Be a Rebel - Victoria Müller - E-Book

Be a Rebel E-Book

Victoria Müller

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Beschreibung

»Ich bin der festen Überzeugung, dass Kampfgeist und Emotionen der Schlüssel zur Veränderung sind, und ich hoffe, dass dieses Buch dazu beitragen wird, die Welt ein Stückchen besser zu machen.« Victoria Müller Aufruf und Anleitung für mehr Engagement: ein Buch für alle, die gern politisch aktiver wären Drastische Meinungsäußerungen und Aktionen sind die Treiber, ohne die keine Veränderung entstehen kann, weiß Victoria Müller. Mit 10 Jahren demonstrierte sie zum ersten Mal, mit 14 machte sie auf einer Anti-Nazi-Demo mit einem Polizeiknüppel Bekanntschaft. Heute evakuiert sie mit ihrem Tierschutzverein Tiere aus dem ukrainischen Kriegsgebiet und tritt leidenschaftlich und streitbar für Gleichberechtigung ein. In ihrem politischen Sachbuch erzählt Victoria Müller von ihren eigenen Erfahrungen als Aktivistin: Mehrmals stößt sie bei ihren Aktionen an die Grenzen des Erlaubten und fordert konventionelle Normen heraus. Gesellschaftlicher Wandel braucht den Einsatz und das Engagement von uns allen Das ist die These von Victoria Müller. Beispiele aus der Geschichte wie die Frauen- und Bürgerrechtsbewegungen zeigen: Radikale Proteste sind notwendig als Katalysator für gesellschaftliche Veränderungen. Victoria Müller ermutigt uns dazu, unangepasst zu sein und gegen Ungerechtigkeit Widerstand zu leisten.  Be a rebel! ist ein Manifest für Menschen, die sich für eine bessere Zukunft einsetzen wollen.

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Victoria Müller

Be a Rebel

Ermutigung zum Ungehorsam

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Kriege. Erderwärmung. Industrielle Tierausbeutung. Aufstieg der Rechten. Es ist höchste Zeit, aktiv zu werden und Widerstand zu leisten! Doch angesichts ungezählter Krisen ist das eine echte Herausforderung – denn wo soll man anfangen?

Victoria Müller ermutigt dazu, den Kampf für eine bessere Zukunft aufzunehmen. Sie selbst wehrte sich schon als Teenagerin gegen die Nazis in ihrer Stadt und ist seitdem politisch aktiv, manchmal bis an die Grenze des Erlaubten. In ihrem Buch belegt sie am Beispiel erfolgreicher Revolten die Wirkmacht von Protest. Und sie zeigt, dass Wandel oft im Kleinen beginnt und wir alle etwas bewegen können.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Motto

Einleitung Ich bin wütend

1. Nicht nur eine Phase

Tränengas, Transparente, Teenagerträume

Nazis im Haus

Konstruktive Wut als Katalysator

Grenzgängerin für die Sache

Tierrettung im Kriegsgebiet

Freundschaften

2. Vom Funken zur Flamme

Emotionale Brandstifter

Legal, illegal, scheißegal

Selbstermächtigung und Reaktanz

3. Warum Aktivismus manchmal dahin geht, wo es wehtut

Aktivismus, soziale Bewegung, ziviler Ungehorsam

Aktivismus

Soziale Bewegung

Protestbewegung

Ziviler Ungehorsam

Artivismus

Hausbesetzungen

Der Mythos der Nutzlosigkeit

Weg mit dem Scheißsystem

Wenn rechte Gruppen den Ton angeben

4. Viva la revolución

Französische Revolution

Amerikanische Revolution

Haitianische Revolution

Deutsche Revolution 1848/49

Der hohe Preis für unsere heutigen Freiheiten

Von Flammen zum Frauenwahlrecht

Voice for the voiceless

5. Keimzellen des Wandels

Dies ist ein Aufruf zum Boykott

Digitale Revolution

Geschichte machen!

6. Rebel 101

Frage Nummer 1: Wieso?

Frage Nummer 2: Was?

Frage Nummer 3: Mit wem?

Frage Nummer 4: Wie?

Frage Nummer 5: Was noch?

Aktivismus trifft Alltag

Activist Burn-out

Nachwort Be a Rebel

Glossar Das kritische Wörterbuch

»Deeds not words.«

 

Inschrift auf dem Grabstein der Frauenrechtlerin Emily Davison

Einleitung Ich bin wütend

Ich wollte dieses Buch eigentlich mit den theatralischen Worten »Mein Name ist Victoria, und ich bin wütend« beginnen. Dieses Buch beginnt jetzt aber mit den Worten »Mein Name ist Victoria, und ich bin auf der A4 in Polen«. Es ist ein extrem heißer Sommertag im Juni. Der längste Tag des Jahres. Um neun Uhr morgens verzeichnete das Thermometer im Auto bereits drückende 30 Grad. Joris und ich haben die Nacht hinter Katowice in einem Autobahnhotel verbracht, das den gleichen Namen wie die daran vorbeiführende Autobahn trägt: A4. Um 3:54 Uhr waren wir eingecheckt, 250 Zloty kostete die Nacht, die Orlen-Tankstelle direkt vor der Tür. Nach viereinhalb Stunden klingelte bei uns synchron der Wecker.

»Ich habe den gleichen nervigen Klingelton«, murmelte ich schlaftrunken ins andere Bett rüber.

Wir nehmen immer ein Doppelzimmer mit getrennten Betten. Das Zimmer war erstaunlich groß, roch nach modrigem altem Teppich und Reinigungsmitteln. Und nach diesem künstlichen Bananenaroma. Irgendwie gibt es in Osteuropa immer so abgedrehte Seifengerüche. Kaugummi, Banane, Melone – immer alles etwas zu doll. Dieses Odeur hatte sich wie ein Schleier über das Zimmer gelegt. Ehrlicherweise war mir das bei der Ankunft und beim Aufwachen egal. Ich stand etwas neben mir. Die Nächte vor der Abfahrt waren kurz gewesen, die Tage lang. Viele Telefonate, WhatsApp- und Telegram-Nachrichten, E-Mails, unzählige Gespräche mit anderen Volunteers und ewiges Kopfzerbrechen.

Zum Frühstück gab es erst mal eine vegane Ketwurst, an polnischen Tankstellen kein Problem. Meine Verdauung war nicht in der besten Verfassung, die Ketwurst fiel wie ein schwerer, aber wohlschmeckender Stein in meine leere Magengrube. Die 30 Grad machten uns fertig, man konnte kaum atmen. Trotzdem wollte ich noch die Platten in meine Weste machen, bevor wir an der Grenze ankommen.

»Das hab ich dir selbst überlassen, die gehen so schlecht rein. Man muss super dolle drücken«, sagte Joris etwas schadenfroh.

Neben schusssicheren Westen war unser Auto voller Hundefutter, das einen einzigartigen Geruch im gesamten Innenraum des Caddy verbreitete.

Um 9:54 Uhr sind wir wieder auf der A4, mit 130 Sachen und der Klimaanlage auf Anschlag. Wir brauchen noch zweieinhalb Stunden bis zur Grenze.

»Wo seid ihr?«, schreibt mein Freund. »Kommt ihr gut durch, seid ihr schon drüben?«

Drüben – das ist nicht die nostalgische Umschreibung eines Teils von Deutschland, den es nicht mehr gibt, sondern meint jenes Land, das am 24. Februar 2022 von Russland angegriffen wurde und auf dessen gesamtem Staatsgebiet seither Krieg herrscht. Wir fahren in die Ukraine, und das sehr regelmäßig. Wir evakuieren Tiere aus den Kriegsgebieten, bringen Futter in entlegene Bereiche oder besuchen ein Tierheim in Butscha, das wir seit einiger Zeit finanziell unterstützen und ausbauen.

Diese Fahrten ins Kriegsgebiet lösen in mir ein Potpourri an Emotionen aus. Es verdichten sich noch einmal dieselben Emotionen, die überhaupt dazu geführt haben, dass ich in den grauen VW Caddy unseres Vereins steige und in ein Land fahre, in dem Raketen fliegen. Da ist die überbordende Wut über diesen unfairen Krieg, über den Umstand, dass ein Land die souveränen Grenzen eines anderen verletzt und unschuldige Menschen und auch Tiere einfach so angegriffen werden. Zu dieser Wut gesellt sich die Hoffnung, ein bisschen was tun zu können, auch wenn die Situation nur wenig hoffnungsvoll ist. Auf diesen endlosen Touren werden mir diese Emotionen bewusst, und ich spüre, wie sie mit den vielen Gesichtern des Aktivismus interagieren. Natürlich wusste ich das, rein theoretisch, auch schon davor. Aber auf diesen Autofahrten wird die Theorie zu meiner eigenen Realität. Und ich erinnere mich daran, dass nicht jede Form des Aktivismus immer auf Akzeptanz stößt. Vielleicht eint das die diversen Arten des Betätigungsdrangs: Unverständnis ist ein stetiger Begleiter, und viele Menschen bringen das auch ganz unverblümt zum Ausdruck.

»Darf ich dich mal fragen, wieso du das machst? Also dein Leben in Gefahr bringen für Tiere? Ich bin ja selbst vegan, und das soll nicht blöd klingen«, fragte mich neulich beim gemeinsamen Hafermilch-Latte ein geschätzter Kollege. Eine Frage, auf die wohl jede aktivistische Person schon mindestens einmal antworten musste. Ich reagierte kurz angebunden, denn wie sollte ich es erklären? Leben retten klingt zu heroisch, etwas verändern zu hochtrabend und realitätsfremd. Was ist also mein Antreiber, mein Katalysator? Wieso mache ich das?

Diese kleine, scheinbar harmlose Frage hat mich zum Nachdenken gebracht. Denn eine rationale Antwort habe ich darauf nicht. Zumindest keine, die meinem sonst eher analytischen und sachlichen Weltbild entsprechen würde. Hand aufs Herz: Den Lauf der Geschichte werde ich nicht verändern. Ich werde nicht das Tierleid auf der Erde, nicht einmal in Deutschland oder in meinem Bundesland stoppen. Auch kann ich nicht verhindern, dass weiterhin Tiere für Tierversuche missbraucht oder Frauen auf der Straße sexuell belästigt werden. Ich werde die Politik nicht davon abhalten, Menschen an den EU-Außengrenzen einfach sterben zu lassen, oder Großkonzerne davon, Menschen auszubeuten oder zu viele Emissionen in den Orbit zu jagen. Ich, Victoria Müller, werde dies nicht ändern können. Wieso also so viel Energie, Zeit, Schweiß und Tränen in Dinge investieren, die ich sowieso nicht ändern kann?

Und dennoch hat diese Frage, die Frage nach dem »Warum«, bei mir nur kurz für Verwirrung gesorgt. Schnell saß ich argumentativ wieder im Sattel, und das Gefühl, dieses eine Gefühl, der Antreiber war wieder da und hat jeglichen Zweifel wieder dahin verwiesen, wo er hingehört: ganz weit weg!

Dieses spezielle Gefühl und die Frage nach dem Sinn aktivistischen Handelns sollen in diesem Buch weiter ergründet werden. Was treibt uns an, Kämpfe zu kämpfen, die scheinbar aussichtslos sind? Wie und wieso stellen wir uns konstanter Kritik, Hass und riskieren sogar unsere körperliche Unversehrtheit?

Ich möchte auf den nächsten Seiten dafür werben, diesem Gefühl nachzugehen, das man in der Magengegend hat, wenn man über Missstände in der Zeitung liest, wenn man ein enthüllendes Video aus einer Mastanlage sieht oder im Umfeld mitbekommt, dass jemand aufgrund von Herkunft, Religion oder Hautfarbe mal wieder richtig scheiße behandelt wurde. Dem Gefühl, das sich einstellt, wenn ein Naziaufmarsch in der eigenen Stadt angekündigt wird, Forschende in einer Talkshow über die unmittelbaren Auswirkungen des Klimawandels berichten oder die Tagesthemen die alljährliche Femizid-Statistik präsentieren, also die Zahl, wie viele Frauen binnen eines Jahres von Männern ermordet wurden. Könnt ihr das Gefühl abrufen? Haltet mal kurz inne und versucht, dem Gefühl einen Namen zu geben, spürt mal richtig rein. Was ist da? Und wo? Ein Stechen aus Angst im Kopf, ein wütender Druck auf der Brust, ein schweres Gefühl im Magen, Herzrasen aus Euphorie oder Anspannung?

Vermutlich gebt ihr dem Gefühl einen eigenen Namen. Bei mir heißt dieses Gefühl, das den Motor anspringen lässt und ziemlich lange am Laufen hält, ganz banal Wut. Um es etwas zu entschärfen und dem Ganzen die für mich typische analytische Komponente zu verleihen, nenne ich es genauer: konstruktive Wut.

Denn ja, mein Name ist Victoria, und ich bin wütend.

Aktivistisches Handeln, Veränderungen vorantreiben, das muss nicht immer total rational sein, und das Ganze darf neben der sachlichen auch eine emotionale Ebene haben. Gefühle sind es nämlich, die das Feuer brennen lassen. Deshalb möchte ich mit euch gemeinsam entweder das Feuer entflammen oder es verstärken, indem ich noch ein bisschen Öl reinkippe.

Aber nicht nur unser (potenzieller) eigener Antrieb soll in diesem Buch Thema sein, auch die Notwendigkeit für mehr Akzeptanz in Sachen Aktivismus. Zu laut, zu radikal, nicht anschlussfähig, holt nicht das Gros der Gesellschaft ab – diese Kritik ist im Rahmen von emanzipatorischen Bewegungen so sicher wie das Amen in der Kirche. Aktuell sieht sich die Klimabewegung diesen Bewertungen ausgesetzt, vor allem Gruppen wie die Letzte Generation. Aber ich kenne diese Debatten auch gegen uns in der Tierrechtsbewegung. Das Wie wird bei lauten Protestbewegungen sehr häufig thematisiert, und die vermeintliche mangelnde Anschlussfähigkeit ist für viele auch der Grund, diese Gruppen und ihre Forderungen nicht zu unterstützen.

Doch wie wirksam sind radikaler Protest und laute, unbequeme Protestformen? Dazu gibt es Forschung, die ich genauer beleuchten möchte. Wenn wir einen Blick in die Geschichte werfen, erkennen wir schnell, dass unsere heutigen Freiheiten oft das Ergebnis mutiger Protestbewegungen sind. Ob Frauenwahlrecht oder die 40-Stunden-Woche – die Pionierleistungen von damals haben den Weg für unsere heutigen Errungenschaften geebnet.

Spannender- und vielleicht auch überraschenderweise gibt es viele Überschneidungen in der Art der Protestaktionen, und auch die Akzeptanz beziehungsweise die Kritik ähnelt sich sehr stark.

Neben der Gefühlsebene und der wissenschaftlichen und historischen Einordnung möchte ich auch von meinen eigenen Erfahrungen erzählen. Seit meiner Kindheit bin ich politisch aktiv. In der siebten Klasse habe ich gezielt Menschen aus der Kommunalpolitik für die Neonazis in unserem Dorf sensibilisieren wollen und habe dazu Vorträge an unserer Schule gehalten. Meinen ersten Polizeiknüppel habe ich ungefähr zur gleichen Zeit auf einer Demonstration abbekommen, und auch wenn sich mein Wie über die Jahre immer wieder modifiziert hat, ist das Gefühl seit Jahrzehnten das gleiche. Diese biografische Erzählung soll kein moralischer Zeigefinger sein, eher eine Anleitung oder Inspiration zur Nachahmung. Denn auch wenn ich häufiger gefragt werden, wieso ich bestimmte Dinge tue, erlebe ich oft, dass Menschen selbst aktiver werden wollen.

Für euch ist dieses Buch. Denn gesellschaftlicher Wandel entsteht nicht isoliert, sondern braucht Engagement. Und dieses Engagement kann man lernen.

1. Nicht nur eine Phase

Victoria, kannst du nach der Stunde bitte kurz dableiben«, fragte mein Musiklehrer mit einem säuerlich-ernsten Unterton. Herr Lohmann war wie ich aus Ostdeutschland, und das hörte man auch. Vor allem wenn er einen säuerlich-ernsten Unterton auflegte, erklang das Erzgebirge-Sächsisch in seiner vollsten Pracht. Hier im tiefsten Westen eine Rarität, für meine Ohren zwischen all dem Hessisch-Gebabbel aber eine wahre Wohltat. Aus diesem Grund verspürte ich anfänglich Sympathie, doch es sollte sich herausstellen, dass wir außer der ostdeutschen Herkunft nicht viel gemeinsam hatten.

Ich besuchte die siebte Klasse einer integrierten Gesamtschule. Meine Noten waren mittelmäßig bis schlecht, meine Motivation quasi nicht vorhanden. Niemand glaubte ernsthaft daran, dass ich eine steile berufliche Karriere hinlegen würde. Deswegen waren auch alle einigermaßen zufrieden mit meinen Leistungen oder mit dem Umstand, dass ich irgendwie weiterkam. Meine Mutter wollte mich zwar immer wieder animieren, doch noch etwas Gummi zu geben, aber über Realschulniveau kam ich damals nicht hinaus.

An diesem Tag – es war ein regnerischer, grauer Wintertag, und die Weihnachtsferien standen unmittelbar bevor – hatten wir alle unsere Lieblings-CD mit in den Musikunterricht gebracht, und dann wurde reihum der Lieblingssong von eben jenen CDs abgespielt. Der Raum für den Musikunterricht war lange nicht mehr renoviert worden, er versprühte einen nostalgischen 80er-Jahre-Charme. Es roch auch, als wäre seitdem nicht mehr gelüftet worden, so eine Mischung aus selbst geschmierten Salamibroten, altem Linoleum und dem modrigen Duft der alten braunen Vorhänge, die seit ihrer Installation vor 30 Jahren wohl nicht ein einziges Mal gewaschen worden waren. Sweet smell of Schule halt. Der Raum war zudem mit Musikinstrumenten jeglicher Art versehen, die sich in einer separaten Kammer hinter der Tafel befanden. Außerdem gab es zwei an der Wand hängende Boxen und eine daran angestöpselte Stereoanlage. Wir lauschten in diesen 45 Minuten den neuesten Hits der No Angels; Atomic Kitten, Outcast, sogar Safri Duo waren dabei. Die Tische standen in der klassischen U-Form im Raum, ich saß im letzten Drittel der Runde und ließ mich von der etwas unoriginellen Musikauswahl berieseln, die im Wesentlichen die deutschen Charts aus dem Jahr 2001 abbildete. Nachdem die letzten Töne von Shaggys Hit Angel den Raum so richtig aufgeheizt und fast alle auf ihren Stühlen hektisch ihre Arme verrenkt und dabei mehr oder weniger textsicher mitgejohlt hatten, überreichte ich meine mitgebrachte CD an einen skeptisch schauenden Herrn Lohmann.

»Welcher Titel ist es denn?«, fragte er, während er das Cover der CD musterte.

»Titel 15«, sagte ich leise, weil ich Shaggy nicht unterbrechen wollte.

Herr Lohmann nahm die CD mit zur Anlage, wartete, bis die letzten Töne des letzten Songs verstummt waren, legte meine CD ein und drückte 15-mal den Forward-Knopf, um zu meinem Titel zu gelangen. Nach drei Sekunden sahen sich alle gegenseitig irritiert an, nach zehn Sekunden hatte ich die gesamte Klasse dann vollends verloren. Ich war total gehypt und konnte beim besten Willen nicht verstehen, wieso die anderen sich nicht annähernd für meinen Track begeisterten.

Das Klassenzimmer vibrierte förmlich, da Herr Lohmann die Songs in beachtlicher Lautstärke abspielte. Das schnelle, treibende Schlagzeug donnerte wie ein rasender Expresszug durch den Raum, begleitet von drei kraftvollen Akkorden, die die Atmosphäre elektrisierten.

Die Stimme war kantig, bestimmt und vor allem weiblich. Genau das zog mich in ihren Bann. Hier war eine Frau, die ohne Umschweife ins Mikro brüllte, wie sehr sie die Spießigkeit verachtete und wie bitter enttäuscht sie von denjenigen war, die einst an ihrer Seite für eine bessere Welt gestritten und nun ihre Ideale verraten hatten. Innerlich spürte ich, wie meine Kampfbereitschaft aufflammte, während der Rest des Raumes immer noch sichtlich aus dem Konzept gebracht war.

Drei Minuten lang versprühte die Band APC in dem charakterlosen Flachdachbau meiner integrierten Gesamtschule einen revolutionären Esprit. Und dann, so abrupt, wie es begonnen hatte, verstummte die Musik. Meine BRD Punk Terror IV-CD wurde mir wortlos zurückgegeben, und ehe man sichs versah, besänftigte die liebliche Stimme von Ronan Keating den Raum. Ich versank tiefer in meinem braunen Holzstuhl, fühlte mich plötzlich wie ein Alien in einem Meer aus Gleichgültigkeit. Meine Finger spielten nervös an der Tischkante, während ich versuchte, mich nicht von den verständnislosen Blicken der anderen treffen zu lassen. Die Stunde schleppte sich mit zwei weiteren Songs, bis sie schließlich endete und ich aufgefordert wurde zu bleiben.

Diese Bitte versetzte mich in Verunsicherung. Hatte ich irgendetwas falsch gemacht? Ich war nicht sonderlich auffällig im Unterricht, redete nicht rein oder blödelte rum. Es gab also keinen Grund, mich nach der Stunde dazubehalten. Als alle anderen das Klassenzimmer verlassen hatten, kam Herr Lohmann zu mir und setzte eine sehr ernste Miene auf. Er sah aus, als hätte ich versucht, das Mädchenklo in Brand zu stecken oder Drogen an die Kids aus der fünften Klasse zu verkaufen.

»Was wir hier heute erlebt haben, das geht nicht«, sagte er bestimmt, mit einem rauen, kratzigen Tonfall. »Deine Erscheinung brauche ich nicht weiter kommentieren, das müssen deine Eltern in den Griff kriegen. Aber es geht nicht, dass du so etwas mit in die Schule bringst!« Er fügte hinzu, dass er am liebsten Konsequenzen ziehen und mich nachsitzen lassen würde, damit ich darüber reflektieren könnte, welchen Weg ich da einschlüge. Aber rechtlich gesehen könne er das nicht durchsetzen. »Woher hast du so was überhaupt?«, fragte er fordernd.

Ich stand da, gefangen zwischen Verblüffung und Verteidigungsbereitschaft und ließ über mich ergehen, was er zu sagen hatte.

Die Antwort auf sein »Woher« war eigentlich recht unspektakulär: Die CD hatte ich nämlich kurz vor der besagten Musikstunde gekauft, als ich mit meinem Vater zusammen im nahe gelegenen World of Music war. Wir waren öfter mal gemeinsam in Plattenläden, und so kramte ich mich durch die CD-Regale und schaute mir vor allem die Cover an. Während mein Vater die neuesten Veröffentlichungen in der Rockabteilung studierte, kam ich an einem Regal mit der Aufschrift »Punk« an. Ich zog ein schwarz-rotes CD-Cover mit einem großen mumifizierten Skelett darauf raus. Oben prangte groß in brutalen Lettern der Bandname Misfits, unten etwas kleiner der Albumtitel Cuts from the Crypt. Ich kann nicht genau festmachen, warum ich mich für dieses spezielle Cover entschieden habe. Auch wenn ich damals bereits einen Hang zum Unkonventionellen hatte, war Morbidität nicht unbedingt mein Ding. Ich legte die CD nicht zurück, sondern behielt sie in meiner Hand. Beim weiteren Kramen kam ich in die Abteilung der Sampler, und auch hier war es wieder ein schwarzes Cover, das meine Aufmerksamkeit erregte. Statt des schaurigen Flairs von Cuts from the Crypt sah ich nun Gesichter, die auf eine völlig andere Weise Grusel auslösten. Merkel, Stoiber, Fischer und Schröder starrten mich an, getarnt als Punks: mit rebellischen Irokesenfrisuren, in Lederjacken, übersät von Nieten und Buttons. Das Pink der Worte BRD Punk Terror IV leuchtete provokant. Wenngleich ich nicht wusste, welche Bands auf diesem Sampler vertreten waren, fühlte ich mich dennoch magisch davon angezogen.

Während ich die CDs fest umklammerte und weiter durch die Gänge schlenderte, kreuzte unvermittelt Thomas unseren Weg. Er spielte Gitarre in der Band meines Vaters und suchte hier heute nach einem frischen musikalischen Schmankerl für seine Sammlung.

»Schau mal«, begann er begeistert, »sie haben das Zappa-Konzert von ’76 in Sydney als Live-Album veröffentlicht. Darauf bin ich gespannt.« Dann warf er uns neugierig einen Blick zu. »Was treibt ihr denn hier?«

Mein Vater zuckte locker mit den Schultern.

»Wir waren gerade in der Nähe und dachten, wir schauen mal rein.« Dabei warf ich ihm ein schelmisches Grinsen zu und präsentierte stolz meine beiden Neuentdeckungen.

»Haste was gefunden?«, fragte mich Thomas und schaute sich die CDs an, die ich ihm instant in die Hand drückte. »BRD Punk Terror und Misfits? Na, viel Spaß, Uwe«, sagte er schmunzelnd und gab mir die CDs zurück. Sie tauschten einen wissenden Blick aus und lachten gemeinsam – wohl ahnend, dass es im Kinderzimmer nicht mehr lange ruhig bleiben würde.

Doch in diesem Moment rätselte ich noch über seinen Kommentar: Hätte er mir nicht den Spaß an meinen neuen Schätzen gönnen sollen? Dieser Moment im WOM, wie ich als 14-Jährige mit meiner Misfits- und BRD Punk Terror-CD zwischen den gut sortierten Regalen stehe und sich die beiden Männer weiter über die bevorstehende Bandprobe unterhalten, sollte ein Wendepunkt in meinem Leben werden. Denn was an diesem Tag in meinem Kinderzimmer Einzug hielt, würde alles verändern.

Als ich zu Hause ankam, konnte ich es kaum abwarten, die Musik zu hören. Ich legte zuerst die BRD Punk Terror-CD in den dreifachen CD-Wechsler meiner glänzenden AIWA-Stereoanlage ein. Dieses Prachtstück hatte ich zu Weihnachten geschenkt bekommen, eine Anerkennung meiner wachsenden Musikbegeisterung. Der CD-Wechsler war nahezu ständig in Aktion, denn ich plünderte regelmäßig das CD-Regal meiner Eltern, bewaffnet mit einem Stapel Alben von Bands, die mir bis dato unbekannt waren. Einige CDs fanden den Weg zurück ins Regal – häufig auf Initiative meines Vaters, der mit einem Augenzwinkern bemerkte, dass ich dazu neigte, mir Alben, die mir besonders gefielen, schleichend anzueignen.

Dazu gehörten schon früh die Ärzte oder Beatles. Jetzt fing ich offenbar an, selbstständig Musik im Laden zu detektieren und zu erwerben. Mit der CD-Hülle in der Hand drückte ich auf den Wechsel mit der Position eins, denn dort hatte ich die CD eingelegt. Ich ließ mich bequem auf dem Boden nieder, den Rücken an die Kante meines Bettes gelehnt. Der erste Song konnte mich noch nicht ganz überzeugen, und so vertiefte ich mich in das beiliegende Booklet. Doch mit den ersten Klängen des zweiten Titels richtete sich meine gesamte Aufmerksamkeit auf die Musik.

Ein rasantes Schlagzeugspiel, ungezügeltes Gitarrengezupfe und dann, plötzlich, eine Frau, die mit einer rauen Stimme ins Mikrofon brüllt. Ich klappte das Booklet zu und starrte, Augen weit aufgerissen, auf die leuchtenden Buchstaben meiner Stereoanlage. Was zum Teufel geschah hier? Es fühlte sich an wie ein Orkan, der durch unsere Straße in einem beschaulichen Vorort der Bankenmetropole Frankfurt fegte und alles verschlang, was sich nicht rechtzeitig in Sicherheit brachte. Obwohl mein Englisch damals noch eher rudimentär war – ja, meine Schulzeugnisse belegten dies stumm –, schlug die Energie der Songs unmittelbar auf mich ein. Direkt aus den Boxen meiner AIWA-Stereoanlage schoss diese kraftvolle, rebellische Welle, die meine Sinne durchflutete und in meinem Bewusstsein einen bleibenden Eindruck hinterließ. Ab jenem Moment entflammte meine Faszination für Punk in voller Glut, und inspirierende Gestalten wie Patti Pattex, Sängerin der Band Scattergun, prägten fortan meinen musikalischen Horizont.

Die alte Lederjacke meiner Mutter erlebte eine Renaissance und erfuhr zeitgleich eine radikale Metamorphose: Sie wurde in eine authentische Punk-Kutte verwandelt, verziert mit einem Mercedes-Stern, diversen Buttons und markanten weißen Edding-Schriftzügen. In imposantem Lettering prangte quer über den Rücken das Wort »Ausgekotzt«, wobei das markante »A« an den Stil des Arbeitsamt-Logos erinnerte. Was sich hier einläutete, sollte mein Leben maßgeblich verändern, denn mit der schnellen, schrammeligen und heftigen Musik sollten auch politische Botschaften rüberkommen. Texte über Polizeigewalt, Frauendiskriminierung und nicht zuletzt über den Hass auf Nazis. All diese Dinge zogen mit diesem vierzehn mal zwölf Zentimeter großen Jewelcase nebst Speichermedium in mein Kinderzimmer und in mein Leben ein und lösten eine regelrechte Lawine aus. Mein Kleidungsstil passte sich an, ich kaufte mir Bandshirts von Bands wie Canalterror oder Slime, trug Springerstiefel, gestreifte bunte Strumpfhosen und verzierte alle meine Kleidungsstücke mit Nieten. Meine Begeisterung kannte keine Grenzen. Ich war ständig auf der Suche nach neuen Bands und spürte das tiefe Verlangen, jedes Detail über Punk zu ergründen. Von null auf hundert entdeckte ich eine völlig neue Welt, eine Welt, die es in der Form im tristen Frankfurter Vorort nicht gab. Hier zählten andere Dinge wie Bausparverträge, Reihenendhäuser, Familienkombis und die obligatorischen Skiurlaube in den Winterferien. Ein vorhersehbarer Lebensstil, an dem wir als Familie schon aus monetären Gründen nicht partizipieren konnten, und nun hatte ich meine Exit-Strategie gefunden. Es gab keinen Grund mehr, mich einer Existenz anzupassen, die mich ebenso abwies wie ich sie. Die Rebellion in meinem Kinderzimmer richtete sich nicht gegen die Menschen, die jenseits meiner Tür in der gleichen Wohnung lebten. Es war eine Auflehnung gegen die umgebende Welt. Gegen den sturen Kaufmännisch-Unterricht, die Miss-Sixty-Hosen, die wir uns nicht leisten konnten – und doch schien der soziale Druck meiner Schule so stark, dass ich fühlte, ich müsste sie besitzen, um dazuzugehören. Gegen die scheinbar perfekten reinrassigen Familienhunde und die grauen Scharen, die sich morgens im feinen Peek-&-Cloppenburg-Anzug auf den Weg zu einem der Finanztürme in Mainhattan machten, um dort ihr Dasein zu fristen.

Die zu diesem Zeitpunkt zögerlich eingetretene Digitalisierung half mir maßgeblich, denn schon früh besaß ich meinen eigenen Computer und konnte mittels dieses grauen Kastens Musik ausfindig machen und mich deutschlandweit mit Gleichgesinnten verbinden.

Und so stand ich also im Musikraum, mit meiner unübersehbaren gelb-schwarzen Strumpfhose, dem rot karierten Minirock und dieser grünen Jacke, die wir vor Jahren für schlichte drei Mark auf dem Flohmarkt ergattert hatten. Die Jacke zierte mittlerweile ein markanter »Gegen Nazis«-Backpatch.

Ein Gedankenstrudel formte sich: Sollte ich Herrn Lohmann in meine neue musikalische Obsession einweihen, ihm sagen, dass man solche Klänge auch ganz regulär im Plattenladen findet? Ich zögerte, behielt es für mich.

Seine Worte, als er mich wegschickte, hallen noch nach: »Das ist sowieso nur eine Phase.«

Wenn er wüsste …

Tränengas, Transparente, Teenagerträume

»Papa, du musst mich abholen«, drängelte ich meinen Vater mit einer Mischung aus Verzweiflung und Unverständnis über das Handy. »Sie wollen uns nicht gehen lassen. Ich bin bei der Polizei.«

Das Datum: der 1. Mai 2002. Nur wenige Stunden später würde Spiegel Online berichten: »In Frankfurt-Fechenheim versuchten mehrere Hundert überwiegend linke Demonstranten, eine Polizeiabsperrung zu durchbrechen, um ohne Einzelkontrolle zum Versammlungsort zu gelangen. Die Polizei reagierte. Schlagstöcke kamen sporadisch zum Einsatz, Neonazis wurden zurückgedrängt und schließlich eingekesselt. Es kam zu vereinzelten Würfen von Gegenständen.«1

Neonazis hatten eine Demonstration in Frankfurt unter dem Motto »Gegen Euro und Globalisierung – für die DM und deutsche Interessen« angekündigt, und diese Meldung hatte es bis zu mir nach Nidderau geschafft. Ich war inzwischen ziemlich gut vernetzt – online, aber auch offline –, denn kürzlich hatte ich den Mut gefasst und war mit der Buslinie 562 ab Windecken-Hochmühle zum Freiheitsplatz in Hanau gefahren, um in der Metzgerstraße 8 vorbeizuschauen. Ausgerüstet war ich stets und ständig mit meinem durchsichtig grünen AIWA-Walkman, den ich schon seit vielen Jahren mein Eigen nannte. Darauf spielte ich meine Mix-Tapes ab, die ich mir selbst erstellte, damit ich bloß nicht viel von meiner Umwelt mitbekommen musste. Wahlweise hörte ich Slime, ACK, Canalterror oder Vorkriegsjugend bis zum Anschlag und stets so, dass auch mein Umfeld etwas davon hatte.

Auf dieser Fahrt hörte ich mal wieder die Band Fahnenflucht in Dauerschleife, wobei ein Song besonders reinging: Willkommen in Deutschland. Die Band thematisierte soziale und politische Probleme in Deutschland, insbesondere den Umgang mit Fremdenfeindlichkeit. Der Song kommentierte den Widerspruch zwischen dem Bild eines »freundlichen« Deutschlands und der Realität des Rassismus und der Xenophobie, also der irrationalen Angst vor Menschen aus anderen Kulturen, der viele Menschen ausgesetzt waren und immer noch sind. Es ist ein sozialkritischer Song, der die Zuhörerschaft dazu auffordert, über die vorherrschenden Einstellungen in der Gesellschaft nachzudenken und für mehr Toleranz und Offenheit einzutreten. Das Ganze wird nicht unbedingt von einem Kirchenchor vorgetragen, sondern ballerte durch die Kopfhörer direkt in meinen Gehörgang. Mit einer ordentlichen Wut auf Nazis im Gepäck fuhr ich Richtung Metzgerstraße 8. Dieses Gebäude, das einst als Nachtklub Moulin Rouge bekannt gewesen war, war seit 1986 besetzt und als Autonomes Kulturzentrum wiederbelebt worden. Es dient noch heute als Zentrum für autonome Kultur, regelmäßig finden hier politische Veranstaltungen oder Konzerte statt.

Damals bin ich ganz alleine durch die offene Stahltür in den etwas muffigen Hauptraum gegangen. Alter Teppichboden, die Wände voller Poster vergangener Konzerte oder Demonstrationen. In einer Ecke befand sich eine abgenutzte schwarze Ledercouch, die durch ständigen Gebrauch an einigen Stellen bereits sichtbare Spuren aufwies. Ein Tresen, schwarz angemalt, stand direkt parallel zum Eingang, dahinter ein Mann mit Schiebermütze, zierlicher Brille und einem Nasenring, den man unmöglich übersehen konnte. Als ich den Raum betrat, saßen hier 13 Menschen wahlweise auf der Ledercouch oder am Tresen.

Heute war VoKü. So nannte man das in meiner Jugend noch. Und dieser Satz klingt, als wäre ich mächtig alt. Dennoch haben sich zwischenzeitlich die Bezeichnungen »Küche für alle« (Küfa) oder »Bevölkerungsküche« (BevöKü) etabliert. In der Essenz handelt es sich aber um das Gleiche: gemeinsames Kochen und Essen, meist für einen Selbstkostenpreis oder weniger. Das war mein erster Besuch bei einer VoKü, und ich war etwas nervös, so nervös, dass ich letztlich nur eine kleine Schale bestellte. Obwohl die Portion recht überschaubar war und ich nichts dafür zahlen musste, ließ ich dennoch zwei Euro auf dem Tresen zurück. Mit meiner Schüssel veganem Chilieintopf in der Hand näherte ich mich dem Ledersofa. Etwas zögerlich wandte ich mich an die Gruppe, die dort entspannt saß: »Ist hier noch ein Platz frei?« Bei genauerer Betrachtung fiel mir auf, dass die drei Leute auf der Couch nicht viel älter sein konnten als ich.

»Na klar, setz dich dazu. Ist ja noch Platz. ’n Gud’n!«, sagte einer, der sich später als Benny vorstellte. Benny war tatsächlich so alt wie ich, kam aus der Gegend, ursprünglich aber aus Sachsen, hatte einen blonden Schlapp-Iro und trank ein Karlskrone-Dosenbier. Er stellte mich seinem Bruder Daniel und Katha vor, die wie ich zu dieser Zeit rot gefärbte Haare hatte. Wir unterhielten uns ein bisschen, und die Gruppe war neugierig, wie ich auf die Metzgerstraße gekommen bin.

»Mein Vater hatte mir davon erzählt, und da hab ich im Internet mal danach gesucht«, antwortete ich und sorgte damit für Gelächter.

»Ai, ich wünschte, unser Alter würde mal solche Tipps auspacken. Der alte Spießer mault aber den ganzen Tag rum«, sagte Benny und lachte.

Daniel stimmte ein: »Die gehen mir eh aufn Sack, ständig was zu meckern. Da ist hier schon geiler!«

Wir bildeten die jüngste Fraktion im Raum. Die Mehrheit der Anwesenden war deutlich älter als 13 und schien nicht besonders begeistert von dosenbierschlürfenden Teenagern zu sein. Während ich so in meiner Eintopfschüssel rumstocherte, fragte Benny euphorisch: »Was machst’n du am Ersten Mai?«

»Nichts, wieso? Was ist da?«, erwiderte ich.

»Willst du mich verarschen? Erster Mai! So wie du aussiehst, solltest du an dem Tag nicht daheim hocken. Willste mitkommen, Nazis klatschen?«, wollte Benny wissen.

»Nazis was? Ne, nichts mitbekommen«, antwortete ich etwas verwirrt, als würde er Schwedisch mit mir sprechen.

»Na, Erster Mai ist ja Feiertag. Und da gehen wir auf die Straße, weil diese verkackten Nazis eine Demo in Frankfurt machen«, regte sich Benny auf, »und die müssen wir stoppen.«

»Nazis kann ich auch gar nicht leiden, ich komme mit«, sagte ich, ohne zu wissen, was mich auf einer solchen Demonstration erwarten würde.

Das wäre nicht meine erste Demonstration, ich war vorher schon mal mit meinem Papa auf einer Demonstration, als der alte Bunker in Heddernheim stillgelegt werden sollte. Hier hatte mein Vater mit seiner Band einen Proberaum, und die Kunstszene in Frankfurt war in hellem Aufruhr, als die Stadt mit der Schließung der Bunkerproberäume drohte, wenn diese kein ordentliches Brandschutzkonzept vorlegten. Also organisierten die Bunkervereine – denn es gab in Frankfurt einige ehemalige Luftschutzbunker, die zu Proberäumen umfunktioniert worden waren – eine Demonstration gegen die harten und teilweise unrealistischen Auflagen. Wir liefen mit einigen Musikerkollegen meines Vaters hinter einem Wagen her, auf dem eine Band spielte. Es wurden Transparente getragen, Trillerpfeifen waren im Einsatz, und es gab immer wieder laute Rufe, die die Empörung über den Angriff auf die Frankfurter Kulturszene zum Ausdruck brachten. Alles insgesamt sehr friedlich, wenn auch beeindruckend. Denn hier lernte ich, dass man seine Meinung auch im Verbund mit anderen Menschen auf die Straße bringen kann.

Mit dieser Erinnerung im Kopf sagte ich Benny zu und verabredete mich mit meinen neuen Bekannten für den Ersten Mai.

 

Als es dann endlich so weit war und ich meine Eltern im Vorfeld von meinem Vorhaben überzeugt hatte, fuhr mich mein Vater morgens nach Frankfurt. An Feiertagen gestaltet sich der öffentliche Nahverkehr, insbesondere in ländlichen Gebieten, als echte Herausforderung – ein Problem, das bis heute nicht gelöst ist. So fuhren wir nach einem späten Frühstück los, da sich die Demonstration in Frankfurt gegen zwölf Uhr in Bewegung setzen sollte. Es war ein regnerischer und kühler Tag, wir hatten gerade einmal elf Grad auf dem Thermometer, als wir losfuhren, und ich fror in meiner fein säuberlich dekorierten Lederjacke und den zerrissenen Jeans.

Vor Ort traf ich Benny und seinen Bruder Daniel, Katha kam heute nicht mit. Wir wühlten uns durch das Getümmel, versuchten einen Überblick über die Lage zu erhalten. Kurz vor zwölf Uhr war klar: Das geplante Schauspiel der Nazis würde heute nicht über die Bühne gehen. Bis zu diesem Moment hatten sich rund 450 Rechtsextreme versammelt. Der rechte Trupp wurde von der Polizei sehr akribisch von der Umgebung abgeschottet. Es gab strenge Kontrollen für jene, die sich den Faschos anschließen wollten. Nach Krawallen bei der vergangenen Maidemonstration hatte Frankfurt eine von Neonazis geplante Demo untersagt. Doch der Hessische Verwaltungsgerichtshof ließ den Aufmarsch der »Bürgerinitiative für deutsche Interessen« im Industriegebiet Fechenheim zu. Unter Rufen wie »Wir sind das Volk« und Anti-USA-Parolen traten sie gegen Euro, Globalisierung und für »deutsche Interessen« ein.

Was die Neonazis vielleicht nicht erwartet hatten, war der starke Widerstand, der ihnen begegnete. Auf der Gegendemonstration waren über 4000 Menschen, es gab verschiedene Posten und Blöcke – darunter zwei 14-Jährige, die sich durch die Menge bewegten. Nicht nur Antifa-Gruppen waren vor Ort, auch Gewerkschaften und religiöse Gemeinschaften. Die Stimmung war extrem aufgeheizt, die Polizei hatte an diesem Tag 5500 Kräfte vor Ort, was die Atmosphäre nicht unbedingt entspannte. Während um mich herum Sprechchöre diverse Parolen skandierten, versuchte ich zu verstehen, was dort gerufen wurde. Doch mein Mundwerk war offenbar schneller und stimmte mit ein, als lauthals durch alle Reihen »Nazis raus, Nazis raus« und »Nazis, verpisst euch, keiner vermisst euch« gerufen wurde. Die Wut war spürbar, jede einzelne Person vor Ort strahlte eine tiefe Abneigung gegenüber den Neonazis und deren Ideologien aus. Es gab diverse Polizeiabsperrungen, um die linken und rechten Gruppen zu trennen und Ausschreitungen vorzubeugen. Das hinderte einen Teil der Teilnehmenden nicht daran, diese Absperrung durchbrechen zu wollen.

»Los, komm mit, wir gehen nach vorne. Hab Bock, ein paar Nazis zu boxen. Dieser Worch ist auch da«, schrie Benny mich an und schnappte meine Hand, während er bereits nach vorne stürmte.

Die Lage war etwas unübersichtlich, und ich erinnere mich nur noch vage an die nächsten Minuten. Wir stürmten gemeinsam Richtung Polizeiabsperrung, Daniel hatten wir längst verloren, während ich noch fragte »Christian Worch?«. Der Name Christian Worch war mir nicht neu. Beim vorherigen Stöbern war ich über ihn gestolpert, den Hamburger Neonazi, der mit seinem Kumpan »Steiner« – eigentlich Thomas Wulff – Pläne verfolgte, regionale Kameradschaften in größere Bündnisse zu verwandeln. Und die freien Kameradschaften, gegen die ich hier auf die Straße ging, sollten mich ebenfalls noch eine Weile verfolgen.

Benny hörte mich nicht mehr, denn er war schon voll in seinem Element und auf Krawall gebürstet. Während wir mit einigen anderen – es hätten 80 oder 800 Menschen gewesen sein können, meine Erinnerung verwischt alles nur noch – am rot-weißen Polizeigitter standen, rief ich immer selbstbewusster mit: »Gebt den Nazis die Straße zurück – Stein für Stein!« Als der Frust größer wurde, sodass es durch die stabile Absperrung, die von grün gepanzerten Polizeieinheiten geschützt wurde, kein Durchkommen gab, richteten sich die Parolen auch gegen eben jene: »Deutsche Polizisten schützen die Faschisten.«

Die Lage wurde hektisch, Benny und ich standen ganz vorne, brüllten immer lauter, bis Benny plötzlich meine Schulter packte, eine Hand am Polizeigitter, und schrie: »Ich springe jetzt da rüber.« Noch während er das sagte, setzte er an und wollte sich über das Gitter schwingen. Erwartungsgemäß ging die Aktion nach hinten los, und drei Polizisten, die auf unserer Seite postiert waren, fanden das überhaupt nicht lustig. Mit Tränengas wehrten sie Bennys Sprung ab, und er ging zu Boden. Ich war so erschrocken und sauer in der Situation, dass ich laut geschrien habe. Hustend, weil auch ich offensichtlich etwas abbekommen hatte, versuchte ich die Lage zu kapieren und wurde der Polizei gegenüber ausfallend. Es war kein Tränengas, das als Reaktion auf meine Schreie folgte.

An diesem 1. Mai des Jahres 2002, mit 13 Jahren, bekam ich meinen ersten Polizeiknüppel zu spüren. Einer der Polizisten am Gatter holte aus und schlug mit der Hiebwaffe volle Kanne gegen meine rechte Hüfte. Das hat so gesessen, dass ich vor Schmerz aufschrie, Benny an die Hand nahm und nach weiter hinten zu gelangen versuchte.

»Die haben mich voll getroffen«, ich machte hektisch meine Hose auf, damit ich diese an der Seite etwas runterziehen konnte, um das Ergebnis des Schlagstockhiebs zu begutachten.