Meine geliebte Schwester - Samantha Downing - E-Book

Meine geliebte Schwester E-Book

Samantha Downing

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Beschreibung

Schon seit Ewigkeiten hat Beth ihre Geschwister Portia und Eddie nicht mehr gesehen. Auch weil die drei alles andere als eine idyllische Kindheit hatten. Als das Testament ihres Großvaters sie jetzt zu einer gemeinsamen Reise quer durch Amerika nötigt, fügen sie sich daher nur widerwillig. Denn auch die Route weckt böse Erinnerungen: Zwanzig Jahre zuvor verschwand hier unter mysteriösen Umständen Beths geliebte Schwester Nikki. Was damals wirklich geschah, droht nun ans Licht zu kommen – und macht aus dem Familienausflug einen Trip in die Hölle …

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Seitenzahl: 436

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Buch

Sommer 2019: Nach dem Tod des Großvaters finden sich die Geschwister Beth, Portia und Eddie Morgan eher unfreiwillig zu einem Familientreffen ein. Denn damit das Testament vollstreckt werden kann, müssen alle drei zusammen noch einmal exakt den Roadtrip abfahren, den sie vor zwanzig Jahren mit dem Großvater unternommen haben. Eine Reise, an die sich niemand von ihnen gerne erinnert – denn was als Überraschung des Großvaters begann, wurde zu einem Trip des Grauens, von dem unter anderem ihre große Schwester Nikki nicht mehr zurückkehren sollte.

Doch keines der drei zurückgebliebenen Geschwister ist bereit, auf das angekündigte große Erbe zu verzichten, und so machen sie sich trotz gegenseitiger Abneigung erneut auf den Weg einmal quer durch die USA. Immer wieder werden sie dabei durch mysteriöse, zunehmend gefährliche Zwischenfälle aufgehalten – und niemand weiß, wer dahintersteckt. Führt der Großvater sie aus dem Grab heraus an der Nase herum? Hat Nikki damals doch überlebt? Oder spielt einer der Anwesenden mit falschen Karten? Die Nerven liegen blank. Und der Weg zur Wahrheit führt quer durch die Hölle …

Autorin

Samantha Downing wurde in Kalifornien geboren und lebt heute in New Orleans. Schon von klein auf war sie eine begeisterte Leserin. Nach ihrem hochgelobten Debütroman »Meine wunderbare Frau«, der zurzeit verfilmt wird, beschloss sie endgültig, ihre Leidenschaft zum Beruf zu machen. Der internationale Erfolg auch ihres zweiten Romans, »Meine geliebte Schwester«, gibt ihr Recht.

Samantha Downing im Goldmann Verlag:

Meine wunderbare Frau. Thriller

Samantha Downing

Meine

geliebte Schwester

Thriller

Deutsch von Rainer Schmidt

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »He started it« bei Berkley, an imprint of Penguin Random House LLC, New York.

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Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2021

Copyright © der Originalausgabe 2020 by Samantha Downing

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Ann-Catherine Geuder

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Arcangel/Abigail Miles; FinePic®, München

TH · Herstellung: ik

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-23498-0V001

www.goldmann-verlag.de

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ERSTER TEIL

NOCH 14 TAGE

Sie wollen eine Heldin. Eine, mit der Sie mitfiebern, mit der Sie sich identifizieren können. Allerdings darf sie nicht vollkommen sein, denn dann wären Sie unzufrieden mit sich selbst. Eine Heldin mit Mängeln also. Eine, die vielleicht gegen die Regeln verstoßen würde, um ihre Familie zu retten, die aber niemanden umbringt, außer in Notwehr. Die keinen Mord begehen würde, jedenfalls nicht kaltblütig. Das wäre das erste K.-o.-Kriterium.

Das zweite wäre Betrügen. Männer kommen damit durch und sind trotzdem Helden, aber wenn eine Frau betrügt, ist das unverzeihlich.

Was bedeutet, dass ich nicht Ihre Heldin sein kann.

Trotzdem habe ich eine Geschichte zu erzählen.

In einem Auto fängt sie an. Genauer gesagt, in einem SUV. Wir sitzen in der Reihenfolge unseres Rangs, der Älteste auf dem Fahrersitz. Das ist Eddie. Seine Frau sitzt neben ihm, aber zu ihr komme ich noch.

Die mittlere Reihe ist für das mittlere Kind, und das bin ich. Beth. Nicht Elizabeth, sondern einfach Beth. Ich bin zwei Jahre jünger als Eddie, und das lässt er mich nie vergessen. Ich sehe okay aus, aber nicht so jung oder so schlank wie früher. Mein Mann sitzt neben mir. Auch zu ihm komme ich später, denn unsere Ehepartner sollten nicht da sein.

Eine Reihe ist noch übrig, die hintere, und da sitzt Portia. Das Überraschungsbaby. Sie ist sechs Jahre jünger als ich, und manchmal kommt es mir vor, als wären es hundert. Ohne Ehemann oder Freund hat sie die ganze Bank für sich.

Ganz hinten sind unsere Koffer, ordentlich nebeneinander in einer Reihe, weil sie nur so hineinpassen. Das habe ich Eddie gleich beim ersten Mal gesagt. Reise- und Computertaschen kommen oben auf die Rollkoffer. Man muss keine Flugbegleiterin sein, um das zu sehen.

Unter dem Gepäck ist noch ein Abteil. Auf der einen Seite liegt das Reserverad, auf der anderen steht ein verschlossener Holzkasten mit Messingbeschlägen. Diese spezielle kleine Kiste an ihrem speziellen Platz ganz für sich und ohne irgendetwas anderes ist für unseren Großvater. Er ist eingeäschert worden.

Wir sprechen nicht über ihn. Eigentlich sprechen wir überhaupt nicht. Die Sonne scheint durch die Fenster auf mein Bein und brennt dort. Die Klimaanlage trocknet meine Augen aus. Die Musik, die Eddie spielt, ist jazzig und ohne Worte.

Ich werfe einen Blick nach hinten zu Portia. Sie hat die Augen geschlossen und ihre Kopfhörer aufgesetzt. Wahrscheinlich hört sie Musik, die weder jazzig noch ohne Worte ist. Ihr langes schwarzes Haar fällt ihr schräg ins Gesicht und bedeckt ihr eines Auge. Es ist gefärbt, ihr Haar. Wir haben alle helle Haut, und wir sind alle mit blonden Haaren und entweder blauen oder grünen Augen geboren. Mein Haar ist jetzt noch heller, weil ich mir Highlights machen lasse. Eddies ist dunkler, weil er es nicht tut. Portias Haar ist jetzt seit einiger Zeit schwarz. Es passt zu ihren Nägeln. Aber sie ist kein Goth. Inzwischen nicht mehr.

Die Musik wechselt unvermittelt. Ich habe nicht mal gesehen, dass Krista sich bewegt hat. Das ist Eddies Frau. Krista mit olivfarbener Haut, dunklem Haar und braunen, goldgefleckten Augen. Krista, die er vier Monate nach ihrem ersten Treffen gleich geheiratet hat. Sie war Empfangsdame in seinem Büro.

Popmusik plärrt aus den Lautsprechern, ein fünf Jahre alter Dance Song. Der damals schon schlecht war.

»Dieser Jazz schläfert mich ein«, sagt Krista.

Mein Mann blickt von seinem Laptop auf. Er hat wahrscheinlich gar nicht gemerkt, dass die Musik sich geändert hat, aber Kristas Stimme hat er gehört.

Vielleicht ist sie die Heldin.

»Schon gut«, sagt Eddie, und ich höre das Lächeln auf seinem Gesicht.

Ich starre weiter aus dem Fenster. Atlanta haben wir längst hinter uns. Wir sind nicht mal mehr in Georgia. Wir sind im Nordteil von Alabama, hinter Birmingham, wo die Bevölkerung spärlich und skeptisch ist. Wenn wir uns beeilen würden, wären wir inzwischen schon weiter. Aber Beeilung ist nicht Teil der Gleichung.

»Essen?«

Portias Stimme klingt schlaftrunken nach ihrem Nickerchen. Sie richtet sich auf, zieht den Kopfhörer herunter und macht große Augen wie ein Kind.

Das Baby der Familie – diese Masche setzt sie schon ewig ein.

»Wollt ihr anhalten?« Eddie dreht die Musik leiser.

»Lasst uns Halt machen«, sagt Krista.

Mein Mann zuckt die Achseln.

»Ja«, sagt Portia.

Eddie sieht mich im Rückspiegel an, als hätte ich in dieser Angelegenheit etwas zu sagen. Ich bin bereits überstimmt.

»Super«, sage ich. »Essen ist super.«

Wir halten vor einem Lokal namens Roundabout, und es sieht genauso aus, wie Sie es sich vorstellen. Rustikal auf die unechte Art, mit Lasso und Ziege auf dem Schild, aber auf natürliche Weise gealtert. Authentisch, aber dann doch nicht, wie die meisten von uns.

Wir steigen aus, und Portia ist die Erste an der Tür, dicht gefolgt von Krista. Eddie ist derjenige, der am längsten braucht. Er steht am Wagen und starrt das Heck an. Zögert.

Es ist unser Großvater. Dies ist unser erster Halt auf dieser Reise, was bedeutet, dass wir ihn zum ersten Mal allein lassen müssen.

»Alles okay?«, sage ich und berühre Eddies Arm.

Er sieht mich nicht an, wendet den Blick nicht vom Heck des Wagens, denn Grandpas Asche bedeutet uns alles. Nicht aus emotionalen Gründen.

»Willst du draußen bleiben? Ich kann dir einen Doggybag bringen.« Meine Stimme trieft vor Sarkasmus.

Eddie dreht sich um und sieht mich mit großen Augen an. Oh, dieser Schock. Als hätte ich ihm gerade gesagt, ich wollte meinen langjährigen Partner für jemanden verlassen, den ich erst vor zwei Monaten kennengelernt habe.

Hey, Moment, das hat er ja getan! Eddie hat die Freundin, mit der er zusammengelebt hat, wegen der Rezeptionistin verlassen.

»Alles bestens«, sagt er. »Du brauchst nicht so biestig zu sein.«

Ja. Ich bin die Schurkin.

Im Roundabout sitzen wir alle in einer halbrunden Nische. Sie ist doppelt so groß, wie sie sein müsste, und die Sitze sind mit weinrotem Kunstleder bezogen. Krista und Portia sind in die Mitte der Nische gerutscht und haben Felix auf der einen Seite sitzen lassen. Das ist mein Mann, Felix, der Blasse mit dem kräftigen Kinn, den weißblonden Haaren und den dazu passenden Augenbrauen und Wimpern. In einem bestimmten Licht verschwindet er.

»Nein«, sagt Portia, »es gibt nichts Veganes.«

Sie ist keine Veganerin, aber sie sieht trotzdem nach. Sie achtet auch immer darauf, dass ein Lokal rollstuhlgerecht ist, und geht ansonsten nicht rein, denn Fairness ist ihr wichtig.

»Sollen wir gehen?«, frage ich.

Niemand antwortet. Ich setze mich.

Die Burger sind vom Holzkohlengrill, die Pommes frites sind knusprig, der Bacon fett. Ein ordentliches Angebot, wenn Sie mich fragen. Das Einzige, was mir fehlt, ist ein anständiger Kaffee, aber ich trinke die bittere Version, ohne mich zu beklagen. Ich will kein Spielverderber sein.

»Wir sollten vielleicht etwas klären«, sagt Eddie, und er sieht dabei aus wie unser Vater. »Wir werden eine ganze Weile unterwegs sein. Eine Menge Benzin, Essen und Motelzimmer. Ich schlage vor, wir wechseln uns mit den Ausgaben ab. Vor allem lasst uns nicht darüber streiten. Das Letzte, was wir brauchen, ist irgendwelches Gezänk wegen einer Benzinrechnung.«

Bevor ich etwas erwidern kann, tut es mein Mann.

»Leuchtet ein«, sagt Felix. »Beth und ich werden unseren fairen Anteil übernehmen.«

Nur ein Ehepartner kann einen so verraten. Oder ein Geschwister.

Damit bleibt Portia. Angesichts dessen, dass sie eigentlich keinen Beruf hat, ist die Abmachung nicht fair.

Oh, diese Ironie.

Sie gähnt. Nickt. In der Portia-Sprache bedeutet das, sie ist vorläufig einverstanden, behält sich aber das Recht vor, später nicht mehr einverstanden zu sein.

»Super«, sagt Eddie. »Das hier übernehme ich.«

Er geht mit der Rechnung zur Kasse, denn so ist das hier üblich. Felix verschwindet auf die Toilette, und Portia geht hinaus, um zu telefonieren. Krista und ich bleiben allein zurück und trinken den letzten Schluck von unserem lauwarmen Kaffee.

»Ich weiß, das muss für euch alle schrecklich sein«, sagt sie und legt ihre Hand auf meine. »Aber ich hoffe, wir werden trotzdem unseren Spaß miteinander haben. Bestimmt hätte euer Großvater das gewollt.«

Es ist wirklich nett, dass Krista das sagt, wenn auch ein bisschen allgemein. Angesichts der Umstände erwarte ich nicht weniger und nicht mehr.

Trotzdem. Wenn alles auseinanderfällt und wir anfangen, uns gegenseitig umzubringen, geht sie als Erste.

Sie glauben, das sage ich, um zu schockieren. Falsch.

Nein, ich bin keine Psychopathin. Auch wenn das immer eine praktische Ausrede ist. Jemand zu sein, der keine Empathie besitzt und menschliche Gefühle spielen muss. Warum tut jemand Böses? Achselzucken. Wer weiß? Da haben Sie einen Psychopathen. Oder sagt man dazu Soziopath? Sie wissen, was ich meine.

Dies ist keine solche Geschichte. Hier geht es um Familie. Ich liebe meine Geschwister, alle. Wirklich. Ich hasse sie auch. So geht das – lieben, hassen, lieben, hassen, hin und her, wie eine Kinderwippe.

So ist das mit der Familie. Was immer sie sagen, sie ist keine geschlossene Einheit mit einem gemeinsamen Ziel. Was sie uns nie sagen, ist, dass in den meisten Fällen jedes Mitglied der Familie seine eigene Agenda verfolgt. Zumindest weiß ich, dass ich es tue.

ALABAMA

Staatsmotto: Wir haben den Mut, unsere Rechte zu verteidigen

Wir haben diesen Trip schon einmal gemacht. Vor zwanzig Jahren war es Grandpas Reise für uns, die Enkelkinder, und zwar, weil unsere Eltern sich nicht vertrugen. Viel Geschrei, lautes Türenschlagen und zu viele stumme Mahlzeiten. Dad schlief auf der Couch, tat aber so, als wäre es anders, und Mom tat so, als wäre sie nicht wütend. Das fiel ihr nicht leicht, wenn man bedachte, dass sie ständig Schränke zuschlug, Türen und was ihr sonst noch in die Quere kam.

Eddie und ich waren uns altersmäßig am nächsten, und wir sprachen viel darüber und machten uns auf die unausweichliche Scheidung gefasst. Wir überlegten uns sogar ein Datum dafür: Silvester. Eddie notierte es auf seinem »Nine Inch Nails«-Kalender und machte ein dickes X an den 31. Dezember. Im nächsten Jahr, wetteten wir, würden unsere Eltern nicht mehr zusammen sein.

Das war im Sommer, als die Streitereien die heißen Tage noch länger erscheinen ließen. Damals wohnten wir alle in Atlanta, Grandpa eingeschlossen. Er tauchte im August an unserer Haustür auf, und er war allein. Grandma war sechs Monate zuvor gestorben.

Grandpa sammelte uns alle auf, setzte uns auf die Couch und sagte: »Eure Eltern brauchen ein bisschen Zeit für sich. Sie müssen Erwachsenenzeug klären.«

»Lassen sie sich scheiden?«, fragte Eddie.

»Nein. Sie müssen nur allein sein, und deshalb gehen wir auf Abenteuer.«

»Was für Abenteuer?«, fragte ich.

»Ganz unglaubliche.« Grandpa sprach mit kräftiger und lauter Stimme und gab sich große Mühe, uns zu überzeugen.

Ich war zu allem bereit, solange ich nicht einen Tag länger zu Hause bleiben musste. Der Sommer war lang, heiß und elend gewesen. Als Grandpa sagte, ein Abenteuer werde die Sache mit unseren Eltern besser machen, konnte ich nicht schnell genug zur Tür hinauskommen.

Grandpa fuhr einen Minivan. Immer schon, so weit ich zurückdenken konnte, und er hatte die gleiche grau-grünliche Farbe wie jeder andere Minivan. Ich hatte viele Freunde, deren Eltern so einen besaßen, und ich hatte schon eine Million Mal dringesessen. Der Vorteil war, dass wir reichlich Platz hatten, um uns zu bewegen, wenn wir wollten. Es gab genug Sitze für mindestens sechs Leute; also kletterten wir alle hinein und fuhren los.

Erster Halt: Tuscumbia, Alabama. Nördlich von allem, fast schon in Tennessee. 1880 wurde Helen Keller in einem Haus namens Ivy Green geboren, und das ist jetzt eine Touristensehenswürdigkeit. Dahin brachte Grandpa uns als Erstes.

Das Haus selbst ist nicht groß. Es ist ein einfaches weißes, eingeschossiges Gebäude. Wir machten die Führung mit und erfuhren alles über Helens stille, dunkle Welt und wie Anne Sullivan sie rettete. Der Original-Pumpenbrunnen ist noch da, wo Helen das Wort »Wasser« lernte und den langen Aufstieg aus dem Abgrund begann.

Wir spazierten auf dem Gelände um das Haus herum, und Grandpa redete und redete über Helen Keller und wie erstaunlich sie war. Ich weiß nicht mehr, ob ich wusste, wer sie war, bevor wir dort hinfuhren. Mir ist, als sollte ich es gewusst haben, aber vielleicht ist das auch nur Wunschdenken.

Außerdem erinnere ich mich, wie wir fertig waren und zum Wagen zurückgingen. Eddie lief oben auf einer niedrigen Ziegelmauer neben der Straße entlang. Portia rannte auf dem Gehweg hin und her und versuchte herauszufinden, welche Blume am besten roch. Ich lief ihr nach und äußerte meine Meinung zu jeder einzelnen. Sie fragte mich nicht.

Grandpa blieb stehen und sah jeden Einzelnen von uns an. Er schüttelte den Kopf. »Ein Glück, dass ihr alle eure Sinne habt.«

»Aber du hast gehört, was die Führerin gesagt hat. Sie ist taub und blind geworden, nachdem sie krank war. Diese Krankheit können wir nicht mehr kriegen.«

»Ja«, sagte Eddie. »Die ist jetzt heilbar.«

Grandpa schüttelte wieder den Kopf, als sei er enttäuscht von unserer Reaktion. »Wirklich ein Glück«, sagte er noch mal. »Vielleicht probieren wir das mal aus. Ich binde euch Augen und Ohren zu, und dann sehen wir, wie ihr zurechtkommt.«

Ich lachte, weil er so albern war. Wir waren es alle, denn wir waren auf einer großen Abenteuerreise durch das Land. Unser Ziel, sagte Grandpa, war Kalifornien, und dort würden wir zum ersten Mal den Pazifischen Ozean sehen.

Heute besuchen wir dasselbe Haus, aber diesmal kennen wir die Geschichte schon. Wir alle haben den Film Licht im Dunkel gesehen, und in der Schule haben wir alle über Helen Keller gelesen. Überraschend ist nur, wie klein das Häuschen ist, in dem Helen Keller gewohnt hat. Früher kam es mir viel größer vor.

Als wir gehen, klatscht Felix in die Hände. »Was für ein erstaunliches Stück Geschichte.«

»Nicht wahr?«, sagt Krista. »Ich liebe erhebende Geschichten. Ich wünschte, es gäbe einen Kabelsender, der nur inspirierende Filme senden würde.«

»Es gibt doch schon religiöse Sender«, sagt Portia. Der Sarkasmus ist beabsichtigt.

»Ach, nicht so was. So was wie Helen Keller«, sagt Krista.

»Du meinst, einen Sender über Kinder, die körperliche Behinderungen überwinden?«

Krista gibt auf und entfernt sich von Portia. Sie merkt, dass die sich über sie lustig macht.

Wir steigen alle wieder ein, um weiterzufahren, und niemand sagt noch etwas über Helen Keller. Die Fahrt geht weiter auf einer leeren Straße, weder nach Norden noch nach Süden. Irgendwann, als es dunkel ist, hält Eddie an einem Motel namens Stardust.

»Was meint ihr?«, fragt er.

Es sieht aus wie eine Flohbude mit WiFi und Kabel. Perfekt.

»Es ist doch noch so früh«, sagt Portia mit dem nöligen Unterton einer Fünfjährigen. »Ich kann fahren, wenn du müde bist.«

»Ich werde dran denken«, sagt Eddie. Er fährt bis zur Rezeption und springt aus dem Wagen.

Es ist kein Wunder, dass Eddie darauf besteht, zu fahren und unsere Motelzimmer auszusuchen. So ist er. So war er immer. Krista macht das anscheinend nichts aus. Sie sitzt vorn, lächelt und wippt mit dem Kopf im Takt der Musik. Hinten verdreht Portia die Augen und legt sich hin.

Ich seufze, hole mein Telefon heraus und scrolle durch meinen Instagram-Account, um zu checken, was zu Hause alle so machen. Was er macht.

Heute übernachtet Portia bei Eddie und Krista. Wir haben vereinbart, uns abzuwechseln, um Geld für Motelübernachtungen zu sparen. So hat jedes Paar ein bisschen Zeit für sich. Portia bekommt keine Nacht für sich, denn sie ist single, und deshalb ist sie sowieso immer allein. Das sagt Krista. Ich glaube, sie will es Portia heimzahlen, dass sie sich beim Helen-Keller-Haus über sie lustig gemacht hat.

Sowie Felix und ich in unserem Zimmer sind, behandeln wir Bettwäsche, Handtücher und sämtliche Möbeloberflächen mit schnelltrocknendem Desinfektionsmittel und antibakteriellem Spray. Sogar die Kleiderbügel. Es gibt zwei.

Nicht, dass wir unter Bazillenphobie leiden, aber wer täte so etwas nicht in einem Motel an der Landstraße? Das ist, als ob man den Klapptisch im Flugzeug nicht mit einem Hygienetuch abwischen wollte.

Als wir fertig sind, lasse ich mich auf das eine Bett fallen.

»Ich will erst duschen«, sagt Felix.

»Okay.«

Ich sehe ihm nach, als er ins Bad geht, und nicht zum ersten Mal frage ich mich, ob unsere Kinder sein weißblondes Haar erben werden. Wir sind seit sechs Jahren verheiratet, zusammen seit fast neun, und ich frage mich immer noch, wie unsere Kinder aussehen würden. Schwanger bin ich auch nicht.

Wir haben uns im letzten Jahr auf dem College kennengelernt. Am Berufsinformationstag. Er stand bei Global Com Inc. in der Schlange, ich bei Williams Kane Ltd. Beides waren internationale Konzerne mit Jobs für jedes denkbare Collegefach. Felix und ich standen beim Warten irgendwann nebeneinander. Es wäre unhöflich gewesen, einander zu ignorieren, und so tauschten wir Empfehlungen aus, wo man sich bewerben und wo man sich besser fernhalten sollte. Das normalste Gespräch der Welt. In diesem Augenblick meines Lebens war »normal« das, was ich brauchte.

Irgendwann sagte er: »Wir haben Glück, dass wir in unserer Zeit geboren sind.«

»Wieso?«

»Wir brauchen nicht mehr ewig bei derselben Firma zu bleiben. Fünf Jahre maximal. Und wenn es wirklich schrecklich wird, ist es völlig akzeptabel, nach zwei Jahren zu gehen. Wenn du vorher schon kündigst …« Felix zuckte die Achseln, als wollte er sagen: Dann bist du im Arsch. Wenn du weniger als zwei Jahre in einem Job aushältst, könnte das bedeuten, du bist unzuverlässig. Oder schwierig.

»Stimmt«, sagte ich. »Wir haben Glück.«

Keiner von uns fand an diesem Tag einen Job. Stattdessen landeten wir schließlich beide im größten Konzern von allen, bei International United, aber natürlich in verschiedenen Abteilungen. Kein Unternehmen lässt Ehepaare zusammenarbeiten. Nicht, wenn sie im Geschäft bleiben wollen.

Felix kommt aus dem Badezimmer. Er hat sich schon abgetrocknet und trägt Boxershorts und ein »Miami Dolphins«-T-Shirt. Wir sind beide nicht gerade versessen auf Football, aber wir hassen ihn auch nicht.

»Du bist dran«, sagt er.

Es ist nur noch wenig heißes Wasser da, wenn es überhaupt welches gegeben hat. Als ich aus dem Bad komme, liegt Felix auf dem einen Bett und streckt alle viere von sich. Es ist nicht das, auf dem ich gelegen habe.

»Mir tun die Beine weh, nachdem ich den ganzen Tag im Auto gesessen habe«, sagt er. »Hast du was dagegen, wenn wir jeder ein Bett nehmen?«

»Ist mir recht. Sie sind ja auch schmal.«

»Ja, verglichen mit unserem.«

Ich setze mich auf mein Bett und rufe den Wecker in meinem Telefon auf. »Wollen wir morgen früh walken gehen?«

»Auf jeden Fall.«

Ich stelle den Wecker auf sieben.

»Wie fühlst du dich?«, fragt Felix.

»Gut.«

»Ich meine, mit Eddie und Portia. Wir haben sie eine ganze Weile nicht gesehen.«

Das stimmt. Wir wohnen nicht in derselben Gegend. Eddie und Krista wohnen auf Dauphin Island, Alabama, nicht weit südlich von Mobile – von uns aus gesehen auf der anderen Seite des Staates. Felix und ich wohnen in Woodview, Florida, und Portia ist in New Orleans zur Schule gegangen und wohnt dort immer noch. Keiner von uns wohnt in Atlanta, aber da sind wir aufgewachsen. Da hat unsere letzte Reise angefangen.

Für die Geschwister Morgan ist die Vereinzelung die beste Form des Zusammenseins.

Dass wir zuletzt alle zusammen waren, ist ein paar Jahre her. Damals hatte Portia gerade ihren Collegeabschluss gemacht. Zwei Tage in derselben Stadt, und ungefähr acht Stunden haben wir zusammen verbracht, die ganze Zeit wie im Rausch. Portia bestand darauf, dass wir Cocktails ausprobierten – Hurricanes, Mint Juleps und Pimm’s Cup. Jeder für sich gefährlich, alle zusammen tödlich.

Grandpa war nicht da. Seit Jahren hatte ihn keiner von uns mehr gesehen.

Eddie war damals noch mit Tracy zusammen, mit der Freundin, mit der er die Wohnung teilte. Krista hatte er noch nicht kennengelernt. Ich mochte Tracy; sie war gescheiter als mein Bruder und sagte ihm das auch oft. Er schien das gut zu finden.

Ich erinnere mich, dass wir in einer Bar in Uptown New Orleans in der Nähe der Tulane University waren, am Abend vor dem Examen. Es war höllisch heiß, und ich trug ein Tanktop und einen bunten Rock. Tracy hatte ein schickes Sommerkleid an, das ihre Arme zur Schau stellte. Sie wirkten lächerlich trainiert.

»Dein Bruder, weißt du«, sagte sie. Ihre Zunge war ein bisschen schwer, aber sie lallte nicht. »Er kann ein Arschloch sein, aber er ist ein liebenswertes Arschloch, weißt du?«

Ich weiß. Sie kennen solche Typen, Sie sind ihnen schon begegnet. Diese Typen, die damit durchkommen, im Unterricht eine große Klappe zu haben, und denen es gelingt, die Lehrer zu einer Nachprüfung zu überreden. Alle möchten in ihrer Nähe sein, selbst wenn sie Mist bauen. Vor allem, wenn sie Mist bauen.

So einer ist Eddie.

Ich hatte nie Gelegenheit, Tracy zu fragen, was sie von der Frau hielt, mit der Eddie direkt nach dem College zusammen war. Ich wette, die Frau würde ihn nicht liebenswert nennen. Sie sagte, Eddie habe sie geschlagen, sie zeigte ihn sogar an, aber dabei ist nichts herausgekommen. Eddie behauptete, sie sei verrückt und er habe sie niemals geschlagen, nicht in einer Million Jahren.

Ich glaubte ihm. Ich glaubte ihr. Hin und her, hin und her, ganz wie die Kinderwippe. Ich weiß immer noch nicht, wer recht hat. Ob er ein liebenswertes Arschloch ist oder bloß ein Arschloch.

Das geht mir durch den Kopf, als ich im Stardust im Bett liege und Felix mich fragt, wie es mir geht. Ich bemühe mich, das Gleichgewicht zu halten.

»Alles okay«, sage ich. »Mir geht’s gut.«

»Das freut mich. Gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Ich warte, bis er langsamer atmet. Das dauert nicht lange. Felix war immer schon in der Lage, sofort einzuschlafen, ganz gleich, wo er ist.

Ich stehe auf, ziehe mich an und verlasse das Zimmer.

Draußen sehe ich mich um und suche nach irgendeiner Aktivität, irgendeiner Form von Leben. Es ist noch nicht mal halb elf, und ich weiß, Portia liegt nicht im Bett und hört zu, wie Eddie und Krista atmen. Es gibt nur zwei Optionen: das Imbisslokal auf der anderen Straßenseite und den Schnapsladen hinter dem Motel. Zu dem gehe ich zuerst.

Der Parkplatz ist so leer, dass man Schritte hören kann, und ich glaube, ich höre jemanden hinter mir. Zweimal bleibe ich stehen und lausche, und einmal lasse ich mich sogar auf die Knie sinken, um nachzusehen, ob auf der anderen Seite des kaputten Lastwagens Füße unterwegs sind. Der Platz ist so leer, so still, dass ich überzeugt bin, hier muss noch jemand sein.

Ich sehe aber niemanden, bis ich am Getränkeladen angekommen bin. Dort ist der Parkplatz voll, und überall sind lebende, atmende Menschen. Dan’s Drip-Drop Liquors kommt im Umkreis von mindestens ein, zwei Meilen einer richtigen Bar am nächsten.

Portia ist drin und wartet an der Kasse. Sie ist eine von zwei Frauen, die ich sehe; die andere sitzt auf dem Beifahrersitz eines Autos und raucht eine Zigarette. Das Drip-Drop hat heute Abend Hochbetrieb.

Portia sieht mich erst, als ich bei ihr bin. »Hol genug für zwei«, sage ich.

Lächelnd hält sie ein Sixpack Coke und eine Flasche Rum hoch. Ich nicke. Auf der Theke steht ein Stapel Plastikbecher; der Preis – fünf Cent das Stück – steht handschriftlich in rotem Filzstift auf der Rückseite eines Lotterieloses. Wir nehmen zwei Becher und bezahlen sie.

»Lass uns zum Auto gehen«, sagt Portia. »Ich habe Eddies Schlüssel.«

Sie hat nie genug Anerkennung für ihre Cleverness bekommen. Vielleicht lagen zu viele Jahre zwischen uns.

Ein paar Augenblicke später sitzen wir auf dem Rücksitz des Wagens, und ich trinke meine erste Cola-Rum seit Jahren. Vielleicht seit dem College. Wir haben kein Eis, aber die Coke ist kalt, und das kommt mir perfekt vor, wenn man bedenkt, wo wir im Moment sind. Umgebung ist alles.

»Das ist echt schräg«, sagt Portia.

»Welchen Teil meinst du?«

»Wusstest du von dem Testament?«, fragt sie.

»Nein. Ich habe davon erfahren, als Grandpas Anwalt es verlesen hat.« Ich schaue in den hinteren Teil des Wagens, wo seine Asche ist.

»Eddie hat sie mit aufs Zimmer genommen«, sagt Portia.

»Oh. Natürlich.«

Wir nehmen beide noch einen großen Schluck. Es geht leichter hinunter, wenn man ein paarmal genippt hat.

»Das trinken wir auf der Arbeit«, sagt sie. »Weil es aussieht wie Cola. Die ganze Service-Mannschaft.«

Lüge.

Portia behauptet, sie sei Kellnerin in einer Bar. Sie ist Stripperin. Das war sie fast die ganze Zeit auf dem College und auch danach. Mag sein, dass ich meine Geschwister nicht sehr oft sehe, aber ich weiß, was sie treiben.

»Du musst doch genug davon haben, dauernd von Betrunkenen umgeben zu sein«, sage ich.

»Ja, das wurde schon vor einer Weile öde. Aber ich verdiene bei keinem anderen einfachen Job das gleiche Geld.«

»Bestimmt nicht.«

»Ich meine, ewig werde ich das nicht mehr machen«, sagt sie und trinkt ihren ersten Becher leer. Nur bis ich ’nen guten Einstieg in einen richtigen Job finde.«

»Mit Grandpas Geld wirst du dein Studentendarlehen abbezahlen können«, sage ich.

Portia nickt. »Gott sei Dank.«

Wir sind die einzigen Erben seines Vermögens. Grandma ist lange vor ihm gestorben, und unsere Eltern spielen keine Rolle.

»Was hast du denn vor?«, frage ich.

Sie zuckt die Achseln, gießt ihren Becher voll und schenkt mir nach. »Ich würde gern was im Gesundheitsbereich machen. Vielleicht als Arzthelferin oder so was. Vielleicht gehe ich auch irgendwann auf die Pflegeschule.«

»Darin wärst du gut.«

Sie lächelt. Es ist gerade so hell, dass ich ihre Augen sehen kann. Klar und blau, genau wie bei Grandpa. Meine sind wie dunkelblaues Wasser, und Eddies sind grün.

»Was glaubst du, wie dieser Trip laufen wird?«, fragt sie.

Komisch, dass sie jetzt danach fragt, wo wir schon unterwegs sind. Es ist die Frage, die wir alle hätten stellen, über die wir hätten nachdenken und diskutieren sollen, bevor wir losgefahren sind.

Wir haben alle gleichzeitig von der Reise erfahren, nämlich in der Telefonkonferenz mit Grandpas Anwalt.

»Kein Begräbnis, keine Trauerandacht. Das legte er ausdrücklich fest«, sagte der Mann mit diesem für Leute aus Georgia typischen tiefen Näseln. Grandpa hat nicht so gesprochen. »Ihr Großvater hat nur um einen kurzen Nachruf in der Lokalzeitung ersucht. Den Text hat er bereits verfasst.«

Merkwürdig, wie stumm wir alle waren. Wir starrten einander durch das Telefon an, als ginge es darum, wer zuerst wegschaut.

»Ihr Großvater hat darum gebeten, eingeäschert zu werden. Den nächsten Teil werde ich so vorlesen, wie er ihn formuliert hat«, sagte der Anwalt. Papier raschelte. Es war ein seltsames Geräusch – als habe Grandpa den einzigen Anwalt der Welt gefunden, der keinen Computer benutzte. ›Macht die Autoreise. Verstreut am Ende meine Asche. Wenn ich an meiner letzten Ruhestätte angekommen bin, wird mein Vermögen zu gleichen Teilen an euch vererbt werden.‹ Für einen Mietwagen ist auch gesorgt. Noch Fragen?«

Die Autoreise. Nicht eine Autoreise. Es hatte nur diese eine gegeben.

Nein, wir hatten keine Fragen.

»Was den Nachlass angeht: Das Vermögen Ihres Großvaters besteht aus seinem Haus, einem Auto, einem Pensionsfond und einem Investmentkonto. Alles soll zu gleichen Teilen zwischen Ihnen aufgeteilt werden.« Der Anwalt machte eine Pause. »Während das Haus, das Auto und das Mobiliar noch taxiert werden müssen, beläuft sich das Barvermögen insgesamt auf drei Millionen vierhundertdreiundfünfzigtausend Dollar. Ungefähr. Wenn seine sterblichen Überreste an ihrem Bestimmungsort angekommen sind, werden wir auch den Gesamtumfang ermittelt haben.«

Die Summe war atemberaubend, zumindest für mich, und dabei war es nur das Bargeld.

»Es gibt ein paar abschließende Bedingungen für die Übergabe Ihres Erbes«, sagte der Anwalt. »Ihr Großvater hat verfügt, dass jeder, der ins Gefängnis kommt oder die Reise nicht vollendet oder auf irgendeine Weise von der Originalroute abweicht, nichts bekommt.«

So muss es sein. Erst die Reise, dann das Geld. Grandpa hat nicht mal dafür gearbeitet. Er hat es von Grandmas Schwester geerbt, die keine eigenen Kinder hatte, und seitdem alles für sich behalten.

Als das Gespräch zu Ende war, schickte Eddie eine E-Mail an Portia und mich und fragte, wie wir es organisieren würden. Was Grandpa gesagt hatte und ob wir es tun würden, stellte er nicht infrage. Das tat niemand.

Wir hatten das Geld verdient. Die Bezahlung stand schon lange aus.

Vor zwanzig Jahren machten wir die Reise zum ersten Mal. Grandpa wollte uns die Welt zeigen und fing mit so vielen Staaten wie möglich an. Stattdessen wurde daraus eins der Dinge, die wir nicht erwähnen, über die wir nicht reden. Aber es bleibt in unseren Köpfen und schwimmt da herum, wo wir es leugnen, nicht glauben, uns sogar darüber hinwegtäuschen.

Wie also, glaube ich, wird diese zweite Tour verlaufen? Es wird eine im Leben einmalige Reise sein. Und wenn sie vorbei ist, wird alles anders sein. Genau wie beim ersten Mal.

»Es wird gut gehen«, sage ich zu Portia. »Es wird alles gut gehen.«

Sie verdreht die Augen. Ich streite nicht mit ihr.

Ich erzähle ihr auch nicht von dem Tagebuch. Niemand weiß, dass ich es habe. Das Papier ist vergilbt, die Sticker auf dem Umschlag sind verblasst, aber der hochtrabende Titel ist noch lesbar.

Deine Gefühle: Ein Leitfaden

Nachdenkliche Fragen für nachdenkliche Mädchen

12. August 1999

Welche drei Frauen bewunderst du am meisten?

Erstens: Ich hatte nie vor, dieses Journal für irgendetwas zu benutzen. Es war ein Geburtstagsgeschenk, ein ziemlich lahmes, und es hat bis heute unter meinem Bett gelegen. Ich habe es gesehen, als ich meinen Koffer für den Trip herausgezogen habe. Für den Fall, dass mir langweilig wird, habe ich es mitgenommen, und da ist es nun.

Zweitens, ich bewundere niemanden. Es ist eine Fangfrage, denn im Grunde würde ich ja sagen: »Ich bin nicht wie diese drei Frauen, ich werde nie sein wie diese drei Frauen, aber ich bewundere sie mehr als mich selbst.«

Das ist verkorkst, wenn Sie mich fragen. Als hätten Mädchen nicht schon genug Probleme mit ihrem Selbstwertgefühl.

Andererseits wäre mein Therapeut wahrscheinlich irre stolz auf mich, weil ich eine so ungesunde Frage durchschaue. Ich werde ihm davon erzählen, wenn wir wieder da sind. Dr. Lang ist kein richtiger Doktor, er ist nur ein Therapeut, aber ich nenne ihn Dr. Lang, um ihn daran zu erinnern, was er nicht ist.

Unsere Sitzungen sind wie diese Kreiseldinger auf dem Kinderspielplatz – die Stahlscheiben mit den Stangen. Wieso sehen Erwachsene nicht, wie dumm und gefährlich diese Dinger sind?

Das Gleiche gilt für meine Therapiesitzungen.

NOCH 13 TAGE

Felix weiß nicht viel über die erste Tour. Er weiß, sie hat stattgefunden, aber das war’s praktisch auch schon. Ich weiß, es ist schrecklich von mir, meinem Mann etwas so Wichtiges zu verheimlichen, aber ich stehe zu meiner Entscheidung, auch jetzt noch. Paare, die glauben, sie müssten einander jede Kleinigkeit erzählen, die sie tun oder getan haben, sind zum Scheitern verurteilt. Alle diese Details türmen sich zu einem Riesenhaufen Mist auf, und damit kann man nicht verheiratet bleiben.

Aber ich sehe mich außerstande, mit ihm walken zu gehen, daher erzähle ich ihm, dass es am Abend zuvor spät geworden ist mit Portia.

»Freut mich für dich«, sagt er. »Schön, dass du ein bisschen Zeit mit deiner Schwester verbringen konntest.«

Ich möchte ihn schlagen. Wahrscheinlich liegt es am Kater.

Noch als ich zum Frühstück in das Imbisslokal komme, sickert mir der Rum aus den Poren. Portia ist jung, deshalb sieht sie auch ungeschminkt gut aus. Sie hat ihr Haar oben auf dem Kopf zu einem Knoten gebunden. Wenn ich das nur sehe, tut mein eigener Kopf gleich doppelt so weh.

»Ihr seid gestern Abend noch ausgegangen?«, fragt Eddie. Er wirkt wie aus dem Ei gepellt, obwohl er T-Shirt und Khaki-Hose trägt.

Krista sitzt neben ihm und zieht einen Schmollmund. Ich wette, ihr war nicht klar, in was für Motels wir absteigen würden.

»Wir sind nicht ausgegangen«, sage ich. »Wir haben nur was getrunken.«

»Ja. Wir sind nirgendwo hingegangen«, bekräftigt Portia.

Eddie runzelt die Stirn, als wollte er etwas Väterliches sagen. Wir sollten vorsichtig sein. Wir sind nicht hier, um Partys zu feiern. Wir sollten nicht allein in einer fremden Stadt trinken gehen.

Aber das sagt er nicht. Stattdessen lächelt er. Es lässt seine Augen leuchten und seine Grübchen hervortreten. Im Handumdrehen verwandelt Eddie sich vom Arschloch zum liebenswerten Arschloch.

»Ihr hättet mich fragen sollen, ob ich mitkomme«, sagt er. »Wir könnten ein bisschen Spaß auf dieser Tour gut gebrauchen.«

Portia nickt. »Du könntest ein bisschen Spaß gebrauchen. Du wirst allmählich ein langweiliger alter Mann.«

»Danke.«

»Wenn nicht ich dir das sage, wer dann?«, fragt Portia.

»Dafür hat man kleine Schwestern«, bestätige ich.

Eddie lächelt immer noch, als er Felix ansieht. »Die rotten sich gegen mich zusammen.«

»Sieht so aus«, sagt Felix.

»Was rätst du?«

»Kopf einziehen, Klappe halten?«

»Klingt gut.«

Sie stoßen die Fäuste zusammen.

Wir kehren ins Motel zurück, um unsere Sachen zu holen. Auf der ersten Reise habe ich aus jedem Motelzimmer einen Aschenbecher mitgenommen. Vor zwanzig Jahren gab es in Motels wie diesem noch Aschenbecher und Streichholzheftchen. Alle Zimmer waren Raucherzimmer. Die Aschenbecher sahen alle gleich aus, als wären sie bei derselben Firma gekauft worden: viereckig, mit Einkerbungen für die Zigarette an jeder Ecke. Und sie waren schwer. Aus Glas, glaube ich. Sie fühlten sich schwer und solide an, und das gefiel mir. Also habe ich sie mitgenommen.

Ich wickelte sie in meine T-Shirts, damit sie nicht klirren konnten. Als ich fünf Stück hatte, merkte Grandpa, wie schwer mein Koffer war.

»Bücher«, erklärte ich.

Er warf mir einen komischen Blick zu, als wäre es merkwürdig, dass ich Bücher hatte.

Ein paar Abende später war mein Koffer noch schwerer. Diesmal packte Grandpa ihn aus. Er wickelte Aschenbecher für Aschenbecher aus. Inzwischen waren es acht. »Aber Beth«, sagte er, »warum?«

Ich zuckte die Achseln. »Weil ich es kann.«

Grandpa überlegte hin und her und meinte dann, wir sollten sie zurückbringen. Das heißt, wenn wir ehrliche Leute wären. Das waren wir, aber so ehrlich nun auch wieder nicht. Das ist fast niemand.

»Behalte einen«, sagte er. »Die anderen geben wir bei der Heilsarmee ab oder so.«

Ich habe zwei behalten. Man soll niemals klein beigeben. Das wusste ich schon mit zwölf.

Heute stehen in Motelzimmern keine Aschenbecher mehr. Da ist überhaupt nichts Massives oder Schweres. In dem Zimmer gibt es nichts als ein paar verschlissene Handtücher und kratzige Bettwäsche. Keine Bibel. Der Fernseher ist festgeschraubt, die Fernbedienung hängt an einem Draht.

Das ist ein unerwarteter Schlag ins Gesicht. Als ich das Motel verlasse, nehme ich nichts mit außer einer Nacht im Rausch. Bevor wir abfahren, werfe ich noch einen Blick zurück zu dem Stardust-Schild und überlege, ob ich ein Foto machen soll. Ich lasse es bleiben, denn ich will mich nicht an dieses Rattenloch erinnern.

Mein Mann ist einer von diesen Videomenschen. Wenn irgendetwas Interessantes passiert, holt Felix sein Smartphone heraus. Er gehört zu denen, die mitten in einer Parade stehen und ein Video von der Parade machen. Er hat uns gefilmt, wie wir unser Gepäck in den SUV geladen haben, wie wir von der Autovermietung in Alabama weggefahren sind, hat das Roundabout gefilmt. Wahrscheinlich auch das Stardust Motel. Ich habe nicht gefragt.

Manche der Videos postet er in den sozialen Medien. Andere sieht er sich noch mal an und löscht sie dann. Mir egal; ich sehe sie mir niemals an. Tut das jemand? Ich wette, nicht. Ich wette, Sie auch nicht, jedenfalls nicht öfter als einmal. Erst wenn jemand stirbt, und dann sieht man sich jede Kleinigkeit, die derjenige getan hat, wieder und wieder an, weil es alles ist, was man hat. Das habe ich auch schon getan.

Eines Tages werden diese Fotos und Videos alles sein, was von jemandem übrig ist. Man sollte sie mit Sorgfalt auswählen.

Aber wenn Felix seine Zeit dazu benutzen will, das Leben aufzuzeichnen, dann ist das seine Entscheidung.

Als wir wieder auf dem Highway sind, ziehe ich auf meiner Seite der Bank die Knie an und lehne mich ans Fenster. Schlafen. Das ist der einzige Ausweg aus einem Kater. Zeit, Schlaf und mir immer wieder zu wünschen, ich wäre so alt wie Portia.

Ich döse mühelos ein und werde von lautem Lachen geweckt. Vor allem höre ich Felix.

»… und dann kriegten sie ein Baby namens Torty«, sagt er.

»Erdbeer-Torty!«, schreit Krista.

»Und dann sind sie in den Weltraum zurückgereist«, sagt Eddie, »um ihre verlorenen Liebsten zu finden.«

»Moment mal«, sagt Portia, »hatte der Igel Sex mit dem Alien?«

»Und mit dem Mutanten!«, ruft Felix.

Das Geschichtenspiel. Das haben wir als Kinder gespielt, im Auto, aber nicht so. Ich stelle mich weiter schlafend und höre mir die sexuellen Großtaten eines Igelmädchens namens Bonnie an. Sie treibt Unzucht im Sinne der Gleichberechtigung, sagt Portia.

Auf der ersten Reise hatten wir eine fortlaufende Geschichte über einen anderen Igel. Sein Name war Chester, und er trieb mit niemandem Unzucht. Nie. Aber er mochte eine junge Igelin namens Paulina, und er schenkte ihr Würmer und Heuschrecken zum Essen. Aber meistens trieb er sich mit seinen Freunden herum, und sie gingen auf Abenteuerreisen wie in einem Computerspiel.

Grandpa liebte diese Geschichten. Er verglich die Abenteuer gerne mit den Comics, die er als Kind gelesen hatte. Ich wusste immer, wann er kicherte, denn dann zitterte er am ganzen Körper. Das konnte ich vom Rücksitz aus sehen.

Ich höre mir die Geschichte von Bonnie an, bis ich es nicht mehr kann, und dann setze ich mich auf.

»Na, wenn das nicht unser Dornröschen ist«, sagt Eddie.

»Unterhaltet ihr euch ernsthaft über Igelsex?«, frage ich.

Krista droht mir mit dem Finger. »Strenggenommen nicht nur über Igelsex. Auch Igel mit anderen Tieren.«

»›Tiere‹ ist eigentlich nicht ganz treffend«, sagt Portia.

Felix sieht mich kopfschüttelnd an. »Eher Wesen?«

»Alienwesen!«

»Mutantenwesen!«

»Sagenwesen!«

»Sogar Götter. Die griechischen. Und die nordischen.«

»Sodomie«, sage ich. »Das ist Sodomie der schlimmsten Sorte.«

»Pass auf!«

Kristas Stimme wird übertönt von Bremsenquietschen, gefolgt von einem Krachen.

Wir sind halb von der zweispurigen Straße abgekommen und stehen jetzt falsch herum.

»Sind alle okay? Sind alle okay?«, fragt Eddie immer wieder, wie vom Tonband.

»Ja«, sagt Felix.

»Ich lebe noch«, sagt Portia.

Mir fehlt auch nichts. Nichts gebrochen. Nur mein Arm tut weh, mit dem ich gegen die Tür geprallt bin. Krista weint. Na ja, sie schnieft. Sie hat einen leuchtend roten Fleck auf der Stirn; offenbar hat sie sich den Kopf gestoßen. Eddie packt sie und schaut sich die Verletzung an.

»Alles okay«, sagt er. »Es blutet nicht.«

Ich sehe es mir auch an, denn bei Kopfverletzungen kann man nie sicher sein, aber er hat recht. Es sieht überhaupt nicht schlimm aus, nicht mal geschwollen.

Felix starrt aus dem Fenster. »Was ist passiert?«

»Ein Truck ist geradewegs auf uns zugekommen«, sagt Eddie. »Hast du ihn nicht gesehen?«

»Sind wir zusammengestoßen?«

Niemand antwortet.

Ich mache meine Tür auf und steige aus. Andere Autos sind nicht da, aber weiter hinten auf der Straße sehe ich einen Pick-up, der wegfährt. »Abgehauen«, sage ich. »Er hat uns einfach hiergelassen.«

»Arschloch«, sagt Eddie.

Felix steigt auch aus und kommt um den Wagen herum. »Wir haben einen Platten«, sagt er.

»Du lieber Gott«, sagt Portia und steigt hinten aus. »Bitte sagt, dass einer von euch das reparieren kann.«

Wir alle starren den platten Hinterreifen an. Er sieht aus, als wäre er in vollem Tempo über einen Stein gefahren, der scharfkantig genug war, um Glas zu schneiden.

Eddie manövriert den Wagen von der Straße, für den Fall, dass jemand vorbeikommt. Unwahrscheinlich. Die Straße ist leer, Maisfelder zu beiden Seiten, Farmhäuser dahinter. Weiter nichts. Man kann nirgends hin, man kann nichts sehen.

»Ich kann das«, sagt Felix.

Eddie steigt aus. »Ich auch.«

Ich beobachte Portia. Sie lehnt am Wagen und steht auf einem Bein. »Was ist los?«, frage ich sie.

»Mein Knöchel. Ich hatte die Füße hochgelegt, als es krachte.«

»Lass sehen.«

Sie schiebt mich weg. »Alles okay, Mom. Das ist nichts.«

Am Heck des Wagens sind Felix und Eddie dabei, das Gepäck auszuladen, um das Ersatzrad herauszuholen. Felix hat wirklich Ahnung von Autos. Niemand würde damit rechnen, denn er ist der Typ, der dauernd auf seinen Laptop starrt, aber mit Autos kennt er sich aus. Er behauptet, das ist so, weil Motoren interessant sind.

Lüge.

Das ist so, weil er aus ärmlichen Verhältnissen stammt und seine Familie immer nur alte, schrottreife Autos hatte.

Ich höre, wie er sagt: »Wir müssen irgendwo anhalten und einen richtigen Reifen kaufen. Mit dem Notrad können wir nicht quer durchs Land fahren.«

»Natürlich nicht«, sagt Eddie.

Als ob er das wüsste. Mein Bruder ist der Mann, der die Pannenhilfe anruft.

Mit Vergnügen beobachte ich Felix dabei, wie er Eddie sagt, was er tun soll, und ihn damit im Grunde zum Gehilfen degradiert. Felix macht es Spaß, Eddie nicht. Vielleicht ist es verrückt, dass es mir gefällt, aber vielleicht geht es auch allen mit ihren Geschwistern so. Ein wenig Rivalität. Ein wenig Boshaftigkeit.

Eines Tages werde ich diese Gefühle vielleicht einmal analysieren, statt das Haus zu putzen oder so was.

»Zieh deinen Schuh aus«, sage ich zu Portia. »Lass mich sehen, ob der Knöchel geschwollen ist.«

Sie gehorcht, und er ist geschwollen. Wir müssen Eis und eine elastische Binde besorgen, und ich will ihr Ibuprofen gegen die Schmerzen geben. Ich bin so sehr damit beschäftigt, im Geiste diese Liste zu erstellen – und zu vergessen, dass meine Hände von dem Unfall ein bisschen zittern –, dass ich das andere Auto gar nicht höre. Ich höre es erst, als ich es anhalten sehe.

Ein schwarzer Pick-up. Genau wie der, der vor einer Minute weggefahren ist. Wuchtig, mit Viererkabine.

»Alles in Ordnung, Leute? Braucht ihr Hilfe?«, fragt der Fahrer, ein junger Kerl mit gelbem Haar, Baseballkappe und Zigarette. Der Mann auf dem Beifahrersitz ist älter; er ist stämmig und hat einen dichten grauen Bart. Hinten auf der anderen Seite sitzt noch eine Frau. Ich sehe nur ihr langes kastanienbraunes Haar.

»Eine Reifenpanne, sonst nichts«, sagt Felix.

Eddie tritt vor und spreizt die Schultern. »Wir kommen zurecht«, sagt er.

»Sicher?«, fragt der ältere Mann und lächelt Eddie an. »Wir kennen uns mit Autos aus.« Aber obwohl er uns Hilfe anbietet, steigt keiner aus dem Truck aus.

»Geht schon«, sagt Eddie.

»Waren Sie das?«

Portia.

Bis zu diesem Augenblick hat sie im Wagen gesessen und ihren Fuß hochgelegt. Jetzt ist sie draußen, hüpft auf einem Bein heran und schenkt den Neuankömmlingen ihren besten bösen Blick. »Waren Sie das, die uns von der Straße gedrängt haben?«

»Ob wir das waren?« Der ältere Mann lacht, und die beiden anderen lachen mit. »Schätzchen, wir sind nur vorbeigekommen und haben angehalten, um zu sehen, ob wir helfen können.«

»Das ist nicht sehr freundlich«, sagt der Fahrer. »Wir halten an, um zu helfen, und du wirfst uns vor, wir wollten euch von der Straße abdrängen.«

»Ganz und gar nicht freundlich«, sagt der ältere Mann.

Krista ist jetzt auch ausgestiegen. Sie stemmt die Fäuste in den Rücken und biegt die Wirbelsäule durch. Das kann kein gutes Zeichen sein. Sie ist eine dieser Frauen aus den Vororten, die noch nie wirklichen Ärger bekommen haben und glauben, so was gibt es nur im Internet.

Eddie macht noch einen Schritt vorwärts, ohne die Leute im Truck aus den Augen zu lassen.

Halb möchte ich sehen, wie es weitergeht, und sei es nur zu meiner Unterhaltung. Aber die andere Hälfte meiner selbst stellt sich vor Eddie. »Danke«, sage ich zu dem älteren Mann. »Das Angebot ist sehr freundlich, aber wir kommen zurecht. Das Rad ist schon fast gewechselt.« Ich deute hinüber zu Felix, der mit dem Schraubenschlüssel winkt.

Vergessen Sie die Schurkin. Ich bin der Friedensengel.

Der ältere Mann starrt mich ein bisschen zu lange an. Ich lächle und nicke, lächle und nicke.

»Na schön«, sagt der Mann. »Freut mich, dass alles okay ist.«

Der Truck setzt sich wieder in Bewegung, wendet und fährt zurück in die Richtung, aus der er gekommen ist.

»Die haben gedreht und sind zurückgekommen«, sagt Portia. »Das waren sie.«

Niemand bestätigt oder bestreitet es.

»Der Pate«, sagt Portia. »Ich schwöre, der Typ kam mir vor wie der Pate von Alabama.«

»Beinahe«, sagt Eddie. »Darauf trinke ich.«

Wir alle lachen. Wir alle trinken.

Seit dem Zwischenfall auf der Straße sind ein paar Stunden vergangen. Der Leihwagen hat einen neuen Reifen, das Ersatzrad ist wieder an seinem Platz, und Krista hat sich Make-up auf die Stirn geschmiert. Portias Knöchel ist verbunden, und sie trägt ein neues, billiges Paar Flip-Flops.

Der anfängliche Schrecken über den Zwischenfall ist verflogen, vertrieben durch Zeit, Alkohol und Lachen. Wie alles. So angespannt kann man nicht lange bleiben, denn sonst stößt jemandem etwas zu.

Jetzt, da es vorbei und wir wohlauf sind, bin ich plötzlich froh, dass Felix hier ist. Bis jetzt war ich es nicht. Er sollte nicht hier sein, genau wie Krista. Wir sollten nur zu dritt sein.

Nicht lange nach der Besprechung mit Grandpas Anwalt hat Eddie angerufen und mitgeteilt, dass Krista mitkommen werde. »Wir sind seit sechs Monaten verheiratet«, sagte er. »Da kann ich nicht einfach ohne sie verreisen.«

»Kann sie nicht selbst auf sich aufpassen?«, fragte ich.

Eddie seufzte. Es war ein tiefer, frustrierter Seufzer, als wäre das alles mein Problem. »Hör zu, ich weiß, du hast sie noch nicht kennengelernt …«

»Und wessen Schuld ist das?«

Schweigen. Ich hatte Krista noch nicht kennengelernt, weil Eddie keinen von uns zur Hochzeit eingeladen hatte. Er behauptete, es sei eine Entscheidung in letzter Minute gewesen, noch ins Rathaus zu gehen, bevor sie in die Berge fuhren, aber ich vermute, er wollte uns gar nicht dabeihaben. Vielleicht, weil er seine Freundin betrogen und die Rezeptionistin geheiratet hatte.

Aber das alles sagte ich nicht, und er wechselte das Thema.

»Bring Felix mit«, sagte er.

»Darum geht es nicht.«

»Wir sind doch keine Kinder mehr, Beth. Ich bin ein verheirateter Mann, und ich werde meine Frau mitbringen.«

Darum habe ich meinen Mann mitgebracht. Weil ich eine verheiratete Frau bin und ihn mitbringen sollte. Außerdem hoffte ich, unsere Ehepartner würden dafür sorgen, dass alles harmonisch blieb. Neutral. Mal im Ernst – wie fies kann man schon sein, wenn man seinen Ehemann bei sich hat?

Bis jetzt habe ich recht und unrecht. Der heutige Tag wäre sehr viel schlimmer gewesen, wenn Felix nicht dabei gewesen wäre und die Reifenpanne behoben hätte. Andererseits. Wenn weder Krista noch Felix bei uns wären, wäre Eddie dann beim Fahren so sehr abgelenkt gewesen? Nein. Ja. Na, ist jetzt auch egal. Psychogymnastik kann man nicht unbegrenzt lange machen, ohne verrückt zu werden.

LOUISIANA

Staatsmotto: Einheit, Gerechtigkeit und Zuversicht

Mississippi? Nein. Wir fahren quer durch diesen Staat nach Louisiana. Alle seufzen erleichtert, weil wir jetzt so weit von diesem Zwischenfall und dem Pick-up entfernt sind. Das Ereignis war so unheimlich, dass wir alle eine Zeitlang nervös waren.

Aber nicht deshalb sind wir quer durch Mississippi gefahren, sondern weil es die gleiche Route ist, die wir auch beim ersten Mal genommen haben. Nächste Station: Gibsland, Louisiana. Von allen Orten, die man besuchen könnte, hat Grandpa sich für die Stadt entschieden, wo Bonnie und Clyde vom FBI gefasst wurden – falls man es »gefasst werden« nennen kann, wenn man im Kugelhagel stirbt.

Auf der Fahrt dorthin erzählte Grandpa uns die Geschichte von Bonnie und Clyde. Er hatte eine großartige Stimme, einen tiefen Bariton ohne eine Spur von Akzent. Es war eine Stimme, die man im Radio hätte hören sollen, als dort noch Geschichten mit Stimmen erzählt wurden.

»Bonnie und Clyde, das ist eine der großen Liebesgeschichten des 20. Jahrhunderts«, sagte er. »Sie waren jung und wild und raubten mitten in der Depression Banken aus.«

Er ließ mich glauben, sie seien auf einer großen romantischen Abenteuerreise gewesen und ihre Taten seien angesichts der Zeit ziemlich harmlos gewesen. Was interessierten mich schon Banken und ihr Geld? Außerdem hatte ich keinen Grund zu bezweifeln, was er über Bonnie und Clyde sagte. Wir hatten damals keine Smartphones, und deshalb konnten wir nicht alles überprüfen, was er erzählte.

In jener Nacht blieben wir in einer Hütte am Black Lake, wo Bonnie und Clyde zwei Tage vor ihrem Tod ein kleines Stelldichein gehabt hatten.

»Morgen«, sagte Grandpa, »gehen wir ins Bonnie and Clyde Museum.«

Beim Einschlafen stellte ich mir vor, wie es wäre, so berühmt zu sein, dass sie ein ganzes Museum für dich gründen, nur für dich, zum Andenken an alles, was du bist. Ich fragte mich, ob ich irgendetwas tun könnte – außer Banken auszurauben –, damit ich ein eigenes Museum bekäme. Vielleicht müsste ich ein Heilmittel gegen Krebs finden. Etwas anderes fiel mir nicht ein.

Grandpa hatte so viel von Bonnie und Clyde geredet, dass ich das Gefühl hatte, bereits vor dem Museumsbesuch alles über die beiden zu wissen. Ich wusste, wie sie sich kennengelernt und wie viele Banken sie ausgeraubt hatten, von Lebensmittelläden und Tankstellen gar nicht zu reden. Ein ganzer Haufen Raubüberfälle wurde ihnen oder ihrer Bande zugeschrieben. Bonnie und Clyde hatten eine eigene Bande.

»Wir sollten eine Bande gründen«, sagte ich. Wir saßen beim Frühstück und aßen Eier mit Speck und Grütze. Alles war mit Butter und Sirup getränkt.

Grandpa lachte. »Du brauchst keine Bande, du bist ja schon in einer Meute. In einer Meute Kojoten.«

»Das ist ein Rudel Kojoten«, sagte ich. »Keine Meute.«

»Siehst du? Du hörst dich an wie ein kläffender Kojote, wenn du das sagst. Ihr seid eine Bande von kleinen Kojoten, und ihr seid die zäheste, niederträchtigste Meute diesseits des Mississippi.«

»Wir sind auf der Westseite, weißt du«, sagte Eddie. »Wir haben den Mississippi schon überschritten.«

»Und?«, sagte ich.

»Ich will nur darauf hinweisen.«

Als ob das wichtig wäre. Wir waren kleine Kojoten, und wir würden unser eigenes Museum kriegen. Wen interessierte es da, auf welcher Seite des Mississippi wir waren?

Auf der Fahrt zum Museum verirrten wir uns. Man musste ein paar windige Straßen entlangfahren, weg vom Highway, und dann schmiegte es sich zwischen zwei andere Läden. Davor stand ein altes, von Kugeln durchlöchertes Auto. Es war nicht das Auto, aber so eins hatten sie gefahren, und dann waren sie darin gestorben. Eddie fand es so cool wie nichts sonst – bis wir das Museum betraten.

Es war nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Was immer ich mir nach Grandpas Geschichten im Kopf zusammengebraut hatte, es stimmte nicht. In meinem geistigen Museum gab es kein Blut. Auch keine Leichen.