Melissa - Alex Gino - E-Book

Melissa E-Book

Alex Gino

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Beschreibung

»Read this.« John Green George ist zehn Jahre alt, geht in die vierte Klasse, liebt die Farbe Rosa und liest heimlich Mädchenzeitschriften, die sie vor ihrer Mutter und ihrem großen Bruder versteckt. Denn alle um sie herum denken, dass George ein Junge ist, weil sie einen Jungskörper, eine Jungsfrisur und einen Jungsnamen hat. Fast verzweifelt sie daran! Denn sie ist ein Mädchen! Und sie möchte Melissa heißen! Bisher hat sie sich noch nicht getraut, mit jemandem darüber zu sprechen. Noch nicht einmal ihre beste Freundin Kelly weiß davon. Aber dann wird in der Schule ein Theaterstück aufgeführt. Und Melissa will die weibliche Hauptrolle spielen, um allen zu zeigen, wer sie ist. Das sagt Alex Gino, Autor*in von »Melissa«: »Wie wir Menschen nennen, ist wichtig, und wir alle verdienen es, auf eine Weise angesprochen zu werden, die sich gut für uns anfühlt.« - Zuvor veröffentlicht unter dem Titel »George«, erhält nun auch die deutschsprachige Ausgabe auf Wunsch von Autor*in und Community den neuen Titel »Melissa«. - Mehrfach ausgezeichneter Kinderroman zum Thema Transidentität - Ein ergreifendes Kinderbuch und in seiner erzählerischen Schlichtheit große LiteraturUnter dem Titel »George« bei Antolin gelistet

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Seitenzahl: 155

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Sammlungen



Alex Gino

Melissa

Roman

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Alexandra Ernst

 

Über dieses Buch

 

 

»Read this.« John Green

 

George ist zehn Jahre alt, geht in die vierte Klasse, liebt die Farbe Rosa und liest heimlich Mädchenzeitschriften, die sie vor ihrer Mutter und ihrem großen Bruder versteckt. Denn alle um sie herum denken, dass George ein Junge ist, weil sie einen Jungskörper, eine Jungsfrisur und einen Jungsnamen hat. Fast verzweifelt sie daran! Denn sie ist ein Mädchen! Und sie möchte Melissa heißen! Bisher hat sie sich noch nicht getraut, mit jemandem darüber zu sprechen. Noch nicht einmal ihre beste Freundin Kelly weiß davon. Aber dann wird in der Schule ein Theaterstück aufgeführt. Und Melissa will die weibliche Hauptrolle spielen, um allen zu zeigen, wer sie ist.

 

 

»Wie wir Menschen nennen, ist wichtig, und wir alle verdienen es, auf eine Weise angesprochen zu werden, die sich gut für uns anfühlt.« Alex Gino, Autor*in von Melissa

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

Alex Gino, geboren und aufgewachsen in Staten Island, New York, mag die Natur und Geschichten, die die Vielfalt des Lebens widerspiegeln. Heute lebt Alex Gino mit Partner und zwei Katzen in Kalifornien, USA. Alex Gino ist seit über zwanzig Jahren in der queeren und transgender Bewegung aktiv. Persönliche Erfahrungen und das Wissen, dass transgender Kinder Romane brauchen, die sie bestärken und ihnen Mut machen, waren der Anlass, Melissa zu schreiben.

 

Alexandra Ernst, geboren 1965, studierte Literaturwissenschaft und war als Presse- und Werbeleiterin in einem Verlag tätig. Seit 2000 arbeitet sie als Journalistin, Literaturkritikerin und Übersetzerin von historischen Romanen, Fantasy und Jugendliteratur. Für ihre Arbeiten wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis. Alexandra Ernst lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in der Nähe von Mainz.

 

Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de

Inhalt

Widmung

1 Geheimnisse

2 Charlotte stirbt

3 Schauspielern ist so tun, als ob

4 Vorfreude

5 Vorsprechen

6 Verloren

7 Die Zeit schleppt sich dahin, wenn man unglücklich ist

8 Ich Idiot

9 Abendessen bei Arnie

10 Wandlungen

11 Einladungen

12 Melissa geht in den Zoo

Danksagung

Für dich, als du das Gefühl hattest, nicht dazuzugehören.

1Geheimnisse

George holte einen silberfarbenen Haustürschlüssel aus der kleinsten Innentasche eines großen roten Rucksacks. Ihre Mom hatte den Schlüssel an einer Schnur angenäht, damit er nicht verlorenging, aber die Schnur war nicht lang genug, um den Schlüssel ins Schloss zu stecken, wenn der Rucksack auf dem Boden stand. George musste auf einem Fuß balancieren, das andere Bein anziehen und den Rucksack auf ihrem Knie abstellen. Sie drehte den Schlüssel um, bis es klickte.

Mit dem Rucksack in der Hand stolperte sie ins Haus. »Hallo?«, rief sie. Im Haus brannte kein Licht, aber George wollte sicher sein, dass niemand da war. Die Tür zum Schlafzimmer ihrer Mom stand offen. Das Bett war ordentlich gemacht. Keine Delle in der Bettdecke. Auch Scotts Zimmer war leer. Als George sich vergewissert hatte, dass sie allein war, ging sie zu ihrem Wandschrank und öffnete die Tür. Mit kritischem Blick betrachtete sie die Plüschtiere und Spielsachen, die dort aufgetürmt waren. Alles war so, wie sie es hinterlassen hatte.

Ihre Mom beklagte sich immer, dass George seit Jahren nicht mehr mit den Sachen spielte, und meinte, sie solle alles an bedürftige Familien spenden. Aber George brauchte die Sachen dringend, um ihre kostbare und geheime Sammlung zu hüten. Sie schob ihren Arm unter die Teddys und die weichen Stoffhasen und fischte die flache Tasche aus Jeansstoff heraus. Dann rannte sie damit ins Badezimmer und verriegelte die Tür hinter sich. Die Tasche eng an ihre Brust gepresst, ließ sich George auf den Boden sinken.

Sie drehte die Tasche um, und heraus glitten die seidigen, glänzend glatten Seiten von etwa einem Dutzend Zeitschriften. Die Titelseiten lockten mit verführerischen Versprechen: SO FÄLLST DU JUNGS AUF! – 100 TIPPS; STYLISCHE WINTER-TRENDS; FERIEN-FLIRT-FIEBER und ENDLICH TRAUMHAAR. George war nur ein paar Jahre jünger als die Mädchen, die ihr von den farbenfrohen Seiten entgegenlächelten. In ihrer Phantasie waren das ihre Freundinnen.

George nahm eine Ausgabe von letztem April, die sie schon unzählige Male durchgelesen hatte. Schwungvoll blätterte sie die Seiten um, und ein leichter Geruch nach Papier stieg ihr in die Nase.

Bei dem Foto von vier Mädchen an einem Strand hielt sie inne. Die Mädchen standen in einer Reihe und präsentierten Badeanzüge, jedes von ihnen in einer tollen Pose. Eine Erläuterung am Rand beschrieb die unterschiedlichen Schnitte im Hinblick auf die individuelle Figur. Aber in Georges Augen sahen die Körper alle gleich aus. Es waren Mädchenkörper.

Auf der nächsten Seite saßen zwei Mädchen lachend auf einer Decke und hatten sich gegenseitig die Arme um die Schultern gelegt. Eins der Mädchen trug einen gestreiften Bikini, das andere einen gepunkteten Badeanzug mit einem Lochmuster an der Hüfte.

George würde perfekt in dieses Bild passen. Sie würde mit den anderen lachen und ihnen die Arme um die Schultern legen. Sie würde einen knallig pinkfarbenen Bikini tragen, und sie hätte langes Haar, das ihre neuen Freundinnen liebend gerne flechten würden. Wenn sie nach ihrem Namen fragten, würde sie sagen: Ich heiße Melissa. Melissa war der Name, den sie ihrem Spiegelbild gab, wenn niemand hinschaute und sie ihr glattes rotbraunes Haar nach vorne bürsten konnte, als ob sie eine Ponyfrisur hätte.

George überblätterte Anzeigen in knalligen Farben für Notebook-Taschen, Nagellack, die neuesten Smartphones und Tampons. Sie überblätterte auch den Artikel, in dem erklärt wurde, wie man Armbänder selbst machte, und einen anderen, der Ratschläge für das Anbaggern von Jungs gab.

George hatte ihre Zeitschriftensammlung dem Zufall zu verdanken. Vor zwei Jahren hatte sie irgendwann im Sommer eine alte Ausgabe von Mädchen im Altpapiereimer der Schulbücherei entdeckt. Das Wort »Mädchen« hatte sie sofort wie magisch angezogen, und sie hatte die Zeitschrift unter ihrer Jacke versteckt, um sie sich später anzuschauen. Weitere Mädchen-Zeitschriften – aus einem Mülleimer einen Block von ihrem Haus entfernt – waren dazugekommen. Am darauffolgenden Wochenende hatte sie auf einem Flohmarkt die Jeanstasche entdeckt und für einen Vierteldollar gekauft. Sie hatte genau die richtige Größe für die Zeitschriften. Es war, als ob das Universum ihr dabei helfen wollte, ihre Sammlung sicher zu verwahren.

George schlug eine Doppelseite mit Make-up-Tipps auf. Sie hatte sich noch nie geschminkt, aber sie saugte die Farben der Lippenstifte und Lidschatten förmlich in sich auf. Ihr Herz raste. Sie fragte sich, wie es sich wohl anfühlte, Lippenstift zu tragen. Den ganzen Winter über benutzte sie einen Lippenpflegestift, egal, ob ihre Lippen trocken waren oder nicht, und jedes Frühjahr versteckte sie den Stift vor ihrer Mutter und cremte sich heimlich die Lippen ein, bis nichts mehr übrig war.

George zuckte zusammen, als sie es draußen klappern hörte. Sie schaute aus dem Fenster zur Haustür direkt unterhalb des Fensters. Es war niemand zu sehen, aber Scotts Fahrrad lag in der Einfahrt. Das Hinterrad drehte sich noch.

Scotts Fahrrad! Scott! Scott war Georges älterer Bruder, der gerade in die Highschool gekommen war. Georges Nackenhaare stellten sich auf. Gleich darauf hörte sie schwere Schritte auf der Treppe zum ersten Stock. Jemand rüttelte an der verriegelten Badezimmertür, und George fühlte sich, als ob Scott ihr Herz in ihrem Brustkorb durchrütteln würde.

BUMM! BUMM BUMM!

»Bist du da drin, George?«

»J…ja.« Die glänzenden Zeitschriften lagen auf den Fliesen verstreut. Sie schob sie zusammen und stopfte sie in die Jeanstasche. Ihr Herz hämmerte beinahe so laut wie Scotts Tritte gegen die Tür.

»He, Mann, ich hab’s eilig!«, brüllte Scott auf der anderen Seite.

George zog den Reißverschluss so leise sie konnte zu und schaute sich nach einem Versteck um. Sie konnte nicht mit der Tasche aus dem Badezimmer kommen. Scott würde sofort wissen wollen, was drin war. Der einzige Schrank war mit Handtüchern vollgestopft und ließ sich nicht mehr richtig schließen. Schließlich hängte sie die Tasche an den Brausekopf der Dusche und zog den Duschvorhang vor, wobei sie verzweifelt hoffte, dass Scott nicht ausgerechnet in diesem Moment einen Anfall von Reinlichkeit bekam.

Scott stürmte ins Bad, sobald George die Tür öffnete, und zog seine Jeans nach unten, noch ehe er den Toilettendeckel hochgeklappt hatte. George machte sich schnell aus dem Staub, schloss die Tür und lehnte sich im Flur an die Wand, um zu Atem zu kommen. Die Tasche baumelte vermutlich noch immer an der Duschstange hin und her. George betete, dass sie nicht den Vorhang streifen oder – noch schlimmer – herunterfallen und mit einem Rums in der Badewanne landen würde.

George wollte nicht in der Nähe des Badezimmers herumlungern, wenn Scott herauskam, also ging sie nach unten in die Küche. Sie goss sich ein Glas Orangensaft ein und setzte sich an den Küchentisch. Ihre Haut prickelte. Draußen schob sich eine Wolke vor die Sonne, und der Raum verdunkelte sich. Als die Badezimmertür mit einem Knall aufsprang, zuckte George – das Glas in der Hand – zusammen und verschüttete ein bisschen Orangensaft auf der Tischplatte. Sie merkte, dass sie den Atem angehalten hatte.

Bumm, bumm, bumm-bumm-bumm-bumm-bumm. Scott kam die Treppe heruntergetrampelt, eine DVD-Hülle in der Hand. Er zog die Kühlschranktür auf, holte die Packung Orangensaft heraus und trank einen großen Schluck. Er trug ein dünnes schwarzes T-Shirt und Jeans mit einem kleinen Loch an einem Knie. Seine Haare hatte er sich seit Monaten nicht mehr schneiden lassen, und sein Kopf mit den dunkelbraunen Locken glich einem Wischmopp.

»Tut mir leid, wenn ich dich beim Kacken gestört habe.« Mit dem nackten Unterarm wischte sich Scott den Saft von den Lippen.

»Du hast mich nicht … dabei gestört«, sagte George.

»Warum hat das dann so lange gedauert?«

George zögerte.

»Oh … Ich weiß!«, rief Scott. »Ich wette, du hattest ’ne Zeitschrift dabei.«

George erstarrte, den Mund halb geöffnet, ihr Gehirn plötzlich außer Funktion. Die Luft fühlte sich warm an, und ihre Gedanken wirbelten umher. Sie legte die Hände auf den Tisch, um sicherzugehen, dass sie sich nicht plötzlich aufgelöst hatte.

»So ist das also.« Scott grinste, ohne Georges Panik zu bemerken. »Mein kleiner Bruder wird erwachsen und guckt sich schweinische Zeitschriften an.«

»Oh«, sagte George. Sie wusste, was »schweinische Zeitschriften« waren. Beinahe hätte sie gelacht. Die Mädchen in ihren Zeitschriften hatten jedenfalls deutlich mehr Kleider an, selbst diejenigen am Strand. George entspannte sich, jedenfalls ein bisschen.

»Keine Angst, George. Ich werd’s Mom nicht verraten. Ich muss los. Wollte nur das hier holen.« Scott schüttelte die schwarze Plastikhülle in seiner Hand, und die DVD klapperte leicht. »Hab ihn noch nicht gesehen, soll aber gut sein. Ein echter Klassiker, aus Frankreich. Der Titel lautet übersetzt ›Das Blut des Bösen‹, glaube ich. Irgend so ein Zombie kaut einem Typen den Arm ab, und sein Freund muss mit dem abgekauten Arm die Zombies bekämpfen. Echt hammerhart.«

»Klingt eklig«, sagte George.

»Ist es auch!«, nickte Scott begeistert. Er trank noch einen Schluck Orangensaft, stellte die Packung wieder in den Kühlschrank und ging zur Haustür.

»Ich überlasse dich wieder deinen süßen Träumen«, scherzte Scott im Hinausgehen.

George sauste nach oben ins Badezimmer und holte ihre Tasche, vergrub sie tief unter den Spielsachen und den Plüschtieren in ihrem Wandschrank. Dann legte sie noch einen Haufen Schmutzwäsche oben drauf, nur zur Sicherheit. Als sie die Tür schloss und mit dem Gesicht nach unten auf ihr Bett sank, die Hände über ihrem Hinterkopf gekreuzt und die Ellbogen gegen die Ohren gepresst, wünschte sie sich sehnlichst, jemand anderer zu sein. Egal, wer.

2Charlotte stirbt

Miss Udell lehnte an ihrem riesigen Schreibtisch und las ihrer vierten Klasse aus einer zerfledderten Ausgabe von Wilbur und Charlotte von E.B. White vor. Sie hatte ihre glänzenden schwarzen Haare locker nach hinten gebunden und trug hölzerne Ohrringe in ihren langen Ohrläppchen.

George, die auf ihrem Platz am Fenster saß, konnte nicht mehr zuhören. Sie konnte nicht mehr denken. Charlotte, die wunderbare, liebe Spinne, war tot, und nichts war gut. Das ganze Buch handelte von Charlotte, die das Ferkel Wilbur rettet, und dann stirbt sie einfach. Das war nicht fair. George drückte ihre Fäuste gegen die Augen und rieb so lange, bis unendlich viele winzige Dreiecke aufblitzten, die in der Dunkelheit umherwirbelten.

Eine Träne fiel auf Georges Buch und breitete sich spinnennetzartig auf dem Papier aus. Sie atmete vorsichtig ein und versuchte, dabei keinen Laut von sich zu geben. Ein flacher Atemzug folgte dem nächsten, bis ihr schwindelig wurde. Dann atmete sie tief ein – und musste schniefen. Hörbar. Gleich darauf vernahm George laut und vernehmlich ein Flüstern in der Stille des Raums.

»He, da heult irgendein Mädchen wegen einer toten Spinne.«

»Das ist kein Mädchen. Das ist George.«

»Wo ist da der Unterschied?«

Gelächter ertönte.

George drehte sich nicht um. Das war auch nicht nötig. Sie wusste genau, was da vorging. Rick saß zwei Reihen hinter ihr, und Jeff saß hinter Rick. Jeff beugte sich vor, wobei seine zu stacheligen Spitzen gedrehten Haare beinahe Ricks Schulter berührten. Rick mit seiner glänzenden schwarzen Baseballjacke lehnte sich nach hinten. Beide hielten die Hände vor den Mund und bemühten sich nur halbherzig, leise zu sein.

Früher waren George und Rick Freunde gewesen, oder zumindest hatten sie sich gut verstanden. In der zweiten Klasse war ein Schachturnier veranstaltet worden, und George und Rick waren die beiden besten Spieler gewesen. Das Endspiel konnte Rick schließlich knapp für sich entscheiden. Obwohl George unterlegen war, hatten sie sich noch Wochen danach gegenseitig »Schach-Champions« genannt.

Im Schuljahr danach war Jeff in die Klasse gekommen. Er war aus Kalifornien hergezogen, was ihm überhaupt nicht gefiel. Anfangs zettelte er ständig irgendwelche Prügeleien an und bedrohte die meisten der Jungen, einschließlich George. Bis der Herbst kam, hatte er sich langsam eingelebt, und nachdem Jeff und Rick Freunde geworden waren, änderte sich Ricks Verhalten George gegenüber. Als die Weihnachtsferien anbrachen, waren Jeff und Rick unzertrennlich, und jetzt war es, als ob die Schach-Champions bloß irgendwelche Jungen wären, die mit George und Rick überhaupt nichts zu tun hatten.

Miss Udell warf den kichernden Jungen einen Blick zu, räusperte sich und las dann den letzten Absatz des Kapitels. Ihre Schüler waren mittlerweile in ein Alter gekommen, in dem sie ihnen nur noch selten vorlas, aber heute sollten sie sich auf etwas ganz Besonderes konzentrieren: auf Charlottes wunderbar melancholische letzte Momente, wie sie sich ausdrückte.

Als sie fertig war, klappte Miss Udell das Buch zu, legte es auf einen Stapel Papiere auf ihrem Schreibtisch und setzte ihre Brille ab. »Bitte nehmt eure Hefte heraus und schreibt auf, was ihr bei diesem Kapitel empfindet. Ihr könnt ruhig kurz darüber nachdenken, aber nicht zu lange. Schreibt, was euch einfällt, und ich möchte, dass ihr tief in euch geht und eure Gefühle beschreibt.«

Im Raum 205 wurden raschelnd Arbeitshefte hervorgeholt, Seiten umgeblättert und Stifte aus Mäppchen gefischt. Miss Udell ging zu Jeff und Rick und sprach leise mit ihnen. Ihre Stimme ging in den Hintergrundgeräuschen unter. George spitzte die Ohren, konnte aber kaum verstehen, was sie sagte, obwohl sie nur zwei Plätze weit entfernt war.

»Einige Menschen nehmen den Tod sehr ernst.« Miss Udells Stimme war eisig. Sie schaute abwechselnd Jeff und Rick an, die wiederum auf ihre Schuhspitzen starrten. »Das ist ein ernstes Thema, und ich hoffe, dass ihr sowohl euch selbst wie auch euren Klassenkameraden und dem Leben im Allgemeinen Respekt bezeugt, indem ihr euch dementsprechend benehmt.«

Jeff und Rick murmelten eine Entschuldigung. George wusste nicht, ob ihr gebrummtes »Tut mir leid« ihr selbst galt, Miss Udell oder Charlotte. Es war ihr auch egal. In dem Moment, in dem Miss Udell sich abwandte, verdrehte Jeff die Augen. Jeff verdrehte ständig über irgendetwas die Augen, normalerweise begleitet von einem höhnischen Kommentar.

Miss Udell kam an Georges Schreibtisch vorbei. »Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was ich von jemandem halten soll, der am Ende von Wilbur und Charlotte nicht weint.«

»Sie haben nicht geweint«, murmelte George.

»Bei den ersten drei Malen schon … und danach auch noch ziemlich oft.« Miss Udell machte eine kurze Pause, und einen Augenblick lang sah es so aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. »Was ich damit sagen will, ist, dass es etwas ganz Besonderes ist, wenn man bei einem Buch weinen muss. Es zeigt, dass man sowohl Mitgefühl wie auch Phantasie hat.« Miss Udell tätschelte George die Schulter. »Bewahre dir diese Fähigkeit, George, dann wird aus dir bestimmt ein ganz besonderer junger Mann.«

Das Wort »Mann« traf George, als wäre ihr ein Felsbrocken auf den Schädel gefallen. Es war hundertmal schlimmer als »Junge«. Sie bekam keine Luft mehr. Heftig biss sie sich auf die Lippe und fühlte, wie ihr erneut die Tränen in die Augen stiegen. Sie legte den Kopf auf den Schreibtisch und wünschte sich, sie wäre unsichtbar.

Miss Udell kam mit dem Toilettenpass wieder zu ihr. Der Toilettenpass war ein abgewetztes Holzklötzchen aus der Vorschulklasse, auf dem in dickem grünem Marker JUNGEN geschrieben stand. George drehte das Klötzchen klickend um, damit sie die Seite vor Augen hatte, auf der Zimmer 205 stand.

Miss Udell legte die Hand auf Georges Schulter, aber sie schüttelte sie ab und stand auf. Mit verschleiertem Blick konnte sie kaum den Weg zur Tür erkennen, und auch im Flur verließ sie sich eher auf ihr Erinnerungsvermögen als auf ihre Augen, die vor Tränen überquollen. Schluchzend stolperte sie in die Toilette – die Jungentoilette. Ihre Lippen zitterten, und salzige Tränen tropften ihr in den Mund.

George hasste die Jungentoilette. Es war der schlimmste Ort in der Schule. Sie hasste den Gestank nach Pisse und Desinfektionsmittel, und sie hasste die blauen Fliesen an den Wänden, die einen immer daran erinnerten, wo man war, als ob das angesichts der Urinale nicht offensichtlich genug wäre. Der ganze Raum war ausschließlich für Jungen gemacht, und wenn Jungen hier waren, dann redeten sie ständig über das, was zwischen ihren Beinen war. George versuchte, immer nur dann herzukommen, wenn niemand sonst hier war. Sie trank niemals von den Wasserspendern in der Schule, selbst wenn sie Durst hatte, und an manchen Tagen hielt sie es sogar bis zum Schulschluss aus, ohne auf die Toilette gehen zu müssen.

George senkte den Kopf dicht über den Wasserhahn und spritzte sich so lange kaltes Wasser über den Nacken, bis sie vor Kälte zitterte. Dann rieb sie sich mit einem Packen Papiertücher das Wasser aus den Haaren. Die nassen Strähnen kämmte sie mit den Fingern durch und schenkte ihrem Spiegelbild dann ein schwaches Lächeln.

Im Korridor ließ George den Toilettenpass locker in ihrer Hand baumeln und zog ihn an der Wand entlang. Sie spürte die leichte Vibration des Holzes in ihrer Handfläche. Mit einem rhythmischen Klicken, das im Gang widerhallte, hüpfte der Holzklotz über die dünnen Fugen zwischen den Fliesen.