Melli. Einmal blinzeln und von vorn - Stefanie Dörr - E-Book

Melli. Einmal blinzeln und von vorn E-Book

Stefanie Dörr

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Beschreibung

Melli will eigentlich nur die Hochzeit ihrer Mutter verhindern. Doch als sie ausgerechnet im Standesamt ihre magischen Fähigkeiten entdeckt, hat sie alle Hände voll zu tun. Sie muss die Premiere des Schulmusicals retten, ihre Cousine vor der blöden Ziege Adine warnen und nebenbei noch herausfinden, was Oma Doro mit ihren Zeitsprüngen zu tun hat. Die schaut nämlich immer so geheimnisvoll und Melli ist sich sicher, dass sie mehr weiß, als sie zugibt.

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Stefanie Dörr

Melli

Einmal blinzeln und von vorn

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Stefanie Dörr, 1967 in Stuttgart geboren, studierte Betriebswirtschaft und arbeitete jahrelang in Werbung und Marketing, bevor sie sich als freie Texterin und Beraterin selbstständig machte. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Frankfurt am Main und schreibt Romane für Kinder und Jugendliche.

Von Stefanie Dörr sind im Arena Verlag bereits erschienen:

Lenas geheimes Wunschbuch. Von unerklärlichen Schulhofkatastrophen, oberpeinlichen Liebeserklärungen und besten Freundinnen in Not

Lenas urlaubsreifes Wunschbuch. Liebe Grüße aus dem Chaos

Lenas verliebtes Wunschbuch. Glücklich hoch zwei

 

1. Auflage 2013 © 2013 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Frauke Schneider ISBN 978-3-401-80286-2

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 1

Atemlos. Verzückt. Träumerisch. So in etwa erschienen Melli die Gesichter der Menschen, die gemeinsam mit ihr in dem festlichen Raum des Standesamtes saßen. Einige Augenpaare schimmerten sogar verdächtig feucht oder waren rot unterlaufen wie nach einer kräftigen Heulattacke. Eigentlich kein Wunder. Schließlich befanden sie sich ja auf einer Hochzeit, da waren Tränen durchaus üblich.

Missmutig ließ Melli ihren Blick schweifen. Bestimmt war sie die Einzige, die aussah, als hätte sie den Mund voller Ameisen. Nicht, weil sie Heiraten im Allgemeinen blöd oder peinlich fand. Wenn Melli ehrlich war, hatte sie sich heute früh von der gleichen Vorfreude anstecken lassen, die ihren Zwillingscousinen Lora und Pia seit Wochen fiebrige Wangen bescherte. Zugegeben, ein ganz kleines bisschen hatte sie sich auch auf das große Fest gefreut, das schöne Kleid, in dem sie mindestens drei Jahre älter aussah, und die neuen Schuhe mit beachtlichem Absatz – endlich mal welche für richtige Mädels, keine praktischen Sneaker oder klumpigen Stiefel. Mindestens eine Stunde hatten sie und die Zwillinge Lora und Pia benötigt, um ihr neu gekauftes Make-up aufzutragen. Zuerst war es zu grell geworden – Pia hatte ausgesehen wie eine brasilianische Samba-Tänzerin –, dann als hätten sie sich zum Schlafengehen abgeschminkt, aber jetzt – das hoffte Melli zumindest – wirkte es genau richtig.

Nein, das alles war es also nicht. Melli hatte nur ein Problem mit dieser einen, ganz speziellen Hochzeit, die heute hier stattfand und sich in dieser Minute ihrem Höhepunkt näherte. Genau genommen hatte sie ein Problem mit der Braut. Die war nämlich ihre Mutter und Mellis Ansicht nach war es absolut überflüssig und völlig daneben, dass ihre Mutter heiratete. Mehr als zwölf Jahre hatten sie es jetzt gemeinsam ohne Mann ausgehalten und waren höchst zufrieden gewesen. Sie hatten ja sich. Warum sollte man diesen Zustand ändern?

»… ist es nicht wunderbar, dass sich diese beiden Menschen gefunden haben, über die Ozeane hinweg …«, tönte der Standesbeamte.

Blablabla, dachte Melli, kaute auf ihrem Kaugummi herum und betrachtete ihre lackierten Fingernägel. Gut sah die neue violettgoldglänzende Farbe aus. Ne, unter Wundern stellte sie sich etwas anderes vor. Egal ob ein Ozean oder ein Weltall dazwischenlag, wirklich wunderbar wäre es gewesen, Adrian, der neue Mann, wäre ihrer Mutter nie begegnet und alles würde weitergehen wie bisher. Als ob es auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans nicht Millionen von Frauen gäbe, aus denen sich Adrian eine hätte aussuchen können. Nein, ausgerechnet hier musste er zuschlagen! Sie schaute sich unauffällig um. Es war geradezu unheimlich still in dem festlichen Trausaal. Bis auf die Stimme des Standesbeamten, das Summen einer aufdringlichen Fliege und das Rauschen der Bäume, das durch die geöffneten Fenster drang, war nichts zu hören. Da! Ertappt. Dorothea, Mellis Großmutter, zeigte ebenfalls keine Begeisterung. Melli hätte fast gekichert, als sie Oma Doros fest zusammengepressten Mund betrachtete, bei dem man die Altersfalten nun ganz deutlich sehen konnte. Ihre Oma teilte Mellis Unmut. Das hatte sie in den vergangenen Wochen deutlich gemacht. So deutlich, wie sich das nur Oma Doro leisten konnte. Melli blinzelte ihr unauffällig zu. Keine Reaktion. Oma Doro hatte sich im Griff, aber dann entspannte sich ihr Mund ein wenig und deutete ein winziges Lächeln an. Dafür zappelte Lora an Mellis Seite wie ein junger Hund. Die konnte es kaum erwarten, dass die Ringe getauscht wurden. Für sie war es schon eine Enttäuschung, dass die erste Hochzeit, auf der sie dabei sein durfte, nur im Standesamt und nicht mit Pomp und Gloria in einer festlich geschmückten Kirche stattfand. Mit weißem Brautkleid und Sträußchen – das wollte allerdings Pia auffangen, weil sie keinesfalls beabsichtigte, erst in so greisem Alter zu heiraten wie Mellis Mutter Pam. Melli schob sich verstohlen einen neuen Zimtkaugummi in den Mund. Bloß nicht rascheln. Als Melli und Lora vorhin aufgeregt miteinander geflüstert hatten, wurden sie von allen Seiten mit strengen Blicken bestraft. Besonders Oma Doro hatte böse geguckt, aber das tat sie ja sowieso schon die ganze Zeit. Der entging gar nichts. Sie hatte Augen wie ein Weißkopfadler, genau so stechend, genau so scharf.

»… nun, liebe Anwesenden, kommen wir zu der alles entscheidenden Frage …«

Aha, der Mann kam endlich auf den Punkt. Jetzt musste Pam »Ja« oder »Nein« sagen. Bestenfalls natürlich »Nein«, aber Melli machte sich in dieser Hinsicht keine großen Hoffnungen. Panik stieg in ihr hoch, als sie das drängende »Ja« auf den Lippen ihrer Mutter sah, das es kaum erwarten konnte, aus ihrem Mund zu purzeln. Nein, Melli jedenfalls wollte Adrian und die ganzen Änderungen, die er mit sich brachte, nicht. Eindringling. Störenfried. Aber ihre Meinung interessierte ja mal wieder keinen.

»… und jetzt frage ich Sie, Frau Pamela Bergmann, wollen Sie mit dem hier anwesenden Herrn Adrian Wilkins …«

Melli schluckte, schloss kurz die Augen und konzentrierte sich auf ihre Mutter: Tu’s nicht, Mama, tu’s nicht, dachte sie ihre Beschwörungsformel. Sinnlos. Hatte noch nie geklappt. Warum also jetzt? Igitt, ihr war richtig schwindelig, so sehr hatte sie sich auf ihre Mutterbeschwörung konzentriert. Melli linste vorsichtig zum Standesbeamten. Warum sprach er nicht weiter? Er brauchte ewig, um Luft für den nächsten Satz zu holen, nun gab er Laute von sich, als wäre er an einen Stimmenverzerrer angeschlossen. Was sollte das? Warum verstummte er jetzt ganz und hielt sogar den Mund geöffnet? Ekelhaft, Melli konnte einen vergoldeten Backenzahn in dem aufgerissenen Schlund erkennen. Warum bewegten sich weder ihre Mutter noch sonst jemand und warum hielt Lora mitten im Zappeln inne, die Hand in einer komischen Bewegung von sich gestreckt, als wollte sie auf etwas zeigen? Melli wackelte mit dem Kopf. Ihre eigenen Bewegungen waren flüssig und geschmeidig wie immer. »Es klapperten die Klapperschlangen, bis ihre Klappern …«, flüsterte sie, um zu prüfen, ob sie normal sprechen konnte oder auch an diesen seltsamen Stimmenverzerrer angeschlossen war. Kein Problem. Astreine Aussprache. Vielleicht hatten ihre Ohren ein Problem? Aber nein, sie hatte sich selbst ja richtig hören können. Ein dunkles Augenpaar bohrte sich wie ein mahnender Finger in ihre Seite. Ups, Oma Doro sah zu ihr hinüber, ohne den Kopf zu drehen. Wie machte sie das nur? Ihre Augen funkelten, ansonsten schien auch sie zu Stein geworden zu sein, doch bevor Melli etwas zu ihrer Verteidigung sagen konnte, hörte der Spuk auf und ein allgemeines Rutschen, Hüsteln und Stühlerücken war die Folge. Der verhängnisvolle Satz wurde, ohne zu zögern, zu Ende geführt. »… die Ehe eingehen?«

Klar und deutlich, nur ein wenig hastig klang das »Ja« von Mellis Mutter durch den Raum. In Mellis Hals entstand ein dickes Knäuel. Wahrscheinlich hatten sich die vielen »Nein! Bitte nicht!«-Schreie verknotet, die sie mühsam unterdrücken musste. Bevor sie einen Hustenanfall bekam, steckte sie sich einen neuen Kaugummi in den Mund. Der Gummiklumpen war inzwischen ziemlich groß und bereitete ihr beim Kauen Schwierigkeiten, aber das fand sie immerhin besser, als an einem hinuntergeschluckten »Nein« zu ersticken. Adrian begann, in seinen Hosentaschen zu wühlen. Aha, jetzt kamen die Ringe. Während Pia und Lora zwillingshaft im Duett seufzten und mit den Wimpern klimperten, betete Melli mit rasendem Herzen ein Wunder herbei, das die Ringe verschwinden lassen würde. Puff und weg. So irgendwie. Ein kleiner Hurrikan vielleicht. Oder ein Erdbeben, ein Kugelblitz, wenigstens aber ein Stromausfall. Natürlich geschah nichts dergleichen. Ganz deutlich konnte sie durch den Stoff von Adrians Jackett die Abdrücke der kleinen Juwelier-Schachtel sehen. Ringe waren zum Heiraten nicht unbedingt notwendig, hatte sie von Pam erfahren, aber eben ein wichtiges Zeichen ewiger Verbundenheit, auf das ihre Mutter keinesfalls verzichten wollte. Ewige Verbundenheit – Melli schnaubte frustriert die Luft durch die Nase, wahrscheinlich ein wenig zu heftig, denn schon wieder drehte sich der Raum und sie musste schlucken, um ein Schwindelgefühl zu unterdrücken. Auweia, fast hätte sie das Ringeanstecken verpasst. Jetzt. Adrians Hand griff in die Tasche und… blieb stecken. Er war regelrecht erstarrt. Genau so wie vorhin. Totaler Stillstand. Als hätte jemand beim DVD-Gucken den Pausenknopf gedrückt. Melli sprang auf. Ohne weiter nachzudenken, stürzte sie nach vorne, griff in Adrians Jackentasche, holte die Schachtel heraus, schaute kurz prüfend über die bewegungslose Traugemeinde und setzte sich schnell wieder auf ihren Platz. Das gab’s doch einfach nicht. Völlig unmöglich! Kein einziger Mensch in diesem Raum bewegte sich, nur sie hüpfte munter durch die Gegend. Vielleicht wollten sie sich einen Scherz mit ihr erlauben? Aber warum jetzt, in einem angeblich denkwürdigen und großartigen Moment? Sie schnippte ihren Cousinen Lora und Pia testweise mit dem Finger gegen die Wangen. Keine Reaktion. Noch hielten sich die beiden an den Händen, als wäre ihr Verstand mal kurz für kleine Mädchen und hätte ihre Körper im Pausemodus zurückgelassen. Sogar die Uhr, die hinter dem Standesbeamten hing, stand still. Kein Ticken war zu hören. Die Zeit schien tatsächlich stehen geblieben zu sein. Nachdenklich schaute Melli auf die kleine Schachtel in ihren Händen. Was wollte sie eigentlich damit? Schnell schob sie die Ringe unter den Hintern, sodass sich der Karton in ihre rechte Pobacke bohrte. Total unbequem. Ihr Herz klopfte wie verrückt, als sie darauf wartete, was als Nächstes geschehen würde. Immer wieder flog ihr Blick zu der regungslosen Uhr. Würden die Zeiger gleich wieder weiterwandern? Sie spürte ein wildes Kichern in sich aufsteigen. Das war ja geradezu genial, was hier ablief! Eine bessere Katastrophe hätte gar nicht passieren können. Mit viel Glück würde die Hochzeit gar nicht zum Abschluss kommen. Und wie lustig die meisten Leute hier aussahen! Melli prustete in ihre Armbeuge. Ihr Onkel Christof hatte den Mund geöffnet, als wollte er Tante Kira gleich ins Ohr beißen, und Tante Kira musste beim Schnäuzen erstarrt sein, was sehr unvorteilhaft aussah. Lora und Pia würden sicher gleich einen schrecklichen Krampf bekommen, so unnatürlich sah ihre Haltung aus, und Oma Doro … herrje, Oma Doros Augen schossen Blitze. Seltsamerweise schien die allgemeine Starre ihre Augen nicht erfasst zu haben. Jetzt wanderte der ungehaltene Blick zu Mellis Po. Und zurück. Und wieder zu ihrem Hinterteil. Brannte ein tiefes Loch hinein. Genau dort, wo Melli die Ringe versteckt hatte. Mistige Sache. Ihre Oma wusste Bescheid, Melli war als Ring-Diebin entlarvt. Ihr Gesicht verfärbte sich schuldbewusst tiefrot. Verlegen rutschte sie auf der Schachtel herum, die ganz schöne Schmerzen verursachte. Direkt an ihrem Po, aber auch in ihrem Kopf. Dort pochte es unangenehm. Sich mit Oma Doro anzulegen, war noch niemandem gut bekommen. Melli wollte es sich auf keinen Fall mit ihr verderben. Gerüchten zufolge konnte sie sogar hexen, was auch immer das bedeutete. Oder zumindest Menschen beeinflussen. Also, mit DEM Blick konnte sie auf jeden Fall Melli beeinflussen. Tja, es half nichts, die Ringe mussten zurück, sie hatte keine Wahl. Doch bevor sie sich erheben konnte, lief der Film weiter.

Adrian kramte zunehmend nervös in seiner Tasche, die Augen von Mellis Mutter weiteten sich, als würde sie tatsächlich einem von Melli herbeigewünschten Tornado entgegenblicken, und die Gäste hüstelten und räusperten sich immer lauter. Melli bekam einen Tritt gegen das Schienbein. »Na los, dein Einsatz«, flüsterte Oma Doro eindringlich. Ja dann, dachte Melli ergeben und erhob sich umständlich. Sie strich sich das Kleid glatt, machte ein paar unsichere Schritte, trat schließlich mit brennenden Wangen neben das Brautpaar und streckte Adrian die kleine Schachtel mit den Ringen entgegen. Fehlte nur noch, dass sie den Kopf ehrerbietig neigte, so wie ein Diener dem König sein Schwert, eine geheime Botschaft oder sein Leben überreichte. Erstaunt hielt Adrian in seiner Suche inne. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er begriff, dann zwinkerte er ihr kurz zu und rief hocherfreut: »Melli! Was für eine tolle Überraschung!«

Seine Beinahe-Frau schob ihn zur Seite, drückte Melli überschwänglich an sich und brachte unter strahlenden Freudentränen ein »Ach, Melli-Maus, wie süß von dir. Ich bin ja so glücklich, du Goldschatz« hervor.

Oh Schreck, welch Blamage! Jetzt war es an Melli zu erstarren. Jeder hier im Raum wusste doch ganz genau, dass sie, Melli-Maus – sie hasste es, wenn ihre Mutter sie so nannte –, also sie, die Tochter der Braut, diese Hochzeit überhaupt nicht gut fand. Und jetzt so etwas! Unter Schock hörte sie das aufgeregte Flüstern hinter sich, Tante Kiras »Wie wundervoll, welch entzückende Geste« und musste mit ansehen, wie sich Adrian und ihre Mutter gegenseitig die Ringe über die Finger schoben, sich anschließend in die Arme fielen und unglaublich fest auf den Mund küssten, wie frisch Verheiratete das eben machten. Mann, das war echt peinlich. Vor allen Leuten so ein Kuss.

Melli schleppte sich zu ihrem Stuhl zurück, wo sie von ihren begeisterten Cousinen, die zugleich ihre besten Freundinnen waren, erwartet wurde.

»Warum hast du nichts gesagt?«, empörte sich Lora. »Ich dachte immer, du bist gegen die Hochzeit, und jetzt gibst du ihm sogar die Ringe!«

»Melli, das hätte ich dir nie zugetraut, du bist ja echt süß!«, giggelte Pia.

»Bin ich nicht! Aber was blieb mir übrig, der Trottel hat doch glatt die Ringe vergessen, was soll denn das bitte schön für ein Ehemann sein …«, grummelte Melli und sank noch ein bisschen weiter in sich zusammen, da sie auf diese Notlüge zurückgreifen musste. Denn niemand außer Oma Doro schien etwas von dem kleinen Einfrierungs-Erstarrungs-Problem bemerkt zu haben. Niemand würde ihr glauben, dass alle außer ihr eben gerade in eine Art Mini-Dornröschenschlaf gefallen waren. Und das gleich zwei Mal hintereinander! Sie spürte Oma Doros zufriedenes Nicken und ihren nachdenklichen Blick auf sich ruhen, war aber zu aufgewühlt, um darauf zu reagieren. Unglaublich, was hier geschehen war. Einfach unglaublich! Und damit meinte Melli nicht nur die Hochzeit.

Kapitel 2

Kaum eine Minute verging, in der sich Melli nicht zu ihrer romantischen Geste gratulieren lassen musste. Selbst jetzt, als sie den voll beladenen Teller durch das Gedränge balancierte, fing eine Freundin ihrer Mutter sie ab und redete mistigen Brei auf sie ein. Melli war sauer. Und fühlte sich total missverstanden. Ihre Gesichtsmuskeln schmerzten vom ewigen Dauerlächeln. Außerdem kämpfte in ihrem Innern das dringende Bedürfnis, mit jemandem über ihr Erlebnis zu reden, gegen die Überzeugung, dass sie sofort für verrückt erklärt werden würde. Außer von ihrer Großmutter vielleicht. An die könnte sie sich natürlich wenden – wenn sie nur den Mut aufbringen würde. Womöglich hatte sie sich ja auch nur eingebildet, dass Oma Doro alles mitbekommen hatte. Obwohl ihre Großmutter dafür bekannt war, an die merkwürdigsten Dinge zu glauben, fürchtete Melli, im besten Falle herzlich ausgelacht zu werden. Vom vielen Nachdenken und Gedankenwälzen wurde sie immer mürrischer.

Mit düsterer Miene gelangte sie zu ihrem Tisch, wo sich Lora bereits mit einer riesigen Portion Nachspeisen-Mischmasch beschäftigte und Pia aus einer Teetasse Suppe löffelte. Nur mit viel gutem Willen konnte man zwischen den Zwillingen eine gewisse Familienähnlichkeit erkennen. Pia, die Zarte, Schlanke mit dem hellen Lockenkopf, Lora, die Kräftige mit den langen blonden Haaren, die sie immer zu einem lässigen Zopf zusammenfummelte. Nur ihre Nasen und Augen waren dieselben. Lustige Stupsnasen waren das, gekrönt von zwei neugierigen dunkelbraunen Augen. Melli quetschte sich zwischen ihre Cousinen an ihren angestammten Platz. Zu dritt waren sie ein eingeschworenes, fest zusammengeschweißtes Team, das auch in dieselbe Klasse ging. Gemeinsam mit Jacob und Mario, die auch zu ihrer Clique gehörten und die täglich mit ihnen im gleichen Bus zur Schule und zurück fuhren. Die Gang aus Meckenbach hatten sie sich früher genannt und manchmal nannten sie sich immer noch die Gang. Melli sah sich um: »Sind die Jungs noch nicht hier?«

»Nö«, mampfte Lora ungeniert mit vollem Mund. »Sie wollten aber gleich nach ihrem Turnier kommen. Jacob hat Fußball und Mario Karate.«

»Hoffentlich denken sie daran, sich umzuziehen«, kicherte Pia und strich sich über das seidige, blau schimmernde Sommerkleid. Pia sah darin wie eine zerbrechliche Puppe aus. Eine große, schlaksige Puppe zwar, aber ausgesprochen bezaubernd, während Lora in ihrem cremeweißen Satinschlauch ein wenig an eine knubbelige Marzipanwurst erinnerte, worüber sie sich selbst prächtig amüsierte.

»Es ist sowieso egal, was ich anziehe. Bei mir gehen nur Jeans und T-Shirt, das wissen Mama und Pam genau«, hatte Lora bei der Anprobe gelacht und das Kleid achtlos beiseitegelegt.

So viel Gleichgültigkeit konnte Melli nicht verstehen. Gut, sie feierten nur im engen Familien- und Freundeskreis, nichts Großes also. Onkel Christofs und Tante Kiras Garten war ja auch nicht gerade ein Schlosspark, aber auf ein angemessenes Kleid hatte Melli dann doch bestanden. Wenn sie schon diese doofe Hochzeit ertragen musste, dann wollte sie wenigstens etwas davon haben. Wochenlang hatten Melli und Pia nach dem passenden Outfit gesucht. Im Internet und in ihren Lieblingsläden in der Stadt. Lora hatte sich zwar die ganze Zeit über sie lustig gemacht, aber das war ihnen egal gewesen. Melli fühlte sich in ihrem lindgrünen Irgendwas jedenfalls sehr erwachsen. Ihre Finger glitten über den Stoff. Schade, dass sie es an so einem mistigen Tag tragen musste. Die reinste Verschwendung! Das verdiente ihr Kleid nicht.

»Fototermin«, rief wie auf das Stichwort eine fröhliche Stimme und Melli verdrehte die Augen. »Ich habe noch nicht einmal mit der Vorspeise angefangen und schon wieder heißt es: bitte Dauerlächeln«, flüsterte sie Lora zu und warf einen wehmütigen Blick auf ihren überladenen Teller. »Das gibt bestimmt einen schlimmen Muskelkater im Gesicht und meine Lippen fühlen sich schon ganz rissig an, als würde ich vom Zahnarzt kommen.«

Wortlos hielt ihr Pia ein rosafarbenes Lipgloss entgegen. »Wir müssen glücklich aussehen«, erklärte sie. »Das gehört sich für Hochzeitsfotos und außerdem wäre Pam furchtbar enttäuscht, wenn wir die Fotos vermasseln, oder?«

»Ich verstecke mich hinter euch, ja?«, sagte Lora, schob sich hinter Melli und Pia und drückte ihr frech grinsendes Gesicht zwischen die beiden. »So kann auch das schlimmste Kleid kein Foto vermiesen.«

»Stellt euch mal nebeneinander ... uuuund lächeln, ihr habt Spaß, ja? Lora, zeig dich!«, rief der Fotograf und lotste sie zum Blumenbeet, in dem sich die ersten Knospen öffneten.

»Geht leider nicht«, kicherte Lora zurück, »ich habe einen Fleck auf dem Kleid und sehe aus wie eine Barbarin.«

»Dann halt ohne Kleid«, lachte der Fotograf und irgendwie bekam er es hin, dass die drei sich vor seiner Kamera in die unmöglichsten Posen warfen und sich schließlich vor Lachen die Seiten hielten.

»Schluss, ich kann nicht mehr«, stöhnte er schließlich. »Das werden bestimmt die bemerkenswertesten Hochzeitsfotos meiner Laufbahn. Ich brauche jetzt ein paar romantische Küsse vom Brautpaar, sonst verliere ich den Glauben an die Welt.«

Mellis eben noch glänzende Laune war sofort hinüber, als sie beobachtete, wie mit Pam und Adrian ein Kussfoto nach dem anderen entstand. Als Melli auf die Uhr blickte, erreichte ihre Stimmung den Nullpunkt. Bald würde ihre Mutter auf Hochzeitsreise gehen. Das Taxi zum Flughafen kam schon in zwei Stunden, dann war Pam weg. Mit Adrian. Melli schluckte. Zum ersten Mal in ihrem Leben würde sie drei Wochen ohne ihre Mutter verbringen. Und drei Wochen konnten ganz schön lang sein, wenn man auf etwas wartete und allein war. Auch wenn sie bei ihren Cousinen und Lieblingsfreundinnen wohnen würde. Eine dreiwöchige Übernachtungsparty sozusagen. Aber noch schlimmer war, dass Adrian seiner Frau die USA zeigen wollte. Zumindest einen winzig kleinen Teil davon – den Teil, in dem auch sein Sohn aus erster Ehe lebte. Jason. Ihr Albtraum. Ihr zukünftiger Bruder.

»Mann, ihr habt euch schlimmer aufgeführt als die zickigen Mädels bei diesem Topmodel-Quatsch«, maulte jemand hinter Melli und holte sie aus ihren düsteren »dieser Jason wird mein Bruder«–Gedanken. Sie fuhr herum. »Ach, da seid ihr ja endlich! Sag bloß, ihr habt uns heimlich beobachtet.«

»Ja, genau so heimlich wie die Hälfte der Gesellschaft hier«, grinste Mario und Jacob nickte von oben herab bestätigend. Jacob behandelte jeden von oben herab, weil er im letzten halben Jahr unglaublich gewachsen war, dass er inzwischen selbst Pia um einen halben Kopf überragte. Sehr zu seinem Leidwesen, denn er spielte leidenschaftlich Fußball und ein großer Fußballer hatte es seiner Meinung nach viel schwerer als ein kleiner, quirliger. Jetzt wollte er unbedingt Torwart werden, da er glaubte, mit seiner Größe das Tor bis zum letzten Zentimeter ausfüllen zu können. Melli betrachtete die beiden vom Scheitel bis zur Sohle und brach dann in schallendes Gelächter aus. »Ihr solltet unbedingt auch auf die Fotos. Los, macht schon, wir, die Gang, alle zusammen!«

»Neee, wen haben wir denn da?«, stichelte Lora. »Men in Black 4 werden wohl heute gedreht. Wo habt ihr denn die Verkleidung aufgetrieben?«

»Wenigstens haben sie euch keine Krawatten umgebunden«, ergänzte Pia und kicherte.

Die beiden Jungen sahen tatsächlich nicht besonders glücklich aus. Mit ihren Sonnenbrillen wollten sie wohl verbergen, wie unwohl sie sich in ihren weißen Hemden und den dunklen Hosen fühlten. »Also ich finde, ihr seht toll aus! Allein euer Anblick entschädigt mich für einiges hier«, meinte Melli versöhnlich und schob Jacob und Mario zum Fotografen, der eben Adrian und Pamela ein paar Schnappschüsse auf seinem Kameradisplay zeigte. »Prima, da sind ja unsere Ehrengäste! Kommt her, Jungs, jetzt gibt es noch was fürs Familienalbum.« Mellis Mutter lief ihnen erfreut entgegen. Sie hatte darauf bestanden, dass Melli ihre Freunde einlud. Am liebsten die ganze Klasse, sämtliche Freundinnen aus ihrer Dance-Gruppe und längst vergessene Kindergartenfreunde und und und. Aber Melli war die Hochzeit so schon peinlich genug. Eine Mutter, die heiratete – ohne Worte. Keine Freunde, hatte sie also erklärt und basta. Jacob und Mario waren eine Ausnahme, immerhin gehörten sie fast zur Familie.

Im Nachhinein war Melli froh, dass wenigstens ihre Clique hier war. Wenn sie es schaffte, Adrian und ihre Mutter zu ignorieren, die fröhlich zwischen den Blumenbeeten tanzten, konnte sie nämlich eine ganze Menge Spaß haben.

»Ganz schön lecker«, mampfte sie und schob sich einen Löffel Eis in den Mund.

Jacob bearbeitete schon seinen dritten Teller Hauptspeise. »Und, hast du geheult?«, fragte er Pia, die ihm von der Trauung erzählt hatte.

»Ja, und dazu stehe ich auch. Nur ganz wenige haben nicht geweint.«

»Echt, auch Männer?«, fragte Mario irritiert.

»Mein Paps jedenfalls nicht und Adrian auch nicht. Aber als Melli die Ringe überreicht hat, Mann, das hätte selbst einen Eisberg zum Schmelzen gebracht! Alle waren total gerührt.« Jacob stieß Melli unter dem Tisch ans Bein. »Was hast du? Ich dachte, du findest die Aktion hier zum K…, also bescheuert.«

Verdammt. Bis eben hatte Melli es verdrängt. Jetzt verschluckte sie sich beinahe an ihrem Eis. Die Trauung, die Peinlichkeit, Oma Doro und dieses merkwürdige Zeitlupenerlebnis. Als Melli aufgehört hatte zu husten, schüttelte sie abweisend den Kopf.