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"Lange habe ich es regelrecht geheim gehalten (...). Ich hatte Angst. Angst vor Ablehnung, vor dem großen Stempel. Angst "Schwäche" zu zeigen. Inzwischen weiß ich, dass ich stark bin." Mit diesen Worten hat sich die beliebte Bloggerin Victoria Müller nicht nur ihren Fans, sondern unzähligen anderen Betroffenen als depressiv offenbart und damit ein Tabu gebrochen: Auch als erfolgreiche, schöne und bewunderte junge Frau kann man knallhart von einer Depression getroffen werden. Authentisch und bewegend erzählt Victoria von den ersten Anzeichen bis zu ihrer Selbsteinweisung und zeigt, dass eine Depression trotz aller dunklen Seiten auch dazu führen kann, sich mit dem eigenen Leben auseinanderzusetzen und sich Problemen zu stellen.
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Seitenzahl: 220
VICTORIA VAN VIOLENCE
MEINE FREUNDIN, DIE DEPRESSION
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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3. Auflage 2022 © 2018 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
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Redaktion: Swantje Steinbrink, Berlin
Umschlaggestaltung: Isabella Dorsch
Umschlagabbildung: Rica Reeb
Satz: Georg Stadler, München
eBook: ePubMATIC.com
ISBN Print 978-3-86882-911-2
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-182-1
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-183-8
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
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Prolog
1 Die unerträgliche Leichtigkeit der Freiheit
Bleiben oder gehen?
Don´t believe the Hype!
Hauptsache nichts verpassen!
Depressionshochburg Berlin
Irgendwas mit Medien
Kraftakt Berlin
2 Goldener Reiter
Woche 1
Woche 2
Woche 3
Woche 4
3 Mein Freund, der Kaktus
4 Cyber depression
Depression und Social Media
Wenn soziale Netzwerke depressiv machen
Mein persönliches How-to im Umgang mit Social Media
5 Bin ich die, die ich sein soll, oder doch jemand anders?
»Was willst du denn mal werden?«
»Jetzt beruhig‘ dich erst mal, Vicky!«
»Was ist schon normal?«
»Wenn jede Frau so dächte …«
»Ich bin gut, so wie ich bin!«
6 Giftfallen
7 »Stop apologising for your emotions!«
Epilog
Fragen an Prof. Dr. Ulrich Hegerl
Danke!
»Ever tried. Ever failed. No matter. Tryagain. Fail again. Fail better.«
Samuel Beckett
Berlin an einem nasskalten Vormittag Mitte Dezember. In meinem Kopf wabert eine große graue Wolke. Smog im Hirn, der sich hartnäckig hält. Wie damals in London während der großen Smog-Katastrophe 1952. Tagelang hing da eine dicke dunkle Wolke über der Stadt, Menschen starben an der verunreinigten Luft. Auch in meinem Hirn wird offenbar gestorben, vor allem die Hirnzellen, die für Gefühlsregungen zuständig sind. Wie tot. Seit wann habe ich dieses graue Etwas? Es muss eine Berlin-Krankheit sein. Zumindest jedoch ist es meine Berlin-Krankheit. Die Ärzte in der Klinik, in die ich mich nach einigen Monaten in dieser Stadt selbst einweisen musste, nannten sie »Mittelgradige depressive Episode«. Nur mittelgradig? Ich fühle mich im eigenen Körper wie das Ende von Titanic und hundert öde Folgen Lindenstraße, weiß nichts mit mir anzufangen und nehme deshalb mal wieder ein möglichst heißes Vollbad. Gestern waren es drei. Wenn ich mich aus dem Bett in die Wanne quäle, überkommt mich dort, zumindest für wenige Minuten, ein behagliches Gefühl. Ich lasse mich fallen, tauche ein in eine Welt warmer Umarmungen. Nach einer Stunde sehe ich zwar aus wie Mrs. Crabs, aber immerhin hält die Wärme noch einige Minuten an. Nur in ein blaues Badetuch gehüllt hocke ich in meinem ungeheizten Schlafzimmer auf der Bettkante. Völlig sinn- und antriebslos warte ich auf ein Zeichen, ein Wunder, einen Motivationsschub. Ich warte so lange, bis mir wieder kalt ist, ich mich unter meine übergroße Bettdecke lege und den Stuck an der Decke mustere. Seit ich vor dreieinhalb Jahren hier eingezogen bin, frage ich mich, ob dieser Stuck tatsächlich ein Relikt prachtvollerer Zeiten ist. Und sollte dem so sein: Warum um Himmels Willen wurde Raufasertapete dazwischengepflastert? Mit Fragen wie diesen kann ich mich stundenlang beschäftigen. Mein Hirn versinkt in anderen Sphären, fabriziert seine eigenen Gedanken, bis ich vom Stuck an der Decke zum Dauerbrenner Steuererklärung komme … und mein Magen sich plötzlich lautstark bemerkbar macht. Appetit ist das nicht, einfach nur ein leerer Magen, der nach Nahrung verlangt. Blöd nur, dass ich mal wieder nicht einkaufen war. Der Kühlschrank gibt nichts weiter her als ein paar verschrumpelte Tofu-Würstchen, ein bisschen Tomatenmark, eine halbe Paprika und ein offenes Tetrapack Apfelmus, in dem es wahrscheinlich schon lebt. Aufstehen und nachschauen lohnt sich nicht. Ich könnte mich natürlich anziehen und den nächsten Supermarkt aufsuchen, der nur vier Gehminuten entfernt ist. Rambo, mein hyperaktiver Mischling möchte auch raus, aber den Hund vorm Supermarkt anbinden und dort allein lassen, das kommt nicht infrage. Also müsste ich eigentlich zweimal aus dem Haus gehen … Doch danach ist mir ganz und gar nicht. Schließlich übernimmt mein schlechtes Gewissen das Ruder, und ich ziehe mir wie in Trance meine Jogginghose und den Schlabberpulli an. Dass ich den schon seit sechs Wochen trage, ist mir egal. Um 11:21 Uhr bin ich soweit. Dick eingemummelt, damit mich niemand erkennt, und vor Blicken und Kälte geschützt. Es fühlt sich an, als würde ich feindliches Gebiet betreten, als müsste ich mir meinen Weg durch ein Tretminenfeld bahnen. Rambo hingegen ist völlig aus dem Häuschen und bester Laune. Es gelingt mir kaum, ihn anzuleinen. Auch die nasskalte Luft und der matschige Park trüben seine Laune nicht, und ich frage mich wie so oft, weshalb mir mein süßer haariger Kompagnon nicht einfach ein bisschen Lebensfreude abgeben kann. Dieser Gedanke begleitet mich die ersten zweihundert Meter, bis mich die kleinen blauen Hundeaugen überreden, den Ball zu werfen – und für einen Moment vergesse ich alle Smogwolken, empfinde und denke einfach mal nichts. Fühlt sich Unbeschwertheit so an? Wieder knurrt mein Magen, diesmal so laut, dass ich beschließe, mir auf dem Rückweg einen Avocado-Bagel zu genehmigen. Ich hole mir öfter etwas aus einer der vielen Fressbuden im Kiez oder lasse mir eine Pizza nach Hause liefern, obwohl ich weder etwas geleistet habe, um mir diese Extras gönnen zu dürfen, noch Geld dafür übrig habe. Um sechs Euro ärmer, mit einem dreckigen, aber ausgetobten Hund im Schlepptau und total durchgefroren schlurfe ich in meine Altbauwohnung im 1. Stock und finde, dass es nun an der Zeit ist, zu entspannen und den Tag ausklingen zu lassen. Es ist 13:51 Uhr. Ich fläze mich aufs Sofa und schaue Pastewka. Ich kann schon sämtliche Dialoge mitsprechen. Mit dem Bagel im Bauch versacke ich dort für den Rest des Tages, mache nichts, versuche, mein Hirn ruhig zu stellen, starre in die Flimmerkiste und lasse mich berieseln. Die einzigen Ausnahmen: ein zweites Vollbad und zwei weitere Gassirunden. Am Abend ist mein Körper bleischwer. Als wäre ich gerade Marathon gelaufen. Total erledigt verkrieche ich mich in mein Bett, ohne genau zu wissen, wie spät es ist – und schon habe ich das nächste Problem. Schlaflosigkeit. Hervorgerufen von plötzlicher Euphorie und einem kribbeligen Tatendrang. Da liege ich im dunklen Zimmer unter der Bettdecke, und die ganze Welt steht mir offen. Was könnte ich alles tun … Wer könnte ich sein … Was könnte ich erleben … Schade, dass mein Körper zu schlapp ist, um jetzt noch etwas auf die Beine zu stellen. Voller Vorfreude verschiebe ich all die spannenden Vorhaben und meine persönliche Revolution auf morgen …
»Du bist verrückt, mein Kind, du musst nach Berlin. Wo die Verrückten sind, da jehörste hin.« Diese berühmten Liedzeilen aus Franz von Suppés Operette Fatinitza habe ich mir zu Herzen genommen. Schon mit 14, als ich das erste Mal in Berlin war, wusste ich: Hier will ich mal leben. Das ist meine Stadt. Bunt, laut, schrill. Das Leben dort wirkte freier und ungezwungener. Äußerlichkeiten schienen hier nicht so wichtig, überall wuselten Menschen mit bunten Haaren herum, jeder schien zu tun, was ihm beliebte. Die Stadt und ihre Bewohner wirkten so gelassen, tolerant, cool. Das übte eine magische Anziehung auf mich aus, war es doch genau das Gegenteil von dem tristen Dorfleben, das ich kannte, wo Toleranz ein Fremdwort war und alle irgendwie gleich aussahen. Inspirierend war das nicht.
Mein erster Berlinbesuch fand im Rahmen meines Schulpraktikums statt: Ich begleitete Jan, einen Fotojournalisten und Freund meines Vaters, zu einem Filmdreh in die Hauptstadt, denn Jan sollte Behind-the-Scenes Bilder festhalten. Das war keine popelige Klassenfahrt, auf der nur Reichstag und Fernsehturm auf dem Programm stehen. Ich durfte das echte Berlin kennenlernen. Wir übernachteten bei dem Regisseur des Films. Der hieß Manfred, aber ich fand, dass dieser altbacken klingende Name überhaupt nicht zu ihm passte. Manfred war ein moderner Mittdreißiger mit großer Designerbrille und Retro-Turnschuhen. Seine Tochter Juliette, die in meinem Alter war, hatte er nach der Schauspielerin und Musikerin Juliette Lewis benannt. Manfred und Juliette lebten zusammen in einer riesigen Altbauwohnung im Prenzlauer Berg: Dielenboden, Stuck an der Decke und üppige Kachelöfen in jedem Raum. Die Einrichtung war ein moderner Mix aus Designerteilen und Flohmarktmöbeln. Manfred war alleinerziehend, und Juliette genoss viele Freiheiten. Bis dahin hatte ich noch keinen alleinerziehenden Vater kennengelernt, denn dieses Familienmodell war in hessischen Vororten noch nicht angekommen. (Und ich bezweifle, dass sich daran inzwischen etwas geändert hat.) Mit den bunten Strähnen im Haar, zwei verschiedenfarbigen Kniestrümpfen und einem quietschgelben Zebramusterkleid entsprach auch Juliette nicht dem typischen Vorstadtmädchen, aber genau meinem Geschmack. Ich hatte das Gefühl, endlich anzukommen. Hier, umgeben von Gleichgesinnten in puncto Musikgeschmack und Interessen, war ich in meinem Element. Juliette und ich quasselten stundenlang über das Leben in Berlin, sie erzählte mir, dass sie schon mal Nina Hagen auf der Straße getroffen habe und welche Berühmtheiten in ihrem Kiez wohnten. Ich lag auf ihrem Bett, das Gesicht auf die Hände gestützt, meine Ellenbogen in die Matratze bohrend, lauschte ich ihren Erzählungen. »Und was geht bei dir so ab?«, frage Juliette plötzlich. »Wo kommst du noch mal her? Frankfurt, oder?« »Fast. Ist eher so ein kleines Nest vor Frankfurt. Super öde«, antwortete ich und schämte mich fast für meine Herkunft. »Manchmal hänge ich aber auch in Frankfurt rum«, fügte ich hinzu, um mein langweiliges Leben wenigstens etwas aufzupeppen. »Klingt doch cool«, sagte Juliette. »He, kennst du schon die neue Yeah Yeah Yeahs? Hat mir mein Dad gestern mitgebracht. Soll ich die mal reinlegen?« »Ich liebe die Yeah Yeah Yeahs. Geil, mach an!«, erwiderte ich aufgeregt. Sie drehte die Musik voll auf und begann, auf dem Bett zu tanzen.
Am nächsten Tag fuhren Jan und ich mit Manfred in dessen altem dunkelblauen Mercedes zum Set. Juliette hatte Schule und konnte deshalb leider nicht mit. Die Fahrt dauerte fast eine Stunde, weil das Set außerhalb der Stadt lag. Ich trug eine riesige Sonnenbrille mit orangenen Gläsern aus den Siebzigern, trällerte mit Jan und Manfred den Beat-steaks-Song mit, der im Radio lief – und fühlte mich pudelwohl. Als der Song vorbei war, grinste Manfred zu mir herüber: »Du bist ´ne echte Type, wa!« Da war mir klar: Ich gehör‘ nach Berlin. Nur hier würde ich mich entfalten und ich selbst sein können, ohne komisch beäugt, kritisiert oder gehänselt zu werden. Es war fast zu schön, um wahr zu sein – und letztlich war es das auch nicht. Damals konnte ich noch nicht wissen, dass Berlin verrückt macht. Ein Mensch muss schon in guter psychischer Verfassung sein, um hier nicht mit wehenden Fahnen unterzugehen und einen echten Psychoknacks wegzubekommen. So wie ich zwölf Jahre nach meinem ersten Besuch. Doch der Reihe nach …
Bevor ich nach Berlin ging, legte ich erst noch einige schrille Au-pair-Monate London und sechs Studienjahre in Darmstadt ein. In Darmilein, wie ich die eintönige Stadt inzwischen liebevoll nenne, habe ich mich zeitweise zu Tode gelangweilt. Kein Wunder bei dem Kontrast zur pulsierenden englischen Metropole. Daaarmstadt (Gähn!) hieß Zwangsentschleunigung, die Stadt war überschaubar, mein soziales Umfeld grundsolide. Dazu passte mein zugebenermaßen sehr spezieller Musikgeschmack natürlich ganz und gar nicht, weshalb ich begann, auch das Genre Rock zu erobern, und ging mit meinen neuen Studienfreunden auf Indie-Pop-Partys und Hardcore-Konzerte. Aber ich wollte mehr. Mehr Action, mehr Abwechslung, mehr Punkrock, mehr Party. Innerlich hatte ich meine Koffer für Berlin schon gepackt, als die Liebe den ausschlaggebenden Schubs gab – und zack saß ich mit meinem damaligen Freund Rob1 in einem WG-Zimmer in Berlin-Friedrichshain. Meine Abschlussarbeit konnte ich schließlich auch hier schreiben. Rob, der bereits vor acht Jahren von Darmstadt nach Berlin gezogen war, war bestens vernetzt und spielte in einer Band, wodurch ich ziemlich schnell viele Kreativlinge kennenlernte, von denen die meisten »was mit Medien« machten. War ich in Darmstadt als Tattoomodel der sprichwörtlich bunte Hund gewesen, war ich in Berlin plötzlich eine freischaffende Kreative unter vielen. Doch dieses vermeintlich inspirierende Umfeld stellte sich ziemlich schnell als zermürbend heraus – und nur wenige Monate nach meinem Umzug war meine psychische Gesundheit reif für die Tonne: Depression. Nicht herzzerreißend melancholisch mit einer Prise romantisierter Düsterkeit, wie man es aus The Smiths-Songs kennt, sondern so richtig mit Diagnose, Selbsteinweisung, Pillen und Therapie. Ich kannte mich selbst nicht mehr. Warum gerade jetzt, da ich endlich meinen Traum, in Berlin zu leben, verwirklicht hatte?
»Ich produzier‘ im Moment mein erstes Album, hab‘ einen Blog, und nebenbei designe ich Ohrschmuck für Katzen«, erzählte Constanze, eine schlanke Blondine. Wir hatten uns vor zwei Minuten an der Bar vom Lido kennengelernt. »Wow, das ist aber eine ganze Menge«, sagte ich bewundernd. »Kommst du damit denn gut über die Runden?« Ich kam mir etwas naiv vor. Das Mädchen aus dem Hessisch´ Outback hört staunend den tollen Geschichten der noch tolleren Szeneberlinerin zu. »Läuft mega gut, vor allem die Katzen-Klunker. Wurde grad in der Vogue ge-featured, und bei der nächsten Pariser Fashion Week will der Lagerfeld auch Katzen auf den Laufsteg schicken, die dann meine Schmuck-Kreationen tragen sollen«, schwärmte Constanze, während sie schon zum dritten Mal ihr Handy checkte. »Krass, hätte ich gar nicht gedacht … Ich geh mal schnell aufs Klo, sehen uns sicher später noch mal«, verabschiedete ich mich, genau wissend, dass wir uns an diesem Abend bestimmt nicht mehr sehen würden. Wer auf Berliner Partys jemanden abwimmeln möchte, verlässt die Situation einfach mit einer Ausrede (Toilettengang, Zigarettenpause oder neues Getränk) und dem Standardspruch »Wir sehen uns später«. So entgeht Mensch jedem unangenehmen Gespräch, ohne sein Gegenüber vor den Kopf zu stoßen.
»Kennst du diese Constanze?«, fragte ich Rob in der Lounge-Ecke. »Die hat mir eine total abgedrehte Story erzählt, dass sie irgendwas mit …« »Abgedreht trifft‘s«, unterbrach er mich und steckte sich eine Zigarette an. »Die hat so einen Sockenschuss. Glaub´ der bloß nichts. Die macht zwar wirklich irgendwie Musik und versucht sich an allem Möglichen, nichts klappt so richtig. Kann einem fast leidtun.« »Dann hat die mich einfach angelogen oder was?«, fragte ich irritiert. »Hm … Würde ich so nicht sagen. Sie hat halt ihre eigene Realität. Lust auf einen Pfeffi?« Damit war das Gespräch beendet, aber Constanze mit den Katzen-Klunkern ging mir auch am nächsten Tag noch durch den Kopf. Rob schien nicht sonderlich schockiert darüber gewesen zu sein, dass sie Quatsch erzählt. Und wieso meinte er, dass sie einem fast leidtun kann? Das machte doch alles keinen Sinn. Wieso sollte jemand bewusst Unwahrheiten erzählen, obwohl fast jeder weiß, dass es nicht der Realität entspricht?
Rob und ich gingen oft aus, am Wochenende, unter der Woche, an jedem Wochentag war irgendetwas los. Schon bald kannte ich die Friedrichshainer Szene in- und auswendig – und merkte, dass die Menschen hier wirklich anders ticken. Sogar anders als in London. Irgendwie waren hier alle am Durchdrehen, als hätte man einem Kleinkind zu viel Zucker verabreicht. Alle etwas überspult und ständig auf der Suche nach dem nächsten Abenteuer. 99,6 Prozent meiner neuen Bekanntschaften kamen wie ich aus irgendeinem Kuhkaff und mit der gleichen Sehnsucht, in der großen Stadt zu leben, um sich kreativ zu entfalten. Ich war ganz erschlagen von all den Möglichkeiten und schillernden Figuren, die mir hier über den Weg liefen. Erfolgreiche Autoren, erfolgreiche Musiker, erfolgreiche Produzentinnen. Jeder war in dem, was er tat, besonders erfolgreich und einzigartig, ich wurde aber schon eine Woche später von eben jenen erfolgreichen Menschen um 10 Euro angeschnorrt, die ich natürlich nie wiedersah. All das, was hier Bedeutung hatte, war mir bislang gänzlich unbekannt gewesen, doch das Wichtigste von allem war der Schein: Jeder brüstete sich mit prominenten Bekannten, großen Auftritten und geilen Jobs. Mir war es unangenehm, so großspurig aufzutreten und meine Tätigkeiten an die große Glocke zu hängen. Hätte wahrscheinlich auch niemanden interessiert, denn hier interessiert sich jeder nur für sich selbst. Bescheiden und Berlin, das geht nicht zusammen. Deshalb war ich auch immer peinlich berührt, wenn in Runden, in denen reihum über tolle Errungenschaften, Aufträge und Jobs gesprochen wurde, irgendwann die Frage »Und, Vicky, was steht bei dir demnächst so an?« kam. In der Regel antwortete ich: »Ähm, nichts so wirklich.« Was leider auch der Realität entsprach. Und so wich die anfängliche Freude über die vielen neuen Freunde und Bekannten allmählich der Angst, nicht mithalten zu können. Ich kam mir klein vor, unscheinbar, wollte gleichzeitig aber auch gar nicht so richtig bei dem »Wer ist der Coolste«-Kampf mitmischen. Klein Vicky inmitten eines lärmenden Haufens von Revoluzzern, Vordenkern und Kreativen oder Träumern, Realitätsfremden und Labertaschen. Was nun? Die Stadt und die Menschen würde ich nicht verändern können, also sah ich für mich nur zwei Optionen: Bleiben und mich mit dem Trallala anfreunden oder wieder gehen. Manche entscheiden sich für Option drei: Bleiben und weiterhin aufregen. Doch das kam für mich nicht infrage. Und schließlich blieb ich – und freundete mich mit den hiesigen Gegebenheiten an.
Spätestens nach der dritten nackten Person in der Tram, der zehnten kruden Geschichte über utopische Zukunftspläne, dem hundertsten Ketamin-Angebot auf der Revaler Straße und meiner ersten Auseinandersetzung mit einem kotzenden Betrunkenen am U-Bahnhof Warschauer Straße war ich abgestumpft und angekommen. »Ist halt Berlin«, erkläre ich heute all jenen, die mich hier besuchen kommen. Und wer in Berlin wohnt, bekommt oft Besuch. Freunde, Verwandte, Bekannte, alle freuen sich, jemanden in dieser aufregenden Stadt zu kennen. »Ich glaube es nicht … Hat der mir gerade wirklich Koks angeboten?«, sagte meine Mutter ungläubig, als wir zum ersten Mal gemeinsam am RAW-Gelände vorbeiliefen. »Koks geht ja noch«, sagte ich. »Mir wollte neulich jemand Crystal Meth verkaufen. Ist hier normal. Einfach ignorieren.« In solchen Momenten wird mir immer wieder bewusst, dass viele Dinge, die für mich mittlerweile Alltag sind, für andere Menschen irritierend, manchmal sogar verstörend sein können. Wer mitten in Berlin lebt, gewöhnt sich daran, dass Menschen im eigenen Hauseingang Heroin spritzen, nach drei Tagen im Berghain sonntagmittags über die Straße stolpern oder lebensgroße Pikachus durch die Straßen ziehen. Wer mitten in Berlin lebt, stumpft ab. Auch das gehört halt dazu. Auch das ist halt Berlin.
Ich selbst wohne heute nur 500 Meter Luftlinie vom Berghain entfernt. Angeblich ist dieser Bunker der bekannteste Techno-Schuppen auf unserem Erdball. Es gibt Menschen, die kommen nur deswegen nach Berlin und nicht selten werde ich von Touristen auf der Straße gefragt, wo es zum Berghain gehe oder wie es da so sei. Wenn ich mit Rambo Gassi gehe oder mit vollen Einkaufsbeuteln in der Hand vom Supermarkt komme, sehe ich in gewisser Regelmäßigkeit die Berghainzombies auf dem Heimweg. Sie sind unschwer zu erkennen, denn sie sehen fast alle gleich aus: ein kurioser Cocktail aus 90er-Jahre-Tic-Tac-Toe-Chic kombiniert mit Accessoires aus der Fetisch-Ecke bei Beate Uhse. Ein Grund, weshalb es mich dort nie hingezogen hat, sind die chemischen Substanzen, die dort zum guten Ton gehören. Der andere Grund ist die Musik. Techno ist überhaupt nicht meine Welt, aber tatsächlich der Soundtrack vieler hipper Menschen in dieser Stadt. Die Renaissance der hässlichsten Trends vergangener Jahrzehnte, das Ausüben eines besonders angesagten Jobs und das Berghain – das ist in Berlin wie Arsch auf Eimer. Donnerstag für Donnerstag pilgern die Berghainjünger zu ihrem grauen Betonkasten, um 72 Stunden später wieder herauszuwanken. Ganz Pfiffige gehen auch nur Sonntagmittag nach dem Brunch ins Berghain, um ein paar Runden zu tanzen und sich auf diese Weise das Cardiotraining zu sparen. Kurzum: Das Berghain ist ein Berliner Synonym für Hype. Als ich herausfinden wollte, was denn so besonders oder besonderer ist als an anderen Veranstaltungsorten, die sich auf elektronische Musik spezialisiert haben, erhielt ich die Standardantwort: »Weißt du, das Feeling ist anders. Musste erlebt haben, sonst kannste nicht mitreden.« Das ist Hype. Das ist typisch Berlin. Die Eröffnung des veganen Burger-Ladens eines bekannten Bloggers führte vor einigen Jahren dazu, dass die Polizei die Massen im Zaum halten musste, und inzwischen kann man an jedem Baum zwischen Moabit und Neukölln Ramen2 essen. Die Berliner Hype-Kultur macht seine Bewohnerinnen und Bewohner zu Lemmingen. Da mag alles individualistischer, bunter, schriller daherkommen als in Flensburg oder Oberbayern, Cottbus oder Osnabrück, doch der Sog der Trends und Hypes ist hier – natürlich besonders! – ausgeprägt. In Massen strömen die Menschen sonntags auf den Mauerpark-Flohmarkt, uniformiert trotz künstlerischer Ader. Und auf Dauer ist es doch auch langweilig, stets und ständig und überall Bier aus der Flasche zu schlürfen, oder?
Die deutsche Bundeshauptstadt ist ein El Dorado der Ausgehmöglichkeiten, potenziellen Beziehungspartner und Freunde, kulinarischen Vielfalt und Kulturereignisse. Ausstellungen, Konzerte, Theater, Restaurants, Bars und Cafés, wohin das Auge blickt. In Darmstadt gab es nur eine 24-Stunden-Kneipe, die ab 1 Uhr nachts wegen des Alkoholdunstes nicht mehr zu ertragen war, und in London wurden spätestens um 1 Uhr nachts dank der Sperrstunde die Bordsteine hochgeklappt. Ganz anders in Berlin: Hier kann Mensch rund um die Uhr ausgehen, essen, trinken, Gewichte stemmen, tanzen, flirten. In den ersten Monaten wusste ich gar nicht, wo ich zuerst hingegen sollte, und betrieb reinstes Club- und Locationhopping. Auf Dauer ist das nicht auszuhalten, sofern einem die eigene physische und psychische Gesundheit am Herzen liegt. Das überbordende Angebot ist mitunter ein massiver Stressfaktor. Manchmal kapituliere ich angesichts der vielen Optionen und lasse mich nur noch erschöpft aufs Sofa fallen, statt mich für dieses oder jenes entscheiden zu müssen. Das permanente Überangebot an Möglichkeiten hat bei Berlinbewohnern seine Spuren hinterlassen. Auch bei mir. So wurde mein liebstes Wort mit der Zeit vielleicht. Festlegen? Unmöglich! Wozu auch? An einem Abend kann der waschechte Szeneberliner schon mal auf fünf verschiedene Veranstaltungen eingeladen werden. Woher soll er denn Tage vorher wissen, ob er nun auf ein Konzert, einen Geburtstag, eine Floßfahrt oder Netflix-und-chill-Abend Lust hat? Diese Vielleicht-Macke greift früher oder später auf alle Lebensbereiche über. Waren gewisse Verbindlichkeiten früher keine Frage für mich – Termine und Verabredungen wurden einfach eingehalten und Schluss –, bot Berlin plötzlich die Option, sich spontan umzuentscheiden oder sich gar nicht erst festzulegen. Selbst zwischenmenschliche oder, besser gesagt, Paarbeziehungen bleiben von diesem Phänomen nicht verschont. Dass Polygamie und Polyamorie lebbare Lebensmodelle sein könnten, hätte sich Klein Vicky in Darmilein niemals vorstellen können. Inzwischen habe ich sogar Literatur zum Thema offene Beziehung im Bücherregal, weil es mir so oft begegnete, bis es sogar in einer meiner eigenen Beziehungen plötzlich aufkam. Generell ist gegen dieses Lebensmodell nichts einzuwenden. Schon der Alte Fritz war der Meinung, dass jeder nach seiner Façon selig werden sollte. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass sich hinter dem Wunsch nach freier Liebe oft Bindungs- und Verlustangst und Scheu vor Verantwortung verbergen. Oder sind all die Tinder-Dates, die sich möglichst sämtliche Optionen offen halten wollen, in der Woche diverse Dates und nebenbei vielleicht noch eine offene Beziehung und einen Fuckbuddy haben, etwa glücklich? Wie gesagt, es freut mich, wenn jemand darin seine Erfüllung findet. Aber wenn ich mich in meinem persönlichen Umfeld umschaue, entdecke ich viele einsame Menschen, die mit jedem Tinder-Date noch ein wenig einsamer werden. Natürlich findet unsere heutige romantische Vorstellung von Liebe und Beziehung vor allem in der Literatur des 18. Jahrhunderts und nur sehr selten in der Realität statt. Aus Liebe heiraten? Das ist eine vergleichsweise junge Idee und nicht unbedingt die Garantie für dauerhaftes Eheglück. Auch der Gedanke, dass es nur den einen oder die eine im Liebesleben eines jeden gibt, hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Genauso wie wir uns verlieben können, genauso können wir uns auch wieder entlieben. Doch wer niemals für eine Liebe oder auch eine Beziehung einsteht und kämpft, wird ein emotionaler Schlaffi und Angsthase. Auf den ersten Blick mag es verlockend und nach Freiheit klingen, nie wieder Entscheidungen fällen zu müssen. Tatsächlich aber ist es unerträglich, tagein, tagaus rast-, ruhe- und orientierungslos allein vor sich hin zu leben.
Berlin ist bekanntlich die Hauptstadt der Singles, und obwohl viele von ihnen die große Liebe suchen, wird diese, sobald sie am Horizont auftaucht, häufig mit den Worten »Ich weiß nicht, ob es der/die Richtige ist« aufs Abstellgleis gestellt. Es könnte ja sein, dass etwas Besseres kommt. Und während jeder auf etwas Besseres wartet, hetzen wir von Date zu Date, von einem Vorstellungsgespräch zum nächsten, von Party zu Party. Irgendwann habe ich kapiert: Kann ja sein, dass es da draußen etwas Besseres gibt, aber wenn ich mich niemals festlege und permanent darauf hoffe, könnte ich das Beste verpassen, vor allem aber ist es ungeheuer anstrengend, einer Illusion hinterherzuhecheln, und führt unweigerlich dazu, dass man nie wirklich ankommt. Ab und zu eine Entscheidung zu treffen und mit dieser zufrieden zu sein, entspannt das Leben sehr, ist für Vielleicht-Junkies wie mich allerdings kein einfacher Weg, weil jede Entscheidung von der Angst begleitet wird, etwas zu verpassen. Bei Abendveranstaltungen geht es mir jedes Mal so: Bleibe ich daheim, statt mit Freunden zu dieser oder jener Party zu gehen, denke ich ausnahmslos, dass ich gerade den Abend meines Lebens verpasse. Alle anderen haben Spaß, nur Klein Vicky sitzt zu Hause und führt ein langweiliges Leben. Unter uns: Bis jetzt habe ich noch nichts Weltbewegendes verpasst.
Mit meinem »Dachschaden« bin ich in der Hauptstadt wahrlich nicht allein. Laut jüngsten Studien ist inzwischen fast jeder dritte Berliner zwischen 18 und 25 an einem psychischen Leiden erkrankt.3