Meine wunderbare Frau - Samantha Downing - E-Book

Meine wunderbare Frau E-Book

Samantha Downing

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Beschreibung

Unsere Geschichte ist wie die von vielen anderen. Ich bin einer wunderbaren Frau begegnet. Wir haben Kinder bekommen und sind in die Vorstadt gezogen. Wir haben uns von unseren größten Träumen und unseren dunkelsten Abgründen erzählt. Und dann ist uns langweilig geworden. Wir sehen aus wie ein ganz normales Paar. Wir sind die netten Nachbarn, zu denen die Kinder zum Spielen kommen und die man gerne zum Essen einlädt. Aber wir haben ein Geheimnis, um unsere Ehe lebendig zu halten. Eine ganz besondere Vorliebe. Eine, die uns die Macht gibt, über Leben und Tod zu entscheiden ...

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Buch

Unsere Geschichte ist wie die von vielen anderen. Ich bin einer wunderbaren Frau begegnet. Wir haben Kinder bekommen und sind in die Vorstadt gezogen. Wir haben uns von unseren größten Träumen und unseren dunkelsten Abgründen erzählt. Und dann ist uns langweilig geworden. Wir sehen aus wie ein ganz normales Paar. Wir sind die netten Nachbarn, zu denen die Kinder zum Spielen kommen und die man gerne zum Essen einlädt. Aber wir haben ein Geheimnis, um unsere Ehe lebendig zu halten. Eine ganz besondere Vorliebe. Eine, die uns die Macht gibt, über Leben und Tod zu entscheiden …

Autorin

Samantha Downing wurde in Kalifornien geboren und lebt heute in New Orleans. Schon von klein auf war sie eine begeisterte Leserin und hat jetzt mit ihrem hochgelobten Debütroman »Meine wunderbare Frau« ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht. Zurzeit schreibt sie an ihrem zweiten Thriller.

Samantha Downing

Meine wunderbare Frau

Thriller

Deutsch von Rainer Schmidt

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »My Lovely Wife« bei The Berkley Publishing Group, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC., New York.

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This edition published by arrangement with The Berkley Publishing Group, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC.

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Deutsche Erstveröffentlichung September 2019

Copyright © der Originalausgabe 2019 by Samantha Downing

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe September 2019

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München

Umschlagmotiv: © arcangel/Miguel Sobreira

FinePic®, München

Redaktion: Ann-Catherine Geuder

Th · Herstellung: ik

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-23495-9V001

www.goldmann-verlag.de

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EINS

Sie schaut mich an. Ihre blauen Augen sind glasig und blicken flackernd zu ihrem Drink und wieder herauf. Ich schaue mein eigenes Glas an und spüre, wie sie mich beobachtet und sich fragt, ob ich genauso interessiert bin wie sie. Ich schaue zu ihr hinüber und lächle, um ihr zu zeigen, dass ich es bin. Sie lächelt zurück. Ihr Lippenstift ist fast weg; der Rand ihres Glases ist rot verschmiert. Ich gehe hinüber und setze mich neben sie.

Sie schüttelt ihr Haar auf. Farbe und Länge sind nicht bemerkenswert. Ihre Lippen bewegen sich, sie sagt Hallo, und ihre Augen sind jetzt heller. Sie sehen aus, als wären sie von innen beleuchtet.

Körperlich spreche ich sie an, wie ich die meisten Frauen in dieser Bar ansprechen dürfte. Ich bin neununddreißig und ausgezeichnet in Form, habe volles Haar und zwei tiefe Grübchen, und mein Anzug passt besser als jeder Handschuh. Darum hat sie mich angesehen, darum hat sie gelächelt, und darum freut sie sich, dass ich zu ihr herübergekommen bin. Ich bin der Mann, auf den sie es abgesehen hat.

Ich schiebe mein Handy über den Tresen zu ihr.

Hallo. Ich heiße Tobias.

Sie liest und zieht die Stirn kraus, und ihr Blick geht zwischen dem Handy und mir hin und her. Ich tippe noch eine Nachricht.

Ich bin taub.

Ihre Brauen zucken in die Höhe, sie legt eine Hand vor den Mund, und ihre Haut färbt sich rosa. Verlegenheit sieht immer gleich aus.

Sie schüttelt den Kopf. Es tut ihr leid. Das wusste sie nicht.

Natürlich wussten Sie es nicht. Woher auch?

Sie lächelt. Aber nicht ganz.

Ich bin nicht mehr das Bild in ihrem Kopf, nicht mehr der Mann, den sie sich vorgestellt hat, und jetzt weiß sie nicht genau, was sie tun soll.

Sie nimmt mein Handy und tippt eine Antwort.

Ich bin Petra.

Freut mich, Sie kennenzulernen, Petra. Sie sind Russin?

Meine Eltern waren Russen.

Ich nicke und lächle. Sie nickt und lächelt. Ich kann sehen, wie die Rädchen in ihrem Kopf arbeiten.

Sie würde lieber nicht bei mir bleiben. Sie will einen Mann finden, der hört, wie sie lacht, und der seine Worte nicht zu tippen braucht.

Gleichzeitig ermahnt ihr Gewissen sie, niemanden zu diskriminieren. Petra möchte keine oberflächliche Frau sein, die einen Mann zurückweist, weil er taub ist. Sie möchte mich nicht ablehnen, wie es schon so viele getan haben.

Das nimmt sie jedenfalls an.

Ihr innerer Kampf entfaltet sich wie ein Stück in drei Akten, und ich weiß, wie es endet. Meistens jedenfalls.

Sie bleibt.

Ihre erste Frage betrifft mein Gehör. Oder seine Abwesenheit. Ja, ich bin von Geburt an taub. Nein, ich habe noch nie etwas gehört – kein Lachen, keine Stimme, kein bellendes Hündchen, kein Flugzeug am Himmel.

Petra macht ein trauriges Gesicht. Sie weiß nicht, dass es herablassend ist, und ich sage es ihr nicht, denn sie gibt sich Mühe. Sie bleibt.

Sie fragt, ob ich Lippen lesen kann. Ich nicke. Sie fängt an zu reden.

»Als ich zwölf war, habe ich mir das Bein an zwei Stellen gebrochen. Ein Fahrradunfall.« Ihre Mundbewegungen sind grotesk übertrieben. »Ich musste einen Gipsverband tragen, der von meinem Fuß bis zum Oberschenkel reichte.« Sie verstummt und zieht einen Strich quer über ihren Schenkel für den Fall, dass ich doch Mühe habe, sie zu verstehen. Habe ich nicht, aber ich weiß ihre Bemühungen zu schätzen. Und ihren Schenkel auch.

Sie spricht weiter. »Sechs Wochen lang konnte ich nicht gehen. Für die Schule brauchte ich einen Rollstuhl, weil der Gips zu schwer für Krücken war.«

Ich lächele. Teils stelle ich mir die kleine Petra mit einem großen Gipsverband vor, und teils frage ich mich, wo diese traurige Geschichte hinführen mag.

»Ich behaupte nicht, dass ich weiß, wie es ist, sein Leben im Rollstuhl zu verbringen oder irgendeine dauerhafte Behinderung zu haben. Ich habe nur immer das Gefühl … na ja, es ist, als hätte ich eine kleine Kostprobe davon bekommen, wie das wäre, wissen Sie?«

Ich nicke.

Sie lächelt erleichtert. Sie hatte Angst, ihre Geschichte könnte mich kränken.

Ich schreibe:

Sie sind sehr empfindsam.

Sie zuckt die Achseln. Strahlt wegen des Kompliments.

Wir trinken noch etwas.

Ich erzähle ihr eine Geschichte, die nichts mit der Taubheit zu tun hat. Ich erzähle ihr von dem Tier, das ich als Kind hatte, einem Ochsenfrosch namens Sherman. Er saß immer auf dem größten Stein im Teich und fraß sämtliche Fliegen. Ich habe nie versucht, Sherman zu fangen; ich habe ihn nur beobachtet und er mich manchmal auch. Wir hockten gern so zusammen, und ich fing an, ihn als mein Haustier zu bezeichnen.

»Was ist aus ihm geworden?«, fragt Petra.

Ich zucke die Achseln.

Eines Tages war der Stein leer. Hab ihn nie wiedergesehen.

Petra sagt, das ist traurig. Nein, sage ich. Traurig wäre es gewesen, seinen toten Körper zu finden und ihn begraben zu müssen. Das musste ich nicht. Ich stellte mir einfach vor, er sei umgezogen, zu einem größeren Teich mit mehr Fliegen.

Das gefällt ihr, und sie sagt es.

Ich erzähle ihr nicht alles über Sherman. Zum Beispiel hatte er eine lange Zunge, die so flink umherschnellte, dass ich sie kaum sehen konnte, aber ich wollte sie immer fangen. Ich saß dann am Teich und fragte mich, wie gemein dieser Gedanke war. Wie schrecklich war es, wenn jemand versuchte, einen Frosch bei der Zunge zu packen? Und würde es ihm wehtun? Und wenn er stürbe, wäre es dann Mord? Ich habe nie versucht, ihn bei der Zunge zu packen, und ich hätte es wohl auch gar nicht geschafft, aber ich dachte daran. Und dabei hatte ich das Gefühl, ich sei kein guter Freund für Sherman.

Petra erzählt mir von ihrem Kater Lionel, der nach dem Kater ihrer Kindheit benannt ist, der auch Lionel hieß. Ich sage, das ist komisch, aber ich bin nicht sicher, dass es komisch ist. Sie zeigt mir Bilder. Lionel ist ein zweifarbiger Kater, und sein Gesicht ist halb schwarz, halb weiß. Der Kontrast sieht zu hart aus, um niedlich zu sein.

Sie redet weiter, jetzt von ihrer Arbeit. Ihr Job ist das Branding von Produkten und Firmen, und sie sagt, das sei das Einfachste und zugleich das Schwierigste auf der Welt. Schwierig sei es am Anfang, denn es sei so schwer, die Leute dazu zu bringen, dass sie sich an etwas erinnern, aber je mehr Leute anfingen, eine Marke wiederzuerkennen, desto einfacher werde es.

»Irgendwann kommt es gar nicht mehr darauf an, was wir verkaufen. Die Marke wird wichtiger als das Produkt.« Sie zeigt auf mein Handy und fragt, ob ich es wegen des Namens gekauft habe, oder weil mir das Handy gefällt.

Beides?

Sie lächelt. »Sehen Sie? Sie wissen es nicht.«

Vermutlich nicht.

»Was machen Sie denn?«

Buchhaltung.

Sie nickt. Es ist kein sonderlich aufregender Beruf, aber er ist solide, stabil und etwas, das man leicht tun kann, wenn man taub ist. Zahlen sprechen nicht mit einer Stimme.

Der Barkeeper kommt herüber. Er ist adrett und sauber und im College-Alter. Petra übernimmt das Bestellen, und das tut sie, weil ich taub bin. Frauen denken immer, man muss sich um mich kümmern. Sie tun gern etwas für mich, weil sie glauben, ich bin schwach.

Petra besorgt uns noch zwei Drinks und eine neue Schale Knabberzeug, und sie lächelt, als wäre sie stolz auf sich. Es bringt mich zum Lachen. Innerlich, aber es ist immer noch ein Lachen.

Sie lehnt sich zu mir herüber und legt mir eine Hand auf den Arm. Und lässt sie da. Sie hat vergessen, dass ich nicht ihr idealer Mann bin, und wie es jetzt weitergeht, ist vorhersehbar. Es wird nicht lange dauern, und wir gehen zu ihr. Die Entscheidung ist leichter, als sie sein sollte, allerdings nicht, weil ich Petra besonders attraktiv finde. Sondern weil ich wählen kann. Petra gibt mir die Macht, es zu entscheiden, und in diesem Augenblick bin ich ein Mann, der Ja sagt.

Petra wohnt downtown, nicht weit von der Bar, mitten zwischen all den großen Markenzeichen. Ihre Wohnung ist nicht so ordentlich, wie ich gedacht habe. Überall herrscht Chaos: Papier, Kleidungsstücke, Geschirr. Es lässt mich vermuten, dass sie ihren Schlüssel oft verliert.

»Lionel ist hier irgendwo. Wahrscheinlich hat er sich versteckt.«

Ich suche diesen kontrastreichen Kater nicht.

Sie flitzt umher, wirft hier ihre Handtasche hin, zieht da die Schuhe aus. Zwei Gläser mit Rotwein erscheinen, und sie führt mich ins Schlafzimmer. Sie dreht sich lächelnd zu mir um, und Petra ist attraktiver geworden. Sogar ihr schlichtes Haar scheint jetzt zu funkeln. Das kommt vom Alkohol, ja, aber auch, weil sie glücklich ist. Ich habe den Eindruck, sie ist seit einer Weile nicht mehr so glücklich gewesen, und ich weiß nicht, warum. Attraktiv genug ist sie.

Sie drängt sich an mich. Ihr Körper ist warm, ihr Atem von Wein getränkt. Sie nimmt mir das Glas aus der Hand und stellt es weg.

Ich trinke es erst viel später aus, als es dunkel ist und das einzige Licht von meinem Handy kommt. Wir tippen hin und her und machen uns lustig über uns selbst und die Tatsache, dass wir einander nicht kennen.

Lieblingsfarbe?

Limettengrün. Eissorte?

Bubblegum.

Bubblegum? Das blaue Zeug?

Ja. Und dein Lieblingsgeschmack?

Französische Vanille. Pizzabelag?

Schinken.

Moment, reden wir noch von Pizza?

Wir reden nicht mehr von Pizza.

Danach döst sie als Erste ein. Ich überlege, ob ich gehen, dann, ob ich bleiben soll, und der Gedanke dreht sich so lange im Kreis, dass ich wegdämmere.

Als ich aufwache, ist es noch dunkel. Ich rutsche aus dem Bett, ohne Petra zu wecken. Sie schläft auf dem Bauch, ein Bein angewinkelt, das Haar auf dem Kissen ausgebreitet. Ich kann nicht entscheiden, ob ich sie wirklich mag oder nicht; also entscheide ich mich einfach nicht. Ich muss es ja nicht.

Auf dem Nachttisch liegen ihre Ohrringe. Sie sind aus gefärbtem Glas, ein Wirbel von Blautönen wie ihre Augen. Als ich mich angezogen habe, lasse ich sie in meine Tasche gleiten. Ich nehme sie mit, um mich daran zu erinnern, das nicht wieder zu tun. Fast glaube ich, es wird funktionieren.

Ich gehe zur Wohnungstür, ohne mich umzudrehen.

»Bist du wirklich taub?«

Sie spricht laut und zu meinem Rücken.

Ich höre es, denn ich bin nicht taub.

Und ich gehe weiter.

Ich tue so, als ob ich sie nicht hörte, gehe geradewegs zur Tür und schließe sie hinter mir, und ich gehe weiter, bis ich ihr Gebäude verlassen habe, die Straße hinunter und um die Ecke. Erst jetzt bleibe ich stehen und frage mich, wie sie darauf gekommen ist. Ich muss mich verraten haben.

ZWEI

Ich heiße nicht Tobias. Ich benutze diesen Namen nur, wenn ich will, dass jemand sich an mich erinnert. Der Barkeeper, in diesem Fall. Ich habe mich vorgestellt und meinen Namen ins Telefon getippt, als ich hereinkam und etwas zu trinken bestellte. Er wird sich an mich erinnern. Er wird sich erinnern, dass Tobias der taube Mann ist, der die Bar mit einer Frau verlassen hat, die er gerade erst kennengelernt hat. Der Name war für ihn, nicht für Petra. Petra wird sich sowieso erinnern, denn mit wie vielen tauben Männern hat sie wohl schon geschlafen?

Und wenn ich keinen Fehler gemacht hätte, wäre ich eine merkwürdige Fußnote in ihrer Sexualgeschichte geblieben. Aber jetzt wird sie mich in Erinnerung behalten als »den Typen, der sich taub gestellt hat« oder »den Typen, der sich möglicherweise taub gestellt hat«.

Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr frage ich mich, ob ich vielleicht zwei Fehler gemacht habe. Vielleicht habe ich kurz gestockt, als sie mich gefragt hat, ob ich wirklich taub sei. Möglich ist es, denn das tut man, wenn man unerwartet etwas hört. Und wenn ich es getan habe, dann hat sie es wahrscheinlich gesehen. Dann weiß sie wahrscheinlich, dass ich gelogen habe.

Auf der Fahrt nach Hause ist alles unbehaglich. Der Sitz im Auto scheuert und tut mir im Rücken weh. Das Radio ist mir zu laut, ein einziges Gekreische. Aber ich kann Petra nicht an allem die Schuld geben. Ich bin schon seit einer ganzen Weile reizbar.

Zu Hause ist es still. Meine Frau, Millicent, liegt noch im Bett. Ich bin seit fünfzehn Jahren mit ihr verheiratet, und sie nennt mich nicht Tobias. Wir haben zwei Kinder; Rory ist vierzehn, Jenna ist ein Jahr jünger.

In unserem Schlafzimmer ist es dunkel, aber ich kann Millicents Gestalt unter der Bettdecke erkennen. Ich ziehe die Schuhe aus und gehe auf Zehenspitzen ins Bad.

»Und?«

Millicent klingt hellwach.

Ich drehe mich halb um und sehe ihre Silhouette. Sie stützt sich auf den Ellenbogen.

Da ist sie wieder. Die Entscheidungsfreiheit. Millicent gewährt sie nur selten.

»Nein«, sage ich.

»Nein?«

»Sie ist nicht richtig.«

Die Luft zwischen uns gefriert. Sie taut erst wieder auf, als Millicent ausatmet und den Kopf zurücksinken lässt.

Sie steht vor mir auf. Als ich in die Küche komme, organisiert Millicent das Frühstück, die Lunchpakete für die Schule, unseren Tag, unser Leben.

Ich weiß, ich sollte ihr von Petra erzählen. Nicht vom Sex mit ihr – davon würde ich meiner Frau nichts erzählen. Aber ich sollte ihr sagen, dass ich mich geirrt habe und dass Petra richtig für uns ist. Das sollte ich tun, weil es ein Risiko ist, Petra da draußen zu lassen.

Doch ich sage nichts.

Millicent sieht mich an, und ihre Enttäuschung trifft mich wie eine physische Kraft. Ihre Augen sind grün in vielen Schattierungen wie ein Tarnanzug.

Sie sind ganz anders als Petras. Millicent und Petra haben nichts miteinander gemeinsam, außer dass sie beide mit mir geschlafen haben. Oder mit einer Version meiner selbst.

Die Kinder poltern die Treppe herunter und schreien einander schon an; sie streiten darüber, wer gestern in der Schule was über wen gesagt hat. Sie sind für die Schule bereit und angezogen, wie ich meine weißen Tennissachen für die Arbeit anhabe. Ich bin kein Buchhalter und war es auch nie.

Während meine Kinder in der Schule sind und meine Frau Häuser verkauft, bin ich draußen auf dem Court in der Sonne und bringe den Leuten das Tennisspielen bei. Die meisten meiner Kunden sind mittleren Alters und nicht mehr in Form, und sie haben zu viel Geld und Zeit. Gelegentlich engagieren mich Eltern, die glauben, ihr Kind sei ein Wunderkind, ein Champion, ein zukünftiges Vorbild. Bis jetzt haben sie sich alle geirrt.

Aber bevor ich gehen kann, um irgendjemandem irgendetwas beizubringen, zwingt Millicent uns alle, wenigstens fünf Minuten zusammenzusitzen. Das nennt sie Frühstück.

Jenna verdreht die Augen, trommelt mit den Füßen und fiebert darauf, ihr Telefon zurückzubekommen. Handys sind bei Tisch nicht erlaubt. Rory ist ruhiger als seine Schwester. Er macht das Beste aus unseren fünf Minuten, indem er so viel wie möglich isst und sich dann in die Taschen stopft, was nicht mehr in seinen Mund passt.

Millicent sitzt mir gegenüber, und ihre Kaffeetasse schwebt vor ihrem Mund. Sie hat ihre Arbeitskleidung an, Rock, Bluse und hohe Absätze, und ihr rotes Haar ist nach hinten gebunden; in der Morgensonne sieht es aus wie Kupfer. Wir sind gleichaltrig, aber sie sieht besser aus – immer schon. Sie ist die Frau, die für mich hätte unerreichbar sein sollen.

Meine Tochter klopft in einem bestimmten Muster auf meinen Arm, wie im Rhythmus eines Liedes, und sie hört nicht auf, bis sie meine Aufmerksamkeit hat. Jenna sieht nicht aus wie ihre Mutter. Ihre Augen, ihr Haar und die Form ihres Gesichts hat sie von mir, und manchmal macht mich das traurig. Manchmal auch nicht.

»Dad, kannst du heute mit mir neue Schuhe kaufen gehen?«, fragt sie. Sie lächelt, denn sie weiß, ich werde Ja sagen.

»Ja«, sage ich.

Millicent verpasst mir unter dem Tisch einen Tritt. »Diese Schuhe sind einen Monat alt«, sagt sie zu Jenny.

»Aber jetzt sind sie zu eng.«

Dagegen kann nicht einmal meine Frau etwas sagen.

Rory fragt, ob er noch ein paar Minuten sein Videogame spielen darf, bevor er zur Schule muss.

»Nein«, sagt Millicent.

Er sieht mich an. Ich sollte Nein sagen, aber jetzt kann ich das nicht mehr, nicht nachdem ich seiner Schwester ihren Wunsch zugestanden habe. Das weiß er, denn Rory ist der Clevere. Er ist auch derjenige, der aussieht wie Millicent.

»Na los«, sage ich.

Er rennt davon.

Millicent knallt ihre Kaffeetasse auf den Tisch.

Jenna nimmt ihr Telefon in die Hand.

Wir sind fertig mit dem Frühstück.

Bevor sie vom Tisch aufstehen, funkelt Millicent mich an. Sie sieht haargenau aus wie meine Frau und zugleich kein bisschen wie sie.

Das erste Mal habe ich Millicent in einem Flughafen gesehen. Ich war zweiundzwanzig und auf dem Heimweg von Kambodscha, wo ich den Sommer mit drei Freunden verbracht hatte. Wir waren jeden Tag high und jede Nacht betrunken und hatten uns die ganze Zeit nicht rasiert. Ich hatte das Land als gepflegter Vorortjunge verlassen und kam zurück als zottelbärtiger Mann mit dunkelbraunem Gesicht und ein paar tollen Geschichten. Nichts im Vergleich zu Millicent.

Für mich war es eine Zwischenlandung, die erste in der Heimat. Ich ging durch den Zoll und wollte ins Inlandsterminal, als ich sie sah. Millicent saß allein in dem leeren Bereich vor dem Gate und hatte die Füße auf ihren Koffer gelegt. Sie starrte durch die vom Boden bis zur Decke reichenden Fenster auf das Rollfeld. Ihr rotes Haar war zu einem losen Knoten gebunden, und sie trug T-Shirt, Jeans und Sneakers. Ich blieb stehen und beobachtete, wie sie die Flugzeuge beobachtete.

Es war die Art, wie sie aus dem Fenster schaute.

Ich hatte das Gleiche getan, als meine Reise anfing. Es war mein Traum gewesen, zu reisen und Länder wie Thailand und Kambodscha und Vietnam zu sehen, und das hatte ich getan. Jetzt war ich wieder auf vertrautem Boden, da, wo ich aufgewachsen war, aber meine Eltern waren nicht mehr da. Allerdings bin ich nicht sicher, ob sie jemals wirklich da gewesen waren. Für mich jedenfalls.

Als ich zurückkam, war mein Traum vom Reisen erfüllt, aber kein anderer war an seine Stelle getreten. Bis ich Millicent erblickte. Sie sah aus, als finge sie gerade mit ihrem eigenen Traum an. Und ich wollte ein Teil davon sein.

In dem Moment dachte ich an all das nicht. Es fiel mir erst später ein, als ich versuchte, ihr oder sonst jemandem zu erklären, warum ich sie so attraktiv fand. Ich war zwanzig Stunden unterwegs gewesen und hatte immer noch ein paar vor mir, und ich brachte nicht mal die Energie auf, sie anzusprechen. Ich konnte sie nur bestaunen.

Wie sich herausstellte, saßen wir im selben Flieger. Für mich war es ein Zeichen.

Sie hatte einen Fensterplatz und ich einen Mittelplatz in der mittleren Reihe. Es erforderte ein bisschen Überredungskunst, einen kleinen Flirt mit einer Stewardess und einen Zwanzig-Dollar-Schein, und ich durfte neben Millicent sitzen. Sie blickte nicht auf, als ich mich setzte.

Als der Getränkewagen vorbeikam, hatte ich einen Plan. Ich würde bestellen, was immer sie bestellte, und weil ich bereits entschieden hatte, dass sie etwas Besonderes war, konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie etwas so Profanes wie Wasser bestellen würde. Es würde etwas Ungewöhnliches sein, zum Beispiel Ananassaft mit Eis, und wenn ich dann das Gleiche bestellte, hätten wir einen Augenblick der Symmetrie, der Symbiose, des Zufallsglücks – was auch immer.

In Anbetracht dessen, wie lange ich nicht mehr geschlafen hatte, erschien der Plan in meinem Kopf plausibel, bis Millicent der Stewardess sagte: Danke. Nein, danke. Sie wolle nichts trinken.

Ich sagte das Gleiche. Die Wirkung war nicht die, die ich mir wünschte.

Aber als Millicent sich der Stewardess zuwandte, sah ich zum ersten Mal ihre Augen. Ihre Farbe erinnerte mich an die üppigen, weiten Felder, die ich überall in Kambodscha gesehen hatte. Sie waren nicht annähernd so dunkel wie heute.

Sie fuhr fort, aus dem Fenster zu starren, und ich fuhr fort, sie anzustarren und dabei so zu tun, als starrte ich sie nicht an.

Ich sagte mir, ich sei ein Idiot, und ich solle sie einfach ansprechen.

Ich sagte mir, irgendetwas stimme nicht mit mir, denn normale Menschen benähmen sich nicht so bei einem Mädchen, das sie noch nie gesehen hatten.

Ich sagte mir, ich solle mich nicht benehmen wie ein Stalker.

Ich sagte mir, sie sei zu schön für mich.

Wir waren seit dreißig Minuten in der Luft, als ich sie ansprach.

»Hi.«

Sie drehte sich um. Starrte mich an. »Hi.«

Ich glaube, erst da hörte ich auf, den Atem anzuhalten.

Jahre vergingen, bevor ich sie fragte, warum sie dauernd aus dem Fenster gestarrt habe, im Flughafen und im Flieger. Weil sie nie zuvor geflogen sei, sagte sie. Sie hätte einzig und allein davon geträumt, sicher zu landen.

DREI

Petra war Nummer eins auf der Liste, aber da sie jetzt ausgeschieden ist, gehe ich weiter zur nächsten, einer jungen Frau namens Naomi George. Ich habe noch nicht mit ihr gesprochen.

Am Abend fahre ich zum Lancaster Hotel. Naomi arbeitet dort an der Rezeption. Es ist ein altmodisches Hotel, das von seinem vergangenen Glanz lebt. Das Gebäude ist riesig und so prachtvoll gestaltet, dass es heutzutage nicht mehr gebaut werden könnte. Es würde zu teuer, wenn man es richtig, und zu kitschig, wenn man es falsch machte.

Der Eingang ist eine Glastür mit Seitenflügeln und bietet einen guten Blick auf die Empfangstheke. Naomi steht dahinter in der Lancaster-Uniform, einem blauen Kostüm mit goldenen Tressen und einer glatten weißen Bluse. Sie hat langes dunkles Haar, und mit den Sommersprossen auf ihrer Nase sieht sie jünger aus, als sie ist. Naomi ist siebenundzwanzig. Wahrscheinlich will man in Bars immer noch ihren Ausweis sehen, aber sie ist nicht mehr so unschuldig, wie sie aussieht.

Spätabends habe ich schon mehr als einmal beobachtet, dass sie männlichen Gästen gegenüber freundlicher wurde. Es waren jedes Mal einzelne, ältere, gut gekleidete Männer, und sie verlässt nach Dienstschluss nicht immer das Hotel. Entweder verdient Naomi sich ein bisschen Geld nebenher, oder sie hat aufstiegsorientierte One-Night-Stands.

Aus den sozialen Medien weiß ich, dass ihre Lieblingsspeise Sushi ist und dass sie dunkles Fleisch ablehnt. Auf der Highschool hat sie Volleyball gespielt, und ihr Boyfriend hieß Adam und trägt heute den Namen »Kretin«. Ihr letzter Boyfriend, Jason, ist vor drei Monaten weggezogen, und seitdem ist sie solo. Naomi überlegt, ob sie sich ein Haustier anschaffen soll, wahrscheinlich eine Katze, aber noch hat sie es nicht getan. Sie hat mehr als tausend Freunde online, aber soweit ich es übersehen kann, sind darunter nur zwei echte. Höchstens drei.

Ich bin immer noch nicht sicher, ob sie die Richtige ist. Ich muss mehr herausfinden.

Millicent hat das Warten satt.

Gestern Abend habe ich Millicent in unserem Badezimmer angetroffen, wo sie vor dem Spiegel stand und sich abschminkte. Sie trug Jeans und ein T-Shirt mit einem Aufdruck, der sie als Mutter einer Spitzenschülerin in der Siebten auswies. Also als Jennas Mutter, nicht Rorys.

»Was hat denn nicht gestimmt bei ihr?«, fragte sie. Sie benutzt Petras Namen nicht, weil es nicht nötig ist. Ich weiß auch so, wen sie meint.

»Sie war einfach nicht die Richtige.«

Millicent schaute mich nicht im Spiegel an. Sie strich sich Lotion ins Gesicht. »Das war die Zweite, die du abgelehnt hast.«

»Es muss die Richtige sein. Das weißt du.«

Sie ließ den Deckel ihrer Lotion zuschnappen. Ich ging ins Schlafzimmer, setzte mich hin und zog die Schuhe aus. Es war ein langer Tag gewesen, der zu Ende gehen musste, aber Millicent ließ das nicht zu. Sie folgte mir ins Schlafzimmer und baute sich vor mir auf.

»Bist du immer noch sicher, dass du es tun willst?«, fragte sie.

»Ja.«

Ich kämpfte zu sehr mit meinem schlechten Gewissen, weil ich mit einer anderen Frau geschlafen hatte, um große Begeisterung an den Tag zu legen. Es hatte mich am Nachmittag beim Anblick eines kleinen alten Ehepaars überkommen; die beiden mussten mindestens neunzig Jahre alt sein, und sie gingen Hand in Hand über die Straße. Zwischen solchen Eheleuten gab es keinen Betrug. Ich schaute zu Millicent auf und wünschte, ich könnte dafür sorgen, dass wir auch so wurden.

Millicent sank vor mir auf die Knie und legte mir eine Hand aufs Knie. »Wir müssen es tun.«

Ihr Blick flackerte, und die Wärme ihrer Hand breitete sich aus, als sie an meinem Bein heraufkroch. Es machte meine Gewissensbisse noch schlimmer. Und es weckte in mir den Wunsch, alles zu tun, um sie glücklich zu sehen.

Weniger als vierundzwanzig Stunden später sitze ich vor dem Lancaster Hotel. Naomis Schicht endet erst um elf, und ich kann nicht einfach noch drei Stunden lang vor dem Hotel sitzen. Statt nach Hause zu fahren, gehe ich etwas essen und setze mich dann in eine Bar. Es ist eine gute Wahl, wenn man sonst nirgends hinkann.

Es ist halb voll, und die Gäste sind überwiegend einzelne Männer. So nett wie die Bar, in der ich mit Petra war, ist diese hier nicht. Die Cocktails kosten die Hälfte, und wer hier einen Anzug trägt, hat bereits die Krawatte gelockert. Der Holzboden ist mit den Schrammen der Barhocker gemustert, die Theke mit Wasserkringeln verziert. Es ist ein Lokal von Trinkern für Trinker, und jeder hier hat zu viel intus, um auf Details zu achten.

Ich bestelle ein Bier und schaue mir ein Baseballspiel auf dem einen und die Nachrichten auf dem anderen Fernseher an.

Am Ende der dritten Spielrunde zwei Outs. Morgen vielleicht regnerisch, aber es könnte auch sonnig werden. Es ist immer sonnig hier in Woodview, Florida, einer sogenannten Enklave in der wirklichen Welt. In ungefähr einer Stunde können wir am Meer sein oder in einem State Park oder in einem der größten Vergnügungsparks der Welt. Wir sagen immer, dass wir großes Glück haben, hier im Herzen Floridas zu leben, vor allem diejenigen unter uns, die im Unterbezirk Hidden Oaks wohnen. Hidden Oaks ist eine Enklave in der Enklave.

Am Anfang des vierten Innings ein Out. Noch zwei Stunden, bis Naomis Schicht endet und ich ihr folgen kann.

Und dann kommt Lindsay.

Ihr lächelndes Gesicht starrtmirvomBildschirm entgegen.

Lindsay mit ihren schmalen braunen Augen und dem glatten blonden Haar, ihrer Frischluftbräune und den großen weißen Zähnen.

Sie ist vor einem Jahr verschwunden. Eine Woche lang war sie ein Thema in den Nachrichten, und dann war die Story vorbei. Ohne nahe Verwandte, die dafür sorgten, dass sie in den Medien weiter präsent war, interessierte sich niemand mehr dafür. Lindsay war kein vermisstes Kind; sie war nicht wehrlos. Sie war eine erwachsene Frau, und nach weniger als sieben Tagen war sie vergessen.

Aber nicht bei mir. Ich erinnere mich noch an ihr Lachen. Es war so ansteckend, dass ich mit ihr lachen wollte. Ich sehe sie und weiß wieder, wie gern ich sie hatte.

VIER

Das erste Mal sprach ich auf einer Wanderung mit Lindsay. An einem Samstagmorgen folgte ich ihr in die Hügellandschaft außerhalb der Stadt. Sie fing auf dem einen Pfad an, ich auf einem anderen, und nach einer Stunde begegneten wir uns.

Als sie mich sah, nickte sie, aber ihr Hallo lud nicht zu einer weiteren Unterhaltung ein. Ich winkte, und mein Mund formte das Wort »Hallo«. Unbewusst warf sie mir einen sonderbaren Blick zu, und ich reichte ihr mein Telefon, um mich vorzustellen.

Verzeihung, das sah wahrscheinlich merkwürdig aus! Hallo, ich heiße Tobias. Ich bin taub.

Ich sah, wie sie ihre Wachsamkeit vergaß.

Sie stellte sich vor, wir unterhielten uns, und dann setzten wir uns hin und tranken Wasser, und sie bot mir einen Snack an. Pixy Stix. Sie hatte eine ganze Handvoll davon.

Lindsay verdrehte die Augen über sich selbst. »Schrecklich, was? Beim Sport dieses Zuckerzeug zu essen? Aber ich liebe die Dinger.«

Das stimmte. Ich hatte seit meiner Kindheit kein Pixy Stix mehr gegessen, aber ich liebte sie auch.

Sie erzählte mir von sich, von ihrem Job, ihrem Zuhause und von Hobbys, von denen ich schon wusste. Ich erzählte ihr die gleichen Geschichten, die ich ihnen immer erzählte. Als die Morgensonne aufging, beschlossen wir, unsere Wanderung zusammen zu beenden. Wir schwiegen während der meisten Zeit des Weges, und das gefiel mir. In meinem Leben war es selten still.

Meine Einladung zum Lunch lehnte sie ab, aber wir tauschten Telefonnummern aus. Ich gab ihr die Nummer des Handys, das ich benutze, wenn ich Tobias bin.

Einmal schickte Lindsay mir eine SMS, ein paar Tage nach der Wanderung. Ich musste lächeln, als ich sie bekam.

Es war toll, dich letzte Woche kennenzulernen. Hoffe, wir können gelegentlich wieder zusammen wandern.

Das taten wir dann.

Ein anderer Pfad diesmal, weiter im Norden, in der Nähe des Indian Lake State Forest. Sie hatte wieder Pixy Stix dabei und ich eine Wolldecke. Wir machten Rast an einer Stelle, wo das dichte Laub die Sonne abhielt. Als wir uns niederließen, lächelte ich sie an, und es war echt.

»Du bist süß«, sagte sie.

Nein, du bist süß.

Ein paar Tage später schrieb sie wieder eine SMS, und ich ignorierte sie. Inzwischen waren Millicent und ich uns einig geworden, dass Lindsay die Richtige war.

Und jetzt, ein Jahr später, ist Lindsay wieder im Fernsehen. Man hat sie gefunden.

Ich fahre von der Bar aus geradewegs nach Hause. Millicent ist schon da; sie sitzt vorn auf der Veranda. Sie hat immer noch ihre Bürokleidung an, und ihre Kunstlederpumps passen zu ihrer Haut. Sie sagt, sie lassen ihre Beine länger aussehen, und das stimmt. Es fällt mir immer auf, wenn sie sie trägt, sogar jetzt.

Nachdem ich den ganzen Tag gearbeitet und dann im Auto gehockt habe, um Naomi zu beobachten, wird mir bewusst, wie dringend ich duschen muss. Aber Millicent rümpft nicht mal die Nase, als ich mich neben sie setze. Bevor ich etwas sagen kann, tut sie es.

»Es ist kein Problem.«

»Bist du sicher?«, frage ich.

»Hundertprozentig.«

Ich weiß nicht, ob das stimmt. Wir hätten uns zusammen um Lindsay kümmern sollen, aber so ist es nicht gekommen. Und ich habe keine Argumente, die ich anführen kann.

»Ich verstehe nicht, wie …«

»Es ist kein Problem«, wiederholt sie. Sie hebt die Hand und zeigt zum ersten Stock unseres Hauses hinauf. Die Kinder sind da. Ich habe noch weitere Fragen, aber ich kann sie nicht stellen.

»Wir müssen mit der Nächsten warten«, sage ich. »Wir sollten jetzt nichts tun.«

Sie antwortet nicht.

»Millicent?«

»Ich hab’s gehört.«

Ich möchte fragen, ob sie es auch verstanden hat, aber ich weiß, es gefällt ihr bloß nicht. Es macht sie wütend, dass Lindsay jetzt gefunden worden ist, gerade als wir die Nächste planen. Es ist, als wäre sie inzwischen süchtig.

Sie ist nicht die Einzige.

Als ich Millicent im Flugzeug kennenlernte, war es keine Liebe auf den ersten Blick. Nicht bei ihr. Es war nicht mal mildes Interesse. Nachdem sie Hallo gesagt hatte, starrte sie weiter aus dem Fenster, und ich war wieder da, wo ich angefangen hatte. Ich ließ den Kopf an die Lehne sinken, schloss die Augen und machte mir Vorwürfe, weil ich nicht den Mut hatte, mehr zu sagen.

»Entschuldigung.«

Meine Augen klappten auf.

Sie schaute mich an mit ihren großen grünen Augen und runzelte die Stirn.

»Alles okay?«, fragte sie.

Ich nickte.

»Sicher?«

»Ja, sicher. Ich verstehe nicht, was du …«

»Weil du mit dem Kopf gegen das Ding schlägst.« Sie deutete auf die Kopfstütze. »Der Sitz wackelt.«

Ich hatte nicht gemerkt, dass ich es tat. Ich hatte gedacht, wenn ich mir im Geiste Vorwürfe mache, dann tue ich es eben dort: im Geiste. »Verzeihung.«

»Dann ist alles okay?«

Ich kam weit genug zu mir, um zu begreifen, dass das Mädchen, das ich angestarrt hatte, jetzt mit mir sprach. Sie sah sogar besorgt aus.

Ich lächelte. »Alles okay, wirklich. Ich hab mich nur …«

»… selbst verprügelt. Das tue ich auch.«

»Weshalb?«

Sie zuckte die Achseln. »Da gibt es viele Gründe.«

Ich verspürte den Drang, alle Gründe zu erfahren, die dieses Mädchen dazu brachten, mit dem Kopf irgendwo gegenzuschlagen, aber das Fahrwerk war eben ausgefahren worden, und wir hatten keine Zeit. »Verrate mir einen«, sagte ich.

Sie dachte über meine Frage nach und legte sogar einen Finger an die Lippen. Ich musste schon wieder ein Lächeln herunterschlucken, nicht nur, weil sie so niedlich war, sondern auch, weil ich ihre Aufmerksamkeit hatte.

Als das Flugzeug gelandet war, antwortete sie.

»Arschlöcher«, sagte sie. »Arschlöcher in Flugzeugen, die mich anquatschen, wenn ich eigentlich nur in Ruhe gelassen werden will.«

Ohne nachzudenken, ja, ohne auch nur zu begreifen, dass sie von mir sprach, sagte ich: »Vor denen kann ich dich beschützen.«

Verblüfft starrte sie mich an. Als sie sah, dass ich es ernst meinte, lachte sie laut.

Als mir klar wurde, warum sie lachte, lachte ich auch.

Als wir durch die Fluggastbrücke gingen, hatten wir uns nicht nur einander vorgestellt, sondern sogar Telefonnummern ausgetauscht.

Bevor sie wegging, fragte sie: »Und wie?«

»Wie was?«

»Wie würdest du mich vor all den Arschlöchern im Flugzeug beschützen?«

»Ich würde sie zwingen, den mittleren Sitz zu nehmen, die ganze Armlehne beanspruchen und sie mit dieser Karte mit den Notfallinformationen schneiden.«

Sie lachte wieder, länger und lauter als vorher. Bis heute kann ich nicht genug bekommen von ihrem Lachen.

Dieses Gespräch wurde zu einem Teil von uns. Zum ersten gemeinsam verbrachten Weihnachtsfest schenkte ich ihr einen Riesenkarton, groß genug für einen Großbildfernseher, schön verpackt und mit einer Schleife. Darin war nichts als eine Notfallkarte.

Seitdem versuchen wir an jedem Weihnachtsfest, uns den kreativsten Verweis auf unseren Insiderwitz einfallen zu lassen. Einmal habe ich ihr eine Rettungsweste geschenkt, wie man sie unter dem Sitz findet, und einmal hat sie unseren Christbaum mit herabhängenden Sauerstoffmasken geschmückt.

Immer wenn ich in ein Flugzeug steige und die Karte mit den Notfallinformationen sehe, muss ich lächeln.

Das Merkwürdige ist: Wenn ich einen Augenblick benennen sollte, den exakten Augenblick, als alles in Bewegung kam und uns dahin brachte, wo wir jetzt sind, würde ich sagen müssen, es war wegen einer Papierschnittwunde.

Es passierte, als Rory acht Jahre alt war. Er hatte Freunde, aber nicht zu viele; auf der Beliebtheitsskala war er ein Durchschnittskind, und so war es eine Überraschung, als ein Junge namens Hunter ihn mit einem Blatt Papier schnitt. Absichtlich. Sie hatten sich darüber gestritten, welcher Superheld der stärkste war, und Hunter war wütend geworden und hatte Rory geschnitten. Der Schnitt lag in der Falte zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. Er war so schmerzhaft, dass Rory laut schrie.

Hunter wurde für diesen Tag nach Hause geschickt, und Rory musste zur Krankenschwester, die ihm die Hand verband und ihm einen zuckerfreien Lolly schenkte. Der Schmerz war schon vergessen.

Als die Kinder an dem Abend schliefen, sprachen Millicent und ich über die Papierschnittwunde. Wir waren im Bett. Sie hatte eben ihren Laptop zugeklappt, und ich hatte den Fernseher ausgeschaltet. Die Schule hatte gerade erst wieder angefangen, und Millicents Sommerbräune war noch nicht restlos verblasst. Sie spielte nicht Tennis, aber sie schwamm gern.

Millicent nahm meine Hand und massierte die dünne Haut zwischen Daumen und Zeigefinger. »Hattest du hier jemals eine Schnittwunde?«

»Nein. Du?«

»Ja. Hat höllisch wehgetan.«

»Wie kam das?«

»Holly.«

Ich wusste sehr wenig über Holly. Millicent sprach fast nie über ihre größere Schwester. »Sie hat dich geschnitten?«, fragte ich.

»Wir haben Collagen aus unseren Lieblingssachen gemacht; wir haben Bilder aus Illustrierten ausgeschnitten und sie auf große Bogen Bastelpapier geklebt. Holly und ich griffen im selben Augenblick nach demselben Bogen, und« – sie zuckte die Achseln – »ich habe mich geschnitten.«

»Hast du geschrien?«

»Das weiß ich nicht mehr. Aber ich habe geweint.«

Ich nahm ihre Hand und küsste den längst verheilten Schnitt. »Was waren das für Lieblingssachen?«, fragte ich.

»Was?«

»Du hast gesagt, ihr habt Bilder von euren Lieblingssachen ausgeschnitten. Was waren das für Sachen?«

»O nein«, sagte sie, zog ihre Hand weg und knipste das Licht aus. »Du wirst daraus nicht noch eine verrückte Weihnachtsnummer machen.«

»Gefällt dir unsere verrückte Weihnachtsnummer etwa nicht?«

»Doch, sehr sogar. Aber wir brauchen nicht noch eine.«

Das wusste ich. Es war ein Versuch gewesen, das Thema Holly zu vermeiden, weil Millicent nicht gern über sie sprach. Deshalb hatte ich nach ihren Lieblingssachen gefragt.

Ich hätte nach Holly fragen sollen.

FÜNF

Lindsay ist das Hauptthema in den Nachrichten. Sie ist die Einzige, die man gefunden hat, und die erste Überraschung ist der Fundort.

Als ich Lindsay das letzte Mal gesehen habe, waren wir mitten im Nirgendwo. Millicent und ich hatten sie tief ins Sumpfland in der Nähe eines Naturparks gebracht, weil wir hofften, die Wildtiere würden sie eher finden als Menschen. Lindsay lebte noch, und wir würden sie zusammen töten. Das war der Plan.

Das war der springende Punkt.

Es kam nicht dazu, wegen Jenna. Wir hatten dafür gesorgt, dass beide Kinder bei Freunden übernachteten. Rory war bei einem Freund und spielte Videogames, und Jenna hatten wir zu einer Pyjamaparty mit einem halben Dutzend zwölfjährigen Mädchen gebracht. Als Millicents Telefon klingelte, klang es wie ein Kätzchen. Das war Jennas Klingelton. Millicent meldete sich vor dem zweiten Miau.

»Jenna? Was ist los?«

Ich beobachtete Millicent, wie sie zuhörte, und jedes Mal, wenn sie mit dem Kopf nickte, schlug mein Herz ein bisschen schneller.

Lindsay lag auf dem Boden, die sonnenbraunen Beine auf der Erde ausgestreckt. Die Wirkung der Droge, mit der wir sie flachgelegt hatten, ließ allmählich nach, und sie fing an, sich ein bisschen zu bewegen.

»Schatz, gibst du Mrs Sheehan bitte mal das Telefon?«, sagte Millicent.

Sie nickte wieder.

Als sie sprach, hatte ihr Ton sich verändert. »Ich verstehe. Vielen Dank. Ich bin gleich da.« Sie trennte die Verbindung.

»Was …«

»Jenna ist schlecht. Irgendetwas mit dem Magen, vielleicht eine Lebensmittelvergiftung. Sie kommt seit einer Stunde nicht von der Toilette.« Bevor ich reagieren konnte, sagte sie: »Ich fahre hin.«

Ich schüttelte den Kopf. »Lass mich das machen.«

Millicent widersprach nicht. Sie schaute auf Lindsay hinunter und sah dann wieder mich an. »Aber …«

»Ich übernehme das«, sagte ich. »Ich hole Jenna ab und bringe sie nach Hause.«

»Ich kann mich um sie kümmern.« Millicent schaute auf Lindsay hinunter. Sie meinte nicht unsere Tochter.

»Natürlich kannst du das.« Ich hatte nicht den leisesten Zweifel. Ich war nur enttäuscht, weil ich es verpassen würde.

Als ich bei den Sheehans ankam, war Jenna immer noch übel. Auf dem Heimweg hielt ich zweimal an, damit sie sich übergeben konnte, und ich saß fast die ganze Nacht bei ihr.

Millicent kam kurz vor dem Morgengrauen nach Hause. Ich fragte nicht, ob sie Lindsay weggebracht hatte, weil ich davon ausging, dass sie sie auf dem gottverlassenen Landstrich begraben hatte. Ich habe keine Ahnung, wie sie im Moonlite Motor Inn, Zimmer 18, landen konnte.

Das Moonlite ist außer Betrieb, seit vor mehr als zwanzig Jahren der neue Highway gebaut wurde. Damals wurde es einfach aufgegeben und den Elementen überlassen, den Ratten und Landstreichern und Junkies. Niemand kümmerte sich darum, denn niemand musste mehr dort vorbei. Lindsay wurde von ein paar Teenagern gefunden, die die Polizei riefen.

Das Motel ist ein eingeschossiges Gebäude, lang gestreckt und mit Zimmern, die sich zu beiden Seiten aneinanderreihen. Zimmer 18 ist auf der hinteren Seite in der Ecke und von der Straße nicht sichtbar. Ich sehe im Fernsehen ein Luftvideo von dem Motel und versuche mir vorzustellen, wie Millicent zur Rückseite des Moonlite fährt, parkt und den Kofferraum öffnet.

Lindsay über den Boden schleift.

Ich frage mich, ob sie dazu stark genug ist. Lindsay ist ziemlich muskulös gewesen, von dem vielen Sport an der frischen Luft. Vielleicht hat Millicent etwas benutzt, um sie zu transportieren. Eine Karre, etwas mit Rädern. Sie ist clever genug, um so etwas zu tun.

Der Reporter ist jung und ernsthaft; er spricht, als käme es auf jedes Wort an. Lindsay sei in Plastik eingewickelt, in den Wandschrank gestopft und mit einer Wolldecke zugedeckt worden. Die Teenager hätten sie gefunden, weil sie betrunken Verstecken gespielt hätten. Ich weiß nicht, wie lange sie da im Schrank lag, aber der Reporter sagt, Lindsays Leiche wurde zunächst anhand ihres Zahnstatus identifiziert, und die Ergebnisse der DNA-Tests stehen noch aus. Fingerabdrücke hat die Polizei nicht nehmen können, weil man ihre Fingerkuppen abgeschliffen hat.

Ich bemühe mich, mir nicht vorzustellen, wie Millicent das getan hat oder dass sie es überhaupt getan hat, aber schon bald ist es das Einzige, das ich mir vorstellen kann.

Die Bilder in meinem Kopf gehen nicht weg. Lindsays lächelndes Gesicht, ihre weißen Zähne. Meine Frau, wie sie Lindsays Fingerkuppen abschleift. Wie sie Lindsays Leiche in ein Motelzimmer schleppt und in den Wandschrank schiebt. Alle diese Bilder blitzen den ganzen Tag über in meinem Kopf auf, am Abend und als ich versuche zu schlafen.

Millicent dagegen sieht aus wie immer. Sie sieht aus wie immer, als sie von der Arbeit nach Hause kommt und einen Salat macht, als sie sich abschminkt und als sie am Computer arbeitet, bevor sie schlafen geht. Falls sie die Nachrichten gehört hat, sieht man es ihr nicht an. Ein halbes Dutzend Mal setze ich an, sie zu fragen, wie und warum Lindsay in dieses Motel gekommen ist.

Ich frage nicht. Denn mein einziger Gedanke ist: Warum muss ich fragen? Warum hat sie es mir nicht erzählt?

Am nächsten Tag ruft sie mich mitten am Nachmittag an, und die Frage liegt mir auf der Zunge. Allmählich frage ich mich außerdem, ob es noch mehr gibt, das ich nicht weiß.

»Denk dran«, sagt sie, »wir gehen heute Abend mit den Prestons essen.«

»Ja, ich hab’s nicht vergessen.«

Natürlich habe ich es vergessen. Das weiß sie und sagt mir den Namen des Restaurants, ohne dass ich danach fragen muss.

»Um sieben«, sagt sie.

»Wir treffen uns da.«

Andy und Trista Preston haben ihr Haus von Millicent gekauft. Andy ist ein paar Jahre älter als ich, aber ich kenne ihn seit Ewigkeiten. Er ist in Hidden Oaks aufgewachsen, wir sind auf dieselben Schulen gegangen, und unsere Eltern kannten einander. Jetzt arbeitet er bei einer Softwarefirma, verdient genug Geld, um Tennisunterricht zu nehmen, und tut es nicht. Deshalb hat er einen Bauch.

Aber seine Frau nimmt Unterricht. Trista ist auch hier in der Gegend aufgewachsen, jedoch in einem anderen Teil von Woodview, nicht in Oaks. Wir treffen uns zweimal die Woche, und in der restlichen Zeit arbeitet sie in einer Kunstgalerie. Zusammen verdienen die Prestons doppelt so viel wie wir.

Millicent kennt das Einkommen ihrer Kunden, und die meisten haben mehr als wir. Ich muss gestehen, dass mir das mehr ausmacht als ihr. Millicent glaubt, das ist, weil sie mehr verdient als ich. Sie irrt sich. Es ist, weil Andy mehr verdient als ich, aber das erzähle ich ihr nicht. Sie kommt nicht aus Oaks, und sie weiß nicht, wie es ist, hier aufzuwachsen und am Ende dann hier zu arbeiten.

Wir gehen in ein gehobenes Restaurant, wo alle Salat, Hühnchen oder Lachs essen und Rotwein bestellen. Andy und Trista trinken die ganze Flasche. Millicent trinkt eigentlich nicht, und sie kann es nicht leiden, wenn ich es tue. Also trinke ich in ihrer Anwesenheit nicht.

»Ich beneide dich«, sagt Trista zu mir. »Ich hätte gern deinen Job und wäre den ganzen Tag draußen. Ich spiele zu gern Tennis.«

Andy lacht. Seine Wangen sind rot. »Aber du arbeitest in einer Kunstgalerie. Das ist praktisch das Gleiche.«

»Den ganzen Tag draußen zu sein und den ganzen Tag draußen zu arbeiten sind zwei verschiedene Dinge«, sage ich. »Ich würde gern den ganzen Tag am Strand herumsitzen und nichts tun.«

Trista rümpft ihre Stupsnase. »Ich glaube, das wäre langweilig, den ganzen Tag so herumzuhängen. Lieber würde ich etwas tun.«

Ich würde gern sagen, dass es zwei Paar Schuhe sind, Tennisunterricht zu nehmen und welchen zu geben. Bei der Arbeit denke ich zuallerletzt daran, dass ich unter freiem Himmel bin. Die meiste Zeit versuche ich, Leuten Tennis beizubringen, die lieber telefonieren, fernsehen, sich betrinken oder essen würden. Die Leute, die wirklich Tennis spielen oder gar Sport treiben wollen, kann ich an weniger als einem Finger abzählen. Trista gehört nicht dazu. Sie liebt Tennis eigentlich nicht. Sie liebt es, gut auszusehen.

Aber ich halte den Mund, denn das tun Freunde. Wir weisen uns nicht gegenseitig auf unsere Fehler hin, es sei denn, wir werden gefragt.

Die Unterhaltung verlagert sich auf Andys Arbeit, und ich blende sie aus, kriege nur noch Schlüsselwörter mit, weil mich das Geräusch von Besteck ablenkt. Jedes Mal, wenn Millicent ein Stück vom gegrillten Huhn abschneidet, denke ich daran, dass sie Lindsay umgebracht hat.

»Aufmerksamkeit«, sagt Andy. »Das ist das Einzige, was Softwarefirmen interessiert. Wie können wir deine Aufmerksamkeit kriegen, und wie können wir sie behalten? Wie können wir dich dazu bringen, den ganzen Tag vor deinem Computer zu sitzen?«

Ich verdrehe die Augen. Wenn Andy trinkt, neigt er dazu zu predigen. Oder Vorträge zu halten.

»Komm schon«, sagt er, »beantworte meine Frage. Was hält dich vor dem Computer?«

»Katzenvideos«, sage ich.

Trista kichert.

»Sei kein Arsch«, sagt Andy.

»Sex«, sagt Millicent. »Es muss entweder Sex oder Gewalt sein.«

»Oder beides«, sage ich.

»Tatsächlich muss kein Sex dabei sein«, sagt Andy. »Kein richtiger Sex jedenfalls. Notwendig ist die Verheißung von Sex. Oder von Gewalt. Oder von beidem. Und eine Storyline – du brauchst eine Storyline. Egal, ob sie Wahrheit oder Fake ist oder wer sie erzählt. Die Leute müssen sich nur dafür interessieren, was als Nächstes passiert.«

»Und wie sorgt man dafür?«, fragt Millicent.

Er lächelt und malt mit dem Zeigefinger einen unsichtbaren Kreis in die Luft. »Sex und Gewalt.«

»Aber das ist doch überall so«, sage ich. »Sogar die Nachrichten basieren auf Sex und Gewalt.«

»Die ganze Welt dreht sich um Sex und Gewalt«, sagt Andy. Er malt noch einmal mit dem Finger den Kreis und sieht mich an. »Du weißt das – du bist von hier.«

»Allerdings.« Offiziell ist Oaks eine der sichersten Gemeinden im Staat. Denn die ganze Gewalt findet hinter geschlossenen Türen statt.

»Ich weiß es auch«, sagt Trista zu ihrem Mann. »So viel anders ist Woodview nicht.«

Ist es doch, aber Andy widerspricht nicht. Stattdessen lehnt er sich hinüber und drückt seiner Frau einen Schmatzer auf die Lippen. Als ihre Münder sich berühren, legt sie ihm die flache Hand an die Wange.

Ich bin neidisch.

Neidisch wegen ihrer einfachen Gespräche. Neidisch wegen ihrer harten Trinkerei. Neidisch wegen des schlichten Vorspiels und des Sex, den sie nachher haben werden.

»Ich glaube, wir haben’s alle kapiert«, sage ich.

Andy zwinkert mir zu. Ich werfe einen Blick zu Millicent hinüber, die auf ihr Essen starrt. Sie findet öffentliche Zärtlichkeitsdemonstrationen abstoßend.

Als die Rechnung kommt, stehen Millicent und Trista beide auf und gehen zur Toilette. Andy schnappt sich die Rechnung, bevor ich es kann.

»Spar dir den Protest. Ich übernehme das«, sagt er, und sein Blick wandert über die Rechnung. »Ihr seid eine preiswerte Tischgesellschaft. Kein Alkohol.«

Ich zucke die Achseln. »Wir trinken eben nicht viel.«

Andy schüttelt den Kopf und lächelt.

»Was?«, frage ich.

»Wenn ich geahnt hätte, dass aus dir so ein langweiliger Familienvater wird, hätte ich dafür gesorgt, dass du viel länger in Kambodscha bleibst.«

Ich verdrehe die Augen. »Jetzt bist du der Arsch.«

»Dazu bin ich hier.«

Bevor ich etwas sagen kann, kommen die Frauen wieder an den Tisch, und wir sprechen nicht mehr über das Trinken. Oder über die Rechnung.

Wir gehen alle vier hinaus und verabschieden uns auf dem Parkplatz. Trista sagt, wir sehen uns zur nächsten Stunde. Andy sagt, er wird auch bald anfangen. Hinter ihm verdreht Trista die Augen und lächelt. Sie fahren ab, und Millicent und ich sind allein. Wir sind mit zwei Autos da, weil wir uns erst im Restaurant getroffen haben.

Sie dreht sich zu mir um. Im Licht der Straßenbeleuchtung sieht sie so alt aus, wie ich sie nur jemals gesehen habe. »Geht’s dir gut?«, fragt sie.

Ich zucke die Achseln. »Mir geht’s gut.« Was soll ich sonst sagen?

»Du machst dir zu viele Sorgen.« Sie schaut über das Meer der Autos hinaus. »Es ist alles in Ordnung.«

»Das will ich hoffen.«

»Glaub mir.« Millicent schiebt ihre Hand in meine und drückt sie.

Ich nicke und steige in mein Auto, aber ich fahre nicht direkt nach Hause. Stattdessen fahre ich am Lancaster Hotel vorbei.

Naomi steht hinter der Rezeption. Ihr dunkles Haar fällt offen um ihre Schultern, und obwohl ich die Sommersprossen auf ihrer Nase nicht sehen kann, glaube ich, ich kann es doch. Ich bin erleichtert, als ich sie sehe und weiß, sie arbeitet immer noch an der Rezeption und geht wahrscheinlich immer noch ihrer Nebentätigkeit nach. Es gibt keinen Grund zu denken, ihr könnte irgendetwas zugestoßen sein, denn wir haben vereinbart zu warten. Nach Naomi zu sehen ist irrational, aber ich tue es trotzdem.

Ich bin nicht zum ersten Mal irrational. Seit sie Lindsay gefunden haben, schlafe ich nicht mehr gut. Ich wache mitten in der Nacht mit Herzklopfen auf, und es hat jedes Mal irgendeinen irrationalen Grund. Habe ich die Haustür abgeschlossen? Sind diese Rechnungen bezahlt? Habe ich daran gedacht, all die Kleinigkeiten zu erledigen, die ich erledigen muss, damit das Haus nicht abbrennt oder von der Bank kassiert wird und niemand mit dem Auto verunglückt, weil die Bremsen nicht pünktlich kontrolliert wurden?

All diese Kleinigkeiten lenken mich von Lindsay ab. Und von der Tatsache, dass ich, was sie betrifft, nichts tun kann.

SECHS

Samstagmorgen. Jenna hat ein Fußballspiel. Ich bin allein, weil Millicent ein Haus präsentieren muss. Samstag ist der wichtigste Tag für Immobilienmakler wie für Tennislehrer. Aber auch der wichtigste Tag für die Freizeitaktivitäten unserer Kinder. Millicent und ich wechseln uns samstags mit den Kindern ab, und das letzte Mal, dass wir alle zusammen waren, liegt mehr als ein Jahr zurück, als Rory in der Endrunde eines U-Zehn-Golfturniers spielte. Jetzt spielt er auch Golf – ich habe ihn in aller Frühe abgesetzt, bevor das Spiel seiner Schwester anfing –, und er spielt im selben Klub, in dem ich Tennisunterricht gebe. Er spielt Golf, weil es nicht Tennis ist, und das ärgert mich genauso sehr, wie er es beabsichtigt.

Bisher hat Jenna nichts von dieser Aufsässigkeit an den Tag gelegt. Sie bemüht sich nicht, schwierig zu sein. Jenna tut etwas, weil sie es tun möchte, nicht, weil es jemanden ärgert, und ich bewundere diese Eigenschaft an ihr. Außerdem lächelt sie viel, und dann lächle ich zurück und gebe ihr, was sie haben will. Ich habe keine Ahnung, was ich dabei nicht mitkriege, und weil ich es nicht herausbekomme, macht Jenna mir eine Heidenangst.

Fußball ist nicht mein Spiel. Ich habe die Regeln erst gelernt, als Jenna anfing zu spielen, und deshalb bin ich keine große Hilfe. Ich kann ihr nicht sagen, was sie tun soll oder wie sie es besser machen kann, wie ich es könnte, wenn sie Tennis spielte. Es ist nur ein glücklicher Zufall, dass sie im Tor steht, denn so weiß ich wenigstens, dass es ihre Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass die andere Mannschaft keinen Treffer erzielt. Darüber hinaus kann ich sie nur anfeuern.

»Du schaffst das!«

»Gut gemacht!«

»Toller Versuch!«

Ich frage mich oft, ob ich ihr peinlich bin. Ich glaube schon, aber ich tue es trotzdem, denn sonst bliebe mir nur übrig, ihre Spiele schweigend anzuschauen. Das käme mir grausam vor. Wenn sie den Ball abfängt, bevor er ins Netz gehen kann, drehe ich durch. Dann lächelt sie, aber sie winkt ab, damit ich den Mund halte. In diesen Momenten denke ich an nichts anderes als an meine Tochter und ihr Fußballspiel.

Millicent reißt mich mit einer SMS aus meinen Gedanken.

Mach dir keine Sorgen.

Mehr schreibt sie nicht.

Die Kids auf dem Platz schreien. Die andere Mannschaft schießt auf das Tor, und meine Tochter muss den Ball schon wieder halten. Sie hält ihn nicht.

Jenna dreht sich um, wendet mir den Rücken zu und stemmt die Hände in die Hüften. Ich möchte ihr gern sagen, es ist nicht schlimm, jeder macht Fehler, aber das wäre genau das Falsche. Eltern sagen so etwas immer, und Kinder können es nicht ausstehen. Ich konnte es früher auch nicht.

Jenna starrt auf den Rasen. Eine Mitspielerin aus ihrer Mannschaft kommt zu ihr, klopft ihr auf die Schulter und sagt etwas. Jenna nickt und lächelt, und ich frage mich, was ihre Mitspielerin gesagt hat. Wahrscheinlich das Gleiche, was ich gesagt hätte. Aber es hat mehr bedeutet.

Das Spiel geht weiter. Ich werfe noch einmal einen Blick auf mein Telefon. Millicent hat nichts weiter geschrieben.

Ich rufe die Nachrichten auf und schnappe nach Luft.

Im Obduktionsbericht steht, Lindsay sei erst seit ein paar Wochen tot.

Irgendwo, irgendwie hat Millicent sie fast ein Jahr lang am Leben gehalten.

Ich habe den Drang wegzulaufen. Wohin, weiß ich nicht. Es ist nicht wichtig. Ich weiß auch nicht, wozu. Ich will nur weglaufen.

Aber ich kann Jenna nicht allein lassen, hier bei einem Fußballspiel, wo sonst niemand sie anfeuert. Ich kann meine Tochter nicht verlassen. Oder meinen Sohn.

Als Jennas Spiel vorbei ist, hole ich Rory vom Club ab, und wir drei essen wie üblich nach dem Sport eine Pizza und zum Nachtisch Frozen Yoghurt. Ich habe Mühe, der Unterhaltung zu folgen. Sie merken es, denn sie sind meine Kinder – sie sehen mich jeden Tag und wissen, wenn etwas nicht stimmt. Ich frage mich, wie sie wohl über Millicent denken.

Aber sie sieht ja nie aus, als ob etwas nicht stimmt. Im letzten Jahr war sie immer ruhig, selbst für ihre Verhältnisse. Vor einem Monat hat sie davon gesprochen, die nächste Frau zu suchen.

Jetzt fügt sich alles zusammen. Sie hat die nächste erst erwähnt, nachdem sie Lindsay umgebracht hatte.

Für mich war das letzte Jahr angefüllt mit Arbeit, den Aktivitäten der Kinder, Hausarbeit, Diskussionen über Rechnungen, Autowäsche. Nichts Herausragendes. Kein einzelnes Ereignis, kein Tag, nichts, woran ich mich in zwanzig, dreißig oder vierzig Jahren noch erinnern werde. Jennas Fußballmannschaft wäre beinahe in die Endrunde gekommen, hat es aber doch nicht geschafft. Millicent war wieder erfolgreich in ihrer Firma. Die Benzinpreise sind gestiegen und wieder gefallen, eine Kommunalwahl ist gekommen und gegangen, meine Lieblingsreinigung hat zugemacht, und ich musste mir eine neue suchen.

Oder ist es zwei Jahre her, dass die Reinigung geschlossen hat? Es verschwimmt alles.

In der ganzen Zeit hat Millicent Lindsay am Leben gehalten. Als Gefangene.

Die Bilder, die mir durch den Kopf gehen, sind beunruhigend bis barbarisch. Ich stelle mir Dinge vor, wie ich sie schon in den Nachrichten gehört habe, von Frauen, die man gefunden hat, nachdem sie jahrelang von einem geistesgestörten Mann gefangen gehalten worden sind. Noch nie habe ich gehört, dass eine Frau so etwas getan hat, und als Mann kann ich mir nicht vorstellen, so etwas zu tun.

Ich lasse die Kinder zu Hause und fahre zu dem Haus, in dem Millicent eine Besichtigung durchführt. Es ist nur ein paar Straßen weit entfernt, und die Fahrt dauert wenige Minuten. Vor dem Haus stehen zwei Autos, ihres und ein SUV.

Ich warte.

Nach zwanzig Minuten kommt sie heraus mit einem Paar, das jünger ist als wir. Die Frau macht große Augen, und der Mann lächelt. Als Millicent den beiden die Hand gibt, sieht sie mich aus den Augenwinkeln. Ich spüre, wie der Blick ihrer grünen Augen auf mir landet, aber sie hält nicht inne und unterbricht den Fluss ihrer Bewegungen nicht.

Das Paar geht zu seinem Wagen. Millicent bleibt vor dem Haus stehen und schaut ihnen nach. Sie trägt heute Marineblau – einen schmalen Rock, hohe Absätze und eine Bluse mit Nadelstreifen. Ihr rotes Haar fällt glatt bis zur Kante des Unterkiefers und ist dort waagerecht abgeschnitten. Als wir uns kennengelernt haben, war es viel länger. Seitdem ist es jedes Jahr kürzer geworden, als hätte sie sich vorgenommen, es in regelmäßigen Abständen um einen Zentimeter zu kürzen. Es würde mich nicht überraschen, wenn sie es tatsächlich so gehalten hätte. Ich weiß nicht genau, ob mich überhaupt noch irgendetwas im Zusammenhang mit Millicent überraschen würde.

Sie wartet, bis der SUV weg ist, bevor sie sich zu mir umdreht. Ich steige aus und gehe auf sie zu.

»Du bist aufgebracht«, stellt sie fest.

Ich starre sie an.

Sie deutet auf das Haus. »Lass uns hineingehen.«

Wir gehen hinein. Der Eingang ist riesig, die Zimmer sind mehr als sechs Meter hoch. Ein Neubau wie unseres, aber das hier ist noch größer. Alles ist offen und luftig, und alles konzentriert sich auf das Wohnzimmer, in das wir jetzt gehen.

»Was hast du mit ihr gemacht? Ein Jahr lang? Was hast du gemacht?«

Millicent schüttelt den Kopf, und ihr Haar schwingt hin und her. »Wir können jetzt nicht darüber sprechen.«

»Aber wir müssen …«

»Nicht hier. Ich habe einen Termin.«

Sie geht weg, und ich folge ihr.

Ein paar Monate nach unserer Hochzeit wurde Millicent schwanger. In mancher Hinsicht war es eine Überraschung, denn wir hatten überlegt, ob wir warten sollten, aber ohne uns zu entscheiden. Wir achteten nicht jedes Mal darauf, uns zu schützen. Wir hatten über diverse Methoden der Verhütung gesprochen, aber am Ende waren es immer Kondome. Millicent nahm nicht gern Hormone. Sie wurde davon zu emotional.