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Wir Landeier kommen aus einer Welt, in der es keine Ampeln gibt, in der Sushi noch Jägerschnitzel heißt und in der das Navi fragt: «Wo sind wir denn hier?» Nun aber soll es zu neuen Ufern gehen: in die Stadt! Und Sie kommen mit! Doch keine Sorge: Es kann Ihnen nichts passieren, denn dieser Stadtführer für Landeier präpariert Sie für alles, was Ihnen in der Stadt begegnen wird - egal, ob internationale Küche, Türsteher, vierspurige Stadtautobahnen oder zweistellige Hausnummern.
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Seitenzahl: 204
Matthias Jung
Meine erste Ampel
Der einzige Stadtführer für Landeier
Als der Raum wieder sicher war, verabschiedete sich die Landmaus von der Stadtmaus mit den Worten: «Vielen Dank für alles, aber hier ist es mir zu gefährlich. Das ist zu viel für mich. Ich mache mich nun wieder auf den Weg nach Hause aufs Land. Lieber esse ich meine Körner in Ruhe, bevor ich so viele gute Köstlichkeiten in Angst und Schrecken essen muss!»
(Lateinische Fabel nach Horaz)
Ich mache das nicht – ich gehe in die Stadt!
Und Sie kommen mit!
Auf geht’s!
Matthias: «Mutter…, Vater…, ich zieh in die Stadt!»
Mutter: «Ach du Schande, Bub.
Wer fährt denn jetzt mit mir zum Aldi?»
Mein Name ist Matthias Jung, und ich komme vom Land. Dort bin ich aufgewachsen und habe eine traumhafte Kindheit verbracht. Oder, anders ausgedrückt – dort hatte ich Ruhe, Gelassenheit und Mutti. Inzwischen wohne ich seit Jahren in der Großstadt. Nun habe ich Tempo, Stress und keine Mutti. Vom Land der begrenzten Möglichkeiten in die Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten – damit kam ich zu Beginn überhaupt nicht zurecht. Obwohl ich die Stadt inzwischen liebe, vergesse ich meine Wurzeln nicht, und so pendele ich seit Jahren zwischen der Großstadt und meinem Kinderzimmer hin und her. Dieses Kinderzimmer befindet sich in einem kleinen Haus, und dieses kleine Haus steht in einem Dorf. Es heißt Hüffelsheim.
WISSEN: Hüffelsheim
Hüffelsheim gehört zur Verbandsgemeinde Rüdesheim im Landkreis Bad Kreuznach in Rheinland-Pfalz. Hüffelsheim liegt auf einem Plateau oberhalb der Nahe am Naturpark Soonwald-Nahe. Der nächstgrößere Ort ist Norheim. Wer Hüffelsheim im Straßenatlas sucht, findet es: in der Ritze.
Die früheste schriftliche Erwähnung fand das Dorf Hüffelsheim – genau jetzt. Das Gleiche gilt natürlich auch für Norheim. Hüffelsheim ist der einzige Ort der Welt, der von der Außenwelt abgeschnitten ist, obwohl es zu keiner Naturkatastrophe kam.
Wer unser Dorf als Letzter verlässt, muss ein «Bin gleich zurück!»-Schild aufhängen. Und trotz alldem – oder genau deshalb – ist es für mich der schönste Ort der Welt.
TOP 3
Die drei wichtigsten Indizien dafür, dass Hüffelsheim sehr klein ist
Wenn man bei uns den Haustürschlüssel verliert, ist es billiger, das Dorf nachmachen zu lassen.
Auf unserer Fußmatte steht nicht «Herzlich willkommen», sondern «Grüß dich, Hans!».
Steigt man im Bus vorne aus, ist man schon wieder aus dem Dorf raus.
TOP 3
Die berühmtesten Zitate von Hüffelsheim-Touristen
«Hinterher ist man immer schlauer!»
«Zu Hause ist es doch am schönsten!»
«Warum fahren wir noch mal an eine Raststätte?»
Immer mehr Medien widmen sich dem Auszug der Städter aufs Land. Doch wer kümmert sich um die Menschen, die die umgekehrte Richtung einschlagen? Die sind oft hilflos, komplett überfordert und erleben erst mal einen Kulturschock. Und dabei spielt es keine Rolle, ob man in die Stadt zieht, um dort zu leben, oder ob man sich dort lediglich für eine kurze Stippvisite aufhält. Ein Landei wird zwangsläufig mit Problemen und Hindernissen konfrontiert, mit Fragen, die bisher noch in keinem Stadtführer beantwortet werden. Ich jedenfalls hätte mich damals über ein wenig Hilfestellung gefreut, weshalb Sie hier neben vielen nützlichen Tipps auch einen «Wissens-Guide» finden werden, der wichtige Begriffe definiert. Zur weiteren Orientierung und um Ihnen gewisse Unterschiede zwischen Stadt und Land deutlich zu machen, gibt es die sogenannten TOPs.
Damit den Menschen vom Land das Eintauchen in die neue Welt gelingt, möchte ich Ihnen also im Folgenden einige Informationen und Ratschläge geben. Ich mache Sie reif für die Stadt!
Wie Sie merken werden, spielen meine Eltern nicht nur in meinem Leben, sondern auch in diesem Buch eine sehr große Rolle, denn sie sind immer wieder ein gutes Beispiel dafür, wie aufgeschmissen und hilflos man in der Stadt sein kann. Lassen Sie sie mich Ihnen kurz vorstellen: Meine Mutter ist eine typische Mutter. Wenn man bei Google-Bildersuche «Mutter» eingibt, erhält man Fotos meiner Mutter. Sie ist ein herzensguter Mensch, hilfsbereit, putzwütig und immer am Quatschen. Ihr früherer Arbeitgeber hat diesen Umstand mal sehr schön mit den Worten beschrieben: «Frau Jung, eigentlich sind Sie für unsere Firma untratschbar!»
Meine Mutter putzt für ihr Leben gerne. Für viele Menschen ist das kaum nachzuvollziehen, aber es ist wahr. Bei uns zu Hause ist es so sauber, dass man nicht nur vom Boden essen könnte, sondern den Boden selbst. Meine Mutter zu fragen: «Kannst du mir die Wäsche machen?», löst bei ihr in etwa das Gleiche aus, als würde ich zu meinem Vater sagen: «Komm, wir gehen einen trinken!»
In dieser Hinsicht hat sie ein unglaubliches Sendungsbewusstsein: Einmal nistete eine Ratte bei uns in der Garage. Und meine Mutter hat dafür gesorgt, dass sie zweimal am Tag duscht.
Mein Vater ist da ganz anders; er ist eher ein ruhiger Mensch. Es sei denn, er fährt mit der Familie in den Urlaub. Weil er dafür viel Geld bezahlt hat, ist er darauf bedacht, ja alle Vorteile des Urlaubs zu nutzen und zu genießen. Da beschwert er sich auch schon mal und motzt: «Bub, der Strand ist viel zu weit weg vom Hotel!» Selbst wenn ich ihm dann erklären muss: «Vater, ich bitte dich, wir sind im Harz!»
Mein Vater ist kein Freund der langen Rede, was unter anderem auch daran liegt, dass er bei meiner Mutter nicht so leicht zu Wort kommt. Aber wenn er etwas erzählt, tut er es auf eine sehr trockene und nüchterne Art und Weise. Ein Beispiel: Als die ganze Familie mal mit dem Zug in den Urlaub fuhr, saß uns eine Frau mit zum Hahnenkamm hochgeföhnten, blondierten Haaren gegenüber. Die lila Strähnchen darin leuchteten in der Sonne. Als sie den interessiert-fragenden Blick meines Vaters bemerkte, erklärte sie mit schrillem Ton: «Lila ist die Farbe der unbefriedigten Frau!» Mein Vater sagte gedehnt: «Jo!». (lange Pause). «Und das wird auch so bleiben!» Damit war das freundliche Gespräch zwischen zwei Bahnreisenden auch schon wieder beendet.
Neben meinen Eltern werden in diesem Buch noch mein trinkfester und für seine treffenden Analysen der Weltlage bekannter Onkel Erwin, Josef, der erfolgreichste Bauer unseres Dorfes, und natürlich mein Cousin Jens eine Rolle spielen, der schon seit Jahren in der Großstadt studiert.
Aber jetzt genug des Vor(w)ortes: Sie wissen nun über mein Dorf, meine Eltern und mich Bescheid, ein wenig jedenfalls. Dann kann es also losgehen, es wird spannend – auf geht’s in die Stadt!
Eines Tages kam meine Mutter mit ernster Miene zu mir und sagte: «Bub, es wird Zeit für eine eigene Wohnung!» Ich erschrak und stammelte: «Okay, meinetwegen, ich komm mit Vater schon allein klar. Ich wünsch dir alles Gute!»
Aber natürlich hatte sie meinen Auszug im Sinn. Sie erklärte mir, dass Kinder irgendwann mal das Nest verlassen müssen, draußen den Ernst des Lebens kennenlernen und Erfahrungen sammeln sollen, die für die Zukunft und die eigene Entwicklung wichtig sein können. In Wirklichkeit brauchte sie mein Zimmer als Lager für ihren neuen Staubsauger «Vorwerk 3000»! Den Text vorher hatte sie sich in der Telenovela Sturm der Liebe abgeschaut.
Da ich stark mit dem Landleben verbunden war und die Leute sehr mochte, konnte ich mir einen Auszug aus unserem Dorf lange nicht vorstellen. Doch dann entschied ich mich, etwas zu erleben und endlich mit Menschen Bekanntschaft zu machen, deren Lebensläufe meine Mutter nicht en détail kennt.
Ein paar Monate später war es schließlich so weit, und nicht meine Mutter, sondern ich zog in die Stadt – nach Köln. Es kommt ja durchaus häufiger vor, dass Menschen dem Land den Rücken kehren und in die Großstadt ziehen: aus beruflichen oder familiären Gründen, oder weil sie zumindest einmal in ihrem Leben eine zweistellige Hausnummer gesehen haben wollen. Wenn Sie zu diesen Menschen zählen, müssen Sie sich über eines im Klaren sein: Im Großstadtdschungel warten unglaubliche Dinge auf Sie. So kann es beispielsweise passieren, dass Sie plötzlich, ganz unverhofft, überraschend, vor einer Ampel stehen. Wenn es Ihre erste Ampel ist, müssen Sie damit erst einmal zurechtkommen. Möglicherweise stehen Sie auch nichtsahnend an einer Ampel und sehen plötzlich einen Briefkasten, auf dem tatsächlich unter «Leerung» Uhrzeiten stehen und nicht Tage. Atmen Sie tief durch, denn glauben Sie mir: Solche Briefkästen sind in der Stadt keine Seltenheit, sondern mittlerweile Standard. Manchmal werden sie sogar abends geleert!
Der Wunderlichkeiten nicht genug, gibt es Straßen, die eigene Namen tragen, Straßen mit Mittelstreifen und Straßen, deren Hausnummern dreistellig sind – zum Teil und jetzt halten Sie sich fest–, mit Buchstaben! In diesem Fall sollten Sie allerdings zunächst wegschauen, um eine zu starke Reizüberflutung zu vermeiden. Mein Vater hat sich diesem visuellen Input erst nach mehreren Besuchen ausgeliefert. Nun besitzt er ein T-Shirt mit der Aufschrift: «Köln– Venloer Straße 1453 – ich war dabei!»
Machen Ihnen solche Herausforderungen nichts aus, und fühlen Sie sich bereit für etwas Neues? Dann steht einem Besuch oder sogar einem Umzug in die Stadt nichts mehr im Wege.
WISSEN: Landflucht
Seit dem Jahr 2007 wohnt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten, während 1950 noch 70% auf dem Land lebten. Nach Prognosen der UNO wird der weltweite Anteil der städtischen Bevölkerung bis 2030 auf über 60% steigen und im Jahr 2050 rund 70% erreichen.
Auch in meiner Heimat verlassen immer mehr Menschen unser Dorf. Am besten lässt sich dieser Trend bei der Hüffelsheimer Kirmes beobachten. Dort bildet sich schon nach kurzer Zeit eine immens große Schlange. Jedoch nicht vor dem Kinderkarussell, der Schießbude oder dem Auto-Scooter. Sondern vor dem Schild mit der Aufschrift: «Junger Mann zum Mitreisen gesucht!»
Was den Umzug in die Stadt angeht, ist es enorm wichtig, dass Sie genug Zeit einplanen. Auch für das Ausleben der vielen emotionalen Momente, die im Vorfeld einer solchen Reise in einen neuen Lebensabschnitt nicht zu unterschätzen sind. So müssen Sie zum Beispiel damit rechnen, dass die gesamte Dorfkapelle zum Abschied spielt, der Männer-Gesangsverein «Kein schöner Land» schmettert, der Bürgermeister in seiner Stretchkutsche mit vier Pferden vorfährt, um eine tränenreiche Rede zu halten, sowie Nachbarn und Freunde lang und breit alles Gute für die Zukunft wünschen. Das war jedenfalls bei meinem ersten Umzug der Fall. Und da bin ich nur bei meinen Eltern vom Kinderzimmer im ersten Stock in den Keller gezogen.
Am Tag meines endgültigen Auszugs war meine Mutter sehr traurig und ließ ihren Gefühlen freien Lauf. Geschluchzte Sätze wie «Bub, bleib doch da!», «Du kannst deine Mutter doch nicht alleine lassen!» und «Wer soll im Mai denn jetzt die Bohnenstange stecken?» häuften sich.
Man muss allerdings dazu sagen, dass meine Mutter einfach immer weint – wirklich bei jedem Anlass. Sie hat sogar geheult, als ich mit dreizehn Jahren mein Seepferdchen gemacht habe. Zugegebenermaßen war das auch eine sehr schwere Geburt, denn ich habe es einfach nicht geschafft, den Ring vom Beckenboden heraufzuholen. Ich wollte und konnte einfach nicht so lange die Luft anhalten. Mittlerweile klappt es allerdings ganz gut, was mir in so mancher Bahnhofstoilette zugutekommt. Meine Mutter schafft es sogar, drei Minuten lang nicht zu atmen, was ihr nach Vaters Toilettengang auf jeden Fall zugutekommt. Sie versucht offensichtlich, das Seepferdchen auf dem zweiten Bildungsweg nachzumachen.
So oder so, schließlich musste sich meine Mutter doch mit meinem Auszug abfinden. Ihre Hauptsorge galt jetzt dem Umstand, ob ich eine Jacke anhatte. Das war, sobald ich das Haus verließ, immer das Allerwichtigste. Sollte ich jemals auf dem «Walk of Fame» in Hollywood einen Stern bekommen und das auf allen Sendern der Welt zu sehen sein, wird meine Mutter immer noch zu meinem Vater sagen: «Da, schau! Jetzt hat der Bub schon wieder keine Jacke an!»
Die meisten meiner Freunde indes freuten sich über meinen Auszug, sahen sie doch darin die Chance, mich zu besuchen und abends so richtig auf die Piste gehen und einen draufmachen zu können. Andere Freunde kommentierten den Umzug lediglich wortkarg mit: «Muh».
Doch irgendwann waren alle Sachen verstaut, die Dorfkapelle sturzbesoffen, die Mutter beruhigt und die Einkaufszettel der Nachbarn im Gepäck verstaut. Ebenfalls mit dabei: mein heißgeliebtes Navigationssystem.
TOP 3
Was sagt ein Navigationssystem, wenn es nach Hüffelsheim muss?
3. «Muss ich da wirklich mit?»
2. «Bitte wenden!»
1. «Warum bin ich kein Toaster geworden?!»
TOP 3
Was sagt ein Navigationssystem, wenn es in Hüffelsheim ankommt?
3. «Wo sind wir denn hier?»
2. «Bitte, bitte, bitte wenden!»
1. «Warum bin ich immer noch kein Toaster geworden?!»
Es ist bereits mein zweites Navi. Das erste hat meine Mutter auf dem Gewissen. Sie benutzte häufig mein Auto und fährt leider so schlecht, dass die Stimme irgendwann krächzte: «Ich habe mein Burnout-Syndrom erreicht!» Selbst nach einer aufwendigen Reparatur war es nie wieder dasselbe. Sobald ich es in den Zigarettenanzünder steckte, um es anzuschließen, wurde es so verzweifelt, dass es ausschließlich den Weg zu einem Bahnübergang oder zu einem Fluss anzeigte.
Aber mit meinem neuen Navigationssystem bin ich äußerst zufrieden. Für die Anweisungen habe ich eine Prominenten-Stimme ausgewählt: die des Paten aus dem gleichnamigen Film. Am Anfang war das zugegebenermaßen etwas gewöhnungsbedürftig, denn sobald ein holländisches Fahrzeug vor mir fährt, sagt der Pate: «Lass es wie einen Unfall aussehen!» Aber das ist nichts gegen die Navi-Stimme im Auto meines Vaters: Barack Obama. Meinem Vater gefiel dessen positive Art. Wenn er im Parkverbot parkt, sagt Obama: «Yes, we can!» Und wenn meine Mutter auf der Fahrerseite einsteigt: «We need a change!» Die Fahrkünste meiner Mutter hatten sich wohl unter den Navis rumgesprochen.
Für meine Mutter ist ein Navigationssystem immens wichtig, denn sie hat keinerlei Orientierungssinn, in einer Großstadt schon mal gar nicht. Ich hatte früher mal eine Fototapete von New York an meiner Kinderzimmerwand. Das hat meine Mutter so verwirrt, dass mein Vater sie regelmäßig am Times Square abholen musste – zwischen meinem Schreibtisch und meinem Bett. Meine Mutter könnte auch nie Formel 1 fahren, sie würde es sogar schaffen, auf einem Rundkurs falsch abzubiegen.
Außerhalb ihres Hauses fühlt sie sich so orientierungslos, dass sie ständig fragt: «Ob wir hier richtig sind?» Ich beruhige sie dann immer mit den Worten: «Mutti, warte doch erst einmal ab. Wir sind gerade erst aus der Garage gefahren!» Das ist zuweilen recht nervig. Stellen Sie sich vor, Ihr Flugzeug stürzt mitten in der Sahara ab, alle Passagiere überleben. Sie steigen aus dem Flieger aus, und das Erste, was Sie vernehmen, ist der Satz meiner Mutter: «Ob wir hier richtig sind?» Glauben Sie mir, das wollen Sie in dem Moment nicht hören! Wäre ich unter den Passagieren, würde sie mich sofort auffordern: «Bub, zieh dir eine Jacke an!» Das will ich in der Wüste auf keinen Fall hören.
Wenn Sie mit einem ähnlichen Orientierungssinn gesegnet sind wie meine Mutter oder angesichts zweispuriger Straßen gerne mal in Panik geraten, sollten Sie sich also für Ihre Fahrt in die Stadt unbedingt ein Navigationsgerät besorgen. Und dann: ab auf die Autobahn und herzlich willkommen im Land der unbekannten Nummernschilder!
Ihnen wird bei dem Gedanken sicherlich etwas schwindelig. Das kann natürlich an der Angst vor dem Unbekannten liegen oder daran, dass Sie nicht mehr durch die gewohnten tiefen Schlaglöcher oder auf geteerten Feldwegen fahren müssen, sondern mit der Autobahn eine qualitativ hochwertige Straße befahren dürfen.
Fährt man in die Stadt rein, ist man sofort beeindruckt. Die Hochhäuser und vor allem die Wolkenkratzer wie in Frankfurt faszinieren jedes Landei. Ich bin dort in den ersten Tagen jedenfalls stets mit nach oben gerichtetem Blick durch die Straßen gelaufen und dachte: Ist das aber groß hier! In unserem Ort Hüffelsheim gehen die wenigen Touristen, die es per Zufall oder Schicksal hierher verschlagen hat, eher mit gesenktem Kopf durch die Straßen. Sie denken: Hoffentlich sieht mich keiner!
WISSEN: Wolkenkratzer
Als Wolkenkratzer bezeichnet man Hochhäuser, die üblicherweise mehr als 100Meter Höhe vorweisen. Das höchste Gebäude der Welt steht in Dubai und ist 828Meter hoch. Als ich das meinem Vater erzählte, sagte er nur: «Da ist Mutter ja drei Tage unterwegs, wenn sie Bier aus dem Keller holen soll!» Ich habe meine staunenden Eltern dann über die Existenz von Aufzügen aufgeklärt.
Als einen der ersten Wolkenkratzer kann man die Cheopspyramide (146Meter) im alten Ägypten bezeichnen. Damals wie heute werden Wolkenkratzer als Symbole für Wachstum und wirtschaftliche Macht angesehen. Die wirtschaftliche Macht Kölns wurde mir ebenfalls durch ein Plakat an einem Hochhaus vor Augen geführt: «Saturn – viermal in Köln!» Das ist schon äußerst faszinierend und zeigt, wie groß diese Stadt wirklich ist. In Hüffelsheim haben wir jetzt auch einen Schriftzug an der Wand unserer Gemeindehalle angebracht mit der Aufschrift: «Haus – viermal in Hüffelsheim!» Auch irgendwie faszinierend.
TOP 3
Welches sind die höchsten Gebäude der Welt?
828Meter: Burj Khalifa (Burj Dubai), Dubai
509Meter: Taipei101, Taipei (Taiwan)
492Meter: Shanghai World Financial Center, Shanghai (China)
Welches sind die höchsten Gebäude Europas?
268Meter: Naberezhnaya Tower C, Moskau (Russland)
264Meter: Triumph-Palace, Moskau (Russland)
259Meter: Commerzbank Tower, Frankfurt (Deutschland)
Welches sind die höchsten Gebäude in Hüffelsheim?
4,12Meter: Hochsitz vom Förster Heini
2,14Meter: Bauer Josef
2,03Meter: mein Bravo-Starschnitt von Michael Jordan
Doch halt, ein hohes Gebäude haben wir: Es ist ein Sechs-Familien-Haus, in dem unter anderem eine ausländische Familie lebt. Meine Mutter nennt das Kind immer Mehmet, obwohl es gar nicht so heißt. Die Familie sieht das aber ganz locker, auch wenn sie eigentlich aus Zürich stammt.
Die «echten» Ausländer, die zu uns kommen, sind allerdings immer sehr begeistert von unserem kleinen Örtchen. Gerade auch, weil wir keine Hochhäuser haben. Ein Besucher aus der Türkei stellte vor kurzem überrascht fest: «Krass, alle Häuser tiefer gelegt!»
Ich bin immer begeistert, wenn Touristen unser Dorf überhaupt finden. Vielleicht haben sie aus Langeweile spaßeshalber «Atlantis», «Bernsteinzimmer» oder «Schlumpfdorf» in ihr Navi eingeben.
Einige der Ausländer erhoffen sich bestimmt, dass sie nach ihrem Aufenthalt hier perfektes Deutsch sprechen können. Aber da müssen wir Hüffelsheimer sie leider enttäuschen. Das können wir nicht leisten. Wir sprechen selbst kein Deutsch. Meine Mutter redet in einem so starken Dialekt, dass ich manchmal denke, ich bin das einzige Kind, das keinsprachig aufgewachsen ist.
Während es in Dörfern wie Hüffelsheim kaum Menschen mit Migrationshintergrund gibt, leben in einem Mehrfamilienhaus in der Stadt wie dem, in das ich gezogen bin, viele ausländische Familien. Dort geben sich Türken, Polen und Deutsche die Klinke in die Hand. Auf dem Land kennt man solch eine Konstellation höchstens aus der nächsten Kleinstadt – und dort auch nur von der Aldi-Kasse.
Ich fühle mich in dem Viertel, in dem ich inzwischen wohne, jedenfalls sehr wohl. Es gibt eine bunte Auswahl an Cafés und Geschäften und neben den üblichen Lebensmittelläden auch sehr teure Butiken, zum Beispiel eine Aral-Tankstelle. Die Benzinpreise sind ja ein leidiges Thema, und wenn man in die Stadt zieht, muss man sich die Frage stellen, ob ein Auto überhaupt nötig ist. Ein Liter Diesel kostet gerne mal 1,40Euro, dafür bekomme ich im «Goldenen Ochsen» in Hüffelsheim einen Liter Bier!
Grundsätzlich bleibt es natürlich Ihnen überlassen, wo Sie in der Stadt hinziehen. Es gibt allerdings einige wichtige Dinge zu berücksichtigen. Wenn Sie etwa unter Höhenangst leiden, sollten Sie dies unbedingt bei der Wohnungswahl beachten. Ich wohne nämlich im 5.Stock, und da kann so ein Blick vom Balkon nach unten schon etwas beängstigend sein. Allerdings bieten sich Ihnen durch die Nähe zum Himmel auch ganz neue Möglichkeiten. Sie müssen keine Flüge mehr im Internet buchen, sondern gehen auf den Balkon und sagen: «Ich frag mal den Pilot, ob noch was frei ist!»
Die Wohnungssuche in Köln gestaltete sich nicht gerade einfach, denn ich musste mich durch diverse Anzeigenblätter quälen, die mir so manchen Aha-Effekt bescherten: Bei «50 warm» muss es sich nicht unbedingt um eine Wohnungsanzeige handeln. Jedenfalls nicht in Köln!
TOP 3
Die beliebtesten Wohnungen in der Großstadt
Maisonette
Penthouse
Apartment
Die beliebtesten Wohnungen auf dem Land
Scheune
Mutti
Scheune bei Mutti
Bevor der Umzugswagen kommt, sollten Sie in jedem Fall klären, wo er parken könnte, denn die Parkplatzsituation in den Städten ist wirklich dramatisch. Einen freien Parkplatz zu finden gleicht einem Lottogewinn.
Im Idealfall platzieren Sie den eigenen PKW vor dem Hauseingang – oder irgendwelche alten Stühle, die Sie ruhig mit einem Handtuch versehen können. Oder Sie stellen, so wie ich es getan habe, einfach Ihren Vater hin, damit der Platz frei bleibt. Meine Mutter war auf die Idee gekommen: «Nimm halt irgendwas, was man nicht mehr braucht und das ruhig wegkommen kann!»
Wenn Sie den freien Platz erfolgreich verteidigt haben und der Umzugswagen anrollt, machen Sie sich darauf gefasst, dass sich ein Nachbar auf sein Kissen im Fenster lehnen, die Szenerie des Einparkens genau verfolgen und eingreifen wird, wenn es irgendetwas zu meckern gibt. Und es wird etwas zu meckern geben, glauben Sie mir. Diesen Menschen bitte nicht beachten und sich vor allem nicht von ihm in die Parklücke einweisen lassen.
TOP 3
Sätze, die jeder Hobby-Parkeinweiser von sich gibt
3. «Da ist noch so viel Platz!»
2. «Geht noch! Geht noch!»
1. «Das kann ja mal passieren!»
(Ergänzung: «Mir nicht, denn ich fahre seit vierzig Jahren unfallfrei!»)
So wichtig die Eltern bei einem Umzug sind, vor allem, wenn der Umzug auch Ihr Auszug aus dem Elternhaus ist, sollten Sie Ihnen nur Aufgaben anvertrauen, bei denen Sie das Gefühl haben, dass sie sie wirklich ausführen können. Meine Eltern kann man jedenfalls nicht gerade als Umzugsprofis bezeichnen.
So schrieb mein Vater auf jeden Umzugskarton unseren Familiennamen: «Jung». Dabei hatte ich ihn eigentlich gebeten draufzuschreiben, in welches Zimmer die Kartons gestellt werden sollen. Ist doch logisch: Wenn sich Teller in einem Karton befinden, schreibt man «Küche» auf den Karton. Bei Handtüchern und Zahnputzbechern «Badezimmer», bei Büchern «Wohnzimmer». Da nur ich in die kleine Zweizimmerwohnung einziehen wollte und überraschenderweise keine zusätzlichen Großfamilien, war das mit dem Namen «Jung» auf jedem Karton eher überflüssig und ist deshalb nicht zur Nachahmung empfohlen.
Nehmen Sie sich außerdem in Acht vor gutgemeinten Einzugsgeschenken. Meine Mutter überreichte mir stolz ein Präsent, das leider an Hässlichkeit kaum zu überbieten war: ein pinkes, riesig großes Porzellanpferd. Sie betonte, dass dies ein Familienerbstück sei, immer bei meiner Oma gestanden hätte und nun mir Glück bringen solle. «Dein Vater hat es Mr.Ed getauft, wie das sprechende Pferd!»
Eigentlich lag mir auf der Zunge: «Wenn es sprechen könnte, würde es sagen: ‹Sehe ich scheiße aus!›», doch ich atmete tief durch und bedankte mich artig. Mein Vater sollte es erst einmal wieder in einem Karton verpacken, woraufhin er vorsichtig fragte: «Soll ich da jetzt ‹Wohnzimmer› draufschreiben?» Meine Mutter lachte und sagte: «Schreib doch ‹Stall›!» Ich murmelte vor mich hin: «Nee, lieber ‹Müll›!»
Mein Vater ging nicht auf unsere Vorschläge ein: «Ich schreib den Ort drauf, wo sich das Pferd am wohlsten fühlen würde.» Da meinte ich: «Dann schreib ‹Nichts wie zurück zu Oma›!»
Wenn Sie Ihren Umzug planen, sollten Sie bedenken, dass sich zwar beim Auszug meist viele Helfer einfinden, man beim Einziehen jedoch kaum Unterstützung hat – schließlich kennt man noch niemanden in der Stadt. Deshalb empfehle ich Ihnen, jede Hilfe in Anspruch zu nehmen, die Sie bekommen können. Wenn also gerade ein Nachbar die Treppen hochgeht – geben Sie ihm ruhig einen Karton in die Hand, und lassen Sie sich auch durch seine Frage «Warum steht da Jung auf dem Karton?» nicht entmutigen. Haben Sie keine Angst, ihn zu überanstrengen. Im Gegenteil. Im Nachhinein wird er Ihnen sogar dankbar sein, dass er endlich mal wieder etwas für seine Fitness getan hat. Auch wenn er am Ende etwas angestrengt aussieht, weil Sie ihn die Kartons mit der Aufschrift «Kissen» haben tragen lassen, in denen jedoch Ihre Bücher verpackt waren.
Je mehr Menschen man in den Prozess des Auspackens und Ausräumens mit einbezieht, desto schneller wird man fertig. Wenn sich, wie bei meinem Umzug, gerade Zeugen Jehovas im Hausflur rumdrücken, sollte man ihnen ohne zu zögern die Waschmaschine in die Hand geben. Auch durch ein mühsam hervorgepresstes «Die ist aber schwer!» sollten Sie sich nicht einschüchtern lassen. Mein Vater entgegnete einfach: «Vielleicht, aber sie war auch teuer! Die kann sogar Gehirnwäsche!» Mein Vater wusste leider, wer und was die Zeugen Jehovas sind. Das war natürlich sehr peinlich, als einer von ihnen fragte: «Welcher Stock?», und mein Vater antwortete: «Bitte noch drei Stockwerke, den ganzen Wachturm rauf!»
Am Ende waren die Zeugen Jehovas dann ziemlich erschöpft, wollten aber trotzdem mit mir und meinen Eltern über Gott reden und baten mich sogar, mich ihnen anzuschließen und mit ihnen zu leben. Enthusiastisch rief ich aus: «Bin dabei, dann kann die Waschmaschine direkt wieder runter!»
Da waren sie auf einmal ganz schnell weg. Schade eigentlich. Meine Mutter rief ihnen noch ein «Dankeschön» hinterher, während mein sensibler Vater etwas empört hinzufügte: «Und was ist mit dem Trockner?»