Meine beiden Prinzessinnen, die blöde Kuh und die Bitch - Johanna Krapf - E-Book

Meine beiden Prinzessinnen, die blöde Kuh und die Bitch E-Book

Johanna Krapf

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Beschreibung

Blöde Kuh und Bitch, diese Schimpfwörter werfen sich Hans' Ehefrau Ruth und seine Geliebte Tina gegenseitig an den Kopf, während er sie seine Prinzessinnen nennt. Alle drei haben sich in einem Netz der gegenseitigen Abhängigkeiten verheddert. Während Ruth versucht, Hans mit Regeln und Verträgen aus seiner Abhängigkeit von Tina zu befreien, verstrickt er sich immer mehr in einem Lügennetz, um Tina nicht zu verlieren und Ruth nicht zu verletzen. Trotzdem verzeiht ihm Ruth ein ums andere Mal.

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Im Spinnennetz der Abhängigkeit

Die Spinne zieht zügig den Faden

Von Speiche zu Speiche.

Sie knüpft ein zartes Gewebe

Und spannt es kunstvoll.

Die Spinne, sie kennt kein Erbarmen.

Sie wartet und lauert,

Bis zappelnd ein Insekt sich verheddert

Im Netz.

Inhalt

Einleitung

Einblick in den Alltag

Was Ruth und Hans verbindet

Ruths Perspektive

Tagebuch

20. November

25. November

20. Dezember

5. Januar

15. Januar

Tinas erste Wochen in der Werkstatt

Tagebuch

17. Februar

3. März

20. März

Frühlings Erwachen

Tagebuch

14. April

15. April

16. April

18. April

20. April

25. April

Vertrauensbruch

Tagebuch

26. April

27. April

28. April

29. April

Ich doch nicht

Tagebuch

2. Mai

3. Mai

4. Mai

14. Mai

15. Mai

Wechselbad der Gefühle

Tagebuch

28. Mai

29. Mai

1. Juni

2. Juni

Geschwister

Tagebuch

15. Juni

18. Juni

21. Juni

25. Juni

27./28. Juni

Treten an Ort

Tagebuch

2. Juli

5. Juli

11. Juli

Sommerpause

Tagebuch

25. Juli

26. Juli

Zweigleisig

Tagebuch

18. August

26. August

2. September

3. September

Gefangen im Spinnennetz

Tagebuch

17. Oktober

20. Oktober

3. November

Schlaflos

Tagebuch

27. November

28. November

9. Dezember

13. Dezember

Davids Besuch

Tagebuch

20. Dezember

21. Dezember

22. Dezember

29. Dezember

Winterliche Stille

Tagebuch

27. Januar

30. Januar

De Föifer und s Weggli

Tagebuch

5. Februar

Achterbahn der Gefühle

Tagebuch

10. Februar

17. Februar

20. Februar

26. Februar

Themawechsel

Tagebuch

10. März

11. März

14. März

15. März

Malen mit Ella

Tagebuch

3. April

7. April

20. April

25. April

Es brennt

Tagebuch

15. Mai

16. Mai

18. Mai

23. Mai

27. Mai

"Ein Tag ohne Lachen ist ein verlorener Tag." (Charlie Chaplin)

Tagebuch

28. Juni

3. Juli

30. Juli

6. August

15. August

Gratwanderung

Tagebuch

31. August

1. September

2. September

1. Oktober

6. Oktober

Waschmaschine

Tagebuch

7. Oktober

8. Oktober

9. Oktober

Neuanfang

Pflegebedürftig

Perspektivenwechsel: Tinas Sicht der Dinge

Ein halbes Jahr zuvor – nach Tinas Umzug

Die neue Arbeitsstelle

Verletzt

Schneckenfest

Der schwarze Hund

Exkurs in die Kindheit

Aus den Ferien zurück

Abrechnung unter Frauen

Ultimatum

Rollentausch

Besuch im Spital

Erste Annäherung zwischen Mutter und Tochter

Nachwort

Bibliografie

Einleitung

Seit fast zwanzig Jahre schon rennen Ruth und ich zweimal pro Monat zusammen mit rund fünf weiteren Läuferinnen unserer Trainingsgruppe gegen das Älterwerden an, in der Sonne oder im Regen, und plaudern miteinander über weltpolitische und lokale News oder über Alltäglichkeiten. Ich habe mitgelitten, als Ruth vor ein paar Jahren ganz plötzlich von einem Rückenleiden aus dem Alltag herausgerissen wurde und ihr die höllischen Schmerzen die Lebenslust raubten. Und ich habe mit ihr gefeiert, als sie nach der Operation wieder zu uns stiess, lebensfroh und zuversichtlich wie eh und je.

Ich gebe zu, ich beneide sie manchmal ein wenig um ihr gesundes Selbstbewusstsein. Sie lässt sich nicht von jedem Missgeschick aus der Ruhe bringen, ist nicht so ungeduldig wie ich. Ja, ich bewundere ihre Ausgeglichenheit, ihre positive Einstellung und ihre Energie.

Umso mehr überraschte es mich, als Ruth eines Tages zu mir kam und mich um Rat bat. Ob ich etwas Zeit für sie habe? Sie müsse mir etwas anvertrauen. Wir verabredeten uns für die folgende Woche. In den Tagen vor unserem Treffen habe ich mich immer und immer wieder gefragt, worüber sie wohl mit mir reden wollte und warum ausgerechnet mit mir. Weil wir uns seit vielen Jahren kennen? Weil ich eben gerade nicht zu ihrem engeren Freundeskreis gehöre?

Ruth spannte mich nicht länger auf die Folter, als wir uns trafen. Nach ein paar einleitenden Sätzen kam sie sogleich darauf zu sprechen, was sie brannte: «Nicht wahr, du lässt dir doch von den unterschiedlichsten Menschen aus ihrem Leben berichten und schreibst die Geschichten auf? Eben. Vielleicht interessiert es dich ja auch, was sich bei mir zu Hause abspielt? Weisst du, ich stecke in einer vertrackten Situation. Darf ich sie dir schildern?» Schon begann sie zu erzählen, und ich hörte, abgesehen von ein paar aufmunternden Einwürfen wie «du Arme» oder «echt?» kommentarlos zu. Eine Viertelstunde? Dreissig Minuten? Es kam mir vor, als stehe ich am Ufer, mit beiden Beinen auf dem Boden, und schaue hilflos zu, wie sie vom Wasser herumgewirbelt wird. Sie hat geredet und geredet: über sich und ihren Mann, den sie von ganzem Herzen liebt, über ihr Geschäft und ihre Ehe, die besser nicht sein könnte – wenn da nicht diese junge Frau wäre, die er vor etwa zwei Jahren kennengelernt habe. Erst sei er mit väterlicher Fürsorge für sie dagewesen, denn sie habe einen schweren Stand im Leben. Doch ganz allmählich sei aus dieser ungleichen Beziehung ein Verhältnis geworden, eine Affäre, aus der er sich nun nicht mehr befreien könne. Und sie selbst hänge mit drin in diesem Beziehungsgeflecht, weil sie ihn auf keinen Fall verlieren wolle.

Und dann hat sie mich ganz unvermittelt gefragt, ob ich diese Geschichte für sie oder mit ihr aufschreiben würde. So könnte sie vielleicht Abstand davon nehmen und sich aus dieser Verstrickung befreien.

Ruths Situation und ihr Verhalten befremdeten und faszinierten mich zugleich. Schliesslich habe ich ihr geraten, Tagebuch zu schreiben. «Aber genau das mache ich ja schon seit einiger Zeit», erwiderte sie, «doch auch wenn ich meine Gedanken und Gefühle niederschreibe, sie bleiben an mir haften wie nasse Kleider. Weisst du, ich habe ein überwältigendes Bedürfnis, das Tagebuch mit jemand zu besprechen. Könnten wir nicht zusammen ein Buch daraus machen?»

Nun, wir kamen überein, dass ich es erst einmal in aller Ruhe lesen müsse. Danach würden wir uns wieder treffen, um uns darüber auszutauschen und zu entscheiden, wie es weitergehen könnte, je nachdem, ob ich finde, die Geschichte eigne sich als Stoff für ein Buch, und ob ich mir das Schreiben überhaupt zutraue.

Das war im Frühling 2017. Seither ist das vorliegende Buch gewachsen. Bei dessen Erarbeitung haben Ruth und ich eng zusammengearbeitet. Wir sind ein gutes Team geworden und gehen offen, ehrlich und respektvoll miteinander um. Die folgende Schilderung der Dreiecksbeziehung ist also sehr nahe an der Wirklichkeit gehalten. Nur das Ende des Romans habe ich mir ausgedacht, denn wer legt schon gern ein Buch zur Seite, wenn die darin erzählte Geschichte zu keinem – weder zu einem guten noch zu einem schlechten – Abschluss gekommen ist? Seltsamerweise hat sich allerdings die Realität im Nachhinein meiner Vorstellung angenähert.

Die Namen und die Umstände – Familienmitglieder, Wohnort, Hobbys, Berufe – sind auf Ruths Wunsch hin frei erfunden.

Einblick in den Alltag

Was Ruth und Hans verbindet

Ruth schiebt den Vorhang zur Seite und streckt sich wohlig in den wärmenden Sonnenstrahlen. Unten im Hof sieht sie Hans, wie er gemächlich über die groben Granitplatten zur Werkstatt geht, die Türe aufschliesst und im Halbdunkel verschwindet. Hans, denkt sie. Wenn ich dich nicht hätte. Niemand versteht mich besser als du.

Ruth erzählt gern von ihrem Mann und ihrer Familie, von ihrem Zuhause und ihrem Alltag, und wie gut sie sich aufgehoben fühlt. So sagt sie von sich selbst: «Alle meine Lebensträume sind in Erfüllung gegangen.»

Ruth und Hans wohnen in einem malerischen Dorf in der Linth-Ebene. Sie führen eine Schreinerei, einen Kleinbetrieb mit drei Angestellten. Manchmal, im Falle eines Engpasses, hilft Ruth in der Werkstatt aus, doch eigentlich ist sie Logopädin und arbeitet Teilzeit in der Schule in Rapperswil-Jona. Daneben kümmert sie sich um Haushalt und Garten. Das grosse Anwesen mit Wohnhaus und Werkstatt haben die beiden von Hans’ Eltern übernehmen können. Darin fühlen sie sich geborgen. Als ihre vier Kinder – zwei Töchter und zwei Söhne – noch in der Ausbildung waren, mussten Hans und Ruth ihre Ausgaben sehr genau im Auge behalten. Doch da sie genügsam lebten – Ferien machten sie mit Wohnwagen und Zelt, und ihre Freizeit verbrachten sie im Garten, wo Ruth mit viel Liebe Blumen und einheimisches Gemüse zog –, hatten sie es geschafft, über die Runden zu kommen, ohne je Geld aufnehmen zu müssen. Und seit die Kinder ihre Erstausbildungen abgeschlossen haben – mit Erfolg übrigens, was die Eltern mit Stolz erfüllt – und ausgezogen sind, hat sich die finanzielle Situation etwas entspannt. Nun haben Hans und Ruth sogar ein Sparkonto eröffnet und können hin und wieder dem einen oder anderen der Jungen etwas zustecken: für ein besseres Fahrrad, für eine Ferienreise, für einen neuen Computer oder für die Enkelkinder. Ja, vor vier Jahren sind Hans und Ruth nämlich Grosseltern geworden. Wie freuen sie sich jeweils, wenn die älteste Tochter Monica mit Timo und Anna zu Besuch kommt oder wenn sie ihnen die Kleinen anvertraut, um wieder einmal etwas Zeit für sich selbst zu haben.

Dann übergibt Hans die Leitung der Werkstatt dem dienstältesten Angestellten, um zumindest am Morgen ganz für die Enkelkinder da sein zu können. Und Ruth verschiebt das Berichteschreiben für einmal auf das Wochenende und geniesst die Zeit mit Hans und den Kleinen.

An einem typischen Grosselterntag kümmert sich vormittags vor allem Hans um die Kinder. Er hat extra die Briobahn und die Kiste mit den Holzklötzchen vom Estrich geholt und entstaubt, denn es macht ihm Spass – ihm wohl fast mehr als Anna und Timo –, auf dem Wohnzimmerboden eine grosse, verschachtelte Anlage aufzubauen. Immerhin kann er die beiden bei der Stange halten, indem er sie als Handlanger einspannt. Voller Eifer bringen sie ihm die passenden Schienen, Brücken und Weichen, denn sie wollen sich ja nützlich machen. Und wenn das Schienennetz schliesslich fertig ist, verschönern alle zusammen die Anlage, zum Beispiel mit kleinen Dörfchen entlang der Gleise und einem Tierpark aus farbigen Holzklötzen für die Plastiktierchen, deren Sammlung bei jedem Einkauf in der Apotheke um zwei weitere anwächst. Ist dann endlich alles bereit für den Start der Züge, sind Grosspapa Hans, Timo und Anna meist ziemlich erschöpft und brauchen dringend eine Pause. Zum Glück hat Ruth unterdessen ein feines Mittagessen gekocht und, wenn immer möglich, im Garten aufgetischt. Draussen kann sie grosszügig darüber hinwegsehen, wenn viele Häppchen nicht in den Mäulchen, sondern auf dem Boden landen, wo die Katze schon darauf wartet, ihren Teil abzubekommen.

Wenn es die Jahreszeit und das Wetter zulassen, plantschen die Kinder am Nachmittag am liebsten im Gummibassin hinter dem Haus, das Ruth am Morgen aufgestellt und gefüllt hat, damit das Wasser von der Sonne aufgewärmt werde. Sie setzt sich jeweils in gebührendem Abstand dazu, damit sie nicht patschnass gespritzt werde, und Hans filmt die Kinder mit seinem Handy. «Schon praktisch, diese Kleincomputer», haben sie schon mehrmals zueinander gesagt. «Wie schade, dass wir keine Filmaufnahmen von unseren eigenen Kindern haben.» Wenn es regnet, machen es sich Grossmama und die Kinder nach dem Essen und Aufräumen auf dem Sofa gemütlich und schauen zusammen einige der unzähligen Bilderbüchlein an, die Ruth über die Jahre gesammelt hat, während Hans in der Werkstatt zum Rechten sieht.

Am Abend, wenn Monica oder ihr Mann Luca die Kinder abholt, sind Ruth und Hans meist völlig erschöpft. «Wie haben wir das früher bloss geschafft mit vier Kindern?», fragt sich Ruth oft. «Wir werden älter, das schleckt keine Geiss weg.» – «Dir sieht man das jedenfalls nicht an», mag Hans erwidern, «du bist so schön wie eh und ja.» Ruth freut sich jedes Mal über solch ein Kompliment, obwohl sie genau weiss, dass der Spiegel am Morgen eine andere Sprache spricht: Schlaffe Hautsäcke unter ihren Augen, Falten neben den Mundwinkeln und weisse Strähnen im dunkelbraunen Haar beweisen, dass sie schon bald zu den Seniorinnen gehören wird. Hans hingegen, findet sie, gibt man seine 62 Jahre nun wirklich nicht. Oder wenn, dann stehen sie ihm gut. Er wirkt fit und attraktiv mit seinem federnden Gang, seinem – zugegeben graumelierten – Lockenkopf, den feingeschnittenen Gesichtszügen.

Den Sonntag halten sie sich wenn immer möglich frei, in der warmen Jahreszeit für eine Wanderung oder, bei guten Verhältnissen, für eine Klettertour, im Winter für einen Ausflug mit den Schneeschuhen, ein Training in der Kletterhalle oder hin und wieder einen Museums- oder Kinobesuch.

Das gemeinsame Klettern nimmt einen hohen Stellenwert ein in Hans’ und Ruths Beziehung. Beim Klettern haben sie sich kennen gelernt, in der Jugendsektion des Schweizer Alpenclubs nämlich. Und die erste gemeinsame Übernachtung in der engen, aber gemütlichen Glärnischhütte, damals waren sie noch keine zwanzig, hätte gestern sein können: der Jass am Tisch vor der Hütte, die leicht verkochten Spaghetti, die Katzenwäsche mit dem eisigen Wasser, die Nacht auf den schmalen Pritschen im vollbelegten und nach verschwitzten Socken stinkenden Massenschlag, die zeitlose Glückseligkeit, als sie sich eng aneinanderschmiegten, hellwach und ganz ruhig, damit ja niemand erwache – diese Erinnerungen gehörten zum festen Inventar ihrer Liebe.

Seither sind sie jedes Jahr am letzten Juni-Wochenende zur Feier ihres Hochzeitstages zusammen klettern gegangen, um ihre Beziehung gebührend zu feiern, bei schönem Wetter am Fels und bei Regen in der Kletterhalle. Auch als die Kinder noch klein waren, und sogar im Frühsommer 2015 – ein gutes halbes Jahr, nachdem Tina bei ihnen ins Zimmer neben der Werkstatt eingezogen war, und ein paar Monate, nachdem sie Hans den Kopf verdreht hatte.

Wie immer hatte Ruth an jenem Freitagabend den Tisch für ein köstliches Frühstück vorbereitet, hatte einen Zopf gebacken, sodass das ganze Haus herrlich nach Hefe duftete, und frische Erdbeerkonfitüre aus dem Keller geholt, während Hans die Kletterausrüstung kontrollierte und ins Auto packte. Nun würden sie am Morgen rechtzeitig losziehen können, und zwar wie so oft zur geliebten Sardonahütte zuhinterst im Calfeisental. Mit ihr fühlten sie sich besonders verbunden, da sie ihrer eigenen Alpenclub-Sektion gehörte. Zudem war sie ein idealer Ausgangspunkt für verschiedene Hochtouren mit zumeist einfachen Klettereien.

Schon seit Tagen hatte der online-Wetterbericht ein herrliches Wochenende prophezeit: sonnig und warm, keinen Wind, keine Gewitter und Null Prozent Regen. Es war fünf Uhr morgens. Hans strich Ruth zärtlich das Haar aus dem Gesicht. Schlaftrunken fragte sie ihn, warum er sie wecke, es sei ja noch dunkel. «Wenn Engel klettern …», flüsterte er, «weisst du, ich bin der glücklichste Mensch, denn vor genau 39 Jahren habe ich dich geheiratet.» – «Ach entschuldige, heute ist ja unser Hochzeitstag. Ich bin noch nicht ganz wach.» Nach dem ausgiebigen Frühstück brachen sie auf zur heimeligen SAC-Hütte. Dort gönnten sie sich wie immer eine Tasse Kaffee, bevor es weiterging Richtung Piz Sardona. Still stiegen sie der Moräne entlang zum Gletscher auf, überquerten diesen auf der ausgetretenen Spur und erklommen über das bunte Geröll den Grat. Dann blieben sie stehen. Kein Mensch weit und breit. Sie atmeten tief ein und aus, schauten einander an, bestaunten die Bergwelt, als wären sie zum ersten Mal hier, spürten dem überwältigenden Gefühl des Glücks, das sie beide gleichermassen erfüllte, nach und beteten ohne Worte zu einem Gott, den sie nicht kannten. Auch auf dem Gipfel waren sie ganz allein. «I der Schwyz, i der Schwyz, da sim mir dihei», sang Ruth, während Hans die Brötchen auspackte. Am Abend in der Hütte aber freuten sie sich, dass noch einige andere Wanderlustige eingetroffen waren. Mit wem hätten sie denn sonst jassen sollen?

Nach einer mässig erholsamen Hüttennacht – na ja, wer schläft schon gut auf diesen engen Pritschen? – und einem in andächtiger Stille eingenommenen Frühstück nahmen sie am Sonntagmorgen die anspruchsvolle Hochtour auf den höchsten St. Galler Gipfel, den Ringelspitz, in Angriff. Unterhalb des stellenweise etwas ausgesetzten Grats, der zum Tristelhorn führt, gurteten sie sich an, und einmal mehr tauchten sie ein in diese magische Atmosphäre des Aufeinander-Angewiesenseins, des Einsseins mit der Natur und der völligen Fokussierung auf die Gegenwart, wo einzig der flüchtige Moment des Jetzt zählt und sich ein berauschendes Gefühl der Leichtigkeit und Freiheit einstellt, weil der Alltag mit all seinen Sorgen wie weggeblasen ist. «Alles klar?», fragte Hans, «soll ich vorklettern?» – «Natürlich, wie immer.»

Jede Bergtour knüpft neue Verbindungen im Gedächtnis und prägt Eindrücke, die tage-, ja wochenlang präsent sind und immer wieder ein Hochgefühl hervorrufen, das jenes auf dem Gipfel fast noch übertrifft: Eindrücke von der gewaltigen Kraft und schöpferischen Unendlichkeit der Natur, mit der man beim Klettern verschmolz, von der Kraft des eigenen Körpers, auf den man sich ganz verlassen konnte, von der tiefen Dankbarkeit gegenüber dem Schicksal. So kehrten Hans und Ruth auch diesmal erfüllt und zufrieden nach Hause zurück und packten den Alltag gestärkt und voller Energie, wenn auch körperlich müde, an: Ruth ging duschen, während Hans die Rucksäcke leerte, Schuhe und Klettergurte auslüftete und die Überreste des Picknicks wegräumte. Dann erholte er sich in der Badewanne und Ruth bereitete das Abendessen vor. Sie hatten eine währschafte Mahlzeit verdient. «Schön war es», sagten sie beim Essen zueinander und hingen in Gedanken den Herausforderungen am Fels – und wie sie sie je gemeistert hatten – sowie dem Erlebnis des perfekten Teamworks nach.

Den Tag wollte Ruth wie üblich vor dem Fernseher mit einem Krimi ausklingen lassen, und Hans machte sich zu seinem gewohnten Rundgang durch die Werkstatt auf. Doch als Ruth die Vorhänge in der Stube zuziehen wollte, bemerkte sie drüben das Licht in Tinas Zimmer, und sie sah, dass Hans wie zufällig davor stehen blieb, einen Augenblick zögerte und dann an die Tür klopfte. Sie öffnete sich einen Spalt breit, und Hans streckte den Kopf rein, bevor er vom Zimmer verschluckt wurde. Plötzlich fröstelte Ruth, und sie fühlte sich fremd in ihrem eigenen Zuhause, wie zwischen Kulissen, die nach der Theatersaison, wenn das aktuelle Stück von ihrer Ehe zu Ende gespielt war, abgeräumt werden sollten. Doch wer würde sie, Ruth, sein, wenn sie ihre Rolle als Hans’ Frau abgelegt hatte?

Noch vor einem Dreivierteljahr hätten sich Hans und Ruth belustigt angeschaut, wenn ihnen jemand prophezeit hätte, sie würden in eine Beziehungskrise schlitteln. «Wie kommt ihr denn darauf?», hätten sie geantwortet, «das ist ja völlig absurd.» Doch dann hatte Hans im Spätherbst eine neue Teilzeitstelle ausgeschrieben und sie Tina gegeben.

Hans war ein guter Chef. Für seine Angestellten hatte er immer ein offenes Ohr, und wenn einen von ihnen der Schuh drückte, spürte er das sofort, fragte nach und versuchte zu helfen. Sein achtsamer Umgang mit den Menschen und sein grosses Engagement für alles, was er anpackte, hatten sich natürlich in der kleinen Gemeinde und im ganzen Linthgebiet längst herumgesprochen. War irgendwo ein kirchliches oder politisches Amt neu zu besetzen oder suchte ein Verein, sei das der Männerchor oder der Turnverein, neue Mitglieder, Hans war immer unter den Ersten, die angefragt wurden, obwohl er ein ums andere Mal dankend ablehnte. Er habe keine Zeit neben Werkstatt und Familie.

Wenn er eine Stelle zu vergeben hatte, konnte er sich kaum retten vor der Flut der Bewerbungen. Doch er blieb gelassen und nahm sich Zeit, alle Unterlagen gründlich zu studieren. Dann lud er zehn Interessierte ein und führte ausführliche Gespräche mit jedem und jeder Einzelnen von ihnen. So auch im November 2014, als Tina zu den Bewerberinnen und Bewerbern gehörte, die Hans persönlich kennen lernen wollte. Sie konnte zwar keinen Lehrabschluss vorweisen, hatte aber immerhin ein Jahr in einer Schreinerei gearbeitet, bevor sie die Ausbildung an den Nagel hängte. Danach war sie in Südamerika herumgetingelt, wo sie sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser hielt, bevor sie nach der Rückkehr für ein Temporärbüro mal da, mal dort jobbte. Bis zu ihrem Unfall vor einem Dreivierteljahr.

Es war ein klarer, ungewohnt kalter Spätherbsttag, als Tina sich vorstellte. Freiwillig hielt sich niemand draussen auf, und in der Werkstatt wurde noch fleissiger als sonst gearbeitet, denn wer sich nicht ständig bewegte, dem kroch die Kälte durch die Glieder. Immer wieder knatterte die Kaffeemaschine. Der heisse Kaffee – so hoffte man – würde die Bise, die durch alle Ritzen des alten Holzhauses pfiff, für eine Weile vergessen machen. Hans und Tina aber, obwohl sie fast den ganzen Nachmittag im Büro sassen, fröstelten keinen Augenblick. Im Gegenteil: Tinas Kopf glühte, als sie Hans von ihrem schweren Autounfall erzählte und wie sie um ihre Genesung gekämpft und danach, also schon seit sechs Monaten, nach einer passenden Stelle Ausschau gehalten habe. Die Suche sei sehr schwierig, da sie schnell ermüde und nicht stundenlang stehen könne. Zum Glück erhalte sie Sozialhilfe, aber die reiche weder zum Leben noch zum Sterben. Betroffen hörte Hans zu. Die junge Frau tat ihm leid, und er dachte sich wohl insgeheim, es wäre doch wunderbar, wenn ausgerechnet er Tina wieder auf die Beine helfen könnte.

Ruths Perspektive

Tagebuch

20. November

Heute war es so richtig kalt. Auch im Haus. Wir müssen uns Gedanken über unsere alte Heizung machen. Aber eben, womit bezahlen? Wenn wir jetzt eine weitere Teilzeitstelle schaffen, reicht das Geld nicht mehr für einen neuen Brenner, ganz zu schweigen von einer Wärmepumpe. Na ja, dann eben nächstes Jahr.

Auf die Ausschreibung der Allrounderin – früher hiess das «Hilfskraft» – hat sich unter anderen eine junge Frau gemeldet, Tina irgendwas. Hans hat sie mir nach ihrem Gespräch vorgestellt, und wir haben ein paar Worte gewechselt.

Ehrlich gesagt habe ich kein gutes Gefühl. Nicht weil sie Sozialhilfe erhält, das stört mich nicht. Ebenso wie Hans finde auch ich, man solle den Menschen eine zweite Chance geben, wenn einmal etwas in ihrem Leben schiefgelaufen ist und sie auf finanzielle Unterstützung angewiesen sind. Aber diese Tina – ich weiss nicht. Ihre Augen habe ich nicht richtig sehen können, sie versteckt sie hinter einem Vorhang von dunklem Haar. Aus Schüchternheit? Glaube ich nicht, denn gerade eben hat mir Hans geschildert, wie sie ihm des Langen und Breiten ihr Herz ausgeschüttet habe. Schüchtern ist sie also nicht. Was dann?

Ihm gefällt sie, das spüre ich. Und sie tut ihm leid.

25. November

Hans hat Tina die Stelle in der Schreinerei gegeben. Aus Mitleid, denke ich, und nicht, weil sie ihm geeignet scheint. Nun, das ist Hans’ Angelegenheit. Ich muss ja nicht mit ihr zusammenarbeiten. Aber dass er mich nicht nach meiner Meinung gefragt hat, bevor er ihr unser Gästezimmer im Erdgeschoss, direkt neben der Werkstatt, angeboten hat, das ärgert mich. Solche Entscheidungen haben wir bisher immer gemeinsam getroffen.

Als ich protestierte, hat er sich zwar bei mir entschuldigt, aber erstens kann er seine Zusage nicht mehr zurücknehmen, da sie morgen bereits einziehen will, und zweitens freut er sich so sehr über Tinas Dankbarkeit wegen des Zimmers und der Stelle, dass er meinen Ärger gar nicht wirklich wahrgenommen hat. Ja, er mag sie. Klar, sie bringt frischen Wind in die Werkstatt, ist erst gut dreissig und wirkt sympathisch. Sie ist grossgewachsen, schlank, hat ebenmässige Gesichtszüge und schulterlanges, glänzendes Haar, das sie mindestens einmal pro Minute mit einer ruckartigen Kopfbewegung nach hinten wirft. Hat sie einen Tic?

20. Dezember

Tina ist erst knapp vier Wochen bei uns, doch eines ist jetzt schon offensichtlich: Sie ist unzuverlässig. Kaum ein Morgen vergeht, ohne dass sie zu spät zur Arbeit erscheint. Mal habe sie verschlafen, mal Kopfweh, mal den Wecker nicht gehört.

Sagt sie. Und sie ist häufig übermüdet. Wenn Hans sie bittet, sich zusammenzureissen, entschuldigt sie sich und gelobt Besserung, während sie mit zerknirschter Miene unter ihrem Vorhang hervorschielt.

Hans bereut bereits, sie eingestellt zu haben, und er hat fest im Sinn, ihr vor Ablauf der Probezeit zu kündigen. Zwei Monate sind ausgemacht. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das richtig ist. Vielleicht müssen wir ihr eine Chance geben, sich wieder an das geregelte Arbeitsleben zu gewöhnen, immerhin hat sie ja einige Monate nicht mehr jeden Tag frühmorgens aufstehen müssen. Ist wohl nicht einfach, sich wieder umzustellen.

Aber jetzt feiern wir erst einmal Weihnachten.

5. Januar

Diese Weihnachten werde ich so schnell nicht mehr vergessen. Eigentlich kann ich sie unter einem einzigen Stichwort zusammenfassen: schlechtes Gewissen. Angefangen hat die leidige Geschichte mit einem Streit kurz vor den Feiertagen: Hans fand, wir müssten Tina zu unserem Weihnachtsfest einladen, da sie nirgendwo hingehen könne.

Mit ihren Eltern hat sie sich offenbar überworfen, und einen Freund hat sie nicht. Aber ich hatte mich doch so gefreut auf das Beisammensein mit all unseren Kindern, ihren Partnern und Partnerinnen und den Enkelkindern. Wir hatten es das ganze Jahr nie geschafft, alle miteinander einzuladen. Und jetzt sollte Tina mitfeiern. Sie würde sich auf die Feier wie ein verfremdender Filter eines Foto-Bearbeitungsprogramms auswirken – «Ludwig» oder «Slumber» oder wie die alle heissen – und plötzlich wäre das Fest anders gefärbt: schwarzweiss oder pink oder mit einem schwarzen Rand. «Nein», sagte ich, «das will ich nicht.» Natürlich war mir bewusst, dass an Weihnachten die Nächstenliebe gefeiert wird und so weiter, und die schliesst alle Menschen mit ein, gerade auch solche wie Tina. Deshalb also mein schlechtes Gewissen.

Nun, Hans gewann, und Tina kam am Heiligen Abend zu uns herüber. Schnell wickelte ich noch einen Kerzenständer und eine Lavendelseife in Geschenkpapier und legte sie zu den anderen Päcklein unter den Christbaum, damit auch sie etwas zum Auspacken habe. Trotzdem wurde es bei der Bescherung furchtbar peinlich, als sich Timo vor Tina aufbaute und sie fragte, ob sie sich eigentlich nicht freue über ihre Geschenke. Sie habe gar nicht danke gesagt. Natürlich entschuldigte sich Monica sofort für seine Worte, doch er liess nicht locker und doppelte nach: «Aber Mama, du hast doch selbst gesagt, hoffentlich benimmt sie sich anständig.» Nun war Monica dran mit dem schlechten Gewissen.

Beim Essen schliesslich gab ich mir alle Mühe, Tina ins Gespräch einzubinden – nicht ganz einfach bei den vielen Insidergeschichten, die unsere geschwätzigen Jungen immer wieder anschnitten. Doch alles war umsonst, sie blieb ein Fremdkörper, und die Stimmung war seltsam künstlich.

Schlechtes Gewissen zum Dritten, diesmal meines gegenüber meinen Lieben. Und auch Hans, der den ganzen Abend über seltsam abwesend schien, wurde von Gewissensbissen geplagt: Beim Zubettgehen gestand er mir nämlich, es tue ihm leid, dass er uns diese Suppe eingebrockt habe.

15. Januar

Tinas Probezeit ist abgelaufen. Hans hat es nicht über sich gebracht, Tina zu entlassen. Irgendwie hat sie ihn in ihren Bann gezogen. Weil sie hilflos wirkt? Weil er denkt, sie brauche seine Unterstützung? Und ich, bin ich nun erleichtert oder irritiert?

Tinas erste Wochen in der Werkstatt