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Der Raum, in welchem ich mich befand, war allerdings eine Mönchszelle, er war aber auch das Laboratorium eines Physikers und Chemikers. Franz hatte auch sonst kein Glück gehabt im Leben. Sein sehr geliebtes Weib, sein von ihm vergöttertes Kind waren ihm gestorben. Er sehnte sich nach Ruhe. Er suchte sie, und – in seinen Briefen und auf seinem Gesicht war es geschrieben – hier hatte er sie gefunden. Er halte mir ein paar Zeilen zurückgelassen. Ein paar Zeilen, die nur mich angehen, und etliche Manuskripte, die er – das wusste ich schon von früher her – gern gedruckt hatte sehen wollen. Der eventuelle Erlös daraus sollte Männern zugutekommen, die gleich ihm, ohne Geld und ohne Gönner, sich nicht imstande sahen, ihre Ideen zu verwirklichen; die Honorare sollten den Grundstock zu einer Stiftung bilden, die freilich durch sie allein nicht ins Leben gerissen werden konnte. In den nächsten Tagen las ich seine Manuskripte – da erinnerte ich mich wieder an den humorvollen Ausdruck des blassen Totengesichtes und jetzt verstand ich ihn erst so recht. Hier aber – hier ist einer der Romane, den ein tief gelehrter Mann, ein Mann von warmen Herzen und einer – trotz allem – wieder kindlich froh gewordenen Seele in einsamen Stunden geschrieben – in Stunden, in denen er über die Welt lächelte und über die Menschen, die ihn nicht ernst genommen hatten.
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Seitenzahl: 606
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Mene Tekel …
Eine seltsame Geschichte
Auguste Groner
Titel: Mene Tekel ... Eine seltsame Geschichte
Verlag Heliakon
Titelbild: Das Fest von Balthazar, Rembrandt (1635)
2022 © Verlag Heliakon, München
Umschlaggestaltung: Verlag Heliakon
www.verlag-heliakon.de
Alle Rechte vorbehalten
Ihrem Bruder,
dem k. k. Professor Franz Kopallik
für seine liebevolle Mithilfe
in Dankbarkeit gewidmet.
Die Verfasserin
Titelseite
Vorwort
l. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
»Sie kommen zu spät. Ihr Freund ist heute nachts gestorben. Er ist schon aufgebahrt.«
Mit diesen Worten empfing mich der Prior des Klosters, in welchem Franz Haller, mein liebster Jugendgenosse, den Frieden gefunden, der ihm in der Welt verloren gegangen war. Zwei Tage zuvor hatte man mich telegrafisch von dem Wunsch des Schwerkranken, mich zu sehen, in Kenntnis gesetzt; mit dem nächsten Zug war ich abgereist, saß fast 24 Stunden im Coupé und war nun – trotz aller Hast – doch zu spät gekommen.
Mir tat das Herz weh.
Als ich aber an dem Sarg stand, war mir leichter zu Mute. Ich sah in dem stillen Gesicht meines lieben Franz eine so schöne Ruhr, dass ich daraus entnehmen konnte, er sei ohne Leid aus dieser Welt gegangen.
Und noch etwas gewahrte ich in diesem, schon von grauen Haaren umgebenen Antlitz, gewahrte einen ganz unverkennbaren Ausdruck von Humor darin. Wahrhaftig – diese blassen Lippen lächelten. Und wie einst, wenn wir etwas Heiteres vorhatten, musste ich auch jetzt mit dem Toten lächeln.
Ich war ganz ruhig, als ich ihn verließ.
Eine Stunde später befand ich mich, auf meinen Wunsch hin, allein in der Zelle, in welcher Franzens fantastischer Erfindergeist und sein weltmüdes Herz zur Ruhe gekommen waren, in der er, ich wusste dies aus seinen Briefen, sich damit abgefunden hatte, dass ihm nie ein Erfolg beschieden gewesen und in der er trotzdem weiter studierte und experimentierte. Ja – auch experimentierte.
Der Raum, in welchem ich mich befand, war allerdings eine Mönchszelle, er war aber auch das Laboratorium eines Physikers und Chemikers. Doktor Franz Haller, der hier Bruder Antonius geheißen, war nämlich bis vor etwa 15 Jahren ein, trotz seiner fantastischen Art, sehr angesehener Gelehrter gewesen, einer jener genialen Vorausseher, denen die Künstler den Weitblick nicht gönnen, und über deren kühne Ideen der geistige Pöbel lacht.
Franz hatte auch sonst kein Glück gehabt im Leben. Sein sehr geliebtes Weib, sein von ihm vergöttertes Kind waren ihm gestorben. Er sehnte sich nach Ruhe. Er suchte sie, und – in seinen Briefen und auf seinem Gesicht war es geschrieben – hier hatte er sie gefunden. Er halte mir ein paar Zeilen zurückgelassen. Ein paar Zeilen, die nur mich angehen, und etliche Manuskripte, die er – das wusste ich schon von früher her – gern gedruckt hatte sehen wollen. Der eventuelle Erlös daraus sollte Männern zugutekommen, die gleich ihm, ohne Geld und ohne Gönner, sich nicht imstande sahen, ihre Ideen zu verwirklichen; die Honorare sollten den Grundstock zu einer Stiftung bilden, die freilich durch sie allein nicht ins Leben gerissen werden konnte.
So halte Franz mir dereinst geschrieben und in dem kurzen, aber innigen Briefe, den er auf seinem Totenbett schrieb, erinnerte er mich noch einmal an diesen seinen Wunsch. Es war mir also ein Vermächtnis zu Teil geworden. In den nächsten Tagen las ich seine Manuskripte – da erinnerte ich mich wieder an den humorvollen Ausdruck des blassen Totengesichtes und jetzt verstand ich ihn erst so recht.
Hier aber – hier ist einer der Romane, den ein tief gelehrter Mann, ein Mann von warmen Herzen und einer – trotz allem – wieder kindlich froh gewordenen Seele in einsamen Stunden geschrieben – in Stunden, in denen er über die Welt lächelte und über die Menschen, die ihn nicht ernst genommen hatten.
In Helgeandsholmen, dem einen Inselteile Stockholms, befindet sich ein großer Park.
Im Frühling blühen dort die Bäume, die Sträucher und was sonst noch an Gräsern und Kräutern dort gepflegt wird, wie überall im Land, und dennoch nicht ganz so, wie überall. Sie wachsen und gedeihen im großen Garten auf Helgeandsholmen sozusagen mehr systematisch.
Die Keime entwickeln sich dort normal, die Blüten halten sich genau an die Theorie ihrer Entfaltung und die Früchte hängen genau nach Linné an den Ästen.
Es gibt nichts Abnormales in diesem überaus wohlgepflegten Garten. Das bemerkt freilich nur der, welcher alles genau ansieht.
Dieser Pakt ist auch mit geometrischer Genauigkeit angelegt und auch auf Basis eines gründlichen botanischen und geografischen Wissens.
Ich sagte: »Im Frühling blühen dort die Bäume.« Manche Leute aber sagen, dass Pflanzen dort seien, die noch nie und nirgends geblüht haben, und wieder andere, die immer blühen.
Das aber sagen eben nur die … Leute.
Sie sagen auch, dass in dem Park auf Helgeandsholmen eine ganz eigenartige Luft sei und ganz merkwürdige Temperaturen herrschen müssen und ein Erdreich von gar mannigfaltiger Art wäre.
Und das sagen nicht nur die Leute, das muss wirklich so sein, denn im selbigen Park findet sich die Flora der ganzen Erde zusammen und jedes Pflanzenexemplar, das dort gepflegt wird, gedeiht und blüht und bringt Früchte, als befände es sich just auf dem für ihn günstigsten Platz seiner aller eigentlichen Heimat.
Im Park auf Helgeandsholmen sieht man die Renntierflechte, die noch auf Nowaja Semlja gedeiht, und streckt die Kokospalme ihre Wedel ans, erhebt sich in der Nachbarschaft von Kaffeebäumen und Baumwollstauden der weiße Stamm der Birke, die bis an die Grenze des Eismeeres geht, und die schlanke Fichte, die den Stürmen der Alpen trotzt.
Und die rahmgelbe, wachsähnliche Königsblume aus den Bergen der Krain wächst dort neben seltsamen Moosen, die aus den Höhen des Himalaja kommen.
An einen Azaleenteppich von den Kjölen und an eine Gruppe schweizerischer Legföhren reihen sich mächtige Moränenblöcke aus dem Diluvialgebiet der Zentralalpen, welche Blöcke mit wunderschönen Farren und vielfarbigen und vielgestaltigen Flechten bedeckt sind, die einen Übergang zu den ihnen benachbarten blassgrünen Leuchtmosen bilden, welche sich in einem künstlich hierher versetzten Schieferfelsengeklüfte prächtig vermehren.
Und die zarten, milchweiße Blüten tragenden Stängel des Ohnblattes ragen da aus dem Moderboden einer alten Tanne auf, und neben ihnen prangt in sattem Rot der Fliegenschwamm und duftet der Pilsling, indessen gar nicht weit von ihnen auf einem hellen Plätzchen, dass Frauenhaar der ungarischen Steppe weht, und mordgieriger Sonnentau seine niedlichen Blüten dem Licht entgegenstreckt.
Er kann die zierlichen Wedel eines japanischen Rotangs und die starren Formen indischer Wolfsmilchbäume sehen und noch steifere Opuntien, die einstens im fernen Mexiko, im Boden von Anahuac gewurzelt haben. Und eine Rafflesia kann er sehen, die schmutzig-blutrot, sonst nur auf den Inseln des Indischen Ozeans gefunden wird. Auch sie, die gewöhnlich nur auf Elefantenpfaden gedeiht, lebt im Park von Helgeandsholmen. Auf den Wurzeln einer wilden Rebe, die sich an einem Zimtbaum emporrankt, schmarotzt die hässliche, Aasgeruch verbreitende Riesenblume. Und Immortellen vom Berge Athos, welche die griechischen Pilger so gern pflücken, und Immortellen und Kristallkräuter vom Kap sowie ihre seltsamen Verwandten, die Hochgebirgsimmortellen von Neuseeland, Hastien genannt, vielfarbige Knäuel von einem halben Meter Höhe und einem Meter im Durchmesser bildend, finden sich vor. Und daneben, in künstlich hergestelltem Sumpfgebiet, der Bambus und das Zuckerrohr, Aroideen aus dem brasilianischen Urwald und die Victoria regia vom Amazonenstrom.
Nun, ich sagte es ja schon: Im Park von Helgeandsholmen haben sich alle Pflanzen der Erde ein Stelldichein gegeben.
Er war demnach ein seltener und seltsamer Park.
In ihm stand ein Haus; ein elegantes, villenartiges Wohnhaus, wie man solche häufig in der Nahe großer Städte sieht.
Aber dieses Haus war kein ganz gewöhnliches Wohnhaus.
Es war schon in seinem Äußeren ein bisschen anders als die gewöhnlichen Wohnhäuser. Es stand ernstes einmal ziemlich weit entfernt von dem hohen, eleganten Gitter, welches den Park gegen die Straße hin abschloss, so weit davon entfernt, dass der Straßenlärm kaum bis zu dem Haus dringen konnte.
Es hatte ein ungewöhnlich breites Fenster als auffallendes Merkmal an seiner Stirnseite.
Dieses Fenster nahm fast die Hälfte der Front des Erdgeschosses für sich in Anspruch.
Man hätte meinen können, dass es zu einem Maleratelier gehöre – aber es lag ja nicht nach Norden – oder zum Atelier eines Fotografen; es waren jedoch weder Lichtblenden noch irgendwelche fotografische Apparate hinter den riesigen, spiegelnden Tafeln zu sehen, welche zeitweilig von hellgrauen Seidenvorhängen verhängt wurden, in denen seltsame Figuren asiatischen Charakters mit Goldfäden eingestickt waren.
Diese Vorhänge waren aber nur selten zugezogen.
Die liebe Morgensonne konnte, so oft sie wollte, das große Gemach schauen, welches hinter dem großen Fenster lag.
Und was sie sah, waren altindische Waffen, dürre Palmzweige, die sich über einen kistenartigen Sarg neigten, darin eine Mumie lag, welche man — natürlich vom Standpunkt des Altertumsforschers aus — schön nennen konnte. Auch die Reste antiker Metopen befanden sich da und eine Baalstatue, die auf Salamis, nahe von Kuluri aufgefunden worden war, und in ihrer Auffassung und Durchführung auf einen phönizischen Schöpfer hinwies.
Und wenn in wolkenarmen Nächten der Mond über Skandinavien hinzog, brachen sich seine bleichen Strahlen nicht nur in den Gewässern des Landes und dem blauen Gletschereise des Sulitjelma, sondern auch in den seltsamen bronzenen Waffen und Schmuckstücken, die an den Wänden und auf den Tischen besagten Raumes ausgestellt waren.
Und wenn ein Mensch an diesem großen Fenster vorüberging, blieben seine Augen wohl bewundernd oder wohl auch gierig an den mancherlei Geschmeiden haften, die dahinter in Vitrinen aufbewahrt wurden, an diesen Geschmeiden, die nicht alle schön, wohl aber alle so eigenartig waren, dass gewiss, jede tonangebende Dame Stockholms gern eine dazu passende Kleidermode erfunden hätte, um die köstlichen Steine an sich funkeln zu sehen, welchen da nach jahrtausendelangem Grabesdunkel Gelegenheit gegeben war, wieder das Sonnenlicht einzusaugen.
Das Haus im Park von Helgeandsholmen war also eine Art Museum?
Ja, es war eine Art Museum, insofern sein Besitzer darin alles aufbewahrte, was er seit langen Jahren während seiner weiten Reisen an Altertümern gesammelt hatte.
Aber es war auch ein Observatorium.
Aus einem Fenster seines ersten und einzigen Stockwerkes schaute ein riesiger Tubus hervor und neben diesem war ein Äquatorialinstrument aufgestellt. An den eisernen Fensterverspreizungen waren meteorologische Instrumente angebracht und an der Dachrinne lief, vom Fenster abwärts, ein Barometer bis zu den Steinfliesen des Bodens.
Das Haus und der Park auf Helgeandsholmen war also im Besitze eines Gelehrten?
Ja, sie waren im Besitze eines Gelehrten, und zwar eines Gelehrten, der in mehrerlei Wissenschaften daheim war.
Jedermann in Stockholm kannte das Haus, und kam ein Fremder in die Hauptstadt Schwedens, so ging er nicht in die alte Ritterholmskirche — und die ist mit den königlichen Grabmälern doch gewiss sehenswert —, ging nicht in das königliche Museum, sah sich nicht Gustav Wasa’s Denkmal an — und das muss ein gebildeter Reisender besichtigt haben, denn es ist nach dem Modell des berühmten Ritters L’Archevêque gegossen —, und ging nicht in die berühmte Insektensammlung des Freiherrn von Paykull, ehe er das Haus im Park von Helgeandsholmen gesehen, davor lange stehen geblieben und tief sinnend weitergegangen wäre.
An der Ecke des Parkgitters war ein Standplatz von Mietfuhrwerken.
Da geschah es manches Mal, dass ein russischer oder spanischer Matrose einen Kutscher fragte, wem das Haus gehöre.
Der Fragende wurde dann eigenartig angesehen und erhielt die Antwort: »Da wohnt der Professor N2.«
Schnell lüftete dann der Fragende den Hut zum Danke, blieb eine Weile vor dem Haus stehen und ging dann nachdenklich weiter.
Vor vielen Jahren, so erzählte der Stav-Karl, der älteste Kutscher von diesem Standplatz, kam dort ein sonderbarer Fall vor.
Stav-Karl fütterte soeben, an nicht – oder richtiger gesagt – an nichts Bestimmtes denkend, seine Pferde.
Da kam ein Fremder des Weges.
Es war ein junger Mann.
Es war sogar ein noch sehr junger Mann und er sah just nicht wie ein Weiser – er sah sogar ein bisschen albern aus.
Es war einer von jenen jungen Männern, denen die Farbe der Krawatte, die sie auswählen sollen, Nachdenken und Verlegenheit bereitet und denen eine neue Bartmode, die ihnen nicht steht, Kummer macht.
Mit der Neugier eines Unmündigen fragte dieser Fremde Stav-Karl, wer in diesem Park wohnte. Wie immer auf dieselbe Frage antwortete Stav-Karl: »Professor N2.«
Da ging soeben ein Mädchen vorüber.
Es war ein hübsches Mädchen und ein Mädchen, das seine Augen zu gebrauchen wusste.
Diese Augen zogen diejenigen des Fremden an.
Und des Mädchens Gedanken taten dasselbe in Bezug auf die Gedanken des jungen Mannes, das erhellte aus seiner Antwort.
»Ja, wer ist denn Professor N2?«, soll er gefragt haben.
Stav-Karl sah ihn ordentlich bestürzt an.
Er hatte da einen Menschen vor sich, der den Professor N2 nicht kannte, mehr – der vom Professor N2 gar nichts wusste.
Stav-Karl, der alte, in Ehren und Gesundheit alt gewordene Kutscher, brauchte ziemlich lang, um sich von seiner Verwunderung zu erholen, dann sagte er langsam und mit einer Betonung, in der seine Verachtung mitklang: »N2, nun das ist der berühmte Professor, den alle Menschen kennen. Den – nun, den keiner nicht kennt. Er heißt Doktor, Professor Clusius. Er ist zu Upsala dreifacher Doktor geworden und war schon als Student bekannter als mancher alte Universitätsprofessor; hier aber heißt er nur der Professor N-Quadrat1.«
Nach dieser Auseinandersetzung begann der Fremde zu ahnen, dass er eine bedeutende Unwissenheit an den Tag gelegt hatte und errötete.
Das hübsche Mädchen war auch schon vorübergegangen und so hatte er ja seine Gedanken wieder so ziemlich beisammen. Er wandte sich verlegen nun völlig zu Stav-Karl und sagte bescheiden: »Entschuldigen Sie! Ich war bis vor zwei Jahren stumm und taub und habe bis dahin in einer australischen Farm gelebt. Dann brachten mich meine Eltern herüber und ich wurde kuriert.«
»Ah, – jetzt verstehe ich!« entgegnete Stav-Karl mild. »Sie sind also sozusagen erst zwei Jahre alt.«
Der Fremde wurde abermals rot, verneigte sich jedoch zustimmend und ohne jeden Widerspruch.
Und da der Kutscher seinen Gleichmut nun wieder gewonnen hatte, erzählte er dem fremden jungen Mann, dass Professor N2 der bedeutendste und berühmteste Gelehrte der Jetztzeit sei und bemerkte, dass nur ein Ausnahmefall wie der des Fragers die Unkenntnis dieser Tatsache entschuldige.
* * *
In einer Frühlingsnacht war es, als der Gelehrte, welcher in dem Parkhaus lebte, sich von seinem Schreibtisch erhob. Er tat einen Blick auf seine Taschenuhr.
Es war nahe an Mitternacht.
Er hatte den Tag über angestrengt gearbeitet und auch noch etliche Nachtstunden zur Lösung eines Problems benutzt, das ihn stark beschäftigte.
Er hatte die Zeit hereinbringen müssen, die ihm gestern der König von Siam durch seinen Besuch genommen hatte.
Professor Clusius drückte auf eine Telegrafentaste, der sich auf seinem Tisch befand.
Eine halbe Minute danach schoben sich die Portieren der hohen Flügeltür auseinander und des Professors Diener stand vor seinem Herrn.
Wenn jeder, der dient, ein Diener ist, so war Klaus Groth ein solcher.
Klaus Groth war jedoch nicht nur ein Diener, er war auch das aktive Echo der Worte seines Herrn und dessen Vertrauter.
Es war noch nie der Diener eines Gelehrten so bestrebt gewesen, des Verkehrs mit dem Berühmten würdig zu werden, wie Klaus Groth.
Zu diesem Zwecke hatte er schon die Consecutio temporum der lateinischen, die Aoriste der griechischen Grammatik und noch vieles, vieles andere erlernt.
Der Professor nickte dem Eintretenden freundlich zu.
»Lieber Klaus«, sagte er, »ich bitte Sie, die Lichter im großen Salon auszulöschen. Ich bin müde und kann heute niemanden mehr empfangen.«
Klaus verbeugte sich.
»Drei Reporter transatlantischer Zeitungen warten noch«, berichtete er, »der vom „New York Herald“ will morgen mit dem Frühesten über die letzte Entdeckung eine Depesche absenden.«
Clusius nickte seinem Diener zu.
»Führen Sie die Herren zu Lund hinüber«, sagte er sanft, »vielleicht will der ihnen das Notwendigste mitteilen. Gute Nacht, Klaus!«
Der Professor begab sich in sein Schlafzimmer und wenige Minuten nach seinem Eintritt in den eleganten und gleichermaßen behaglichen Raum zog er schon die seidene Decke bis zu den Ohren.
Der Mann, welcher tiefer und größer dachte als alle anderen, war wie ein Kind bald eingeschlafen.
Mit ihm aber waren die mathematischen Probleme, die er soeben vorhin noch bearbeitet hatte, zu Bett gegangen.
Da aber ein ungelöstes Problem nicht müde wird, Fragen zu stellen, und die Nullen, Kreise und Dreiecke auch nicht die Augen schließen, hatten sie bald die Übermacht über den Schlafenden erlangt und die Kette seiner Traumgedanken wuchs ins Unendliche.
»Längst hätte ich dich besiegt«, rief N2 im Traum einem tückischen „x“ zu, wenn nicht der König von Siam mich aufgehalten hätte. Aber von nun an soll mich auch kein König mehr stören, und wenn er selbst vom Mars käme!«
»Und hättest du auch mich besiegt?« fragte spöttelnd ein hässliches Omega und kroch auf den Gelehrten zu.
»Hilf, Almagest!« rief Clusius.
Da durchtönte ein metallisches Geklingel das Schlafzimmer.
Der Professor richtete sich empor.
Sich, noch schlaftrunken, auf das Kissen stützend, sah er auf das Nachtkästchen, von welchem das Klingeln ausging.
Dort war ein Instrument angebracht, wie ein ähnliches zuerst Professor Palmieri im Observatorium auf dem Vesuv gebraucht hatte.
Es war ein äußerst feinfühliger Seismograph, ein Erdbebenmesser, der von Clusius noch mehr verfeinert und so eingerichtet worden war, das; er jede Erschütterung, welche Fußtritte hervorbrachten, registrierte.
Es konnte sich niemand unangemeldet dem Haus nähern.
»Wer mag denn jetzt noch da draußen umhergehen?« dachte der Professor ärgerlich. »Es wissen es doch alle, dass ich Ruhe brauche!«
Und recht geärgert über die Rücksichtslosigkeit seiner Leute, gegen welche doch er selber so viele Rücksichten übte, drehte er sich gegen die Wand und hüllte sich wieder in seine Decke.
Aber er sollte nicht zur Ruhe kommen.
Im Vorgemach regte es sich und jetzt pochte es an der Tür.
»Herein!« rief Clusius, sich abermals aufrichtend und dann, »was gibt es denn?«
Klaus stand an der Tür.
Er entschuldigte sein Eintreten und die dadurch verursachte Störung, aber es sei ein Besuch gekommen.
»Wer ist es denn?« fragte der Professor ärgerlich.
»Lord Richard Tannemore«, meldete Groth, sich stramm aufrichtend. »Er fürchtet freilich jetzt zu stören, aber …«
Da saß Clusius schon ganz gerade im Bett und sein Gesicht zeigte große Freude.
»Könige sollen mich nicht mehr stören«, unterbrach er, einem früheren Gedankengang folgend, des Dieners Meldung, »für Lord Tannemore aber bin ich jede Stunde zu sprechen, denn er ist mir mehr als ein König.«
»Klaus, zünden Sie alle Lichter im Salon an, alle Lichter- denn Lord Tannemore ist mein Freund. Dann geben Sie mir meinen schwarzen Rock, denn Tannemore ist mein lieber Freund — und die weiße Krawatte, denn — Sie wissen — Lord Tannemore ist mein sehr lieber Freund.«
Zehn Minuten später trat der Professor in den Salon.
Der Lord erwartete ihn bereits.
Er war gekleidet, dass er befähigt gewesen wäre, in der Westminsterabtei, angesichts der Nobeln Londous, vor den Traualtar zu treten.
Er war ein wunderschöner Mann.
Er besaß die kraftvolle, helle Schönheit der angelsächsischen Männer, welche sich niemals im Großstadtdunst verweichlicht haben, sondern im Schatten ihrer Heimatswälder und ihrer Ahnensitz frisch geblieben sind. Nur dass Richard Tannemore sich noch einen Zug in seinem Gesicht erworben hatte, der ihm gar gut ließ und den nicht jeder Edelmann sich zu eigen zu machen versteht.
Tannemore war nicht nur ein Kavalier vom Scheitel bis zur Sohle, er war auch ein Mann der Wissenschaft, und das verriet sich schon in dem Ausdruck seines Gesichtes, das wunderbar durchgeistigt war und das sich jetzt ernst lächelnd vor dem rasch eintretenden Professor neigte.
Dieser schüttelte dem Lord kräftig die Rechte.
»Wie freue ich mich! O, wie freue ich mich!« sagte er dabei lebhaft.
Aus Tannemores Gesicht war jetzt das Lacheln verschwunden.
Tiefernst schauten seine Augen in diejenigen des Professors, indessen er mit wohllautender Stimme zu reden begann: »Verzeihen Sie«, sagte er, »wenn ich in dieser Stunde eine Frage an Sie richte, die Frage, ob Sie, wie früher, mein Freund sind?«
»Lieber Tannemore«, erwiderte Clusius erstaunt, »sollten die 738 Tage, in denen wir einander nicht gesehen …«
»739«, unterbrach ihn der Lord, »Mitternacht ist vorüber.«
Der Professor nickte.
»Ganz richtig«, gab er sanft zu, »sollten es also die 739 Tage zuwege gebracht haben, irgendetwas in unseren Beziehungen zu ändern?«
Es lag in seinem Ton Verwunderung, aber auch Zerstreutheit, und seine Augen waren bei den letzten Worten nicht mehr auf Tannemore, sondern ins Leere gerichtet.
Und auch der Lord verhielt sich ein bisschen sonderbar.
Der starrte auf das Fenster, hinter dessen klaren Tafeln ein Baumwipfel undeutlich sichtbar wurde, und dabei presste Tannemore seine weißen Zähne in die Unterlippe, was er meistens zu tun pflegte, wenn er angestrengt über irgendetwas nachdachte.
Er musste jetzt zu dem erwünschten Schluss seines Nachdenkens gekommen sein, denn sein Gesicht gewann wieder Leben und seine Zähne verschwanden hinter den feingeformten Lippen.
Er lächelte jetzt.
Auch Clusius lächelte.
»Es sind 740 Tage.«
Beide hatten es gesagt.
»Wir sind ja zuletzt vor Mitternacht auseinandergegangen«, setzte Clusius hinzu und Tannemore bestätigte: »So ist es.«
Und abermals reichten sie einander die Hände.
»Die Zeit«, fuhr der Lord fort, »hat Sie mir also nicht entfremdet — bis jetzt; aber wird dies nicht die Bitte tun, die ich an Sie richten will? — Diese herzliche, innige, dringende Bitte!«
»Aber, Richard!« entgegnete der Professor rasch. »Wir sind nicht Freunde geworden, weil wir einander bedurften, aber wir sollen und wir werden einander dienen, weil wir Freunde sind! Sagen Sie mir alles, was Sie anficht. Ich will gern rechnen, analysieren, untersuchen, will alles tun, was ich kann. Und — was ich besitze, steht zu Ihrer Verfügung. Und nun reden Sie.«
Er schob dem Freunde einen Fauteuil zu, der wie alle Sitzmöbel in diesem Raum mit silberglänzenden Seehundsfell überzogen war, und ließ sich selber auch zum Sitzen nieder.
Und nun erst, da das Licht des Kronleuchters voll auf des Lords Gesicht fiel, bemerkte der Professor, dass Tannemore merkwürdig müde aussah und sich sichtlich bestrebte, ruhiger zu scheinen, als er dies in Wirklichkeit war.
Aber Richard Tannemore hatte große Gewalt über sich.
Ruhig und leidenschaftslos, wie er sich immer zu geben pflegte, begann er jetzt zu reden und sagte:
»Soeben jetzt ist der Beginn des 4. März, und am Donnerstag, dem 6. August dieses Jahres, also in 154 Tagen, werde ich von irgendwo aus an meine Gattin die Nachricht gelangen lassen, ob ich je wieder nach England zurückkehren kann, ob die Ehre meines Namens weiter bestehen wird, ob … …«
Tannemore hielt schwer aufatmend ein und ließ seine Augen eine kurze Weile mit düsterem Ausdruck auf seinem Freund ruhen; dann erhob er den Kopf und stach ruhig: »Nun, Sie werden ja hören!«
»Die Ehre Ihres Namens«, murmelte, sich weit vorbeugend der Professor und noch einmal wiederholte er dringlich: »Die Ehre Ihres Namens?«
Er konnte über diese Bemerkung nicht hinauskommen, weil für ihn die Möglichkeit, Tannemores Ehre könne irgendeinmal aufhören zu bestehen, ausgeschlossen war.
»Ja, die Ehre meines Namens ist in Gefahr«, antwortete mit geschlossenen Zähnen und zuckenden Lippen der Lord.
Da schüttelte Clusius den Kopf und lehnte sich wieder in seinen Fauteuil zurück.
Er sah ganz und gar nicht bekümmert aus.
»Bitte, reden Sie weiter«, sagte er ruhig. »Sie sind natürlich in einem merkwürdigen Irrtum befangen; aber das glaube ich schon, dass Sie in irgendein Gedränge gekommen sind, und so stelle ich mich Ihnen, wie schon erwähnt, ganz und gar zur Verfügung. In welcher Art also kann ich Ihnen beistehen?«
Tannemore seufzte.
»Mir bangt vor der Beantwortung dieser Frage«, sagte er. »Aber hören Sie! Im britischen Museum, im ersten Stock …«
»Mesopotamische Altertümer«, unterbrach ihn der Professor.
»Ja, im siebenten Saal …«
»Neunzehn Schritte rechts von der Treppe …«
»In der zweiten Abteilung …«
»Untere Euphratländer …«
Der Dialog entwickelte sich immer schneller.
In Tannemores blasses Gesicht war ein wenig Röte gekommen.
Der Professor sah ungemein animiert aus.
Er nickte vergnügt, als der Lord bemerkte: »Sie sind vortrefflich orientiert!« und dann fortfuhr: »Erste Reihe der Glaskästen …«
»dunkles Eichenholz«,
»im Kasten 3 …«
»Backsteine von Birs i Nimrud …«
»Die Ziegel links …«
»Keilschrift!« rief der Professor.
Tannemore nickte: »Ja, diese meine ich. Wann waren Sie dort? Zum letzten Mal dort?«
»Vor sieben Jahren.«
»Schade! Schade!«
»Weshalb?«
»Heute würden Sie dort ungeheuerlich sehen!«
»Was denn?«
»Backsteine. Im Kasten 3 liegen diese Backsteine, die wunderbar interessanten, unscheinbaren; und ihre Flächen tragen das große, zwei, drei tausendjährige Mysterium — die Keilschrift. Die Großen vom Geist, auch der herrliche Rawlinson, haben sie nicht völlig verstanden, und die Leute, die Besucher des Museums, entweihen sie mit unverstandslosen Blicken. Rawlinson, einige andere und ich, wir haben seit fünf Jahren jede Stunde jedes Tages dazu verwendet, um in unendlich mühseliger Weise den stummen Trägern der toten Schrift einer vergessenen Sprache ihr Geheimnis abzuringen. Sie wissen, dass mir dies zum Teile gelungen ist, leider nur zum geringen Teile. Bis zur Gewissheit aber bewiesen ist der Umstand …«
»Dass diese Schrift eine hieratische ist«, ergänzte der Professor.
Tannemore nickte.
»So ist es«, sagte er feierlich. »Die Schrift ist eine, in Mesopotamien heilig gewesene, nur von Eingeweihten, Priestern und Gelehrten gebrauchte Art des Schreibens.
Vor einem Jahr bin ich in Schottland gewesen, als ich hörte, dass die Regierung von einem Reisenden, von William Bridgeport, für eine riesige Summe babylonische Altertümer, Goldblechplatten, Gemmen und Ziegel mit Keilschrift gekauft habe. Bridgeport, der bekanntermaßen ein bedeutendes archäologisches Wissen besitzt, forderte für die Antiquitäten dreimal so viel, als alle anderen Funde gekostet hatten, die an derselben Stätte in Birs i Nimrud gemacht worden waren. Er forderte diesen hohen Preis mit der Begründung, dass seine Funde eine neue Art der Keilschrift, die demotische, die volkstümliche, aufweisen, und dass demotische Keilzeichen bis jetzt noch nirgends gefunden worden seien. Die Regierung lehnte zuerst ab, und Redfowles, der Freund und geschäftliche Vertreter Bridgeports, verlangte nun doppelt so viel als vorher und der Staat erwarb die seltenen und kostbaren Gegenstände. Zwei Tage nachdem ich von dem Vorgefallenen erfahren hatte, ging ich über die große Treppe im britischen Museum und dieses eine Mal in meinem Leben geschah es mir, dass ich der Lady Cornelia, meiner Schwester, die soeben herabkam, ins Gesicht sah, ohne sie zu erkennen, denn seit zwei Tagen füllten die neuen, alten Backsteine mein ganzes Denken aus. Und endlich stand ich vor ihnen — und — im ersten Augenblick habe ich es sicher, deutlich, zweifellos erkannt — sie waren gefälscht.«
Der Lord hielt inne.
Seine Schilderung hatte ihn selber mächtig ergriffen und er erwartete nun eine Gegenäußerung seines Freundes.
Dieser aber hatte den Kopf auf die Hand gestützt und schwieg.
So fuhr denn Tannemore fort: »Sechs Tage hindurch suchte ich mir selber einzureden, dass die neuerworbenen Backsteine echt seien. Am siebenten Tage ging ich zu unserem Freunde Kingsby, Sie wissen, er ist jetzt Direktor des Museums und ich bat ihn, mich die Funde genau untersuchen zu lassen. „Dies sei soeben geschehen“, meinte er. Ich teilte ihm meine Ansicht bezüglich der Echtheit der Steine mit, worauf er antwortete: „die bedeutendsten Archäologen, auch Rawlinson, haben die Ziegel geprüft, ehe das Museum sie gekauft hatte; Ihre zuverlässige, fachmännische Untersuchung wird uns jedoch sehr schätzenswert sein.“ Daraufhin übergab er mir die Steine. Ich nahm sie mit mir. Es wurde in den Fachkreisen bekannt, dass ich die Steine für gefälscht hielt, und wenige Tage, nachdem ich die Untersuchung begonnen hatte, kam Redfowles, Bridgeports Freund, der den Verkauf der Antiquitäten betrieben, zu mir. Er behauptete, dass ich ihm Genugtuung schuldig sei, da ich ihn und seinen Freund durch meine Behauptungen als Betrüger gekennzeichnet habe, und forderte mich zum Zweikampf.«
Der Professor hatte, während der Lord redete, den Kopf erhoben und rief jetzt lebhaft aus: »Tannemore, ich werde sekundieren! Ich tue es gern, sehr gern sogar.«
»Nein, nein!« erwiderte Tannemore. »Ich werde mich nicht schlagen. Ich danke Ihnen warm für Ihr Anerbieten, aber, lieber Freund, hören Sie! Schwereres, ungleich Schwereres muss ich von Ihnen erbittert. Ich werde mich also nicht schlagen. Denn, würde ich in diesem Duell fallen, dann wäre es mir unmöglich, den Beweis des Betruges zu erbringen, und Bridgeport und Redfowles könnten heimlich über alle ehrlichen Archäologen lachen. Ich aber will sie entlarven.«
Tannemore lächelte bitter, als er fortfuhr: »Das heißt, ich wollte sie entlarven, deshalb habe ich mit Redfowles vor Zeugen am 6. August vorletzten Jahres folgenden Vertrag abgeschlossen: es seien mir zwei Jahre gegeben, den Beweis zu liefern, dass die Inschriften auf den Ziegeln gefälscht seien. Wenn ich innerhalb der gegebenen Frist diesen Beweis zu erbringen imstande sei, müsse Redfowles sich zu von mir anzugebender Zeit töten; gelinge mir der Beweis nicht, läge die Dauer meines Lebens in seinem Belieben.«
Ruhig, gemessen, ernst hatte der Lord diesen Teil seines Berichtes gemacht, und ruhig, gemessen und ernst fuhr er fort: »Nun bin ich, nachdem ich viele Monate lang gearbeitet habe, dahin gekommen, sagen zu müssen, dass ich die Fälschung, die ich instinktiv noch immer als existierend annehme, nicht nachweisen kann. Ich spüre es, ah! ich weiß, dass die Steine unecht sind, aber ich werde, wie gesagt, am 6. August von irgendwoher an meine Gemahlin die Nachricht senden müssen, dass meine Ehre befleckt, dem mein Name derjenige eines Verleumders und dass mein Leben verwirkt ist … wenn«, Tannemore atmete tief auf, »wenn nicht Sie …«
»Wenn nicht ich Ihnen behilflich bin, den Nachweis, dass die Steine gefälscht seien, zu erbringen«, vollendete der Professor gelassen.
»Sie darum zu bitten, bin ich hier, zu dieser Stunde hieb denn«, der Lord lächelte verlegen, »ich bin ein wenig nervös, geworden in den letzten Monaten. Ach ja, ich bin nervös geworden … und so reiste ich ohne Aufenthalt ab und bin heute Nacht nur 11 Uhr 29 Minuten hier angekommen, habe noch im Coupé Toilette gemacht, schickte Tim, meinen Kammerdiener, ins Hotel und …«
»Haben das Richtige getan, sind sofort zu mir gekommen«, setzte Clusius Tannemores Rede fort und rief, ihm beide Hände schüttelnd: »Es war lieb von Ihnen, Richard, es war sehr lieb, dass Sie an mich gedacht haben! Ich danke Ihnen für diesen neuen Beweis Ihrer Freundschaft, die ich zu verdienen suchen werde. Ich soll also beweisen? Aber ja! Aber natürlich! Dazu bin ich ja da. Ich werde also beweisen! Das heißt«, setzte er plötzlich, die Lebhaftigkeit aufgebend, hinzu, »wenn sich Ihre Behauptung beweisen lässt.«
»Ja wenn sie sich beweisen lässt«, wiederholte nervös lächelnd der Lord.
Der Professor hatte seine gute Laune schon wieder gewonnen.
»Sie wird, sie muss sich beweisen lassen«, sagte er frohgemut.
Tannemore drückte ihm die Hand, und seine klug blickenden grauen Augen hatten einen warmen Ausdruck, als er sagte: »Würde es sich nur um mein Leben handeln, ich hatte Sie nie belästigt … aber mit meinem Leben wäre auch meine Ehre vernichtet, und die Steine, mein Freund … denken Sie an die falschen Steine! Ist es nicht ein unerträglicher Gedanke, dass sie neben den ehrwürdigen, echten, alten liegen, dass sie vielleicht für immer neben ihnen liegen bleiben werden, wenn es nicht jetzt bewiesen wird, dass sie gefälscht sind?«
»Es muss eben bewiesen werden«, bemerkte der Professor ruhig. »Es darf keine Lüge in die Wissenschaft gebracht werden.«
»So ist es!« bestätigte Tannemore lebhaft. »Ich verliere meinen Gleichmut, wenn ich daran denke, dass unsere besten Männer nicht nur schon Jahre verloren haben, sondern noch Jahre verlieren werden, um diese neuen Schriftzeichen zu enträtseln, und dass, falls Bridgeport und Redfowles mit Theorie vorgegangen sind, vielleicht ein Irrtum in die Geschichte getragen wird.«
»Das darf nicht sein! O nein! Das darf nicht sein!« rief der Professor lebhaft gestikulierend aus; da legte der Lord ihm die Hand auf den Arm und fragte ernst: »Ja, glauben Sie denn wirklich an mich? Halten Sie meine Behauptung bezüglich dieser Fälschung nicht für hellen Wahnsinn? Sie wissen doch schon, dass ich keinen, aber auch nicht einen einzigen Anhaltspunkt für die Begründung dieser so schwer wiegenden Behauptung besitze.«
Da antwortete Clusius bedächtig: »Die Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit einer Behauptung kann füglich nach dem intellektuellen und moralischen Wert desjenigen abgeschätzt werden, der sie ausgestellt hat. Ich begreife, was Sie empfinden. Ihre Schilderung hat mich gelehrt, nicht zu verwerfen, was unsere Seele, den Beweisen vorauseilend, ahnt. Ich habe ja auch schon vorher den wissenschaftlichen Instinkt schätzen gelernt. Und da ich Sie, lieber Tannemore, als ausgezeichneten Fachmann kenne, glaube ich, dass Ihre Meinung hinsichtlich der Fälschung jener Steine zum mindesten einer ungemein sorgfältigen Untersuchung auch meinerseits wert sei.«
»Also, mein großer Freund! Sie werben untersuchen?« fragte der Lord in einer Weise, als drängten sich in diese sieben Wörter alle Fragen aller Wissenschaften, alle Hoffnungen vergangener, gegenwärtiger und künftiger Geschlechter auf einen Erlöser und alte Erwartungen aller Generationen zusammen.
»Gewiss! Das werde ich!« antwortete der Professor seelenruhig auf diese leidenschaftliche Frage.
Tannemore erhob sich rasch.
Er breitete die Arme aus.
Er machte eine Bewegung, als wolle er seinen großen, seinen mächtigen Freund umarmen.
Er tat es jedoch nicht.
Er hatte sich schon wieder in der Gewalt.
»Sie verzeihen«, sagte er sanft und verjagte eine Fliege vom weißen Stern der Ehrenlegion auf der Brust des Professors.
»Glauben Sie«, fuhr er fort, »dass ich Ihnen diene bei der Arbeit, welche Sie unternehmen werden.«
Die kräftige zum Schlag ausholende Pendeluhr unterbrach des Lords Rede.
Es schlug ein Uhr.
Dann schlug es auf einer anderen Uhr, die in der Wand des Salons hing, noch einmal ein Uhr. Und es schlug gleich danach noch ein drittes Mal ein Uhr.
Dieses dritte Stundenzeichen kam aus dem Rauchzimmer nebenan, darin sich eine uralte Nürnberger Standuhr befand; man schrieb ihre Erzeugung einem Enkel Peter Heles zu.
Lord Tannemore lächelte. »Die Uhren schlugen sehr deutlich«, sagte er, nach seinem Hut langend.
Der Professor erhob sich nun ebenfalls.
»Nicht für Freunde«, entgegnete er, den Lord festhaltend, »nur für unliebsame Gäste. Sie, mein lieber Richard, müssen fortan mein Hausgenosse sein, bis wir«, der Professor lächelte fein, »bewiesen haben. Aber … woran denken Sie denn jetzt?«
Der Lord schaute auf. Er lächelte.
»Es ist mir soeben eingefallen, dass es doch nur 739 Tage sind«, sagte er. »Wir sind ja damals auf der „Prätoria“ von Ost nach West um die Erde gefahren.
1 *) „N“ ist in der Mathematik eine unbestimmte Größe. N2 daher die unbestimmte Größe zur zweiten Potenz erhoben. Professor Clusius wurde im Scherz von seinen Kollegen und Schülern wegen seiner Fähigkeit, Unbekanntes aufzufinden und wissenschaftlich zu erklären, öfters so benannt.
Am nächster Morgen saßen der Professor, Tannemore und Hjalmar Lund, des Professors Assistent, in einem gegen den Garten hin gelegenen Risalit-Raum beim Frühstück. Vom Arbeitszimmer des Gelehrten aus schob sich dieser in seinen oberen zwei Dritteln fast nur von Glaswänden umschlossene Raum in den Garten vor und sah, von unten aus betrachtet, nicht viel gleich, war aber eines der angenehmsten Zimmer des Hauses, denn man fühlte sich darin wie im Freien und genoss dennoch alle Vorteile, die ein luxuriös und gemütlich ausgestattetes Gemach bieten kann.
Der Fußboden war mit weißen Bärenfellen bedeckt und rings um den im Hintergrund des Gemachs befindlichen Tisch befanden sich bequeme Sessel, die ebenso zum Ausruhen als zum Nachdenken einluden, denn von ihnen aus blickte man zwischen mächtigen Baumwipfeln auf die blauen Wasser des Mälarsees hinaus.
Jetzt indessen kümmerten sich die drei Herren weniger um blaue Wasser als um den goldfarbenen, ganz vortrefflichen Tee, den ihnen vorhin die nicht minder vortreffliche Haushälterin des Professors nebst mancherlei anderen guten Dingen, serviert hatte.
Es war ein hübscher, sonniger Morgen gewesen, aber soeben jetzt stieg vom See ein weißlicher Dunst auf, der sich ganz sachte über den Park legte. Die Herren aßen, die achteten auch nicht auf die Wolken und nicht auf den feinen Seenebel und auch nicht darauf, dass die Sonnenringe, welche gerade vorhin noch auf den Bärenfellen sichtbar gewesen, langsam verblassten, weil eben die Sonne nicht mehr durch das Laub der Bäume schien, die des Professors Frühstückplätzchen wie treue Wächter umstanden.
Jetzt schob Clusius die geleerte Tasse von sich.
»Beginnen wir«, sagte er.
Da legte Tannemore die silberne Zange nieder, mit welcher er soeben Zucker hatte nehmen wollen und verneigte sich vor seinen Freund.
Und Hjalmar Lund, der hübsche, junge Mensch, mit den weichen Zügen und den weich blickenden, blauen Augen legte das Kaviarbrötchen hin, das er soeben hatte zum Mund führen wollen und verneigte sich vor seinem Herrn und Meister. Und dann herrschte in dem hellen und heute, jetzt, doch nicht sehr hellen Raum eine gute Weile Stille, denn der Professor war unversehens in ein tiefes Sinnen verfallen und die zwei hüteten sich, ihn zu stören. Keiner regte sich. Man hatte ein Mäuslein laufen hören können. Aber jetzt war es nimmer still im Zimmer.
Der Professor war aus seinem Sinnen erwacht.
Er erhob den Kopf.
Er öffnete die Lippen.
Er sagte noch einmal: »Ja, also, beginnen wir.«
Da atmeten die zwei anderen hörbar auf.
Der Professor wandte sich an seinen Assistenten.
»Lieber Lund«, sagte er freundlich. »Ich bitte auch Sie, an unserem Denken teilzunehmen. Worum es sich handelt, hat Ihnen Lord Tannemore ja bereits gesagt.«
Hjalmar Lund neigte höflich den hübschen, braunen Lockenkops, dessen allzu häufiger Anblick schon manche reizenden Stockholmerin das eigene Köpfchen verdreht hatte.
Der Professor aber wandte sich an seinen Freund und Gast und fuhr fort: »Sie, lieber Tannemore, sagen, dass Sie schon alles, was zur Feststellung der Unechtheit der fraglichen Altertümer geschehen konnte, unternommen haben. Wie ich glaube, musste es das erste sein, was Sie tun konnten, den rein polizeilichen Weg zu betreten.«
»So dachte ich auch«, erwiderte Tannemore. »Ich wandte mich an Burton, den scharfsinnigen Detektiv Englands, und bat dessen berühmten, amerikanischen Kollegen, Josuah Knigfleth, um seine Unterstützung.
Beide operierten mit 2000 Pfund und unter Aussicht auf einen hohen Preis acht Monate hindurch; dann musste Josuah Knigfleth unter irrenärztliche Behandlung stellen und Josuah Knigfleth teilte mir tief beschämt und tief verdrossen mit, dass alle Bemühungen erfolglos geblieben seien.«
»Und dann, Lord, begannen Sie mit Ihren Arbeiten?«
»Und dann begann ich mit meinen Arbeiten, natürlich auf wissenschaftlicher Basis.«
»Ich nehme an, dass Sie eine genaue Untersuchung der mesopotamischen Ruinenfelder einleiteten.«
»Das tat ich. Ich musste zuerst zu konstatieren suchen, dass daselbst nicht andere, unzweifelhaft echte Keilschristreste in derselben Weise, also angeblich demotisch geschrieben, zu finden seien. Hätten sich echte Dokumente, genau in der Art der gefälschten geschrieben, gefunden, so hätte ich eine Handhabe des Nachweises weniger. Aber Bridgeports Funde hätten auch weniger Wert, denn nur aus dem Umstand, dass bisher keine demotische Keilschrift gefunden worden ist, konnte Bridgeports Genosse, dieser schlaue und kühne Redfowles, den großen Wert dieses Fundes ableiten. Aus eben demselben Grund war er aber auch sichergestellt, des Betruges nicht überwiesen werden zu können. Wer will es Bridgeport und seinen Konsorten beweisen, dass eine demotische Keilschrift nicht existiert hat? Ich habe auf und in den alten Trümerfeldern keine Schriftspur entdeckt, die derjenigen gleicht, welche auf den angekauften Gegenständen angebracht ist. Dadurch ist freilich keinerlei Beweis erbracht! Immerhin aber wird mir nach diesen gründlichen Forschungen das alleinige Vorkommen der demotischen Schrift auf jenen Steinen noch verdächtiger.«
»Dasselbe denke ich auch«, bemerkte der Professor, worauf der Lord fortfuhr: »Und ich bin wahrhaftig gründlich zu Werk gegangen. Ich habe mit Beihilfe von 30 dazu brauchbaren Leuten vom 22. April vorigen Jahres bis zum letztvergangenen 20. Februar Assyrien, Medien und Babylonien mit der größten Genauigkeit nach Schriftzeichen durchsucht. Ich fand nur die uns schon bekannten Schriftzeichen, von irgendwelchen anderen aber entdeckte ich keine Spur, auch dort nicht, wo angeblich die neuen Funde gemacht worden sind.«
»Haben Sie auch an den Felswänden von Birutum gesucht?« forschte der Professor.
Tannemore nickte.
»Bis zur höchsten Inschrift – fünfhundert Meter über der Talsohle wurden sie erforscht.«
»Und im Schlamm des Euphrat? Auch in ihm hat man einige Siegel gefunden.«
»Ich habe ihn auf weite Strecken hin baggern lassen.«
»Und nichts gesunden?«
»Nichts, das auch nur die Spur eines Schriftzeichens getragen hätte.«
»Dann müssen wir unsere Forschungen auf die Pseudofunde selber beschränke, auf die Goldblechtafeln und die Backsteine. Sie halten doch, lieber Lord, dass Gold als Stoff, als Metall, schon untersucht, geprüft, ob es nicht Spuren einer neuzeitlichen Komposition, einer Legierung besitze?«
»Das Gold ist Gold von Ophir, wie es die Assyrer benützt haben und wie es freilich heute noch benutzt werden kann.«
»Und die Backsteine?« fuhr der Professor fort, sind sie aus altassyrischer Erde?«
»Die Backsteinplatten haben genau dieselbe mineralische Zusammensetzung wie die echten, genau dieselbe Dichte und Schwere wie jene; sie können aus Ton von Birsi Nimrud, sie können aus Erde von Ekbatana sein.«
Der Lord schwieg und starrte zu Boden.
Lund schaute auf seinen Meister, der den Kopf schüttelte und wieder eine Weile nachdachte. Aber diesmal dauerte die Pause nicht lange.
Bedächtig redete der Professor weiter.
»Die Keilzeichen«, sagte er, »sind in den Steinen vertieft, das heißt, sie sind aus ihnen herausgearbeitet worden — und — wir wissen, warum Stahlklingen und Stahlspitzen stumpf werden. Können sich nicht nahezu molekulare Metallteilchen, die sich von den verwendeten Werkzeugen losgelöst haben, in den Kantenwinkeln der vertieften Keile finden? Vielleicht ließe sich durch diese konstatieren, dass die Instrumente, welche Bridgeports Siegel bearbeitet haben aus — Bessemerstahl waren?«
»Daran dachte auch ich«, erwiderte der Lord ruhig, und ich suchte und ich fand Spuren des Eisens — genügende Reste davon, um sie analysieren zu können, ich analysierte sie also. Es war weiches Eisen, fast weiches Roheisen, Eisen wie es auch Kambyses und Darius Hystaspes verwendet haben könnten. — Das, lieber Professor, habe ich erreicht und nun vermag ich weiter nichts mehr zu tun. Was ich gefunden habe, sind Beweise der Echtheit der Steine und …« Lord Tannemore feine Hände ballten, seine weißen Zähne schlossen sich, »sie sind doch gefälscht.«
Im Zimmer war es jetzt wieder ganz still und dennoch nicht ganz still, der Professor knüpfte seinen Rock zu. Das Schlagen seiner Taschenuhr störte ihn im Denken.
Hjalmar Lund war während des Gespräches der beiden Männer in eine unsagbar peinliche Stimmung gekommen. Sein berühmter Meister, der Sieger in tausend Geisteskämpfen, hatte da seine Ansichten über die Lösung des neuen Problems mitgeteilt, der Lord aber hatte all dieses Vorgeschlagene längst und — erfolglos ausgeführt.
Und der Professor schwieg!
Sollte Tannemore enttäuscht von dem Gelehrten scheiden?
Noch immer schwieg Clusius.
Sollte der Lord von ihm gehen mit dem Bewusstsein, keinen mächtigeren, kühneren Geist gefunden zu haben, als er selber ihn besaß?
Der Professor schwieg.
Tannemore und Lund vermieden jedes Geräusch, jede Bewegung, um ihn nicht zu stören.
Plötzlich verbreitete sich ein heiterer Ausdruck in des Professors bis jetzt so nachdenklichen Zügen.
»Es ist doch, wie ich ursprünglich gesagt habe«, begann er lebhaft. »Wir haben uns vor 738 Tagen zum letzten Mal gesehen, denn … als wir diesmal zusammentrafen, war es sieben Minuten über die letzte vergangene Mitternacht. Wir verabschiedeten und damals wohl auch um Mitternacht, das geschah jedoch in Bombay. Mithin haben wir hier sieben Stunden früher um Mitternacht uns gesehen, als wir uns um Mitternacht getrennt hatten.«
»Damnation!« rief der Lord. »Sie haben recht! Es sind nur 738 Tage.«
»Aber die Keilschrift!« sagte der Lord im hoffnungslosen Tone.
Der Meister nickte ihm zu.
»Ganz recht«, sagte er. »Wir wollen ja über den Beweis der Fälschung sprechen. Wie Sie gesagt, lieber Tannemore, haben Sie die Ruinenstätten Mesopotamiens vergeblich nach Beweismaterial durchsucht, wie Sie sagen, ist an dem Funde selbst auch keine Handhabe zu einem Beweis zu entdecken. Wie nun sollen wir weiter arbeiten? Ich hoffe, dass Sie mir beide beistimmen, wenn ich vorschlage, nun der nächsten und einfachsten Weg einzuschlagen! Wir werden zusehen, ob und wie in Assyrien die demotische Keilschrift geschrieben wird — vor fünfeinhalbtausend Jahren. Verzeihen Sie den scheinbaren Anachronismus. Wir werden sehen, wie die demotische Keilschrift geschrieben wird, und werden sie dann mit der Schrift auf Bridgeports Funden vergleichen.«
Tannemore war blass geworden und atmete schwer. Er gedachte Burtons, der auch einen ungewöhnlich scharfen Geist besessen hatte und welcher um dieser Angelegenheit willen verrückt geworden war. Und Hjalmar Lund starrte mit großen, leuchtenden Augen auf seinen geliebten Meister, an den er ja bedingungslos glaubte.
Soeben wollten beide Gefährten des Professors den Mund zum Reden öffnen, sie kamen jedoch nicht zu einer Aussprache der Gedanken.
Es trat Klaus ein.
Er reichte mit der Meldung, dass der Wagen vorgefahren sei, dem sich erhebenden Professor Hut und Mantel.
Tannemore war zu wohlerzogen, um sein fast peinliches Befremden über die Ruhe, mit welcher Professor diese Störung über sich krachen ließ, irgendwie zu äußern. Der Professor entschuldigte sein Fortgehen freundlich damit, dass er eben heute unmöglich seine Vorlesung absagen könne, drückte dem Lord die Hand, nickte Lund zu und ging.
Die zwei schauten noch lang nach der Portiere, die sich hinter dem Professor geschlossen hatte, wie der Schleier vor der Wahrheit zu Sais.
Endlich erhob sich der Lord und sagte in ein wenig unsicherem Ton zu Lund: »Nicht wahr, mein Herr, Sie haben die letzten Worte des Professors gehört?«
»Gewiss habe ich sie gehört!«
»Und verstanden?«
»Natürlich!«
»Ich meine — entschuldigen Sie, mein Herr, ich meine, ob Sie diese Worte ihrem ganzen Sinne nach aufgefasst haben?«
»Ich denke, ja.«
Der Lord ergriff die beiden Hände Lunds und sah ihm dringlich in die Augen.
»Wollen Sie die Gefälligkeit haben, mir diese Worte zu wiederholen?« bat er und setzte unsicheren Tones hinzu: »Ich glaube, ich habe nicht richtig gehört.«
Da sagte Lund freundlich: »Gern, mein Lord, wiederhole ich, was der Meister gesagt hat. Er sagte: ‚Wir werden zusehen, wie in Assyrien vor fünfeinhalbtausend Jahren die demotische Keilschrift geschrieben wird‘.«
»Also sagte er doch dieses?« meinte kopfschüttelnd Tannemore.
»Ganz gewiss sagte er so.«
»Und — was halten Sie davon?« fragte, den Assistenten scharf anblickend, der Lord.
Lund lächelte froh und erwartungsvoll, als er antwortete:
»Nun, ich meine, „wir werden zusehen“, ist Futurum.«
»Ja, erste Person Pluralis.«
»Und — wie die demotische Keilschrift geschrieben wird …«
»Ist Präsens«, ergänzte Tannemore.
»Eure Herrlichkeit haben also meinen Meister verstanden«, sagte Lund artig.
»Ja, was das Grammatikalische anbelangt. Also in Wahrheit nicht verstanden. Und Sie?«
Die letzten Worte Tannemores klangen nervös.
Hjalmar Lund zuckte die Achseln und sagte wohlgemut:
»Natürlich habe ich auch nicht mehr verstanden als Eure Lordschaft. Aber jetzt bin ich ganz ruhig bezüglich der schwebenden Angelegenheit. Der Professor wird sie ordnen.«
Und der hübsche Assistent reichte Tannemore die Zigarrenkiste hin und bediente sich nach seiner Lordschaft.
Der Saal, in welchem Professor Clusius seine Vorlesungen hielt, war eine Viertelstunde vor 11 Uhr bis in die fernsten Winkel von Hörern dicht besetzt.
Vor dem Katheder stand ein langer Experimentiertisch und diesem gegenüber befanden sich die Bänke für die Studenten. Aber es saßen nicht nur Studenten darin. In den vordersten Bänken fassen einige Diplomaten, Senatoren, weißbärtige Ritter und Grafen, Träger der edelsten Namen Schwedens, saß der Bürgermeister von Stockholm und der Minister des Unterrichts— alle als Hörer inskribiert — der Ordnung wegen.
Hinter ihnen spitzten Studenten von Beruf ihre Bleistifte und legten ihre Hefte zurecht, und in den letzten Reihen der Bänke zogen die Anwesenden die Hörrohre aus den Taschen, um keines der leisen, einleitenden Worte zu verlieren, die der Erfahrung gemäß dem Professor sprechen würde.
Aber auch in sechsundzwanzig Salons der Hauptstadt verstummte die Konversation der darin Versammelten, nicht immatrikulierter Hörer und Hörerinnen, der Gäste der Damen des Hauses.
Man zählte an der Uhr die Sekunden, dem Telefon wurde das Wort erteilt und Professor Clusius begann, an siebenundzwanzig Orten zu sprechen.
Und zu gleicher Zeit redeten sein Assistent und Lord Tannemore über den Anachronismus seiner letzten zu ihnen gesprochenen Worte und wunderten sich erlaubtermaßen darüber, und waren doch überzeugt davon, dass der berühmte Gelehrte sie, wie alles was er redete, wohl erwogen hatte. Beide wussten auch, dass der Professor in der Meinung von ihnen geschieden war, dass er ihnen seine Gedanken klar und deutlich mitgeteilt habe, denn, so ausführlich er Schülern gegenüber alle Einzelheiten einer Gedankenreihe zu zergliedern pflegte, so sicher nahm er von ihnen beiden an, dass sie ihn sofort verstanden haben müssten — was diesmal allerdings nicht der Fall war. Die beiden Männer wussten auch, dass Clusius bisher alles ausgeführt hatte, was alle anderen, solang es ein Projekt gewesen, nicht verstanden und verlacht und dann — als Faktum angestaunt hatten; denn das geniale Lösen unlöslich schneiender Probleme, da gigantische, kraftvolle Ausführen des scheinbar Unmöglichen war ja eben des berühmten Mannes Spezialität.
Längere Zeit also sprachen die beiden Männer noch über die seltsame Rede des Professors und dann machte Lund den Vorschlag, jenem zu folgen, um wenigstens noch dem Schluss des Vortrages beiwohnen zu können.
Als Tannemore und Lund vom Physikkabinett aus durch eine Tapetentür leise in den Hörsaal traten, sagte soeben der Professor:
»Was wir heute besprochen haben, mag als Schluss der Abhandlung über unser Thema dienen.
Den nächsten Vortrag werde ich in vier Monaten halten, da mir der Herr Unterrichtsminister vorhin einen so langen Urlaub zur Durchführung eines vielleicht folgewichtigen Experiments zugestanden bat. Wenn einer der geehrten Hörer hinsichtlich eines vielleicht unklar gebliebenen Punktes des eben abgeschlossenen Themas eine Frage stellen will, bitte ich, die bis längstens nächsten Mittwoch zu tun, da ich am Donnerstag abreisen werde.«
Herr Breunig, der Minister des Unterrichts, erhob sich von seinem Stuhl, wandte sich zu dem Gelehrten und sagte: »Sehr geehrter Herr Professor! Nicht in meiner Diensteigenschaft als Leiter des Unterrichtswesens, sondern als Ihr Hörer, im persönlichen Interesse und wie ich annehme im Interesse meiner immatrikulierten jungen Kollegen, bitte ich Sie, uns über die Natur und den Zweck Ihrer beabsichtigten Arbeiten einige informierende Gedanken mitzuteilen. Lassen Sie uns alle, wenn auch nur in bescheidener Weise, an dieser Arbeit teilnehmen.«
Professor Clusius antwortete hierauf: »Der geehrten Aufforderung sehr gern entsprechend, werde ich also das Prinzip der Gedankenreihe, die sich auf das geplante Experiment bezieht, vor Ihnen in wenigen Worten entwickeln.«
In diesem Augenblicke wusste Lund schon, dass der Professor nun so eingehend und deutlich zu reden beginnen werde, als spräche er zu fünfzehnjährigen Knaben, und dass er seine Explikation so beenden werde, als rede er vor dem Senat einer Universität des nächsten Jahrhunderts.
Und Clusius begann:
»Nehmen Sie an, es habe vor Jahrhunderten ein Historiograph, ein Schreiber von Familienchroniken, ein gelehrter Mönch unmittelbar Überkommenes, also Geschehens und Miterlebtes, mit Farbe aus eine Pergamentrolle verzeichnet. Ein Tropfen Wassers hat genügt, um ein Wort zu verlöschen, ein verschüttetes Glas Wein, um ein altes Adelsgeschlechts spurlos verschwinden zu lassen, und der Sonnenschein, um manches Miniaturkunstwerk klösterlichen Fleißes bis zur Unsichtbarkeit erblassen zu machen.
Und es wäre doch so interessant, manche verlöschter Seite, manches verblasste Blatt in alten Folianten lesen zu können! Und nun merken Sie auf. Die Farben und Tinten, mit welchen geschrieben worden ist, haben nicht nur einen Lichteindruck auf das Auge des Lesenden ausgeübt, sondern auch einen solchen Eindruck auf dem Pergament oder dem Papier zurückgelassen, auf welchen sie sich befanden. Denn die beschriebene Stelle des Blattes hat, von der Farbe verdeckt, sowohl quantitativ als qualitativ, nicht jenes Licht empfangen können, wie die nicht beschriebenen Stellen.
Wenn wir das Lichtbild, welches ein Buchstabe in unserem Auge erzeugt, ein positives nennen, können wir sagen, dass jede, durch die Farbe verdunkelte Stelle eines Blattes dessen zweites, in gewissem Sinne, negatives Bild sei.
Setzen wir nun den Fall, dass der Buchstabe verblasst oder weggewaschen worden ist, dass das Blatt also vollständig einfarbig ist, wissen wir trotzdem nicht, dass alle Stellen, an denen Zeichen gewesen sind, weniger vom Licht getroffen und beeinflusst wurden als die unbeschriebenen Stellen? Es wird sich nun darum handeln, die Beeinflussung, welche die Körper durch das Licht erleiden, festzustellen und gewissermaßen die Körper zu zwingen, es selber uns anzugeben, wo sie viel und wo sie wenig Licht empfangen haben. Gelingt es, dies zu erreichen, dann können wir dort lesen, wo keine Schrift mehr ist, dann können wir das unsichtbar gewordene schauen, dann wird nochmals das Licht uns die Farben und Formen zeigen, die vor Jahrtausenden von Menschen hervorgerufen, verblasst und vergangen sind.
»Ich arbeite soeben daran, dies zu erreichen«, fuhr der Professor fort, nachdem er ein Fläschchen, das auf dem Experimentiertisch gestanden war, und das er durch eine lebhafte Geste umgeworfen, wieder an seinen Platz gestellt hatte. »Wie ich zum Ziel gekommen sein werde, dies klar zu legen, wird Gegenstand meines nächsten Vortrags sein.
»Gelingt es mir, die Prinzipien der Durchführbarkeit den Gesagten zu finden, dann werden wir vielleicht ein Lied lesen, das vor 4000 Jahren ein liebender Ägypter mit Kohle an den Fuß der Memnonssäule geschrieben haben mag.
Und ist es uns nimmer gegönnt, dann werden Männer nach uns die vergangenen Werke des Zeugnis an den Wänden des Parthenon und Männer nach uns den Schatten des Praxiteles an der Venus von Milo schauen und die Silhouette des großen Griechen wird dann noch höheres Interesse erwecken als das Kunstwerk, das uns von ihm geblieben ist.
Und nun, meine Herren, nur noch eines. Ich werde in Asien Ihrer gedenken — und die Kolloquien finden in diesem Jahr um einen Monat später statt als gewöhnlich.«
Der Professor verneigte sich grüßend und ging.
Der ganze Tag war sonnenlos gewesen und nun es fünf Uhr geworden, schlich schon ganz leise die Dämmerung heran. Aber es war eine klare, auffallend durchsichtige Dämmerung, die sich zum Schmuck ein ganz klein wenig Abendröte von irgendwoher ausgeliehen hatte.
Von den Fenstern des Speisezimmers aus, in welchem Klaus soeben den Tisch deckte, konnte man über den Park hinweg auf Skeppsholmen1 hinüberschauen, dahinter sich, gerade über Djurgårds Staden*) eine dunkelgraue Wolke auf dem sonst nur mit leichtem Dunst erfüllten Horizont erhob. Es war eine massige, graue Wolke. Sie hatte einen weißlichen Kern. Klaus Groth achtete nicht auf diese Wolke, achtete überhaupt auf Nebensächliches nicht. Er deckte heute in einer gewiss weihevollen Stimmung den Tisch. Aber seine Gedanken waren doch nicht so ganz bei den schweren, silbernen Bestecken und den seifenblasendünnen Gläsern, bei dem seidenglänzenden Damasttischzeug und dem fein gemalten Porzellan, das ein indischer Fürst vor etlichen Jahren dem Professor als Abschiedsgeschenk buchstäblich hatte zu Füssen legen lassen.
Nein, Klaus dachte derzeit nicht nur an all die Kostbarkeiten, welche er unter den Händen hatte, seine Gedanken waren zum Teile noch dort, wo sie in ihrer Ganzheit vor einer halben Stunde gewesen, als er, die Grammatik vor sich, in seinem Zimmer gesessen war.
Damals war er gerade bei den Kausal- und Finalsätzen in der lateinischen Sprache angelangt.
Als Klaus das letzte Glas zu Tannemores Gedeck stellte, dachte er: »Finis coronabis opus«, und als das Glas an seinem Ort stand, sagte Klaus »Finis coronat opus«, oder auch »Opus fine coronatur.«
Klaus war nun mit sich zufrieden.
Er ging nach dem Salon hinüber, um zu melden, dass der Tisch gedeckt sei.
Fünf Minuten danach traten Tannemore und Lund in das Speisezimmer.
Die Suppe war schon ausgetragen worden.
Der Professor aber fehlte noch.
Der Assistent schellte dem Diener und fragte, als Klaus hereinkam, wo der Professor sei, und ob er nicht zum Speisen kommen werde.
Bescheiden erwiderte Klaus, der mittags, neben dem Kutscher sitzend, wie gewöhnlich seinen Herrn von der Universität abgeholt hatte: »Von der Vorlesung nach Hause gekommen, ist der Herr Professor in sein Studierzimmer gegangen, wo er zuweilen laut mit sich gesprochen hat und oftmals darin umhergewandert ist. Dann hat der Herr Professor Hut und Stock genommen und ist in den Garten gegangen. Dort hat er weiter studiert und hat wieder auf den Wegen seine Figuren gezeichnet.«
Lächelnd wandte da Lund sich zu Tannemore und sagte:
»So pflegt er oft zu tun. Wenn ihm der Schreibtisch zu klein wird, dann geht er hastig im Zimmer auf und nieder, und wachsen seine Gedanken weiter, dann geht er in den Garten und zeichnet und rechnet mit seinem Stock im Sand.«
Die beiden Herren begaben sich in den Pakt und hatten nach etlichen Minuten die Gewissheit, dass die Aufzeichnungen des Gelehrten, algebraische und physikalische Formeln sowie geometrische Figuren, über einen großen Teil der wohl gehaltenen Wege verstreut waren.
Als die zwei wieder ins Haus gingen, kam ihnen der Professor aus seinem Studierzimmer entgegen.
Er war außerordentlich gut gelaunt.
»Das Problem ist äußerst interessant«, rief er seinen beiden Freunden zu, »und die Ausführung wird möglich sein, aber wir müssen arbeiten und genau arbeiten. Lieber Lund! Ich habe mir da einiges — nun, sagen wir — notiert«, dabei deutete der Professor auf den Garten hinaus, »das dort draußen ist gewissermaßen der Schlüssel zur Lösung unserer Aufgabe, den ich in einer guten Stunde gefunden habe. Darf ich Sie bitten, morgen diese meine Aufzeichnungen zu fotografieren?«
Lund bejahte schnell und Tannemore war es, als träumte er.
Gestern hatte er an seinen gelehrten Freund eine Bitte gerichtet, heute Morgens hörte er von einem Problem, dessen Sinn ihm erst im Vorlesesaal klar geworden, und nun war schon der Schlüssel zur Lösung der übermenschlich schwer scheinenden Ausgabe gefunden!
Die drei Männer gingen noch dem Speisezimmer und setzten sich an den Tisch. Sie waren nicht redelustig.
Jedem von ihnen drängten sich eigentümliche Gedanken auf.
Der Professor wusste, dass er das eine Ende einer Kette in Händen hielt, deren anderes Ende derzeit noch in unerforschten Tiefen des Denkens lag, an der er aber nur zu ziehen brauchte, um aus unbekanntem Dunkel geheimnisvolle Schöne zu holen.
Der Lord fühlte, dass er dem Mann gegenüber sitze, der allein auf der Erde imstande war, die für ihn selber zu schwierige Aufgabe zu lösen — vielleicht zu lösen.
Kann ein Feldherr nicht fünfzig Schlachten gewinnen und eine verlieren?
Hjalmar Lund, der junge Assistent, war nur neugierig, neugierig im höchsten Grad.
Er war nicht neugierig darauf, ob sein lieber Meister diese Sache gut durchführen werde, sondern nur darauf neugierig, wie er zu Werke gehen würde, um die Echtheit oder Unechtheit der Bridgeportschen Funde festzustellen.
»Die Unechtheit, o ja, ihre Unechtheit.« Lund mochte gar nicht daran denken, dass der Lord sich geirrt haben könne, denn er hatte diesen Mann, bezüglich dessen ihm der Professor schon soviel Liebes und Gutes erzählt hatte, rasch ins Herz geschlossen.
Als man nach dem Speisen im Nachbarzimmer — einem reizend hellrosa tapezierten Raume — Kaffee und Zigarren nahm, sagte der Professor zu Tannemore:
»Lieber Lord, ich habe Sie gebeten, an den Arbeiten, die ich behufs des Studiums der Keilschriften unternehmen werde, teilzunehmen. Wir drei Männer — denn Lund, ich zähle vollständig auf Sie — wollen uns darüber nun klar werden, mag geschehen soll, was wir tun werde? Faktum ist?«
»Dass jetzt drei Keilschriftarten, davon eine noch recht rätselhaft ist, bestehen«, sagte der Lord.
»Und Behauptung?«
»Dass die neu aufgefundene, vierte, nicht echt sei.«
»Gut, gehen wir von diesen beiden Gedanken aus. Wir kannten bis zu Bridgeports Entdeckung nur eine Art dieser Schrift genau, und zwar jene, welche Kombinationen keilförmiger, in starres Material eingegrabener Linien zeigt. Über die beiden anderen Keilschriftarten wissen wir weniger. Dabei ist indessen besonders zu bemerken, dass jede runde Form bei den drei bekannten Keilschriftarten ausgeschlossen ist. Die neue Keilschrift, die durch Bridgeports und Redfowles Bemühen, uns kundgewordenen, von Ihnen fotografierte Keilschrift, zeigt in Verbindung mit den geradlinigen Keilen runde Formen, Kreise, Punkte und einzelne, vermutlich Buchstaben verbindende gerade Linien, wie wir sie bei der Schrift des Sanskrit sehen.
Unsere Aufgabe ist es also nachzuweisen, ob sie jemals irgendwo geschrieben worden ist — denn — ist sie niemals und nirgends geschrieben worden, dann sind Bridgeport und Redfowles Betrüger, oder ist mindestens Bridgeport ein solcher — denn Redfowles, der kein Fachmann ist, kann ja von ihm getäuscht worden sein.«
»Bridgeport hat angegeben, dass seine Feinde aus Birs i Nimrud stammen.«
»So können wir unsere Nachforschungen auf die Trümmerfelder des alten, zivilisierten Asiens beschränken«, sagte Clusius, »und falls wir dort irgendwo die neue Keilschrift finden sollten …«
»Werde ich ein Verleumder sein und mich töten«, sprach unheimlich ruhig der Lord.
Daraufhin herrschte eine gute Weile Schweigen in dem Gemach, durch welches jetzt kein Zigarrenrauch mehr zog — denn die Herren hatten auf das Rauchen vergessen. Der Professor war in tiefer Nachdenken verfallen. Und während er so sann und sann und Tannemores und Lunds Augen auf ihn geheftet blieben, wurde die graubraune Wolke über Djurgårds Staden immer größer und ihr weißlicher Kern war jetzt schon sehr groß und die glatten Blätter des Kamelienstrauches, der seine Zweige bis zu den Fenstern hinauf streckte, glänzten nicht mehr, denn es war auch nicht der dünnste Sonnenstrahl mehr da, der sich auf ihnen hätte spiegeln können. Es war auch im Garten unten ganz, vielleicht genau so still wie im Zimmer oben, nur dass die Tamariske, die neben dem Kamelienbaum stand, ihre Zweige leise zu wiegen begann.
Der Professor erwachte aus seinem Nachdenken.