Meine Reise durchs Land der Riesen - Sara Tormöhlen - E-Book

Meine Reise durchs Land der Riesen E-Book

Sara Tormöhlen

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Beschreibung

Norwegen - ein Land voller Sagen, Mythen und Auswandererträume. Durch dieses faszinierende Land und einen Sommer, so heiß, dass er als Jahrhundertsommer in die Geschichte eingeht, wandert die Autorin und Protagonistin auf dem Olavsweg. Auf ihrer Reise stößt sie nicht nur an ihre körperlichen und mentalen Grenzen, sondern begegnet auch zahlreichen liebenswürdigen, skurrilen und außergewöhnlichen Charakteren. Immer wieder fühlt sie sich dabei wie Alice, die in den Kaninchenbau gestürzt ist - erstaunt, belustigt, verloren und doch auf der Suche. Diese Begegnungen öffnen uns die Türen zu Norwegen und seinen Menschen. Sie enthüllen, was Pilger antreibt, diesen Weg zu wandern, und werfen Fragen auf, die tiefer gehen. Einige davon beantwortet die Erzählerin für sich selbst, auch wenn sie am Ende vielleicht nicht klüger, aber verändert ist. Denn wer will schon nach gestern zurück, wenn man doch heute jemand ganz anderes ist?

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Seitenzahl: 213

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Für meine Weggefährtinnen und Weggefährten, vergangene wie zukünftige.

Und für meine Mama, ohne die ich nie losgezogen wäre.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Tag 1 – Gesegnet

Tag 3 – Die Leiden der jungen S.

Tag 4 – Happy in Hamar

Tag 6 – Kennst du einen, kennst du einen

Tag 8 – Wendepunkte

Tag 9 – Ein bisschen von allem

Tag 10 – Wurstbrote

Tag 11 – Speisen wie eine Königin

Tag 12 – Mitgenommen

Tag 15 – Mit Menschen und Engeln

Tag 16 – Rauf, rauf, raus!

Tag 18 – Zwischen Unvernunft und Aberglauben

Tag 20 – Vom Regen und Wandern

Tag 22 – Auf Königs Pfaden

Tag 24 – Wann sind wir endlich daaa?!

Tag 25 – Allein ist man weniger zusammen

Tag 26 – Der Geist jenes Sommers

Epilog

»Das Unmögliche zu schaffen, gelingt einem nur, wenn man es für möglich befindet.«

Lewis Carroll, Alice im Wunderland

Prolog

Langsam ziehe ich das Pflaster ab, das sich mit der Wundflüssigkeit, Blut, Schweiß und Dreck zu einem etwas ekligen, kaugummiartigen Klumpen vermischt hat, und mir entweicht ein kurzes Zischen. Ich verziehe mein Gesicht vor Schmerzen und betrachte angewidert die Blase, die sich auf meinem großen Zeh gebildet hat. Kurzentschlossen tauche ich meinen Fuß in das eiskalte Wasser. Die Kälte ist wohltuend und überdeckt den Schmerz. Kurz vergesse ich die Strapazen der vergangenen Tage. Meinen Rucksack habe ich auf eine betonierte Plattform, keine Armlänge von mir entfernt, abgestellt. Bedrohlich nah am Rande dieses Sees liegt er mehr, als dass er steht, fast so, als wolle auch er sich ausruhen. Ich atme tief ein und lasse meinen Blick über das Wasser gleiten. Von meinem Platz aus kann ich beobachten, wie keine fünfzig Meter von mir entfernt ein Windsurfer scheinbar mühelos gerade Linien übers Wasser zieht. Dann erst fällt mir auf, dass der See voller Wassersportler ist. Sie rudern, schwimmen, segeln und paddeln im Stehen oder Liegen in und auf dem See. Trotz des geschäftigen Treibens geht von ihnen eine Gelassenheit und Unbekümmertheit aus, die mich schlagartig neidisch macht. Ich spüre, wie noch etwas anderes als die Hitze dieses Sommertages in meinem Körper aufsteigt. Da ist es, das Gefühl, das sich bereits seit Tagen immer wieder in diese von mir selbst gewählte Gestaltung meines Sommerurlaubs mischt, eine Mischung aus Wut und Frust. Nun sitze ich hier, habe gerade einmal 150 von den insgesamt 643 Kilometern hinter mich gebracht, von denen ich fast die Hälfte auf einem Schiff saß und tue mir selbst unendlich leid. So sollen meine Ferien also aussehen? Und warum genau habe ich mir diese Wanderung noch gleich vorgenommen?

*

Drei Stunden zuvor. Ich sitze auf dem Skibladner. Ein alter Raddampfer aus dem 19. Jahrhundert schippert mit mir über den Mjøsa-See, den größten Binnensee Norwegens. Lange habe ich mit mir gerungen, ob ich die Etappe heute ausfallen lasse oder nicht. Nun starre ich vom Schiff aus auf den Weg, den ich gegangen wäre und bin froh, dass der dröhnende Schiffslärm meine Gedanken übertönt. Die Sonne strahlt mit der guten Laune der meisten Passagiere um die Wette und ich ziehe meine Schirmmütze tiefer in die Stirn, um mein missmutiges Gesicht zu verbergen. Meinen Rucksack und meine Wanderschuhe möchte ich am liebsten verstecken, um den üblichen Fragen nach meinen Reiseplänen auszuweichen. Auf dem Schiff befinden sich viele Einheimische. Sie stehen und sitzen in Gruppen, Paaren und Familien zusammen und unterhalten sich auf Norwegisch. Ich sitze allein auf einer Bank mitten auf dem Schiffsdeck und habe die Beine auf den Rucksack gelegt. Später werde ich genau dort, wo meine Shorts enden und meine Socken beginnen, einen reizenden, knallroten Sonnenbrand bekommen, der mich bis zum Ende des Sommers begleiten wird. Eine ältere Dame, die mir gegenübersitzt, schmiert fleißig ihre Arme mit Sonnencreme ein. Eine Unternehmung, an der ich mir ein Beispiel hätte nehmen sollen. Sie wirkt geschäftig und nimmt wenig Notiz von den Menschen und der sich allmählich wechselnden Landschaft um sie herum.

Links von mir sitzt ein Vater, der seiner Tochter aus einem Buch vorliest. Es ist Alice im Wunderland von Lewis Carroll. Ich muss lächeln. Nachdem sie es beiseitegelegt haben, bleibt mein Blick noch eine Weile auf dem Buchdeckel haften. Es ist eine schöne Ausgabe mit einem blauen Einband und einem stilisierten Baum, auf dem eine Katze sitzt. Vor dem Baum schaut die charakteristische Darstellung einer blonden Alice in weißem Kleid und Schleife im Haar zur Katze hinauf. Der junge Vater hat gerade seiner Tochter erlaubt näher an die Schiffsrehling heranzutreten und fängt meinen Blick auf.

»Tolles Buch, oder?«, fragt er auf Englisch. Ich nicke und beteuere, dass es eines meiner Lieblingsbücher ist.

»Ist heute auch dein Nichtgeburtstag?«, fragt er mich aufmunternd.

»Ja«, sage ich lächelnd, »deiner auch?« Wir müssen beide lachen. Der Mann, der sich mir als Arjen vorstellt, trägt eine modische Sonnenbrille und ein blaues Hemd, dessen Ärmel er hochgekrempelt hat. Nach einer kurzen Pause frage ich, ob sie auch in Hamar aussteigen würden. Er nickt und fragt:

»Warst du schon einmal dort?« Ich schüttele den Kopf und wir schweigen kurz.

»Wir sind gerade hierhergezogen. Meine Frau arbeitete bis vor kurzem in Oslo und ich komme aus Amsterdam.«

»Was hat euch nach Hamar verschlagen?«

»Wir hatten die Großstadt satt und es war schnell klar, dass wir in Norwegen und nicht in den Niederlanden leben würden. Meine Schwiegereltern wohnen in Hamar und mir hat es sofort gefallen. Du wirst sehen, es ist eine sehr schöne Stadt.« Bei diesen Worten blicke ich erwartungsvoll nach vorn, nur um dann enttäuscht festzustellen, dass noch keine Stadt in Sicht ist.

»Fiel es dir schwer deine alte Heimat hinter dir zu lassen?«, frage ich.

Während Arjen überlegt, blickt er zu seiner Tochter hinüber, die an der Reling lehnend die Seevögel beobachtet. Mir fällt auf, dass sie mit ihren langen blonden Haaren und dem hellen Sommerkleid selbst ein bisschen Ähnlichkeit mit Alice hat. »Hast du Kinder?«, fragt er unvermittelt.

»Nein«, sage ich und merke, wie mich diese Frage immer ein bisschen auf meinem Stuhl herumrutschen lässt.

»Weißt du«, sagt er dann, »wenn man Kinder hat, wird alles irgendwie zweitrangig. Selbst Freunde, die jahrelang deine wichtigsten Bezugspersonen waren, rücken für die Familie in den Hintergrund. Das ist so. Wir haben uns dafür entschieden, was für Emmi und uns das Beste war. In Hamar haben wir viel Platz und Emmi hat zumindest Oma und Opa, also meine Schwiegereltern, da. In Amsterdam wäre das alles etwas anders gewesen. Und wie gesagt, Großstadt wollten wir nicht mehr.« Ich nicke stumm.

»Ich meine, natürlich vermisse ich meine Freunde. Wir sind in Kontakt und sehen uns, so oft es geht. Das klingt jetzt, als hätte ich sie gegen ein anderes Leben eingetauscht.« Er lacht bei diesen letzten Worten kurz schallend auf.

»Ich glaube, ich verstehe, was du meinst«, entgegne ich und wir schweigen eine Weile. Ich beobachte nun auch die Seevögel, die immer wieder das Schiffsdeck ansteuern, in der Hoffnung etwas Essbares zu ergattern. Dann erkläre ich: »Ich habe immer gedacht, ich sei eine Großstadtpflanze durch und durch. Als meine Eltern mit uns aufs Land zogen, habe ich zwei Monate lang nicht mit ihnen geredet, so sauer war ich auf sie. Mit Achtzehn bin ich dann sofort nach Berlin. Ich musste rein ins Getümmel, ins echte Leben. Mittlerweile flüchte ich vermehrt aus der Enge der Großstadt und sehne mich nach mehr Platz.« Mein Zuhörer nickt nun selbst teilnahmsvoll. »Und wenn deine Tochter es später will, kann sie immer noch in die Großstadt ziehen und ihre Eltern dafür verfluchen, dass sie mit ihr in irgendein Dorf in Norwegen gezogen sind.«

Ich grinse ihn an, doch er sagt nur: »Wart’s mal ab! Hamar wird dir gefallen.«

Wie aufs Stichwort zeichnet sich vor dem Schiffsbug die Silhouette einer Stadt ab.

»Papa!«, ruft die kleine Alice, die eigentlich Emmi heißt, und rennt aufgeregt zu ihrem Vater. Sie unterhalten sich auf Norwegisch und es scheint um die Mutter zu gehen. Ich löse mich langsam aus meiner entspannten Sitzposition und strecke meine steifen Glieder. Dann setze ich meinen Rucksack auf die Bank, auf der ich bis eben saß und hocke mich davor, um mir das Aufsetzen des Rucksacks zu erleichtern. Mit wenigen Handgriffen sind die Gurte festgezurrt. Unwillkürlich erinnert mein Körper sich daran, was es bedeutet eine Pilgerin zu sein. Das Schiff ist dem Ufer nun deutlich näher und steuert seitlich an den Landungssteg heran. Ich sehe, wie viele Menschen dichtgedrängt auf einer etwas erhöhten Plattform stehen und die Ankunft des Schiffes erwarten. Dabei fällt mir eine hochgewachsene, schlanke Frau mit langen glatten Haaren auf, die das Schiff nach jemandem abzusuchen scheint. Nach einigen weiteren Minuten, in denen das Schiff rangiert wird, ist die Position gefunden und das Dröhnen der Motoren, das während der gesamten Fahrt akustischer Begleiter war, verstummt.

Die Menschen drängen vom Schiff und ich reihe mich in die Schlange der von Bord Gehenden ein. Weiter vorne kann ich Arjen und Emmi erkennen. Sie winken begeistert einer Frau auf der Plattform zu. Als ich ihren Blicken folge, erkenne ich sogleich die großgewachsene Frau wieder, die mir zuvor aufgefallen war. Das unablässige Lächeln und Winken bedeuten mir, dass sich die eine Seite ebenso sehr auf das Wiedersehen freut wie die andere. Emmi springt auf und ab und ruft immer wieder nach ihrer Mutter. Nachdem die Passagiere einer nach dem anderen von Bord gelassen werden, fällt mir ein, dass ich mir noch keinen Stempel in meinen Pilgerpass habe geben lassen und laufe zurück in die Schiffskajüte. Es dauert eine Weile, bis die Frau an der Theke den Stempel und das Stempelkissen griffbereit hat. Dann prangt der Schriftzug Skibladner in wunderschönen serifenbesetzten Buchstaben in meinem Pilgerpass. Als ich wieder festen Boden unter den Füßen habe, kann ich Arjen und seine Familie unter der Menschenmenge nicht erspähen. Dann höre ich jemanden meinen Namen rufen und drehe mich einmal um meine eigene Achse, bis ich das Rufen orten kann. Es ist Arjen, der über mir steht und winkt.

»Schönen Nichtgeburtstag noch!«, ruft er. Ich muss lachen und winke ihm. Seine Frau lächelt mir zu, winkt und dann ist die Familie außer Sicht. Kurz schmerzt es mich, dass mich niemand erwartet, als ich von Bord steige. Dann setze ich mich in Bewegung.

Der Eingang zum Kaninchenbau lief erst geradeaus, wie ein Tunnel, und ging dann plötzlich abwärts; ehe Alice noch den Gedanken fassen konnte sich schnell festzuhalten, fühlte sie schon, dass sie fiel, wie es schien, in einen tiefen, tiefen Brunnen.

Lewis Carroll, Alice im Wunderland

Tag 1 – Gesegnet

36,1 km 859 m 710m Oslo

Der Bus rollt in mäßiger Geschwindigkeit über die Straße, während die Lüftung schwer und laut gegen die Hitze arbeitet. Ich stehe im mittleren Teil des Busses mit dem Rucksack auf den Schultern gegen die Fensterscheibe gelehnt. Gebannt folgt mein Blick den Unbekannten auf der Straße, die mal geschäftig, mal bummelnd, ihren Erledigungen nachgehen. Ein ebenso gewöhnliches wie befremdliches Bild. Wir fahren durch Einkaufsmeilen, vorbei an amtlichen Gebäuden, Schulen und Parks. Zurückhaltend gekleidete Menschen steigen aus und ein. Als der Bus an einer weiteren Haltestelle zum Stehen kommt, steige ich aus. Bis zu meinem Ziel ist es von hier nicht mehr weit. Die Sonne hat an diesem Morgen zwar noch längst nicht ihre volle Kraft entwickelt, brennt aber dennoch heiß auf meine dunkle Schirmmütze. Noch etwas unbeholfen stapfe ich in meinen dicken Wanderschuhen über die Straße und dann an einem umzäunten Friedhof entlang, der eher an einen Park erinnert. Mein Ziel ist das Pilgerzentrum. Dort bekomme ich den Pilgerpass, meine Dokumentationshilfe und Ausweis auf dem Weg. Auf einer Anhöhe nicht weit von mir entfernt, erblicke ich eine kleine Menschenansammlung. Noch etwas unsicher, steuere ich darauf zu.

Und dann stehe ich wenige Augenblicke später in einer kleinen Kapelle. Zumindest soll es eine sein. Ich staune nicht schlecht, denn sie ist bis obenhin vollgestopft mit allerlei Souvenirs. Neben Schlüsselanhängern und Kalendern stapeln sich Anstecknadeln, Aufkleber, und Aufnäher. Da stehen Tassen in verschiedenen Farben, dort hängen T-Shirts in allen erdenklichen Größen. Die obligatorischen Pilgerhandbücher reihen sich in unterschiedlichen Sprachen aneinander. Sogar Socken und T-Shirts kann ich kaufen. Und auf allen Produkten prangt das Olavskreuz, das mir in Vorbereitung auf diese Reise bereits vielfach begegnet ist. Es ist ein gleichschenkliges rotes Kreuz, das mit einem grauen, weißen oder manchmal auch goldenen Quadrat verbunden ist, dessen Ecken jeweils eine Schlaufe bilden. Ich berühre das eine oder andere Erinnerungsstück, das noch keines ist und bin versucht eine Anstecknadel zu kaufen. Im Nebenraum höre ich Stimmen. Ich lege die Nadel zurück und blinzele hinein. Ein Mann in einem langen schwarzen Gewand, vielleicht ein Priester, steht dort und spricht leise mit zwei Frauen. Sie lachen und wirken aufgeregt. Ich verstehe nicht, worum es geht, da sich alle auf Norwegisch unterhalten. Aber ich höre immer wieder die Worte Gudbrandsdalsleden, Olavsleden und Pilegrimsleden. Ich frage mich, ob sie wohl zukünftige Wandergefährtinnen werden. Da ich aber keine Rucksäcke erkennen kann und ihre Kleidung eher alltagstauglich denn wandertauglich wirkt, verwerfe ich diese Überlegung gleich wieder. Nach einem weiteren Augenblick löst sich die kleine Gruppe um den Priester auf und sie verabschieden sich. Die Frauen schieben sich durch den schmalen Eingang und während die eine in die Sonne hinaustritt, bleibt die andere bei den Wanderführern stehen und nimmt einen auf Norwegisch aus dem Regal. Dann steht der hoch gewachsene Mann in der langen Tracht vor mir.

»Velkommen«, begrüßt mich seine freundliche Stimme. Er blickt an mir herunter und nickt aufmunternd. »Du hast eine große Reise vor dir«, setzt er auf Englisch fort. Von meinem Erscheinungsbild muss er abgeleitet haben, dass ich die Landessprache nicht spreche. »Bist du hier für den Pilgerpass?« Ich nicke langsam. »Gut, dann folge mir bitte.« Ich gehe ihm hinterher und betrete den kleinen Nebenraum, in den ich zuvor hineingeblickt hatte. »Den Rucksack kannst du dort abstellen.« Er zeigt auf einen leeren Stuhl an der Wand. Wieder nicke ich und hieve mein Gepäck vom Rücken. Plumpsend fällt es auf den antik wirkenden Stuhl und ich blicke den Geistlichen entschuldigend an. Der ist derweil mit einem großen Buch beschäftigt, das vor ihm auf einem kleinen Tisch liegt. Darin kann ich eine Tabelle mit Namen und Zahlen erkennen.

»Du bist Pilgerin Nummer 243 in diesem Jahr. Hast du vor den gesamten Olavsweg zu gehen?« Ich nicke erneut. »Woher kommst du, wenn ich fragen darf?«

»Deutschland«, antworte ich knapp. Er notiert ein großes D in die Tabelle vor sich.

»Interessant, wir haben dieses Jahr viele Pilger aus Deutschland. Da muss es eine Revolution gegeben haben.« Er lächelt über die Idee einer deutschen Wanderrevolution und ich halte den Impuls zurück, ihm zustimmen zu wollen. Seitdem Hape Kerkeling kurz »mal weg« war, boomt die Wander- und Pilgerindustrie. Die Buchhandlungen sind voller Wanderführer und Erfahrungsberichte. »Verrätst du mir deinen Namen, damit ich dich in unser Register eintragen kann?«, unterbricht er meine Gedanken. »Es ist natürlich freiwillig.« Ich lächle kurz und nenne ihm meinen Namen und das Geburtsdatum, nachdem er auch das verlangt. Schließlich reicht er mir ein kleines Heft, welches wie eine Broschüre gefaltet ist. Es ist der Pilgerpass. Auf dem Deckel prangt das Konterfei des Namensgebers und das obligatorische Olavskreuz. Im Inneren bietet er Platz für eine Vielzahl von Stempeln und Notizen. Der Priester trägt meinen Namen ein und drückt sogleich den ersten Stempel in eines der vielen Kästchen. Der Pilgerpass galt früher den Obdachsuchenden als Zeugnis, dass sie kein kriminelles Gesindel waren. Heutzutage ist er ein netter Gesprächsanlass zwischen Pilgern und Herbergsleuten und eine schöne Erinnerung. Damals wie heute bestätigt er offiziell die Pilgerschaft und berechtigt zum Erwerb des Olavsbriefs, einer Art Urkunde über die Pilgerung, den man am Ende in Trondheim erhält. Meinen Pilgerpass werde ich auch noch Jahre nach meiner Reise immer wieder in die Hand nehmen und die vielen Stempel bewundern, die alle einzigartig und unveränderlich darauf haften, wie Tattoos auf der Haut.

»Damit wären die erforderlichen Formalitäten erledigt«, setzt er fort und greift nach einem weiteren, wesentlich schmaleren Buch, dann sieht er mich an und fragt: »Darf ich dir eine Segnung mit auf den Weg geben?« Ich bin unsicher. Davon gelesen hatte ich, mir aber keine Gedanken dazu gemacht, ob ich eine Segnung wollte oder nicht. Ich bin kein religiöser Mensch, doch neugierig. Ich bemerke, wie ich langsam nicke. Er lächelt. »Schön. Ich werde versuchen die Segnung auf Deutsch zu machen, wenn du möchtest.«

»Das wäre großartig«, entgegne ich und er nickt zufrieden. Der Priester zündet die auf dem Tisch thronende Kerze an, legt sich den hellblauen, satinartig schimmernden Schal über die Schultern, der zuvor hinter ihm an der Wand gehangen hatte und räuspert sich. Aufrecht steht er vor mir, in der rechten Hand das geöffnete Buch, die Linke ausgestreckt vor sich.

Die Worte, die er verlauten lässt, klingen wie ein Gedicht oder ein Gebet und es geschieht etwas, mit dem ich absolut nicht gerechnet hatte. Ich weine. Der Priester spricht von unbekannten, unbegangenen Wegen und Erfahrungen, die eines Schutzes bedürfen, um den er hiermit bitte und die Tränen kullern bei seinen Worten. Ich bin völlig überwältigt und ein bisschen überfordert und vor allem peinlich berührt. Als er zu Ende gesprochen hat, schließt er die Augen und murmelt etwas auf Norwegisch, das nach einem weiteren Gebet klingt und ich habe Zeit, mir hastig mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen zu streichen. Ich weiß nicht recht, woher diese emotionale Reaktion rührt und versuche mich zu sammeln. Der Priester verstummt, schlägt das Buch zu und legt es auf den Tisch vor sich. Dann greift er in eine kleine Kiste hinter sich und zieht ein schmales, etwa fünfzehn Zentimeter langes Bändchen hervor. »Dieses Band soll dich begleiten und beschützen«, sagt er nun wieder auf Englisch, »trage es bei dir bis zum Nidarosdom in Trondheim und du wirst sicher dort ankommen.« Ich zögere und überlege, welche Hand ich ihm reichen soll, entscheide mich für die linke und halte sie ihm entgegen, sodass er das kleine Band darumlegen kann. Während der Priester das Armband mit einem kleinen silbernen Metallring verschließt, erkenne ich das Olavskreuz, das dort gleich zwei Mal aufgedruckt wurde. Dazwischen, in schnörkellosen Lettern, steht der Satz »Gud velsigne og bevare dig« und obwohl ich kein Wort Norwegisch spreche, verstehe ich seine Bedeutung augenblicklich. Gott segne und beschütze dich.

Lächelnd und noch etwas benommen trete ich zurück ins Tageslicht. Ich habe keines der Andenken gekauft. Ich möchte es mir für den Tag der Ankunft in Trondheim aufsparen. Noch unsicher, wie es nun für mich weitergehen soll, beschließe ich, erst einmal einen Kaffee zu trinken. Und so sitze ich wenige Augenblicke später unter Bäumen und beobachte die Menschen, die in die Kapelle hinein- und wieder hinausgehen. Es sind während meines kurzen Aufenthalts nicht mehr als sechs. Einer hat wie ich den Rucksack geschnürt. Er scheint es eilig zu haben und ich werde ihn auf meinem weiteren Weg nicht wieder treffen. Mein Blick wandert hinab auf das Armband an meinem Handgelenk. Mit der rechten Hand schiebe ich die kleine silberne Kugel daran hin und her, wie ich es viele Male noch tun werde und spüre zum allerersten Mal, diese Unruhe, die ich bereits kenne, wenn ich mich am Anfang einer großen Reise befinde. Das Gepäck ist verschnürt, alle Vorbereitungen getroffen und der Weg liegt vor mir. Alles, was jetzt noch zu tun ist, ist der erste Schritt.

Ich zögere. Etwas hält mich zurück. Es ist … Angst. Angst den Strapazen nicht gewachsen zu sein. Angst irgendwo in norwegischen Wäldern verloren zu gehen. Angst vor dem Unbekannten. Angst vorm Alleinsein. Angst vor dem Versagen und die Zweifler doch nicht Lügen zu strafen. Plötzlich schmeckt mir mein Kaffee nicht mehr. Ich verstehe nicht, was in mich gefahren ist. Bis gerade eben ging es mir gut. War es ein Fehler hierher zu kommen? Zweifel nagen an mir. Zweifel von Selbstüberschätzung und Zweifel der selbst gewählten Sommerferiengestaltung. Mein Blick noch immer auf das Armband gerichtet, bleibt an dem Spruch hängen, der darauf geschrieben steht. Ich glaube nicht an Gott. Bin ich eine Heuchlerin, weil ich die Segnung dennoch in Anspruch genommen habe? Vielleicht ist es das, was mich während der Segnung des Pfarrers zum Weinen gebracht hat. Es war eine bewegende, nahezu magische Erfahrung, aber dennoch befremdlich. Die Kraft durch den Glauben dieses Geistlichen, die ich bei der Segnung erhalten habe, muss ich erst einmal übersetzen. Denn für gewöhnlich, ziehe ich Kraft und Zuversicht aus mir selbst. Ich glaube fest an den eigenen Willen und die Stärke, die aus mir selbst kommt. Ich glaube, dass wir gesegnet sind, wenn wir stark sind und an unsere Stärke glauben können. Meine Stärke kommt aus mir, aber sie wird genährt durch die Liebe meiner Familie und meiner Freundinnen und Freunden. Ich fühle mich stark und beschützt und gesegnet, weil ich weiß, dass sie da sind. Es ist ein Wissen, das mich reich macht und mir Sicherheit gibt. Ich versuche diesen Gedanken festzuhalten. Es fällt mir schwer, denn jetzt gerade fühle ich mich allein und ein wenig verloren. Ich beschließe meine Gedanken schriftlich zu sortieren, greife ein kleines Notizheft aus der Seitentasche meines Rucksacks und beginne zu schreiben.

Der letzte Satz meiner Aufzeichnungen ist eine Frage. Sie lautet: Ziehe ich das jetzt wirklich durch? Und auch wenn ich weiß, dass ich mir die Frage nicht nach jedem gegangenen Kilometer stellen darf, sonst lautet die Antwort in einem schwachen Moment womöglich doch einmal »Nein«, genügt mir das leise aber unwillkürliche »Ja« für den Moment. Und endlich laufe ich los.

Der verrückte Hutmacher: »Ich habe über Wörter nachgedacht, die mit einem M anfangen: Miststück, Meuterei, Mord, Missetat.«

Lewis Carroll, Alice im Wunderland

Tag 3 – Die Leiden der jungen S.

15,1 km 214 m 202m Eidsvoll

Zu Beginn einer längeren Wanderung ist alles schwer, zumindest als Neuling. Der Rucksack wiegt häufig mehr, als er sollte, den Beinen fehlt es an Muskelkraft und den Füßen an der vor den unvermeidlichen Blasen schützenden Hornhaut. Leiden gehört gewissermaßen zum Wandern dazu. Und das kann ich nicht sonderlich gut. Es nervt mich, nicht voll einsatzfähig zu sein und ich will nicht begreifen, dass mein Körper womöglich mehr Zeit braucht, um sich an die neue Herausforderung zu gewöhnen als mein Kopf. Mein linker Fuß ist geschwollen und zwar dermaßen, dass er kaum mehr in den Schuh hineinpasst. Ich habe die Kardinalsregel einer jeden Langstreckenwanderung gebrochen: Start slow! Bereits die ersten zwei Tage bin ich jeweils über dreißig Kilometer gelaufen. Hochmotiviert und das Ziel fest im Blick habe ich mich selbst erbarmungslos über den heißen Asphalt getrieben. Eine Pilgerreise ist aber ein Marathon und kein Sprint. Jetzt schleppe ich mich die letzten Kilometer des Tages nach Eidsvoll. Bei jedem Schritt fährt mir ein stechender Schmerz durch den Knöchel und ich sacke kraftlos auf das rechte, gesunde Bein. Schmerzen sind ja vor allem ein Warnsignal des Körpers, dass etwas nicht stimmt. Und Schmerzen passieren im Kopf. Über Nervenbahnen gelangt ein Reiz ins Gehirn und gibt bestimmte Impulse weiter. Wie stark wir Schmerzen wahrnehmen, hat auch damit zu tun, in welchem Gemütszustand wir uns befinden. Profisportler während eines Wettkampfs zum Beispiel spüren teilweise gar keinen Schmerz, wenn sie sich verletzen. Wenn wir erschöpft oder gestresst sind, spüren wir Schmerzen dagegen oft stärker.

Als ich in dieser Verfassung vor dem alten weißen Pfarrhaus in Eidsvoll stehe, etliche Kilometer in den Knochen, hungrig und verschwitzt, kann ich vor Schmerzen kaum noch stehen. Das Schild an der Eingangstür erklärt mir auf Englisch, dass ich bei Ankunft die Gastgeberin anrufen soll, damit sie mir die Tür aufschließt. Als ich die angegebene Nummer anrufe, antwortet mir eine freundliche Stimme und bereitet mich auf etwas Wartezeit vor. Ich bin für den Augenblick einfach nur froh, nirgendwo mehr hinlaufen zu müssen und bedanke mich. Das Pfarrhaus ist von einem großen parkähnlichen Garten umgeben und ich setze mich in den Schatten einer großen Buche. Es vergeht vielleicht eine Stunde bis ein Auto in die Kieseinfahrt einbiegt und wenige Schritte vor der Eingangstür hält. Bevor ich dabei beobachtet werden kann, wie ich mich ungelenk aufrichte, stehe ich schon wieder auf den Beinen und eile mit zusammengebissenen Zähnen die wenigen Schritte zum Haus und schließlich die Stufen zur Eingangstür hinauf. Nach einer kurzen Begrüßung, schließt mir die Gastgeberin mit einem gewaltigen Schlüsselbund in der Hand die Tür auf.

Der Flur, in den wir treten, ist lang und weiß getäfelt. Wir gehen an einem großen, salonartigen Raum vorbei. Ein gigantischer grüner Teppich schafft einen schönen Komplementärkontrast zu den weinroten Wänden, an denen Teller aus Messing schimmern. Kronleuchter schweben an der Decke. Ich kann ein weißes Klavier erspähen und einen Kamin. »Hier probt einmal die Woche der örtliche Theaterverein«, erfahre ich. Dann werde ich in die geräumige Küche geführt. Wände und Küchenschränke wurden einheitlich blau gestrichen. Ultramarin. In der Mitte des Raumes steht ein ovaler Tisch mit acht Stühlen drum herum. Ich frage mich unwillkürlich, wie viele Leute wohl heute mit mir hier übernachten. Als ob sie meine Gedanken erraten hätte, erklärt mir die Dame mit dem großen Schlüsselbund: »Du hast heute das gesamte Haus für dich allein, es hat sich bisher niemand weiter angekündigt. Du kannst dir oben ein Bett aussuchen. In der Küche kannst du alles an Geschirr und Töpfen verwenden, was du benötigst. Im Vorratsschrank stehen Konserven, die du kaufen kannst. Eine Preisliste und die Kasse findest du direkt darunter. Wenn du morgen gehst, kannst du die Tür einfach hinter dir zu ziehen. Gegen 10 Uhr kommt der Reinigungsdienst, bis dahin müsstest du ausgecheckt haben.«

Der rein informelle Monolog wirkt routiniert und lässt keine Fragen offen. Dann wird mir aber doch noch eine gestellt: »Hast du alles, was du brauchst?« Ich überlege kurz und antworte: