inneren Bedürfnisse nicht übergehen. Voraussetzung dafür ist ein gutes Selbstbewusstsein. Den Zusammenhang möchte ich genauer erklären:
Menschen mit hohem Selbstbewusstsein wissen, was ihnen guttut und was sie brauchen, um sich wohlzufühlen. Ich bin immer wieder erstaunt über die Vielzahl meiner Klienten, die kein Bewusstsein dafür haben, was sie brauchen, damit es ihnen gut geht. Sie kennen ihre eigenen Wünsche und Abneigungen gar nicht. Zwar merken sie, wenn jemand ihnen eine Freude macht, sie verletzt oder ärgert, fragt man aber abgesehen von diesen Auslösern danach, was ihnen gefallen könnte oder was sie abstößt, fällt ihnen oft nichts ein. Die Ursache dafür ist meist, dass sie nicht gelernt haben, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen. Das kann an ganz unterschiedlichen Ursprungserfahrungen liegen. Ein sehr verwöhntes Kind, dem jeder Wunsch von den Lippen abgelesen wurde, musste sich gar nicht erst mit den eigenen Prozessen auseinandersetzen. Mutter oder Vater wussten ja am besten, was ihm guttut. Am anderen Ende des Spektrums ist das in seinen Bedürfnissen vernachlässigte Kind, das gelernt hat, Wünsche zu verdrängen, um sich so vor der immer wiederkehrenden Enttäuschung zu schützen, dass diese sowieso nicht erfüllt werden. Kinder verlernen dadurch schon früh, sich wahrzunehmen.
Ein anschauliches Beispiel für nicht vorhandenes Wahrnehmen der eigenen Bedürfnisse und der inneren Prozesse sind Essstörungen. Diese sind in unserer heutigen Gesellschaft leider weit verbreitet. Der Grund dafür ist, dass wir oft bereits in unserer Erziehung darauf gepolt wurden, nach außen gut zu wirken. Ein Bewusstsein für die inneren Bedürfnisse zu entwickeln, hat gesellschaftlich oft leider einen niedrigeren Stellenwert.
Mit folgendem Beispiel möchte ich Ihnen verdeutlichen, auf welch unterschiedliche Weise man Kindern begegnen kann und welche Folgen das für die spätere Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse haben kann:
Die kleine Anna, fünf Jahre alt, ist mit ihrer Mutter auf dem Spielplatz und fällt von der Schaukel. Sie weint bitterlich, obwohl sie sich augenscheinlich kaum verletzt hat. Beobachtet man Mütter in dieser Situation, gibt es eine weitverbreitete Reaktion: Die Mutter lenkt Anna von ihrem Schmerz ab, indem sie ihr ein Stück Schokolade gibt oder in den Himmel zeigt und sagt: »Schau mal, das Vögelchen!« Die meisten Kinder hören so auch tatsächlich schnell auf zu weinen. Allerdings wird Annas Mutter nie erfahren, warum Anna eigentlich geweint hat. Sie hatte sich ja kaum wehgetan. Hätte die Mutter sich die Zeit genommen, Anna zu fragen, warum sie weint, obwohl sie sich nicht verletzt hat, hätte Anna ihr vielleicht gesagt, dass sie sich vor den anderen Kindern schämen würde. Die Mutter hätte auf diese Empfindung eingehen können, Anna hätte so lernen können, ihre Empfindungen wahrzunehmen, und die Mutter hätte ihr vermitteln können, dass es in Ordnung ist, so zu empfinden.