Melatonin - Dr. Jan-Dirk Fauteck - E-Book

Melatonin E-Book

Dr. Jan-Dirk Fauteck

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Beschreibung

Melatonin: weit mehr als nur ein "Schlafhormon". Dieses Standardwerk enthüllt die faszinierende Vielseitigkeit dieses Alleskönners für unser Wohlbefinden: Melatonin reguliert nicht nur unseren Schlafzyklus, es stärkt auch das Immunsystem und wirkt als starkes Antioxidans, das vor freien Radikalen schützt. Heute wissen wir auch über sein Potenzial bei der Vorbeugung und Behandlung von Krankheiten wie Herzerkrankungen, Krebs, Diabetes und Demenz, seinen Beitrag zur Senkung von Bluthochdruck, zur Regulierung des Cholesterinspiegels und zur geistigen Fitness im Alter. Mit zahlreichen praktischen Tipps bietet Dr. med. Jan-Dirk Fauteck einen unverzichtbaren Leitfaden für alle, die die Vorteile von Melatonin nutzen wollen.

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Dr. Jan-Dirk Fauteck — MELATONIN

INHALT

Vorwort

Einleitung

Melatonin im Laufe der Evolution

I. GRUNDLAGEN AUS DER MELATONIN-FORSCHUNG

Chronobiologie

Die Rhythmik unseres Körpers

Chronobiologie: Früher belächelt, heute anerkannt

Das dritte Auge: Melatonin als Botschafter des Tag-Nacht-Rhythmus

Weitere Orte der Melatonin-Produktion

Biologische Rhythmen: Durch Licht und Dunkelheit reguliert

Die inneren Uhren: Das Orchester aller Organe

Von der Lerche zur Nachtigall und wieder zurück

Umwelteinflüsse

Melatonin und seine Wirkungsweise

Synthese und Verstoffwechslung

Zelluläre Wirkmechanismen von Melatonin

Freie Radikale

Melatonin in den Mitochondrien

Melatonin und Mikro-RNAs

Chronopharmakologie: Neue Wege der Medizin

Melatonin und die wichtigsten Anwendungsbereiche

Schichtarbeit und Brustkrebs

Vergiftungen durch Harnstau

Sozialer Jetlag

Verbesserung der Lebensqualität

Schutz für das Herz-Kreislauf-System

Geistig fit bis ins hohe Alter

Verdauung und Ernährung

Depressionen

Elektromagnetische Felder

Störfaktoren für eine gesunde Melatonin-Produktion

Medikamente

Genussmittel

B-Vitamine unterstützen die Melatonin-Produktion

Phytomelatonin: Auch Pflanzen enthalten Melatonin

II. MELATONIN IM PRAXISALLTAG

Melatonin, der Tausendsassa

Circadiane Störungen und ihre klinische Bedeutung

Melatonin als Medikament

Messen von Melatonin

Melatonin bei verschiedenen Krankheitsbildern

Schlaf

Neuropsychiatrische Störungen

Kopfschmerzen

Chronische Schmerzen

Augen

Herz-Kreislauf-Erkrankungen

Verdauungsapparat

Diabetes

Fruchtbarkeit und Schwangerschaft

Krebs

Viruserkrankungen

Resümee und Ausblick

Quellenverzeichnis

Bildnachweis

Über die Autoren

VORWORT

Wie schon in seinem ersten Buch gibt Dr. Jan-Dirk Fauteck einen Überblick über wichtige neue Informationen zur Notwendigkeit der Aufrechterhaltung regelmäßiger biologischer Rhythmen und beschreibt kurz und bündig die pathologischen Folgen von Störungen des circadianen Rhythmus – und es gibt viele solcher negativen Nebenwirkungen. Einer der grundlegendsten und bekanntesten Rhythmen ist derjenige, der mit der Melatonin-Synthese und -Sekretion durch die Zirbeldrüse der Wirbeltiere zusammenhängt. Wenn der Melatonin-Zyklus aus irgendeinem Grund gestört ist, wird auch der Schlaf-Wach-Rhythmus gestört, was zu einer Reihe anderer neurologischer und psychologischer Probleme führt. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Folgen des Verlusts von Melatonin und seinem Rhythmus, der normalerweise nachts seinen Höhepunkt erreicht, weit über Schlafprobleme hinausgehen. Ein gut aufrechterhaltener Melatonin-Rhythmus hat auch positive Auswirkungen auf die Morphophysiologie des Gehirns und die neuronale Funktion.

In unserer modernen Gesellschaft gibt es leider keine klare Unterscheidung zwischen Tag und Nacht mehr, weil die nächtliche Beleuchtung, also die Lichtverschmutzung, weit verbreitet ist. Nächtliches Licht beeinträchtigt die Fähigkeit der Zirbeldrüse, Melatonin zu produzieren und auszuschütten. Dies hat zur Folge, dass bei Personen, die während der normalen Dunkelheit künstlichem Licht ausgesetzt sind, entweder gar kein oder ein stark gedämpfter Melatonin-Rhythmus besteht, was bei den meisten Stadtbewohnern und allen, die nachts arbeiten, der Fall ist. Diese Unterdrückung eines ausgeprägten Melatonin-Rhythmus und aller anderen biologischen Zyklen stellt eine ernsthafte Störung der biologischen Uhr vieler Organe dar und trägt zu einer gestörten Physiologie vieler Organe bei. Chronische Störungen der biologischen Rhythmen und des Melatonin-Zyklus wurden mit einer Reihe von neurodegenerativen Erkrankungen sowie einem erhöhten Krebsrisiko in Verbindung gebracht. Altersbedingte neurodegenerative Erkrankungen sind häufig die Folge einer übermäßigen Bildung von freien Radikalen, die vor allem in den Mitochondrien aller Zellen entstehen; die von ihnen verursachten Schäden, bezeichnet als oxidativer Stress, können durch Antioxidantien verhindert werden. Melatonin ist ein ungewöhnlich wirksames Antioxidans, sodass seine Verringerung durch die nächtliche Lichtexposition zahlreiche negative gesundheitliche Folgen, die mit der Anhäufung von oxidativ geschädigten Molekülen zusammenhängen, nach sich ziehen kann.

Zusätzlich zu dem Melatonin-Verlust, der sich aus der Lichtexposition während der normalen Dunkelheit ergibt, werden die biologische Uhr und die Melatonin-Produktion bei älteren Menschen durch das Altern in der Regel stark beeinträchtigt. Die Verringerung der Fähigkeit, Melatonin zu produzieren, beginnt irgendwann im mittleren Lebensalter, und bei älteren Menschen ist es oft praktisch nicht mehr im Blut vorhanden. Der Rückgang des Melatonin-Spiegels mit zunehmendem Alter scheint mit vielen schwächenden Veränderungen in Verbindung zu stehen, die mit fortgeschrittenem Alter einhergehen, etwa Hautverschlechterung, Katarakte, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Neurodegeneration oder Diabetes Typ 2.

Die Einnahme von Melatonin als Nahrungsergänzung ist weit verbreitet, um Schlafstörungen zu beheben; sein Nutzen in diesen Bereichen ergibt sich aus seiner Fähigkeit, die circadiane Uhr zu regulieren. Aufgrund seiner Wirkung als starkes Antioxidans schützt Melatonin möglicherweise auch vor den Folgen des Alterns und vielen altersbedingten Krankheiten. Dr. Jan-Dirk Fauteck gibt einen umfassenden und maßgeblichen Überblick über die umfangreiche wissenschaftliche Literatur, die die potenziellen Vorteile der Einnahme von Melatonin veranschaulicht. Melatonin ist ein ungiftiges Molekül, das seit vielen Jahren in großem Umfang von Menschen eingenommen wird, wobei nur sehr wenige unerwünschte Ereignisse gemeldet wurden. Seine Nebenwirkungen sind im Wesentlichen gleich null.

Dieses Buch beschreibt klar und deutlich, wie Melatonin produziert und ausgeschüttet wird, wie der vorherrschende, künstlich eingeführte Hell-Dunkel-Zyklus seinen Rhythmus stören kann und wie sich dies auf andere potenzielle Pathologien auswirkt. Der Autor erklärt die Beziehung zwischen gestörten circadianen Rhythmen und unterdrückten Melatonin-Spiegeln und Krankheitsprozessen auf eine Art und Weise, die für alle Leserinnen und Leser verständlich ist. Dies ist ein wertvoller und wesentlicher Beitrag zum Verständnis des Zusammenhangs zwischen Licht und Dunkelheit, der biologischen Uhr, Melatonin und der menschlichen Gesundheit. Die Lektüre wird daher für praktisch jeden, der sich mit dem Inhalt auseinandersetzt, von Nutzen sein. Die gebotenen Informationen erfüllen einen sehr wichtigen, bisher ungedeckten Bedarf.

Russel J. Reiter, Ph.D., Dr. h.c. mult.

Professor für Zellbiologie an der University of Texas (San Antonio); forscht seit über 50 Jahren zum Thema Melatonin und ist mit mehr als tausend Originalarbeiten über dessen Wirkungsweise und Anwendung der meistzitierte Autor, wenn es um Melatonin geht.

EINLEITUNG

Unser Leben wird von Rhythmen bestimmt, ebenso wie unser Körper: Wir stehen morgens auf, wir essen mehrmals am Tag, verrichten diverse Tätigkeiten, in der Nacht schlafen wir. Verantwortlich für diese Rhythmussteuerung ist ein Hormon, das erst Mitte der 1950er-Jahre entdeckt wurde: Melatonin. Seitdem macht es in seiner „Karriere“ als Untersuchungsobjekt Quantensprünge und wird immer wieder mit neuen vielversprechenden Synonymen bedacht: Melatonin gilt als das „Schweizer Messer“ (Reiter et al. 2014a) unter den Hormonen, als multifunktionales Talent, das mit seiner vielseitigen Wirkung auf unsere Gesundheit längst zum Star-Hormon avanciert ist und als eine der besten Ideen der Evolution betrachtet wird. (Reiter et al. 2017) Doch hält es auch, was es verspricht?

Die Wissenschaft ist sich einig: Melatonin als das Multitasking-Hormon (Reiter et al. 2014a) hat schon jetzt alle Erwartungen bei Weitem übertroffen! Und es ist noch mehr zu erwarten, denn die Forschung steckt, verglichen mit den jahrzehntelangen intensiven Untersuchungen anderer Körperfunktionen, noch in den Kinderschuhen.

Neben seinem schlafunterstützenden Effekt schützt Melatonin als potentes Antioxidans unseren Körper vor freien Radikalen und sichert Lebensqualität sowie geistige Fitness auch im hohen Alter. Es stärkt unser Immunsystem, senkt den Blutdruck und Cholesterinspiegel und kann damit helfen, Herzerkrankungen vorzubeugen. Studien beweisen zudem seine hervorragende Wirksamkeit unter anderem in der Behandlung von Krebs, Diabetes, Migräne, chronischen Schmerzen, Viruserkrankungen, Augenerkrankungen oder Unfruchtbarkeit. Melatonin ist damit ein wahrer Tausendsassa für unsere Gesundheit.

Stellen Sie sich Ihre Organe als Orchester vor, das nur durch perfektes Zusammenspiel unter der Leitung eines begnadeten Dirigenten reibungslos funktioniert. Am Dirigentenpult: Melatonin, unser körpereigener Taktgeber, der für den Rhythmus sorgt und in der Nacht an alle wichtigen Körperfunktionen und Organe das Signal zur Regeneration gibt. Stimmt unser Rhythmus nicht mehr, kommt unser Körper aus dem Gleichgewicht. Ein Thema, mit dem sich die Chronobiologie seit erst rund zwei Jahrzehnten intensiv beschäftigt. Dank dieser jungen Wissenschaft haben wir erkannt, wie wichtig die Feinabstimmung der Rhythmizität für unsere Gesundheit und im Kampf gegen viele Krankheiten ist. Schon jetzt liefert uns die Chronobiologie maßgebliche physiologische und pathologische Erkenntnisse für eine individuelle Medizin. Und noch viel mehr ist in der Zukunft von dieser Wissenschaft zu erwarten.

Melatonin im Laufe der Evolution

Melatonin ist ein uraltes Molekül, das bis zum Ursprung allen Lebens zurückverfolgt werden kann, denn schon die ersten Zellen und Lebewesen auf dieser Erde verfügten darüber. Synthetisiert wurde Melatonin bereits in den Cyanobakterien. Dabei handelt es sich um eine der ältesten Lebensformen, die Licht als Energiequelle nutzt und zur Photosynthese imstande ist, wie Sie unter anderem anhand der „Algenblüte“ beobachten können, wofür Cyanobakterien verantwortlich sind.

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. 1:

Die evolutionäre Entwicklung von Melatonin

(modifiziert nach Reiter et al. 2017/Zhao et al. 2019)

Auch wenn die Struktur von Melatonin seit Milliarden von Jahren gleichgeblieben ist, so haben sich doch seine Funktionen vervielfältigt. Zunächst hatte Melatonin die Funktion eines Radikalfängers, so die Annahme von Wissenschaftlern. Erst später entwickelten sich die weiteren Eigenschaft en von Melatonin, darunter auch jene der Steuerung der circadianen Rhythmik. (Reiter et al. 2017, Zhao et al. 2019)

Übrigens verfügen nicht nur Mensch und Tier über Melatonin, sondern auch Pflanzen. Hier erfüllt Melatonin wichtige Aufgaben, wenn es beispielsweise als freier Radikalfänger agiert, vor gift igen Chemikalien schützt, die Photosynthese unterstützt, ebenso wie das Wachstum und die Wurzelbildung. (Arnao & Hernández-Ruiz 2018)

Seit mehr als zwei Milliarden Jahren vorhanden

Melatonin wird im Menschen unter anderem in der Zirbeldrüse produziert, die als Epiphyse oder Glandula pinealis seit Jahrtausenden erforscht wird. Schriftlich wurde die Pinealis erstmals bei Galenus von Pergamon (130–200 n. Chr.), einem griechischen Arzt und Astronomen, erwähnt, der als Erster ihre Form, Struktur und Funktion beschrieben hat. Galenus wie auch andere griechische Philosophen sahen den Sitz der Seele bereits im Gehirn, das heißt speziell in der Pinealis, und nicht wie bis dahin üblich im Herzen. (Vgl. z. B. Kunz 2006, Arendt 1995, Yu et al. 1993)

Auch der französische Philosoph und Mathematiker René Descartes beschäftigte sich, auf der Suche nach dem Sitz des Denkens, mit der Zirbeldrüse. Er war fasziniert von der Pinealis und schrieb ihr, gewissermaßen als „drittes Auge“, die Kontrolle der Körperbewegungen zu. Denn er war überzeugt, dies geschehe über die Retina, die Netzhaut des Auges. Und: Descartes war der festen Meinung, der Sitz der Bewegung liege in der Pinealdrüse.

Im 17. Jahrhundert geriet diese Theorie wieder ins Wanken: Wissenschaftler jener Zeit betrachteten die Pinealis bloß als verkümmerte Drüse ohne jegliche Funktion. In den folgenden Jahrhunderten weckte die pinienförmige Zirbeldrüse – daher auch ihr lateinischer Name Glandula pinealis – das Forschungsinteresse nur selten und lediglich halbherzige Untersuchungen wurden angestellt. Dennoch wurde immer wieder der Versuch unternommen, ihr Mysterium zu lüften, doch behielt sie bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts viele ihrer Geheimnisse.

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. 2:

Historische Abbildung nach Descartes

1950er-Jahre: Melatonin wird entdeckt

Bewegung in die moderne Melatonin-Forschung kam 1958 durch den Dermatologen Aaron Lerner. Mit Tests an Amphibien wollte er jenes Hormon, das für den bleichenden Faktor ihrer Haut verantwortlich ist, untersuchen. Daher interessierte er sich besonders für die Zirbeldrüse, die bisher auf kein großes wissenschaftliches Interesse im dermatologischen Bereich gestoßen war. Nach vier langen Forschungsjahren glückte Lerner der Durchbruch und er konnte das Hormon benennen, das für die Hautbleichung verantwortlich ist: „N-acetyl-5-methoxy-tryptamin“, das er kurz als „Melatonin“ bezeichnete, eine Wortschöpfung aus dem Pigmentstoff „Melanin“ (Mela-) und dem Glückshormon „Seratonin“ (-tonin), aus dem Melatonin – vereinfacht ausgedrückt – produziert wird.

Lerner war es auch, der durch einen Selbstversuch erstmals die schlafunterstützende Wirkung von Melatonin entdeckte: Er nahm hundert Milligramm Melatonin ein und bemerkte, dass er, außer großer Müdigkeit, keine Nebenwirkungen verspürte. Ein weiterer Durchbruch gelang 1963, als Richard Wurtmann herausfand, dass Melatonin nur in der Dunkelheit in den Kreislauf gelangt beziehungsweise produziert wird.

Die negative Wirkung von Licht auf die Melatonin-Produktion konnte Alfred Lewy 1981 erstmals beweisen – eine wichtige Erkenntnis auch für die Chronobiologie. Somit konnte nämlich gezeigt werden, dass der Taktgeber Hell-Dunkel in unserem Körper in ein Signal übersetzt wird, das in weiterer Folge unseren Rhythmus bestimmt. Gerade diesem Unterschied von Tag- und Nacht-Rhythmus – beispielsweise beim Jetlag – und seinen Auswirkungen auf unseren Körper und unsere Gesundheit haben sich bis heute viele Forschende verschrieben. (Vgl. dazu Johnston & Skene 2015, Vasey et al. 2021)

Vom Hype zur intensiven Forschungsarbeit

Ab den 1980er-Jahren intensivierte sich das Interesse an Melatonin und seiner Erforschung – und hält bis heute an –, um seinen vielfältigen Wirkungen auf unsere Gesundheit auf den Grund zu gehen. Noch vieles bleibt zur Wirkungsweise zu erforschen, bisherige Studien lassen aber ein noch breiteres Spektrum seiner positiven Effekte auf unseren Organismus erwarten als bisher angenommen, wie Untersuchungen der letzten Jahre mehrfach unter Beweis gestellt haben.

Seinen ersten „Hype“ erlebte Melatonin in den 1990er-Jahren, vor allem in den USA: Als Wundermittel propagiert, stürzten sich die Amerikaner geradezu auf die bald frei verkäuflichen Präparate, noch gefördert durch das 1995 erschienene Buch „The Melatonin Miracle“. (Pierpaoli & Regelson 1995) Erste Studien und Tests erteilten allen wundersamen Versprechungen dieser Publikation eine Absage: Skepsis über die nicht eindeutige und erhoffte Wirkung von Melatonin war die Folge. (Reiter & Robinson 1995) In den folgenden Jahrzehnten entwickelte sich das Interesse an Melatonin sprunghaft: Laut PubMed, einer englischsprachigen Datenbank mit wissenschaftlichen Artikeln zur gesamten Biomedizin, wurden im Jahre 1995 465 Arbeiten zu Melatonin veröffentlicht. 2023 waren es 1930 Arbeiten, die in hochwissenschaft lichen Zeitschrift en publiziert wurden. Sie sehen: Das Forschungsinteresse an Melatonin ist enorm, insgesamt werden auf PubMed derzeit (Stand: Mai 2024) sage und schreibe 33.219 Beiträge gelistet, die sich mit der Wirkung von Melatonin beschäft igen.

I. GRUNDLAGEN AUS DER MELATONIN-FORSCHUNG

CHRONOBIOLOGIE

Die Chronobiologie, die Wissenschaft der inneren Rhythmen, leitet sich ab aus den griechischen Wörtern „chrónos“ (Zeit), „bíos“ (Leben) und „lógos“ (Rede, Wort). Sie beschreibt damit unsere biologischen Rhythmen, die beeinflusst sind von inneren (endogenen) und äußeren (exogenen) Taktgebern, die sich wiederum gegenseitig beeinflussen. Herzschlag, Atmung, Schlaf – all das wird von unseren inneren Rhythmen gesteuert.

Der wichtigste exogene Taktgeber ist die Sonne. Vor Urzeiten, als unsere Vorfahren noch nicht einmal das Feuer für sich entdeckt hatten, passte sich der Mensch diesem natürlichen Zeitgeber an. Ab Sonnenaufgang arbeitete man, die Nacht diente dem Schlaf und der Regeneration.

Die Rhythmik unseres Körpers

Hormone, Organe, unser ganzer Körper folgt einer bestimmten Rhythmik, die wiederum den Tageszeiten unterworfen ist. Haben Sie schon einmal Schuhe am frühen Vormittag gekauft? Wie ist es Ihnen ergangen, als Sie Ihren neuen Kauf am Abend zum Ausgehen anprobiert haben? Haben sie noch genauso gut gepasst wie zu Beginn des Tages? – Vermutlich nicht, was mit Ihren geschwollenen Füßen zusammenhängt, und dies wiederum mit der Rhythmik Ihres Körpers.

Oder ein anderes Beispiel: Wann kuscheln Sie am liebsten mit Ihrem Partner? Am Vormittag? Oder zu Mittag? Vermutlich eher am Abend und das ist völlig normal. Denn die Wissenschaft weiß längst, dass die Sexualhormone des Menschen keineswegs vor dem Schlafengehen auf ihrem Höchststand sind, sondern vielmehr morgens, wenn die Geschlechtsorgane gut durchblutet und weich sind. Das sogenannte „Kuschelhormon“ hingegen hat seinen Höhepunkt zum Abend hin.

ABB. 3: Der Rhythmus des Lebens

Sie sehen schon: Alle Vorgänge in unserem Körper werden von einem Rhythmus bestimmt, der mitunter sogar messbar ist, wie das Schuh-Beispiel zeigt. Auch unsere Körpergröße variiert, ähnlich wie die Füße, im Laufe eines Tages zwischen ein und zwei Zentimetern. Für die medizinische Diagnostik ist es ebenfalls wichtig, die Gesetze der Chronobiologie zu beachten: Eine Blutanalyse am Abend durchgeführt, zeigt im Ergebnis mehr Blutkörperchen als am Morgen. Unbewusst wenden Sie die Gesetzmäßigkeiten der Chronobiologie vermutlich schon jetzt an: Wenn Sie eine Frau sind, tragen Sie morgens vielleicht eine leichtere Hautcreme mit UV-Schutz auf als am Abend. Wenn Sie eine Diät machen, nehmen Sie am Abend wohl kaum eine Kalorienbombe zu sich. Viele Menschen verzichten ab einer bestimmten Uhrzeit auf Kaffee, weil sie dann nur schwer einschlafen können. Die Chronobiologie bestimmt damit viele unserer täglichen Handlungen, ohne dass wir diese bewusst wahrnehmen. (Siehe Abb. 3)

Chronobiologie: Früher belächelt, heute anerkannt

Die Chronobiologie hat sich erst spät, Mitte der 1980er-Jahre, als eigenständige und anerkannte wissenschaftliche Disziplin etabliert. Erst ab diesem Zeitpunkt wurden die tageszeitlichen rhythmischen Schwankungen unseres Körpers, etwa die Herzfrequenz, der Blutdruck oder die Körpertemperatur, nicht mehr als pathologische, also krankhafte Erscheinungen betrachtet, sondern als physiologische, natürliche Prozesse.

Was drei Jahrzehnte zuvor noch belächelt wurde, wird heute intensiv erforscht – mit beeindruckenden und erstaunlichen Ergebnissen zum Zusammenspiel von Körper, Geist und Zeit. Untersuchungen haben gezeigt, dass zum Beispiel die Herzfrequenz, der Blutdruck oder die Körpertemperatur rhythmisch während des Tages schwankt: So ist Ihre Körpertemperatur in der Früh höher als am Abend. – Ein ganz natürlicher Vorgang, denn Ihr Organismus passt sich seiner Umgebung an.

Fehlt diese Anpassungsleistung oder sind Ihre Biorhythmen Störungen ausgesetzt, bedeutet das für den Organismus Stress – mit oft ernsten Konsequenzen für die Gesundheit. Denken Sie an Menschen, die täglich Schichtarbeit leisten, mit völlig unterschiedlichen Tag-Nacht-Rhythmen. Studien haben ergeben, dass sie wesentlich öfter an Diabetes, Bluthochdruck und Krebs leiden. Ihre inneren Rhythmen sind völlig aus dem Gleichgewicht, sie arbeiten eigentlich gegen ihren Rhythmus, was zusätzlich zu Verdauungsproblemen, Nervosität, Schlafstörungen, Herzkrankheit, reduzierten Gedächtnisleistungen und minderer Konzentration führen kann. All diese Rhythmusstörungen haben eines gemeinsam: eine gestörte, oftmals erniedrigte Melatonin-Produktion.

Die gedrosselte Melatonin-Produktion stört auch Prozesse der Zellteilung und Zellreparatur, wodurch das Risiko einer Tumorbildung erhöht wird. Viele Studien (z. B. Reiter & Robinson 1995, Vetter et al. 2016, Bhatti et al. 2016, Qian & Scheer 2016, Zeng et al. 2024) kommen stets zu demselben Schluss: Jede Störung unseres natürlichen Rhythmus beziehungsweise eine veränderte Melatonin-Freisetzung zieht schwere Folgen für unsere Gesundheit nach sich.

Das dritte Auge: Melatonin als Botschafter des Tag-Nacht-Rhythmus

Licht und Dunkel – diese Impulse bestimmen unsere Wachzeiten und unseren Schlaf, kurz: unseren Tag-Nacht-Rhythmus. Melatonin, das Hormon der Dunkelheit, gibt die Information „Nachtbetrieb“ an unser Gehirn und alle anderen Organe in unserem Körper weiter: Die Körpertemperatur sinkt, unsere Organe beginnen mit ihrer Regeneration.

Melatonin wird, neben vielen anderen Orten, speziell in der Zirbeldrüse (= Pinealorgan), dem sogenannten „dritten Auge“, gebildet. Es wird deshalb so bezeichnet, weil jeder Lichtimpuls von der Netzhaut des Auges, der Retina, an die innere Uhr, den Nucleus suprachiasmaticus (SCN), weitergeleitet wird, der eine Schaltzentrale unseres Gehirns ist. Der SCN wiederum ist über einen komplexen Weg mit der Zirbeldrüse verbunden, sodass das Melatonin in dieser Drüse vor allem in der Nacht, also bei kompletter Dunkelheit, gebildet und freigesetzt wird. Auch wenn die Zirbeldrüse in hohem Maße mit Blut, in das sie einen Teil des Melatonins abgibt, versorgt wird, so vermutet man, dass sie das Melatonin auch vermehrt an den Liquor (CSF), die Gehirn-Rückenmarkflüssigkeit, weitergibt. Dadurch ist die gesamte Gehirnregion mit großen Mengen an Melatonin versorgt und vor oxidativen Schäden geschützt. (Tan et al. 2023) Darüber hinaus beeinflusst Melatonin auch direkt die „Master clock“ und somit alle anderen Uhren beziehungsweise Rhythmen in unserem Körper.

Weitere Orte der Melatonin-Produktion

Lange Zeit lag der Fokus der Melatonin-Forschung auf seiner Produktion in der Zirbeldrüse und der damit verbundenen circadianen Rhythmik. Untersuchungen der letzten Jahre haben nun ergeben: Es gibt noch viele weitere Orte im Körper, wie den Verdauungstrakt, die Blutplättchen, die Retina, die Hoden und die Eierstöcke, das Rückenmark, die Lymphozyten, die Haut und so weiter, die alle für die Melatonin-Produktion verantwortlich sind. In den jeweiligen Zellen wird das Melatonin in den Mitochondrien, den Kraftwerken unserer Zellen, primär gebildet. Dieses nicht-pineale Melatonin wird vor allem bei Tageslicht produziert und hat weitgehend lokale Effekte, beispielsweise in seiner Wirkung als Antioxidans.

ABB. 4: Produktionsorte von Melatonin (modifiziert nach Tan et al.)

Übrigens wird das Melatonin an all diesen Orten nicht in gleicher Menge produziert. Besonders große Mengen finden sich in den Mitochondrien und den Zellkernen, etwas weniger im Zytoplasma und den Membranen. Auch der Melatonin-Spiegel im Liquor ist bedeutend höher als im Blut.

Studien haben kürzlich zudem ergeben, dass insbesondere das sogenannte Nahinfrarot (NIR) einen weiteren wichtigen Stimulus für die Melatonin-Produktion darstellt. Dabei handelt es sich um Licht mit einer größeren Wellenlänge von 800 bis 1000 Nanometer. NIR erhöht unter anderem das Melatonin in den Mitochondrien und dringt dafür tief in die unteren Hautschichten und Organe ein, ebenso wie über den CSF ins Gehirn. (Tan et al. 2023) (Siehe Abb. 4)

ABB. 5: Schematische Darstellung der komplexen Verknüpfung verschiedener Zeitgeber (modifiziert nach Hardeland 2013)

Erwiesen ist mittlerweile, dass das nicht im Pinealorgan produzierte Melatonin die nächtliche Melatonin-Produktion in der Zirbeldrüse beeinflusst und somit auch als übergeordneter Zeitgeber funktioniert. (Zimmerman & Reiter 2019) (Siehe Abb. 5)

Biologische Rhythmen: Durch Licht und Dunkelheit reguliert

Jenes Melatonin, das für die Rhythmik im Körper verantwortlich ist, wird, wie erwähnt, vor allem bei Dunkelheit, also in der Nacht, im Pinealorgan produziert und freigesetzt. Licht hingegen unterdrückt diese Produktion. (Siehe Abb. 6) Die Information „Dunkelheit“ wird durch das Melatonin an fast alle Zellen und Organe weitergegeben. Das Hormon wirkt dadurch wie ein innerer Signal- und Zeitgeber auf die Zellen und Organe ein, denn jede Zelle folgt einer bestimmten Rhythmik. (Siehe Abb. 7)

Während des Tages wird über die Zirbeldrüse sehr wenig Melatonin ausgeschüttet, erst am Abend beginnt die intensive Produktion. Gegen 23:00 Uhr schnellt der Pegel des „Schlafhormons“ auf das Achtfache des Tagespensums. Das ist das Signal für den Befehl „Nachtbetrieb“ an die Organe und das Gehirn speichert jetzt etwa die wichtigen Informationen vom Tag im Langzeitgedächtnis.

Diese Ruhezeiten sind für die Organe und unseren Organismus lebenserhaltend und gesundheitsfördernd. Das zeigt sich auch daran, dass die Wissenschaft heute mehr als hundert Leiden unterscheidet, die als schlafbezogen gelten!

ABB. 6: Komplexe neuronale Verknüpfung des Auges mit dem Pinealorgan. Sobald Licht auf die Netzhaut fällt, wird die Produktion von Melatonin im Pinealorgan blockiert.

ABB. 7: Schematische Darstellung des normalen Melatonin-Rhythmus eines Erwachsenen

Ist unser Schlaf gestört, kann das viele Ursachen haben. Wir leben in einer Zeit, in der wir permanent Licht ausgesetzt sind: der Fernseher und das Handy mit ihrem blauen Licht, der E-Reader, der Wecker neben unserem Bett – all diese Geräte sind Rhythmuszerstörer, die unseren Melatonin-Haushalt durcheinanderbringen. (Vgl. z. B. Chang et al. 2015)

Studien haben gezeigt, dass hingegen rotes Licht die nächtliche Melatonin-Produktion wesentlich weniger negativ beeinflusst und sogar Menschen mit einer Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus (Delayed Sleep Phase Disorder, DSPD) helfen kann, zu einem gesunden Schlaf zu kommen. (Vgl. z. B. Esaki et al. 2016)

Auf unserer äußeren Netzhaut sorgen Sinneszellen dafür, dass wir den Unterschied von Hell und Dunkel wahrnehmen. Diese Information wird durch die Photorezeptoren über die Nervenzellen an das Gehirn weitergegeben und von dort an das Pinealorgan und anschließend weiter an alle Organe in unserem Körper.

Was sind Photorezeptoren?

Photorezeptoren sind Zellen, die vermehrt das Pigment Melanopsin enthalten und die besonders auf Licht reagieren, das heißt neben den Stäbchen und Zäpfchen im menschlichen Auge für das Empfangen von Licht von Bedeutung sind.

Auch blinde Menschen, sofern ihre Netzhaut nicht völlig zerstört ist, nehmen den Unterschied von Dunkelheit und Helligkeit wahr, geht es dabei doch nur um ein Empfinden des Lichts, was oftmals nicht bewusst wahrgenommen wird. Dennoch: Sehbehinderte Menschen haben meist empfindlichere Photorezeptoren, die sehr sensibel auf jede noch so kleine Lichtveränderung reagieren. Darin liegt auch ein Grund, warum sie dreimal so häufig von der jahreszeitlichen Depression (SAD) betroffen sind, eine Erkrankung, die unter anderem auf eine gestörte Melatonin-Produktion zurückzuführen ist. (Madsen et al. 2016a, Dollish et al. 2024)

Was ist aber nun eigentlich ein biologischer Rhythmus? Die Frage kann nicht eindeutig beantwortet werden, denn die Chronobiologie kennt viele Rhythmen von unterschiedlicher Länge. Manche erzeugt unser Körper selbst, andere werden von äußeren Umwelteinflüssen bestimmt. Fest steht: Jeder regelmäßige biologische Prozess kreiert automatisch seinen eigenen biologischen Rhythmus. Fast alle Rhythmen stehen wiederum in einem gegenseitigen Wechselspiel, sodass sie sich untereinander beeinflussen und regulieren. Der Tag-Nacht-Rhythmus sowie der daraus resultierende Melatonin-Rhythmus spielen hierbei eine Hauptrolle, indem sie viele der körpereigenen Rhythmen untereinander synchronisieren.

Die wichtigsten Rhythmen lassen sich hinsichtlich ihrer jeweiligen Periodendauer beschreiben, also jener Zeit, die sie benötigen, um einen Zyklus zu durchlaufen, beziehungsweise danach, wodurch sie beeinflusst werden:

Circadiane Rhythmen

Darunter versteht man einen biologischen Rhythmus mit einer periodischen Dauer von zirka 24 Stunden. Die Körpertemperatur, die Produktion vieler Hormone, die Schmerzempfindlichkeit und die Leistungsfähigkeit, die motorische Aktivität und viele wichtige andere Prozesse werden von den circadianen Rhythmen gesteuert.