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Das hat Melli gerade noch gefehlt: Mamas neuer Mann zieht mit seinem vierzehnjährigen Sohn Jason bei ihnen ein. Und dieser Jason geht Melli mächtig auf den Zeiger: Alles weiß und kann er besser. Am liebsten würde sie ihn einfach wieder zurück in die USA schicken. Nur weil Jason so ein hochbegabter Sportler ist, bauen die Eltern sogar einen Pool im Garten - zum Trainieren. Schließlich wird es Melli zu bunt. Kurzerhand gibt sie vor, ebenfalls ein Schwimmprofi zu sein und fordert Jason heraus. Doch wie soll aus einer schlappen Paddlerin im Hundestil plötzlich ein pfeilschneller Delfin werden? Dafür braucht man viel Zeit - Zeit, die Melli nicht hat. Oder doch? Schließlich besitzt sie ja ein Amulett mit gewissen Fähigkeiten …
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Seitenzahl: 191
Stefanie Dörr
Melli
Dreimal gestern und zurück
Stefanie Dörr, 1967 in Stuttgart geboren, studierte Betriebswirtschaft und arbeitete jahrelang in Werbung und Marketing, bevor sie sich als freie Texterin und Beraterin selbstständig machte. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Frankfurt am Main und schreibt Romane für Kinder und Jugendliche.
Von Stefanie Dörr sind im Arena Verlag bereits erschienen:
Melli. Einmal blinzeln und von vorn
Lenas geheimes Wunschbuch. Von unerklärlichen Schulhofkatastrophen, oberpeinlichen Liebeserklärungen und besten Freundinnen in Not
Lenas urlaubsreifes Wunschbuch. Liebe Grüße aus dem Chaos
Lenas verliebtes Wunschbuch. Glücklich hoch zwei
1. Auflage 2014 © 2014 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Frauke Schneider ISBN 978-3-401-80324-1
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Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Amrits fernöstliche Weisheiten
Kapitel 1
Verschlafen. So eine Mistigkeit. Melli brauchte gar nicht erst auf die Uhr zu schauen, das hatte sie im Gefühl. Sie musste dem schrillen Klingelton wohl dankbar sein, der sie geweckt hatte. Ihr Wecker war es jedenfalls nicht gewesen. Irgendwer stand draußen vor der Tür und forderte massiv Einlass in das weiße Haus. So nannten Melli und ihre Cousinen das moderne, blendend weiß getünchte Anwesen, in dem Melli erst seit wenigen Wochen residierte. Während sie sich mühsam aus dem Bett schälte, hörte sie eilige Schritte durchs Haus klappern, denen ein lautes »Hallo, da sind Sie ja endlich!« und geschäftiges Scheppern folgten. Jetzt sah Melli vorsichtshalber doch mal auf die Uhr. Halb neun. Ihre Mutter und deren frisch gebackener Ehemann Adrian waren bestimmt schon unterwegs. Und Jason, dieses überflüssige Anhängsel von Adrian, schlief sicher noch. Das war nämlich die allerliebste Beschäftigung ihres neuen Stiefbruders – neben der, Melli durch seine bloße Anwesenheit in den Wahnsinn zu treiben. Langsam sickerten die Stimmen von unten in ihr Bewusstsein. Ihre Großmutter. Was machte die am frühen Morgen hier? Natürlich, der Pool! Seit sie hier wohnten, war die Anschaffung eines profimäßigen Pools im Garten das Thema Nummer eins in der Familie. Handwerker also. Ach so. Ihre Großmutter sollte sich um die Männer kümmern, da normalerweise um diese Uhrzeit niemand zu Hause war. Außer Jason, und der zählte nicht. Den konnte man nicht guten Gewissens auf fremde Menschen loslassen. Zwar sprach er mittlerweile ganz passabel Deutsch, doch spickte er seine Sätze mit amerikanischen Flüchen von »Fucking bla, bla, bla« bis »Bloody irgendwas«. Einfach nur peinlich. Ständig und in jedem Satz musste er heraushängen lassen, dass er ja so was von Amerikaner war und damit für alles viel zu gut. Melli fand ihn einfach nur dämlich. Von wegen superintelligent, unglaublich sympathisch und ein wundervoller Bruder. Das hatte ihre Mutter Pam Melli nämlich weismachen wollen, als klar wurde, dass Adrian seinen vierzehnjährigen Sohn mit nach Deutschland bringen würde. Jason war der Gute-Laune-Killer schlechthin, aber jetzt hatte Melli Besseres zu tun, als sich über ihn zu ärgern. Schon längst sollte sie auf dem Weg zu den Bundesjugendspielen sein, die um neun Uhr anfingen. Sie konnte hören, wie ihre Großmutter den Poolleuten lautstark Anweisungen gab. Barfuß tapste sie aus ihrem Zimmer und in Richtung Bad, als jemand hinter ihr »Bloody hell, was soll das Geschrei? Es ist midnight!« knurrte.
Melli schrak zusammen. Jason! Dieser Idiot – und sie war im Schlafanzug. Ausgerechnet dem uralten mit Hello Kitty vorne drauf. Was für eine Katastrophe! Melli strich sich die zerzausten Haare aus dem Gesicht und wandte ihm ihre besonders hoch erhobene Nase zu. »Von wegen Nacht. Würdest du nicht nur rumgammeln, dann wärst du schon seit Stunden in der Schule oder bei einem Job.« Jaaa, sie war es gewohnt, dass er sie so ansah. So herablassend. So bescheuert. Weil der ganze Jason komplett bescheuert war und folglich gar nicht anders schauen konnte. Aber dass er sie jetzt von oben bis unten scannte, beim Anblick ihres Schlafshirts und der Strubbelhaare die Augenbrauen hochzog, also das ging ja so etwas von zu weit.
»Oh, I see, und du bist voll die fleißige Schülerin, ja?«, ätzte er, bevor er sich umdrehte und wieder zu seinem Zimmer schlurfte. Als ob er selbst eine bessere Figur machen würde, so am frühen Morgen. Melli musste zwar zugeben, dass Jason – wenn man auf arrogante Typen wie ihn stand – ganz süß aussehen konnte, aber jetzt! Sein Scheitel war verrutscht, seine türkisfarbenen Augen trüb vom Schlaf und er steckte selbst in einem grottenhässlichen T-Shirt mit bluttriefendem Totenkopf vorne drauf. Dann doch lieber eine süße Kittykatze, oder?
Melli holte Luft, um ihm einen fiesen Spruch entgegenzuschleudern, doch Jason hob nur den Arm und deutete, ohne sich umzuschauen, auf die Uhr an seinem Handgelenk. Mistige Mistigkeit! Sie würde sich mächtig ranhalten müssen. Also zischte Melli nur »arschiger Kackstiefel« und stakste grimmig in ihr höchsteigenes Badezimmer, das außer ihr niemand betreten durfte. Obwohl Melli das weiße Haus mit all seiner Protzigkeit völlig übertrieben fand, hatte es unübersehbare Vorteile wie zum Beispiel, dass zu ihrem Zimmer ein Bad gehörte. Und ebenden überdimensionalen Garten, der im Moment jedoch eine matschige Baustelle war. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und studierte ihr Spiegelbild. In einer knappen halben Stunde präsentabel zum Staffellauf gegen die anderen sechsten Klassen anzutreten, war natürlich völlig unmöglich. Tja, unmöglich für normale Schüler, die verschlafen hatten. Durchaus im Bereich des Möglichen für Schüler, die Melli hießen, verflucht waren und ein hübsches Blumenamulett um den Hals trugen, mit dem sie ein wenig an der Zeit drehen konnten, wenn …
Melli zeigte ihrem Spiegelbild ein aufmunterndes Lächeln und drückte sich eine dicke Portion der extra scharfen Zahnpasta für besondere Fälle auf die Zahnbürste. Kaum spürte sie ein Brennen im Mund, setzte das vertraute Schwindelgefühl ein. Schnell griff sie nach ihrem Blumenamulett, rieb langsam, aber mit kräftigen Bewegungen über die glatte Oberfläche und konzentrierte sich darauf, die Zeit anzuhalten. Vollbremsung. Ein einfacher Zeitstopp würde ihr genügen. Sie vergewisserte sich, dass der Sekundenzeiger der Uhr stehen geblieben war, und putzte in aller Ruhe ihre Zähne zu Ende. Jetzt spielte die Zeit keine Rolle mehr. Schon praktisch, dieser Fluch, den sie der aufregenden Vergangenheit ihrer Großmutter und einem ihrer früheren Verehrer zu verdanken hatte. Aber wie das so ist mit Flüchen, brachte auch dieser neben gewissen Vorteilen seine dunklen Seiten mit sich.
»Der Mensch bringt täglich sein Haar in Ordnung, warum nicht auch sein Herz«, störte eine sahnecremige Stimme ihre Gedanken. Melli stieß einen unwilligen Zahnpasta-Schnauber aus und versaute ihren Spiegel mit Schaumspritzern. Jedes Mal wenn sie am Amulett rieb und mit der Zeit trickste, musste sie schlaue Weisheiten dieser Art ertragen. Seit Wochen ging das nun schon so und dennoch zuckte sie jedes Mal zusammen, wenn unvermittelt diese vibrierende Männerstimme durch ihren Kopf hallte, wie ein Echo aus einer tiefen Schlucht. Diese Stimme konnte niemand außer Melli hören, ganz so, als wäre direkt hinter ihrer Stirn ein kleiner Lautsprecher eingebaut. Und gelegentlich erschien ein dunkelhäutiges, altersloses Gesicht mit breitem Grinsen, strahlend weißen Zähnen und einer ziemlich schmuddeligen Kochmütze vor ihrem inneren Auge. Zweifellos das Gesicht, das zu der Stimme gehörte.
Nach langen Gesprächen mit ihrer Großmutter waren sie zu dem Schluss gekommen, dass es sich um eine Art Vision oder Geist von Oma Doros Verehrer handeln musste. Nur der indische Koch Amrit, der König der scharfen Küche, wie Oma Doro mit sehnsüchtigem Gesichtsausdruck geschwärmt hatte, war zu solch einer Frechheit fähig. Dieser Amrit hatte sich vor ungefähr hundert Jahren so unsterblich in Mellis Großmutter verliebt, dass er mit ihrer Zurückweisung nicht leben konnte und Doros »Blumen« verflucht hatte. Dass er damit ihre weiblichen Nachkommen meinte, ging Oma Doro erst auf, als Melli gewisse Probleme mit der Zeit bekam. Ihre Großmutter hatte ein wenig kleinlaut gestanden, Amrit auch dann noch nicht ernst genommen zu haben, als er ihr beim Abschied in Indien das Blumenamulett und wirre Weisheiten mit auf den Weg gegeben hatte. Jahrelang hatte sie weder an Amrit noch an das Amulett gedacht. Bis zu dem Tag, als Mellis Zeitabläufe durcheinandergerieten, sobald sie Scharfes aß. Egal ob Chili, Zahnpasta oder Kaugummi – Schärfe auf ihrer Zunge bedeutete Zeitenchaos. Ohne Vorwarnung erstarrte ihr Umfeld, stand die Zeit still oder sie befand sich, schwups, in der Vergangenheit oder Zukunft. Anfangs war das wirklich bescheuert gewesen. Stress ohne Ende. Ständig musste Melli damit rechnen, aus dem normalen Leben geschleudert zu werden. Erst als Oma Doro auf die Idee gekommen war, dass das Blumenamulett auch zu dem Zauber gehörte, hatte Melli gelernt, Zeitsprünge und Zeitstopps zu steuern.
»Halt die Klappe«, fauchte Melli jetzt mit vollem Mund, worauf Amrits Stimme säuselte: »Tadle nicht den Fluss, wenn du ins Wasser fällst.«
Melli gab auf. Wie viele fernöstliche Weisheiten gab es eigentlich? Dieser Kerl verfügte über einen unerschöpflichen Vorrat, und würde sie sich jedes Mal die Mühe machen, über deren Sinn nachzudenken, käme sie aus dem Grübeln nicht mehr heraus.
Trotz des Zeitbonus beeilte sie sich. Da sie noch immer nicht wusste, wie ihre Mitmenschen die Zeitpausen erlebten, wollte sie diese so kurz wie möglich halten. Während Melli einfach ihren Beschäftigungen nachging, waren alle Lebewesen und sämtliche Gegenstände um sie herum genau so in ihrer Bewegung erstarrt und eingefroren wie vorhin der Uhrzeiger. Mitten in der Tätigkeit, die sie gerade durchführten. Melli wollte nicht schuld daran sein, dass jemand während ihrer Zaubereien zu Schaden kam, und tatsächlich war auch noch nie etwas Schlimmes passiert – zumindest hoffte sie das.
Eilig warf sie die Sportsachen in ihre Tragetasche und hetzte aus ihrem Zimmer. Am Treppenabsatz hielt sie kurz inne. Sollte sie es wagen und einen Blick in Jasons Zimmer werfen, um zu sehen, in welcher Pose sie ihn gestoppt hatte? Vielleicht auf einem Bein beim Strümpfeanziehen? Oder beim Zähneputzen? Nein. Es gab eindeutig Grenzen, die sie nicht überschreiten durfte. Nachher erwischte sie ihn auf der … ne, lieber nicht darüber nachdenken. Sie gab sich einen energischen Ruck und sprang die spiegelglatten Treppen hinunter. Himmel, auf Socken war das lebensgefährlich! Sie kam ins Straucheln und landete schmerzhaft auf dem Po. »Geduld verlieren heißt Würde verlieren«, lautete Amrits Kommentar.
Stöhnend rappelte sie sich auf. Jetzt aber schnell. Wenn sie sich nicht täuschte, warteten schon ihre Cousinen und besten Freundinnen Lora und Pia an der Bushaltestelle. Steif wie antike Statuen im archäologischen Museum wohlgemerkt, bis Melli sie erlösen würde.
Auf dem Weg zur Haustür umrundete sie geschickt zwei Handwerker, die mit schweren Werkzeugkoffern beladen waren. Außerdem stand ihre Oma mitten im Flur, mit erhobenem Arm, der in Richtung Garten und Poolbaustelle zeigte. Melli kniff die Augen zusammen und verzog den Mund. Oh mistiges Elend! Doros glühender Blick verfolgte Melli, die unter dem richtungsweisenden Arm hindurchtauchte. Soweit Melli wusste, war ihre Oma Doro der einzige Mensch, der die Zeitstopps sozusagen live miterlebte. Zwar konnte sie sich genauso wenig bewegen wie alle anderen, doch ihr Geist und ihre Augen waren hellwach und nahmen alles um sich herum wahr. Melli drückte ihrer wütenden Oma einen Kuss auf die Wange, bevor sie aus dem Haus stürmte. Der Kuss war sowohl ein Abschiedskuss als auch eine Entschuldigung, denn Doro regte sich fürchterlich auf, wenn Melli den Fluch dazu nutzte, um sich Vorteile zu verschaffen oder Nachlässigkeiten auszubügeln. Und verschlafen würde sie mit Sicherheit nicht entschuldigen.
Aber noch war es zu früh, den Zauber zu beenden. Melli sauste die Straße hinunter, bog drei Mal ab und sah schließlich die Bushaltestelle vor sich. Auch ein Nachteil des neuen Hauses. Bis vor Kurzem hatte sie fast Tür an Tür mit ihren Cousinen gewohnt. Quer über den Hof und man war zusammen. Ah, gut, Pia und Lora, ihre Zwillingscousinen, warteten bereits. Sie wirkten ein wenig verloren. Lora, die ihr Handy fixierte, und Pia, die suchend in Mellis Richtung starrte. Pia, die Verständnisvolle, die sich sicherlich bereits Sorgen um Melli gemacht hatte. Vermutlich hatte sie Lora überredet, Melli anzurufen. Bei jedem Zeitstopp konnte sich Melli wegschmeißen, wie ulkig die versteinerten Leute aussahen. Trotzdem war es jedes Mal auch ein komisches Gefühl. Nicht einmal die Vögel flogen oder die Wolken rührten sich. Allein Melli konnte für Bewegung sorgen. Eine CD abspielen zum Beispiel, damit es etwas zu hören gab. Oder Fahrrad fahren, damit sie Fahrtwind spüren konnte. Oder gegen Blätter pusten, damit sie sich bewegten.
Aber prima, der Bus jedenfalls war schon da. Melli hatte die Zeit keine Sekunde zu früh angehalten. Sie rieb an ihrem Amulett. Kurz konzentrieren, Zeit wieder anschubsen und fertig. Winkend und lachend fiel sie Lora und Pia gleichzeitig in die Arme. »Morgen, Schlafmütze«, begrüßte sie Lora, »das war aber knapp. Ich wollte dich gerade anrufen.«
»Quatsch, alles im Griff«, lachte Melli und schob Pia vor sich in den Bus. Wenn die beiden wüssten. Zwar hatte Melli Lora in ihr Geheimnis eingeweiht, doch trotz Beweisfotos und Videoclips auf ihrem Handy glaubte ihr Lora bis heute nicht. Zeitzauber war in ihren Augen einfach unmöglich.
Der Morgen war gerettet und Melli und ihre Freundinnen bei schönstem Wetter auf dem Weg zu den Bundesjugendspielen, was so viel hieß wie »schulfrei«! Klong, machte es leise in Mellis Tasche. Sie bückte sich und angelte nach ihrem Smartphone. Weia, Oma Doro hatte geschrieben und ihre Nachricht mit vielen wütenden Teufelchen- und Pistolen-Icons gespickt: »Ungeheuerlich, deine Gabe so zu missbrauchen. Stell dir gefälligst den Wecker und lass es deine Mitmenschen nicht ausbaden, wenn du verschläfst! Ich erwarte etwas mehr Respekt!«
Mellis Wangen röteten sich. Wer wurde schon gerne ausgeschimpft. Und dass Oma Doro ihren Fluch immer als »Gabe« schönredete, passte ihr auch überhaupt nicht. Schließlich war ihre Großmutter selbst der Grund für diesen Schlamassel.
»Ist was passiert?« Lora versuchte, einen Blick auf Mellis Display zu erhaschen.
»Nur Oma. Sie will, dass ich diese Woche im Laden helfe. Bücher sortieren und einräumen und so«, flunkerte Melli schnell.
Dass die Mädchen in der Bücher- und Esoterikhandlung ihrer Großmutter aushalfen, war nichts Ungewöhnliches und Lora schüttelte sich. »Och ne, bei dem schönen Wetter? Sag ihr ab. Die Bücherstapel können warten, bis es wieder regnet.«
»Seht mal, da vorne kommen Jacob und Mario«, lenkte Melli ab. »Die haben sich aber in Schale geschmissen.« Tatsächlich schleppten ihre besten Jungs-Freunde Sporttaschen, als würden sie zu einem zweiwöchigen Fußball-Camp aufbrechen, und trugen die Haare senkrecht nach oben gegelt.
»Die sehen aus wie Nitro, wenn er einem anderen Kater begegnet«, bemerkte Lora, die ihrer kampffreudigen Katze verübelte, dass sie ihretwegen kein weiteres Haustier haben konnten.
Pia kicherte: »Genau. Außerdem sind die Haare so nicht windschnittig. Ich wette, das kostet uns den ersten Platz beim Staffellauf.« Doch als sich die Jungs neben ihnen auf die Sitze warfen, hielt sie den Mund.
»Lauft ihr auch die Staffel mit?«, fragte Mario lässig. »Wenn nicht, dann haben wir den Sieg sicher!«
»Hey«, wehrte sich Melli. »Ich bin dabei und eine eurer Schnellsten.«
»Du bist unsere Quotenfrau. Das zählt nicht. Aber es hätte noch schlimmer kommen können.« Jacobs überlegener Blick streifte die moppelige Lora, die das Gespött locker nahm. »Wenn eines Tages Rugby gespielt wird, mache ich euch alle platt«, behauptete sie.
»Melli ist Klassenbeste im Sprinten«, verteidigte Pia ihre Cousinen-Freundin.
»Dafür kann keine von euch werfen«, versuchte Mario, die Jungsehre zu retten.
»Das sagt der, der beim Weitsprung wie eine abgeschossene Flugente in den Sand plumpst«, tönte Melli zurück.
»Warum gibt’s eigentlich keinen Fußball bei den BuJu-Spielen?«, fragte Jacob.
»Weil das die Mädchen noch weniger können und der Sport ja für alle sein soll«, antwortete Mario, während er verbissen auf seinem Smartphone Fußballspieler übers Feld jagte.
»Klar können wir Fußball. Darf ich daran erinnern, wer in der letzten Sportstunde eine Eins im Fußball bekommen hat?«, verteidigte sich Pia.
»Dann halt Karate.«
»Hast du nicht gesagt, du hättest eine Trainerin?«, fragte Melli, womit das Gespräch beendet war. Es ging ihnen immer öfter so, stellte Melli frustriert fest. Dabei waren sie doch die Meckenheim-Gang. Aber so richtig was zu sagen hatten sie sich nicht mehr, seit sie aufgehört hatten, sich in ihrem Waldlager zu treffen, daran zu bauen und es einzurichten. Ab und zu gingen sie ins Kino, lästerten über die Schule oder hingen gemeinsam rum, aber sonst?
Vielleicht würde sie Jacob und Mario wieder öfter sehen, wenn der Pool fertiggestellt war? Vielleicht war er wenigstens dazu nütze?
»Am Wochenende lassen wir bestimmt das Wasser ein«, griff sie ihren Gedanken auf.
»Echt, Mann? Schon? Hat der Pool eine Heizung?«, murmelte Jacob abwesend, immerhin musste er auf dem Handy einem schrägen Vogel helfen, seine Häufchen zielsicher zu verteilen. »Oh verdammt, daneben!«, rief er enttäuscht und startete das Spiel erneut.
»Keine Ahnung, ich glaube, irgendwas mit Solardings.«
»Dann warten wir lieber noch ein paar Tage«, meinte Jacob. »Ist bestimmt saukalt«, stimmte ihm Mario zu.
»Trotzdem cool, so ein Pool«, sagte Jacob und schmiss sich vor Lachen vom Sitz. Gerade rechtzeitig, als sie an der Sportanlage ankamen, tauchte er wieder auf, raffte seine Siebensachen zusammen und verschwand mit Mario im Pulk der Jungen, die zu den Umkleidekabinen drängten. Für die Mädchen hatten sie keinen Blick mehr übrig.
Kapitel 2
Wie soll man denn mitten in der Nacht einen Staffellauf bewältigen«, jammerte Melli, als sie ihre Sportschuhe zuschnürte.
»Verschwende deine Energie nicht mit Rumjammern, du musst unsere Klassenehre verteidigen, also los.« Lora schwang sich die Tasche auf den Rücken.
»Du stehst ja nicht alleine am Start«, versuchte Pia zu trösten, deren Auftritt in geputzten Laufschuhen und den neu erworbenen Shorts mit passendem Sporttop sehr professionell wirkte. Melli starrte bewundernd auf Pias Ausstattung. »So etwas brauch ich auch, sonst kann ich keinen Schritt mehr laufen.«
»Sind schön, nicht wahr? Willst du sie haben? Dann zieh ich mich schnell um«, bot Pia sofort an.
»Eh, danke, Quatsch, ich finde, die Shorts passen zu dir, lass mal.« Pias selbstlose Hilfsbereitschaft war manchmal nicht zum Aushalten. Gemeinsam geleiteten sie Melli zum Start wie Trainer einen Boxer zum Ring.
»Wir glauben an dich«, flüsterte Lora und hielt demonstrativ die Daumen hoch. Pia umarmte sie, als wäre es ein Abschied für lange Zeit. Dabei hatte das Getue nur zur Folge, dass sich Melli allein und schwach fühlte, als sie sich zu den Jungs gesellte, die schon ihre Aufwärmübungen absolvierten. Dehnen, Strecken … Nervös fingerte Melli nach den Zimtkaugummis, die sie einsetzen wollte, wenn ihr die Stabübergabe misslang oder ihre Klasse aus einem anderen Grund in Rückstand geriet. Ihr zitterten schon jetzt die Knie, wenn sie an die Enttäuschung ihrer Mitschüler dachte, sollte etwas schiefgehen. Nein, sie musste ihr Bestes geben. Melli startete als Erste, wie die Mädchen der anderen Klassen auch. In der 6d liefen sogar mehr Mädchen als Jungs, das war selten, aber als sie die langbeinige Victoria sah, verstand sie, weshalb. Die machte den Eindruck, als wäre sie Anwärterin auf olympisches Gold. Melli konnte einpacken oder gleich rückwärtslaufen. Automatisch tasteten ihre Finger nach dem Amulett, das warm auf ihrer Haut lag. Ob sie ein wenig herumzaubern sollte? Es wäre nichts Großartiges. Kaugummi rein, Amulett reiben, im richtigen Augenblick gemütlich weiterjoggen und gewonnen. Dann erinnerte sie sich an Oma Doros erboste Teufelchen-Pistolen-Nachricht. Nein. Mit schwerem Herzen und noch schwereren Beinen ging sie zu ihrer Startbahn.
Doch es blieb keine Zeit zum Grübeln. Schon riss sie der Knall der Startklappe aus ihren Gedanken. Eine Sekunde zu spät sprintete sie los. Neben ihr hatte Victoria ebenfalls den Start verpasst und eine ganze Weile liefen sie parallel, bis ihre Konkurrentin sie auf der langen Geraden überholen konnte. Obwohl Mellis Beine losgelöst vom Rest ihres Körpers und völlig frei vom Kopf arbeiteten wie eine Maschine, vergrößerte Victoria den Abstand zwischen ihnen. Klar, mit DEN Beinen und DEM Namen musste sie ja gewinnen. Die anderen Mädchen lagen ein paar Schritte zurück, als Melli eine gefühlte Nanosekunde nach Victoria ihren Stab an Jacob übergab. Der griff beherzt zu, drehte ab und spurtete flink davon. Victorias Partner dagegen ließ den Stab fallen und stolperte über seine eigenen Füße. Keuchend und japsend feuerte Melli Jacob an, der jetzt die Meute anführte. Sie lagen vorn! Ganz ohne Mellis Zeitzauberei. Sogar Jannis konnte die Führung halten, das war großartig. Doch nein, jetzt warf der Dussel Mario den Stab zu, ganz lässig. Zu lässig! Und wie konnte es anders sein – daneben! Was für ein Elend! Dahin war der schöne Vorsprung, mit den letzten Läufern holten die Wichtigtuer der 6d unaufhaltsam auf. So richtig hämisch schauten sie jetzt herüber, umarmten sich und hopsten übermütig herum. Melli ging zu dem kleinlauten Haufen ihrer Klasse, die sich tröstend gegenseitig auf die Schultern klopften. Zu spät, sie hätte doch ein wenig zaubern sollen, ärgerte sie sich, als Lora und Pia auf sie zustürmten und Melli in die Arme nahmen. »Ihr wart sensationell!«, rief Pia übermütig.
»Ach was, ohne die misslungene Übergabe von Victoria am Anfang hätten wir eh nie eine Chance gehabt. Knapp verloren ist auch daneben, oder?« Frustgefühle breiteten sich in Melli aus.
»Ist doch egal, komm, die anderen warten schon beim Weitwurf. Ich sag dir, ich habe so eine Wut auf die 6d, ich werf den Ball über den ganzen Platz«, verkündete Lora.
»Und ich werfe wie immer direkt vor meine Fußspitzen. Vielleicht muss ich auch mal richtig sauer werden«, meinte Pia, die froh sein musste, über die Zehn-Meter-Markierung zu kommen.
»Unsinn, das kannst du vergessen, du bist nie wütend. Aber keine Sorge, wir feuern dich an, dann fliegt der Ball …«, wollte Melli sagen, doch sie wurde von einem spitzen Aufschrei unterbrochen und am Arm festgehalten. »Melli«, kreischte jemand direkt in ihr Ohr, dass es nur so vibrierte. »Oh mein Gott, das war wunderbar. Ich wusste ja nicht, dass du so gut bist!«
Verdrossen wandte sich Melli der Kreischerin zu. Charlie. Charlie mit dem Rosarot-Tick, Charlie, die zum vierblättrigen Kleeblatt um die biestige Nadine gehörte, die betont lässig mit den beiden anderen Mädchen auf sie zuschlenderte. »Was?«, schnauzte Melli unfreundlich.
»Ich wollte dir nur gratulieren«, stammelte Charlie, ziemlich ausgebremst durch Mellis Ablehnung.
»Weil wir verloren haben?«
»Äh, ne, weil du so gut warst, immerhin hast du fast gegen Victoria gewonnen, und das will was heißen«, schrillte ihre Stimme und drohte zu kippen.
»Also, danke«, meinte Melli kurz und wollte sich wieder wegdrehen. Doch Charlie ließ nicht locker. Melli ahnte, was ihr eigentlich unter den Nägeln brannte. Seit Tagen, nein, um genauer zu sein, seit dem Abend ihrer umwerfenden Schul–Musical-Premiere vor ein paar Wochen, war es immer das Gleiche mit den vier Mädchen. Zuerst war es hauptsächlich Nadine, dann das gesamte Kleeblatt und jetzt verfolgte vor allem Charlie nur noch ein Ziel: Jason. Es war Jasons erster Abend in Deutschland gewesen und Nadine und ihre Freundinnen waren sofort hin und weg von ihm. Aus irgendeinem Grund war Charlies Schwärmerei inzwischen dermaßen ausgeufert, dass Nadine ihrer Freundin den Vortritt ließ, wenn es um Jason ging. Melli konnte schon gar nicht mehr zählen, wie oft Charlie versucht hatte, sie über Jason auszuquetschen. »Sag mal, ich habe gehört, ihr habt jetzt einen Pool. Wäre es nicht schön, wenn wir uns mal bei euch treffen und so …?« Wenn Charlie so leise und fast schüchtern sprach, erinnerte sie Melli an ein kaputtes Quietschentchen.
»Der ist noch nicht fertig«, pflaumte sie zurück.