Meine Krone in der Asche - Hanna Zack Miley - E-Book

Meine Krone in der Asche E-Book

Hanna Zack Miley

4,2

Beschreibung

Als Hannelore (Hanna) Zack am 24. Juli 1939 – als siebenjähriges Mädchen – Köln in einem Zug Richtung London verließ, wusste sie das noch nicht: Sie war Teil des legendären "Kindertransports", dem kühnen Unterfangen, das 10.000 jüdische Kinder vor Hitlers Nazi-Regime rettete, indem es ihnen die sichere Fahrt nach England ermöglichte. In den folgenden Jahren sollte Hanna die schmerzhafte Wahrheit kennenlernen: Nachdem man sie ihrer Firma beraubt hatte, wurden ihre jüdischen Eltern deportiert und mussten sechs Monate lang im Ghetto Litzmannstadt unmenschliche Zustände ertragen. Am 3. Mai 1942 wurden sie bei einer brutalen Mord-Aktion in einem abgelegenen Waldgelände nahe Chelmno in Polen vergast. Hanna begann ihr Buch mit 75 Jahren zu schreiben und stellte es innerhalb von vier Jahren fertig. 'Meine Krone in der Asche' ist ein packender Kriminalroman, der von dem herzzerreißenden Prozess erzählt, das Schicksal der eigenen Familie zu entdecken. Es ist aber auch die ergreifende Geschichte eines Weges weg vom rachsüchtigen Hass – hin zu Vergebung und Befreiung von Bitterkeit.

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Hanna Zack Miley Meine Krone in der Asche

Widmung

Für meinen Weggefährten George, den geduldigen Zuhörer und fürsorglichen Ehemann, der Wort für Wort «eintippte», was ich ihm von meinen

Hanna Zack Miley

Meine Krone in der Asche

Der Holocaust, die Kraft der Vergebung und der lange Weg zur persönlichen Heilung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Titel der englischen Originalausgabe: A Garland for Ashes: World War II, the Holocaust, and One Jewish Survivor's Long Journey to Forgiveness. Copyright 2013 by Hanna & George Miley, Phoenix, Arizona, USA: Outskirts Press

Übersetzung aus dem Englischen: Christian Rendel, Witzenhausen

Copyright der deutschen Ausgabe: © 2014 by `fontis – Brunnen Basel

Umschlag: spoon design, Olaf Johannson, Langgöns Fotos Umschlag: Naci Yavuz, Jag_cz/Shutterstock.com Weitere Umschlagfotos: © by Hanna Zack Miley Alle Fotos im Bildteil: © by Hanna Zack Miley E-Book-Vorstufe: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel E-Book-Herstellung: Textwerkstatt Jäger, Marburg

ISBN (EPUB) 978-3-03848-640-4

Inhalt

Geleitwort

Vorwort

TEIL ILiebe und Hass im Dritten Reich

1. Von Köln nach London

2. Ein deutsch-jüdisches Kind im Schatten des Nationalsozialismus

3. Die Saat der Finsternis geht auf

4. Reichskristallnacht: Die Nacht, die mir das Leben rettete

5. Horst-Wessel-Platz

6. Was wurde aus meinen Eltern?

7. Die Endlösung

TEIL II«Glücksmädchen»

8. «Auf Wiedersehen» und «How do you do?»

9. Der Hut in der Einkaufstasche

10. Angst vorm Fliegen

TEIL III«Du berührtest mich»

11. Was hat ein nettes jüdisches Mädchen wie du in der Kirche verloren?

12. «On the Road Again»

13. Indien

TEIL IVSteile Treppen

14. Riskante Abenteuer im Land der Vergebung: Sommer 2000

15. «Leider existiert das Dorf Heddesheim nicht mehr»

TEIL VEin heiliges Abenteuer

16. Auf ihren Spuren bis zum bitteren Ende

17. Die Räder rollen nach Osten

18. Endlich Litzmannstadt

19. Licht schimmert in der finstersten Nacht

20. Rzuchowski-Wald: «Hier haben sie Leute verbrannt»

21. Friede eurer Asche

Epilog

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Bildteil

Geleitwort

Im Dezember 2012, wenige Wochen, bevor die englische Originalausgabe von Meine Krone in der Asche in Druck ging, erhielt Hanna den folgenden Brief von einem Vertreter ihrer Heimatstadt Gemünd in Deutschland:

Liebe Hanna,

ich versuche, auf Englisch zu schreiben, so gut ich kann: Ich habe Ihnen etwas ganz Wunderbares mitzuteilen!

Wie Sie wissen, feiert Gemünd 2013 seinen 800. Geburtstag. Dazu gibt es etliche Veranstaltungen mit vielen Beteiligten. Es wird ein sehr wichtiges Jahr in der Stadtgeschichte. Für die Organisatoren ist das Gedenken an die jüdische Bevölkerung ein sehr wichtiger Bestandteil davon. Wir möchten den Juden von Gemünd Ehre erweisen.

Ich habe Manfred [dem Leiter des Organisationskomitees] von Ihrer Lebensgeschichte und Ihrem Entschluss erzählt, Gemünd jedes Jahr zu besuchen. Die Organisatoren möchten sich bei Ihnen für Ihre Bemühungen um Versöhnung bedanken. Wir sind dankbar, dass Sie nach Gemünd zurückgekehrt sind und uns die Hand der Vergebung gereicht haben – in diesem Land und dieser Stadt, wo Ihre Eltern und Angehörigen ermordet wurden. Wir möchten die jüdischen Bürger von Gemünd ehren, und wir möchten Sie als jüdische Bürgerin von Gemünd und als eine Frau ehren, die nach Frieden und Segen strebt.

Ich habe die wunderbare Aufgabe, Sie zu fragen, ob Sie die Schirmherrschaft über die Feierlichkeiten in Gemünd im nächsten Jahr übernehmen würden. Der Dienst der Schirmherrschaft erfordert nicht, dass Sie irgendwelche öffentlichen Aufgaben oder Verpflichtungen übernehmen, aber Sie können das tun, wenn Sie es wünschen. Sie können nach Gemünd kommen, wann immer Sie möchten, und in die USA zurückkehren, wann immer Sie möchten. Meine Aufgabe ist es, Sie zu fragen, ob Sie diese Schirmherrschaft übernehmen würden. Wir hoffen auf Ihre Zusage, und es wird uns eine Freude und Ehre sein, wenn Sie das tun.

Mit herzlichen Grüßen, Georg Toporowsky

Wenige Tage später antwortete Hanna und teilte Georg mit, sie fühle sich durch die Bitte geehrt und nehme seine Einladung gern an. Daraufhin schrieb er zurück, die Organisatoren hätten gern ein Grußwort für die offiziellen Publikationen im Zusammenhang mit den Jubiläumsfeierlichkeiten. Zur Antwort schickte ihm Hanna das folgende Grußwort:

Liebe Freunde,

Grüße aus dem Tal der Sonne, Phoenix, Arizona.

Dieses Jahr 2013 ist ein bedeutender Meilenstein in der Geschichte unseres Heimatortes. Wir haben den 800. Jahrestag der Gründung Gemünds erreicht.

Als die jüdischen Bürger Gemünd nach der Kristallnacht verließen, war ich die jüngste unter ihnen. Und nun, 74 Jahre später, haben Sie mich eingeladen, Schirmherrin Ihrer Feierlichkeiten zu sein.

Warum gerade ich? Ich glaube, dass Sie mir diese Ehre gegeben haben, damit ich die jüdische Gemeinde repräsentieren soll. Ich erinnere mich an einige von ihnen – ihre Namen und Gesichter sind mir noch sehr lebendig vor Augen: Kurt Meyer, mein Freund aus Kindertagen; Gisela Teller, die mir ihren Schlitten gegeben hatte; Ruth Meyer, die mit mir von meinem Zuhause in der Dreiborner Straße zum Kino ging. Wir wollten uns «Schneewittchen und die sieben Zwerge» ansehen. Vor allem denke ich an meine Eltern, Amalie und Markus Zack.

Es vergingen viele Jahre, bevor ich begann, Gemünd wieder zu besuchen. Zuerst war die Berührung mit der Vergangenheit eine traurige Erfahrung. Erstaunlicherweise lebten noch einige Gemünder Bürger, die sich noch an das kleine Kind Hannelore Zack erinnerten. Ich bin sehr dankbar für Ihre Freundlichkeit. Ich hatte ja so wenige Erinnerungen an meine Kindheit, und die Geschichten, die Willi Kruff, Lisbet Ernst und Frau Schmitz mir erzählten, halfen mir, Frieden mit der Vergangenheit zu schließen. Ich glaube, dass die Liebe dieser Menschen zu einer früheren jüdischen Nachbarin ihre Fortsetzung findet in Ihrer Entscheidung, während der 800-Jahr-Feier an die jüdische Gemeinde zu erinnern.

Es ist eine wunderbare Sache, dass Sie sich der Wahrheit über die Dunkelheit der Dreißigerjahre stellen, indem Sie jetzt Stolpersteine verlegen. Sicherlich wird großer Segen einer solchen unmittelbaren Ehrlichkeit folgen. Sie streben das Gute dieser Gemeinde an.

Schon in den letzten Jahren gab es deutlich sichtbare Zeichen der Erneuerung und ökonomischen Wiederbelebung. Viele Besucher kommen, um die Schönheit der Eifel zu genießen. Junge Leute hier aus der Region drücken in der Begegnung mit der Geschichte Gemünds ihre Kreativität aus.

Jedes Mal, wenn mein Mann George und ich wieder hierhin zurückkommen, erfahren wir viel Freude unter unseren Gemünder Freunden.

Danke, dass Sie mir diese Ehre gegeben haben.

Möge Gott uns und Sie alle segnen. Schalom.

Hanna Zack Miley

Vorwort

Ich weiß noch genau die Stelle. Gerda und ich waren an einem kalten, grauen Tag gegen Ende März 2008 auf dem Rückweg vom jüdischen Friedhof. Unsere Freundschaft hatte schon vor vielen Jahren begonnen, aber es war 25 Jahre her, dass wir Zeit zusammen verbracht hatten. Wir wollten zur Dreiborner Straße in der Ortsmitte von Gemünd und freuten uns darauf, bei einem gemütlichen gemeinsamen Mittagessen unsere Neuigkeiten auszutauschen. Als wir am Zusammenfluss der beiden Flüsse Urft und Olef die Brücke überquerten, wo die Alte Bahnhofstraße eine Biegung macht und in die Straße Am Plan übergeht, wandte sich Gerda zu mir und fragte: «Warum schreibst du deine Geschichte nicht einmal auf, Hanna?» So nahm alles seinen Anfang.

Gegen diesen Gedanken hatte ich mich immer gesträubt. Woher kam dieses Widerstreben? Ich fühlte mich überfordert. Es gab nur wenige Informationen über meine Familie und meine ersten Lebensjahre. Die schiere Mühe, die mit so einem Projekt verbunden ist, schreckte mich ab. Aber vor allem fürchtete ich mich davor, dass es wehtun würde, in den Tiefen der Vergangenheit zu graben.

Wenn ich auf all das zurückblicke, was sich aus Gerdas Frage ergab, muss ich an meine Schulzeit in England denken – ich muss wohl etwa vierzehn Jahre alt gewesen sein. Unsere Klasse versuchte sich in hässlichen grünen Turnanzügen zum ersten Mal im Hürdenlauf. Alle anderen schienen über die Hindernisse nur so hinwegzufliegen. Ich konnte es nicht. Schon vor der ersten Hürde erstarrte ich, egal, wie oft ich es versuchte. Schließlich nahmen mich zwei Freundinnen rechts und links bei der Hand, rannten mit mir los und zogen mich jedes Mal hinauf und hinüber, bis wir das Ziel erreicht hatten.

Meine Krone in der Asche begann mit der Idee, «meine Geschichte» zu erzählen. Während ich Ideen sammelte, Worte wählte und Sätze bildete, begannen sich in mir schlummernde Erinnerungen an meine Eltern allmählich wieder zu regen. Ich bekam neu entdeckte Dokumente in die Hand, die mich zu den Orten führten, wo sie geboren und gestorben waren. Es kommt mir so vor, als hätte sich mein Buch in ein Journal verwandelt, in dem ich festhalte, wie ich meine Familie wieder in die Arme schließe und wie ich ihrer Spur folge, bis zu dem Grauen und der Schande ihrer Vergasung im polnischen Chelmno am 3. Mai 1942 und darüber hinaus bis zu der «Liebe, die nie vergeht».1

Viele haben mir auf diesem Weg eine helfende Hand gereicht, genau wie meine Schulkameradinnen, die mir damals über die Hürden hinweghalfen: Hans-Dieter Arntz, Lisbet Ernst, Gisela Forbar, Ruth Holden, Annemarie und Willi Kruff, Günther Lukas, Gerda und Manfred Schaller (die mich überdies mit ihrer Freundin, der Lektorin Ute Mayer, bekannt machten, die mir in dieser beängstigenden Anfangsphase des Schreibens meiner Geschichte eine große Ermutigung war), Maria und Dieter Schmitz-Schumacher, Walter Volmer, Claudia und Hans Wiedenmann und Detlef und Esther Wurst.

Die Namen einiger Personen, die mir Informationen gaben oder auf andere Weise an meiner Geschichte Anteil hatten, wurden geändert, um ihre Privatsphäre zu schützen; diese wurden im Buch jeweils mit einem Sternchen (*) gekennzeichnet.

Wenn ich ein neues Buch zur Hand nehme, macht es mir Freude, auf die kleinen Details zu achten, die auf den Hintergrund und die Einstellung des Autors schließen lassen. Deshalb lese ich alles, sogar die Widmung. Überschwängliche Lobgesänge auf einen Lektor oder eine Lektorin habe ich da oftmals mit einer Prise Skepsis aufgenommen. Heute bin ich klüger. Meine eigene Lektorin Kathleen Fairman geleitete mich mit viel Freundlichkeit und Takt wie eine Hebamme mit ihren herausragenden Fähigkeiten durch die Geburtswehen dieses Buches. Carol Blumentritt, meine begabte Korrekturleserin, sagte mir, es habe ihr tatsächlich Spaß gemacht, an den Korrekturen zu arbeiten. Dasselbe gilt für Cheri Beckenhauer, die mit ihrer ganzen verwaltungstechnischen Kompetenz die Feinheiten der Fußnoten, der Bibliografie, der Indexerstellung und des Einscannens der Fotos bewältigte.

Über diese kurze Namensliste hinaus hat ein Heer von Freunden für mich gebetet und mich mit ihrer Freundlichkeit angespornt – Amerikaner, Österreicher, Briten, Holländer, Deutsche, Polen und Singapurer. Ich bin dankbar für jeden von ihnen.

TEIL I Liebe und Hass im Dritten Reich

Zwei Statuen.

Ich stehe vor der Skulptur Mutter mit totem Sohn, und in der Stille erschauert meine Seele.

Ihre schweigenden Linien dringen ins Mark wie ein Schmerzensschrei. …

Gerhart Hauptmann, Literaturnobelpreisträger, über Käthe Kollwitz2

1993 wurde diese Statue in der Mitte der Neuen Wache in Berlin platziert. Die Bildhauerin Käthe Kollwitz (8. Juli 1867 – 22. April 1945) gehörte zu den Künstlern, die 1937 in München von den Nazis in der Ausstellung Entartete Kunst verhöhnt wurden.3

Weit weg von Berlin, inmitten der grünen Hügel der Eifel, gebeutelt von Wind und Regen, lege ich meinen Kopf in den Nacken, um eine andere Statue zu betrachten: den fünf Meter hohen Fackelträger auf dem Gelände der von Hitler erbauten Ordensburg Vogelsang. Bis heute steht diese Skulptur sieben Kilometer von meinem Heimatort Gemünd entfernt auf einem Hügel. Der Bildhauer war Willy Meller.

Die Originalinschrift wurde entfernt, aber der Text ist neben der Steinstatue auf einer Informationstafel vollständig wiedergegeben:

Ihr seid die Fackelträger der Nation. Ihr tragt das Licht des Geistes voran im Kampfe für Adolf Hitler.4

Auf der Burg Vogelsang wurden junge deutsche Männer in der Rassenlehre der Nazis unterwiesen. Viele gingen von dort aus, um die Gräueltaten im Osten anzuführen.5

Wir haben das Mitleid auszurotten durch die Kraft der Selbstbehauptung.

Hans Dietel, Burgkommandant von Vogelsang, in einem aufgezeichneten Vortrag 19376

Was hier gelehrt wurde, führte zu der Rampe in Auschwitz.

Klaus Ring, Historiker, über die Bedeutung der Burg Vogelsang7

1. Von Köln nach London

Nachdem wir uns stockend durch die Sicherheitskontrollen am Flughafen manövriert haben, mache ich es mir dankbar auf meinem Platz neben George in der Lufthansa-Maschine bequem. Ich genieße die Atmosphäre, die die ebenso effizienten wie freundlichen deutschen Flugbegleiterinnen verbreiten. Schon seit Wochen habe ich mich auf diese kurze Reise von Köln nach London gefreut. Heute ist der 19. November 2008.

Plötzlich richte ich mich kerzengerade auf. Mir dämmert, dass ich diese Strecke vor fast siebzig Jahren schon einmal zurückgelegt habe, wenn auch unter völlig anderen Umständen. Damals war ich ein kleines Mädchen, das sich in den hintersten Winkel eines Eisenbahnwaggons drückte und verzweifelt versuchte, seine Panik zu zügeln. Szenen aus der Vergangenheit beginnen vor meinen Augen zu flackern wie die Bilder einer altmodischen Filmspule.

Der Abschied

Am Montagabend, dem 24. Juli 1939, brachten mich meine Eltern an den Kölner Hauptbahnhof, wo ich eine Reise antreten sollte. Da sie mich nicht begleiten konnten, bereiteten sie mich darauf vor und sagten, ich würde einen schönen Ausflug machen. Ich war ein verwöhntes Einzelkind; sie gaben sich alle Mühe, mir die Medizin zu versüßen. Ich weiß noch, wie ich auf dem Bahnsteig stand und zu der riesigen, hohen Decke aus Glas und Stahl emporschaute. Das gewaltige 4711-Schild, mit dem das berühmte «Kölnisch Wasser» beworben wurde, sprang mir in die Augen, als mein Blick wieder zu dem Gewühl um mich her zurückkehrte. Die Decke und das Schild sind immer noch da.

Meine Mutter und mein Vater halfen mir, die steilen Stufen des Waggons zu erklimmen. Als ich mich umdrehte, um ihnen zum Abschied zuzuwinken, sah ich, dass sie weinten. Plötzlich überkam mich eine schreckliche Vorahnung. Der Zug war voll besetzt mit Kindern jeden Alters. Die wenigen Erwachsenen waren Rotkreuz-Mitarbeiter. Viele der anderen Kinder ließen ihren Gefühlen freien Lauf, indem sie ausgelassen die Gänge auf und ab rannten und sich gegenseitig anfeuerten. Ich dagegen fühlte mich mutterseelenallein; ich kannte niemanden. Ich erinnere mich noch lebhaft, wie ein Erwachsener die Kinder ermahnte, sich zu beruhigen, und auf mich als Vorbild wies. In Wirklichkeit war ich nur damit beschäftigt, mich in mir selbst zu vergraben und dem Trauma zu begegnen, indem ich meine Gefühle unterdrückte. So entstand ein Muster, das mich in den kommenden Jahren prägen würde.

Und jetzt, so viele Jahre später, lege ich dieselbe Strecke zurück, um am Wiedersehenstreffen anlässlich des siebzigsten Jahrestages des Kindertransports in London teilzunehmen. Während jener ersten Reise hatte ich keine Ahnung gehabt, dass ich an einem gewaltigen Unternehmen Anteil hatte – der Rettung von zehntausend jüdischen Kindern aus Deutschland, Österreich, der Tschechoslowakei und Polen zwischen dem 2. Dezember 1938 und dem 1. September 1939. Großbritannien hatte Einreisevisa für Kinder im Alter von drei Monaten bis siebzehn Jahren zur Verfügung gestellt.8

Der Zug, der mich aus Deutschland herausbrachte, verließ den Kölner Hauptbahnhof fünf kurze Wochen, bevor Hitler in Polen einmarschierte und der Zweite Weltkrieg mit all seinen Schrecken losbrach. Ich hatte natürlich keine Ahnung von dem Ausmaß des Traumas und des Verlustes, der mir bevorstand. Meine Eltern würde ich nie wiedersehen. Ich würde mein Zuhause verlieren – meine Muttersprache, meine Kultur, meine Familie, meine Religion, mein Erbe und meine Staatsbürgerschaft. Meine Familie kannte niemanden in England. Sie hatten keine Ahnung, wo oder bei wem ich landen würde. Die Situation für Juden in Nazideutschland war lebensbedrohlich geworden, und das hatte sie zu der qualvollen Entscheidung gebracht, mich in diesen Zug zu setzen. Das schien das geringere Risiko zu sein. Ich war sieben Jahre alt.

Siebzig Jahre später breitet sich Dankbarkeit wie die hereinkommende Flut über die Erinnerungen, und ich lehne mich zurück. Heute bin ich nicht mehr allein. George, mein Mann und engster Freund, sitzt neben mir, und Gott ist spürbar gegenwärtig. Eigentlich war er auch am 24. Juli 1939 da. Damals jedoch war meine Wahrnehmung, dass ich verlassen worden war – hinausgestoßen ins Unbekannte.

Kein Opfer mehr

Das Wort «verlassen» erinnert mich an einen Tag im Februar 2008, als 35 von uns im Hotel Raitelberg versammelt waren, umringt von Wäldern hoch auf einem Hügel mit Blick hinab auf die kleine Stadt Wüstenrot im Südwesten Deutschlands. Wir waren eine ungewöhnliche Mischung – israelische Araber, israelische Juden, Deutsche, ein Amerikaner und ich, eine jüdisch-deutsche Engländerin, die in Amerika lebt. Was uns zusammengeführt hatte, war unser gemeinsamer Wunsch, Gott zu fragen, wie unsere Nationen geheilt werden können. Wir beteten und erzählten uns gegenseitig unsere Geschichten, und uns wurde bewusst, dass wir alle etwas gemeinsam hatten. Als Reaktion auf die historischen Gräueltaten, die gegen uns verübt worden waren, hatten unsere Völker eine Opferidentität angenommen.

Meine Gedanken wanderten zurück zu damals, als ich als Kind in der Ecke des Eisenbahnwaggons kauerte und sich das Geflecht meines Lebens auflöste, während ich dem beängstigenden Unbekannten entgegeneilte.

Ohne mich auf meinem Stuhl zu rühren, kehrte ich zurück in die Gegenwart und zu meinen Gefährten in dem behaglichen, ruhigen Hotelzimmer, wo wir uns von der Identität eines hilflosen Opfers verabschiedeten. Innerlich streckte ich mich und richtete mich kerzengerade auf. Ich «sah» meinen himmlischen Vater. Er war in jenem Zug bei mir gewesen, und jetzt, viele Jahre später, spürte ich seine tröstenden Arme um mich.

Ich will die Tiefen des Bösen, das mir, meiner Familie und meinem Volk angetan wurde, weder verleugnen noch herunterspielen. Warum Gott das zugelassen hat, begreife ich nicht völlig. Doch mir sind die Lichtstrahlen bewusst, die geheimnisvoll durch die alles einhüllende Wolke der Dunkelheit drangen, die das jüdische Volk umgaben und für die Zukunft Gerechtigkeit verhießen. Und obwohl ich mit sieben Jahren Waise wurde, weiß ich im Innersten, dass ich einen liebevollen Vater habe, der immer bei mir war – in jedem Augenblick.

Zurück am Bahnhof Liverpool Street

Das siebzigste Jubiläum des Kindertransports beginnt am Samstagabend, dem 22. November 2008, in London. Unter einem düsteren Winterhimmel steigen George und ich die Stufen vom Bahnsteig des Bahnhofs Liverpool Street hinauf zum Hope Square, wie er heute heißt. Die Zeremonie wird gleich beginnen. Meine Augen passen sich an die hellen Lichter an, und ich sehe die anderen «Kinder» mit ihren Familien bereits versammelt. Alle haben sich in ihre wärmste Kleidung gepackt und sitzen dicht beisammen auf Metallklappstühlen der Skulptur gegenüber, die auf dem Hope Square zum Gedenken an unsere Ankunft in England errichtet wurde. Der Bildhauer Frank Meisler wurde selbst als Kind mit dem Kindertransport aus Deutschland gerettet.

Eingehend betrachte ich nacheinander die ausdrucksvollen Gesichter der fünf bronzenen Kinderfiguren. Ich sehe Verwirrung, Angst und gespannte Erwartung. Als mein Blick auf ihre Koffer fällt, erinnere ich mich an meinen. Die Koffer stehen für alles, was von der greifbaren Liebe unserer Eltern noch übrig ist. Es berührt mich, wie abrupt die stählernen Eisenbahnschienen auf dem Sockel der Skulptur enden. Für mich ist es ein Bild des Werkzeugs unserer plötzlichen Trennung von allem, was uns vertraut war und woran unser Herz hing. Wie viele verschiedene Empfindungen werden in diesen wenigen flüchtigen Momenten in mir ausgelöst. Ich spüre die bittere Kälte und nehme dankbar den Sitzplatz an, den mir ein Herr zuvorkommend anbietet. Seine Frau flüstert mir zu: «Er zeigt gerne, dass er körperlich noch fit ist.» Ja, wir sind alle älter geworden.

Die Gedenkfeier beginnt. Wir sitzen als geschlossene Gruppe dicht beisammen, jeder mit seiner eigenen Geschichte beschäftigt. Wir erinnern uns an unsere Eltern, an die Ängste und Schmerzen, die sie erlitten haben müssen, als sie uns fortschickten. Wir trauern um die anderthalb Millionen jüdischen Kinder, die nicht bei uns sein können, weil ihr Leben ausgelöscht wurde. Und wir sehen unser eigenes Leid und unseren Verlust vor uns, wenn wir hier am Bahnhof Liverpool Street zusammenkommen, dem Ort, der uns in unserer gemeinsamen Geschichte verbindet.

Die Zeremonie verbindet einen Gottesdienst mit einem eindringlichen Aufruf, sich zu erinnern – so etwas darf nie wieder geschehen! Wir drücken unsere Dankbarkeit gegenüber Großbritannien aus, das uns herzlich aufnahm, als die meisten Türen sich für jüdische Flüchtlinge schlossen. Die Symbole und Worte geben der Versammlung, mit der wir diesen Jahrestag begehen, Sinn und Ziel. Vielleicht ist es das letzte Mal, dass wir alle zusammenkommen.

Auf der Insel der Stille mitten auf dem Hope Square erklingen die hebräischen Worte des 121. Psalms. Der Lärm des um uns her brausenden Stadtlebens ist vergessen, als wir die alten, lebendigen Worte hören: «Der Herr wird dich behüten vor allem Unheil, er wird dein Leben behüten. Der Herr wird deinen Ausgang und deinen Eingang behüten von nun an bis in Ewigkeit.» Dies ist gewiss die Wirklichkeit hinter den Ereignissen des Kindertransports.

Doch ganz am Rande meines Bewusstseins flackern andere Gedanken auf. Was ist mit den sechs Millionen, die nicht überlebt haben? Was ist mit meinen Eltern … meinen Tanten in Koblenz … meinem Freund Kurt …?

Zum Gedenken an die Opfer des Holocausts beten wir ein Kaddisch, und zum Abschluss wird der Schofar geblasen. Sein durchdringender, wehmütiger Klang erfüllt die Nachtluft und verbindet uns mit unserer jüdischen Geschichte.

Meine Identität

Als wir am nächsten Morgen früh aufwachen, werden wir von sanft fallenden Schneeflocken überrascht. In meine Erwartung mischt sich auch eine leise Besorgnis. Wie wird sich dieser Tag entwickeln? Wie werde ich reagieren? In einem langen Autokorso nähern wir uns dem riesigen Gebäudekomplex und Gelände unseres Veranstaltungsortes, einer jüdischen Schule. Die Sicherheit wird scharf überwacht, und ich habe unsere Teilnehmerpässe vergessen. Ein freundlicher Polizist hakt unsere Namen auf seiner Liste ab und winkt uns durchs Tor. Mit unseren Ehepartnern, Kindern und zum Teil auch Enkelkindern sind wir 560 Menschen, die sich hier versammeln.

Als wir sitzen und der Klezmermusik lauschen, fühle ich mich zutiefst mit meinen Wurzeln verbunden. Kunstvoll bringen die Musiker die Melancholie, die Traurigkeit, den Humor und die Entschlossenheit der jüdischen Seele zum Ausdruck. Die Geschichten, die wir an den mit koscheren Köstlichkeiten beladenen Tischen kurz ausgetauscht haben, die lebendigen und wohldurchdachten Ansprachen und die Musik verschmelzen miteinander und trösten uns. Wir alle teilen eine gemeinsame Geschichte, und es überrascht mich selbst, wie stark ich empfinde, dass ich zu dieser Familie von Überlebenden dazugehöre. Lange Zeit meines Lebens war ich von meinen Wurzeln getrennt. Jetzt schließe ich meine Arme um mein jüdisches Erbe und genieße meine Identität.

Nach dem Jubiläumstreffen des Kindertransports besteigen George und ich eine Lufthansa-Maschine und kehren nach Köln zurück. Von dort fahren wir in die Eifel, die Landschaft, in der meine Wurzeln liegen.

2. Ein deutsch-jüdisches Kind im Schatten des Nationalsozialismus

Während ich am nächsten Morgen in unserem Apartment in der Eifel an meiner Tasse Kaffee nippe, streiche ich die zerknitterte, verblichene Kopie meiner Geburtsurkunde glatt und frage mich, warum meine Mutter und mein Vater für meine Geburt von ihrem Heimatort in die Stadt Bonn gefahren sind. Dort in der Universitätsklinik kam ich an einem Sabbat zur Welt – am Samstag, dem 18. Februar 1932, vier Tage vor dem 41. Geburtstag meiner Mutter. Damals wurden noch die meisten Babys unter der Aufsicht einer Hebamme zu Hause geboren. Vielleicht wollte mein Vater die bestmögliche medizinische Versorgung haben.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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