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Mitarbeiter in der Altenpflege nehmen vom ersten Tag an am Leben anderer Menschen teil. Sie arbeiten nicht nur für alte Menschen, sie leben auch mit ihnen – und ihren ganz eigenen Geschichten. Das Miteinander von Pflegekraft und altem Menschen birgt Überraschungen: heitere Situationen, berührende Erlebnisse, sensible Erfahrungen. Dieses Buch bietet ausgewählte Geschichten aus der Altenhilfe. Keine erfundenen Stories, sondern wirklich Erlebtes. Jede Geschichte ist so einzigartig wie die Menschen, die sie erleben. Jede Pflegebeziehung ist eine Chance zum Wachstum für beide: Pflegende und Pflegebedürftigen
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Seitenzahl: 112
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Barbara Messer
Mensch bleiben
Barbara Messer
Mensch bleiben
Die AutorinBarbara Messer ist Bachelor of Business Administration, NLP-Trainerin und examinierte Altenpflegerin. Sie arbeitet als Trainerin und Coach in der Gesundheitsbranche und ist Autorin zahlreicher Fachbücher und -artikel.
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.ddb.de abrufbar.
ISBN 978-3-89993-324-6 (Print)ISBN 978-3-8426-8494-2 (PDF)ISBN 978-3-8426-8498-0 (EPUB)
© 2014
Schlütersche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Hans-Böckler-Allee 7,30173 Hannover
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der gesetzlich geregelten Fälle muss vom Verlag schriftlich genehmigt werden. Alle Angaben erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie des Autoren und des Verlages. Für Änderungen und Fehler, die trotz der sorgfältigen Überprüfung aller Angaben nicht völlig auszuschließen sind, kann keinerlei Verantwortung oder Haftung übernommen werden. Die im Folgenden verwendeten Personen- und Berufsbezeichnungen stehen immer gleichwertig für beide Geschlechter, auch wenn sie nur in einer Form benannt sind. Ein Markenzeichen kann warenrechtlich geschützt sein, ohne dass dieses besonders gekennzeichnet wurde.
Umschlaggestaltung:
Michael Fröhlich, Hannover
Titelbild:
Erwin Wodicka, Ocskay Bence – fotolia.com
Satz:.
PER Medien+Marketing GmbH, Braunschweig
Druck:
Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
Vorwort
1Das Alter ist keine Frage der Lebensjahre
Mit Moritz in der Schule
Wo tut es denn weh?
Die Schuhverkäuferin
Lieber Gott, lass Abend werden, Morgen wird es von allein
2In fast familiären Verhältnissen
Badewasser für zwei
Der Milchbecher
Ohne ihn
Im Bad mit Herrn Seidel
Dialoge mit Ömchen
Lisbeth, die Lady aus der Großstadt
3Liebe kennt kein Alter
Noch einmal lieben
Das geht doch nicht!
Er ist eine Sie
Sex, Drugs and Rock’n’Roll
4Als Zeitmangel noch kein Problem war
Auf dem Rummel
Hat mal jemand einen Sahnebonbon?
Es klappert die Mühle am rauschenden Bach
5Wenn Vergangenes nicht vergeht
Ertrunken?
Das Baby kommt gleich!
6Nachts auf Station
Übergabe
Der Einbruch
Die Rot-Kreuz-Schwester
7Am Ende zählt nur das Leben
»Wo ist Richard?«
»Mein Leben war bunt und schön«
Anna
Die Postkarte
Schlusswort
Die Welt braucht mehr Piepenbrinks
Dieses Buch ist eine kleine Auswahl meiner Erfahrungen und Erinnerungen als Altenpflegefachkraft. Ich empfand die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit den Geschichten und den Menschen dahinter immer als einen faszinierenden Aspekt meiner praktischen Berufsjahre. Seit ich als Trainerin Seminare und Fortbildungen gebe, entdeckte ich, dass solche Geschichten immer wieder ein Impuls an meine Teilnehmer sind, selber über ihre Erlebnisse nachzudenken. Aus mancher vermeintlich unangenehmen Erinnerung wurde im anschließenden Gespräch ein richtiger Aha-Effekt.
Deshalb öffne ich dieses kleine Schatzkästchen nun auch für Sie. Es ist meine Einladung an Sie, mit offenem Herzen und einem Augenzwinkern auf Ihren Beruf in der Altenpflege zu schauen. Denn trotz allem Gerede, aller politischen Einflussnahme, allen Gesetzen, Verordnungen, Standards etc. geht es in der Altenpflege immer noch um die Begleitung und Pflege von alten Menschen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Vielen von uns liegt der alte Mensch am Herzen; nicht als Pflegefall, sondern als Mensch: individuell, liebenswert, ein bisschen schrullig und in jedem Fall eine erstaunliche Fundgrube an Geschichten und Erfahrungen.
Vor kurzem hielt ich einen Vortrag mit dem Titel »Liebeserklärung an die Pflegeplanung«. Die Rednerin vor mir stellte ein Konzept zur Hospizpflege vor. Ich schnappte lediglich die letzten Minuten ihrer Präsentation auf, in der auch wieder eine Geschichte erzählt wurde. Berichtet wurde von einer alten Frau, die sehr eingeschränkt und reduziert lebte. In dieser vermeintlichen Eingeschränktheit hatte sie etwas ganz Kostbares geschaffen: Ihr war es möglich, in wenigen Sekunden einen sehr intensiven Kontakt zu anderen Menschen herzustellen. Dazu legte sie ihre Stirn und Nase an die Stirn und Nase des Gegenübers und blickte diesem tief in die Augen. Dieser intensive Kontakt dauerte nur wenige Sekunden. Er stellte aber eine Bindung her, die für Stunden anhielt und die die Pflegekräfte tief beeindruckte.
Dieses kleine Beispiel zeigt, wie wenig es braucht, um einen tiefen, befriedigenden Kontakt in einer Pflegebeziehung herzustellen. Es ist nicht immer die Zeit, die fehlt. Es ist oft der Mut, der uns Pflegekräften abhandengekommen ist. Vor lauter Dokumentationen, Prüfungen und Vorschriften haben viele von uns vergessen, wie eine direkte, unmittelbare Begegnung zweier Menschen gelingen kann.
Pflege braucht nicht nur Zeit. Gute Pflege braucht Intensität, Tiefe, Professionalität und den Mut, sich wirklich zu begegnen.
Die Geschichten in diesem Buch habe ich so ausgewählt, dass sie vom Mut sprechen, sich auf einen alten Menschen einzustellen und seine Fülle wertschätzen zu können. Ich möchte Ihnen gern zeigen, wie vielfältig und einzigartig die zu versorgenden alten Menschen sein können und wie reich die Begegnungen mit ihnen sind. Und ich bin mir sicher: Sie haben das alles schon einmal erlebt. Nicht genauso, wie ich es erlebt habe, aber ähnlich und sicherlich mit dem gleichen Gefühl der Achtung und der Wertschätzung.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre!
Berlin, im Mai 2014
Barbara Messer
Als ich sie das erste Mal sah, traute ich meinen Augen kaum. Solch eine kleine, wendige, sich immer wieder im Bett drehende Frau hatte ich noch nie gesehen. Es war mir nicht möglich zu sagen, wie alt sie wohl war. Allein die Tatsache, dass sie im Bett lag, war natürlich ein Hinweis auf ihr höheres Alter und ihre Gebrechlichkeit. Aber ihr agiles Verhalten, die glatte Haut und ihre lebhafte Ausdrucksfähigkeit verliehen ihr das Aussehen eines jungen Mädchens.
Ich war zum ersten Mal auf einer ganz normalen Pflegestation. Damals, in den 1980ern, war es vollkommen selbstverständlich, dass sich vier Bewohnerinnen ein Zimmer teilten. Ebenso selbstverständlich war es leider, dass die Bewohner eines Pflegeheims nahezu den ganzen Tag in ihren Betten verbrachten. Über Wochen und Monate. Von Aktivierung redete damals noch niemand.
»Moritz«, wie wir sie alle nannten, schien es überhaupt nicht zu stören, dass ihr Lebensraum nur noch aus ihrem schmalen Bett bestand. Das war der Lebensraum für ihren Körper, der – so sagten es die Ärzte – höchst pflegebedürftig war. Ihr Geist aber und ihre Seele reisten weit über ihre kleine Bettstelle hinaus.
Moritz und ich waren uns von Anfang an sympathisch. Ohne Zögern bot sie mir das »Du« an. Ich freute mich darüber und fühlte mich geehrt, dass sie mir dieses Vertrauen schenkte. Obwohl wir viele Monate miteinander verbrachten, war es ihr nie möglich, meinen Namen zu kennen und zu erinnern. Unserer liebevollen und freundschaftlichen Beziehung tat das keinen Abbruch. Im Gegenteil – es schien überhaupt nicht wichtig zu sein, wer ich war und wie ich hieß. Mich störte es auch nicht, denn ich bekam von Moritz so viel Liebe und Sympathie geschenkt, dass mein Name nicht wichtig war.
Heute weiß ich den wirklichen Namen der alten Dame nicht mehr, aber ihren Spitznamen Moritz werde ich immer erinnern. Damit stellte sie sich mir vor. Es war der Name, den ihr Vater ihr einst gegeben hatte. Ihr Spitzname.
Moritz war eine sehr kleine Frau, mit weicher frischer Haut, die kaum Altersspuren zeigte. Trotz ihrer Pflegebedürftigkeit war sie so wendig und flink, dass ich nicht mehr weiß, welche Erkrankung dafür gesorgt hatte, dass sie das Bett nicht verlassen konnte.
Bezeichnend für sie war, dass sie sich in ihren Wachphasen kontinuierlich im Bett hin und her bewegte, quasi drehte. Sie hatte eine fortwährende Eigenbewegung, die es sehr schwer machte, sie anzuziehen oder zuzudecken. Wir gingen schließlich dazu über, ihr weiche kuschelige Ganzkörperschlafanzüge anzuziehen, sodass sie sich beim Hinund Herbewegen nicht aufdeckte und dadurch verkühlte.
Wenn auch ihr stete Bewegung, einem Brummkreisel nicht unähnlich, auffällig war, so war Moritz trotz allem sehr zufrieden und lebte angeregt in ihrer Vergangenheit. »Hast du meinen Ranzen gesehen?«, fragte sie morgens munter, oder »Kommst du jetzt auch mit?« So oder so ähnlich begrüßte sie mich morgens, wenn ich ins Zimmer kam. »Wir müssen los, die Schule fängt gleich an«, war dann meist der nächste Satz. Moritz hatte es morgens stets eilig, ihr Ton war freundlich, aber auch ein wenig drängend. Ich brauchte ein paar Tage, bis ich verstand, dass sie uns für Schulkameradinnen hielt, die gemeinsam zur Schule gingen.
Unbedarft und naiv wie ich damals war, stieg ich liebend gern auf diese Geschichte ein. Tag für Tag lebten Moritz und ich in der Vorstellung, zusammen zur Schule zu gehen und auch den Schulalltag zu teilen. Durch meine Nachfragen und ihre Antworten entstand vor meinen Augen ein lebhaftes Bild von den Orten ihrer Kindheit. Fast immer, wenn wir miteinander zu tun hatten, schien sie in einer Altersepoche zu leben, in der sie ungefähr sechs bis neun Jahre alt war.
»Was machen wir heute nach der Schule? Wollen wir zusammen zum See?« – »Kommst du zu mir? Mein Vater ist auch da!« Mit solchen Fragen läutete sie unser gemeinsames Spiel als Freundinnen für den Nachmittag ein. Vergnügt blickte sie mich dabei an und schien sich zu freuen.
Moritz verfügte über eine einzigartige Gabe. Sie gestaltete ihr vermeintlich trostloses Leben als Pflegefall so, dass sie größtmöglich glücklich war. Das tat sie, indem sie sich in eine der schönsten Phasen ihres Lebens zurückversetzte. Diese malte sie sich in den schillerndsten Farben und sehr sinnesspezifisch aus. Und sie bezog meine Kolleginnen und mich intensiv in diese sehr glückliche Kindheit ein. Mit diesem Kunstgriff sorgte sie dafür, dass sie sich integriert und sozial eingebunden erlebte.
Hatte ich, was auch manchmal vorkam, nicht ganz so gute Laune, brauchte ich nur in ihr Zimmer zu gehen und zu sagen: »Moritz!« und dann sah sie mich mit wachen, liebevollen, vor Freude leuchtenden Augen an. Mehrfach täglich verbrachte ich viele Minuten an ihrem Bett, um mit ihr über die Erinnerungen aus ihrer Schulzeit zu sprechen. Die Bilder in meinem Kopf wurden so präsent, dass ich zwischendurch tatsächlich dachte, wir würden uns von früher her kennen. Noch heute, Jahrzehnte später, bin ich für diese Begegnung und Freundschaft sehr dankbar. Moritz hat mich gelehrt, wie kostbar die Fantasie eines Menschen ist.
Wie gern wäre ich tatsächlich – mit ihr – in ihre Geschichte eingetaucht und hätte ein Stück ihres Lebens kennengelernt.
Als sie starb, hinterließ sie in unseren Herzen eine große Lücke. Aber wir fühlten uns auch reich beschenkt. Denn es war eine Freude für uns, so viel Vertrauen und Freude erfahren zu haben. Nie sah Moritz mich und meine Kolleginnen als Pflegekräfte an, die sie zu versorgen hatten, sondern als Freundinnen aus den guten alten Tagen.
»Wo tut es denn weh?«, fragte der kleine, alte Mann, der einen leicht beschmutzten, abgetragenen Kittel trug, der sicher schon bessere Zeiten gesehen hatte. »Mein Hals kratzt und ich bekomme schlecht Luft«, antwortete die Frau, die sich zu ihm ins Zimmer auf den Besucherstuhl gesetzt hatte. Sie war um die 80, ihr Haar war grau, fast schon weiß und sie trug, wie fast jeden Tag, einen dunklen Rock und einen hellblauen Pulli. Beides waren Kleidungsstücke, die sie heute mehr oder wenig beliebig aus dem Schrank genommen hatte.
Richard Mainz, immer noch amtierender Hausarzt, schaute ihr in den Mund, den sie bereitwillig öffnete, klopfte ein wenig auf Brust und Rücken, um dann zu sagen: »Lassen Sie sich vorn an der Rezeption ein Rezept ausstellen!« Charmant geleitete er sie hinaus, nicht ohne einen Kuss auf ihre Hand gehaucht zu haben. Auf dem Flur saß bereits eine Reihe weiterer Patienten auf den Stühlen und wartete auf die Konsultation. Richard Mainz ließ sich Zeit. Immer wenn er aus dem Zimmer trat, sah er seine Patienten kurz an, ging eine Weile auf dem Flur auf und ab und schaute sich an, was außerhalb seines Untersuchungszimmers vor sich ging. Je nachdem, was ihm gerade durch den Kopf ging, sprach er auch den einen oder anderen Mitarbeiter, der ihm in weißer Kleidung entgegenkam, an. Geschäftig und kompetent gab er Anweisungen, wandte sich wieder seinen Patienten zu und bat mit den Worten »Der Nächste, bitte!« den nächsten Patienten in sein Sprechzimmer. Man hätte meinen können, es handelte sich um eine Spezialpraxis für Senioren.
Der nächste Patient war ein älterer Herr, ähnlich alt wie Herr Mainz. Also um die 85 Jahre. Herr Mainz arbeitete immer noch, er liebte seine Arbeit, die intensive Betreuung seiner Patienten. Hatte sie ihn doch ein Leben begleitet, seine Familie ernährt und ihm Ruhm und Ansehen gebracht. Darin steckte sein gesamter Lebensinhalt: andere Menschen zu heilen.
»Sie müssen mehr trinken! Ich werde Sie zu einem Kollegen überweisen, der kann noch genauer sagen, was mit Ihnen ist.« Herr Mainz blickte freundlich in das Gesicht des alten Mannes, der ihm nun wesentlich entspannter gegenübersaß. Eben erzählte er noch von seiner Vergesslichkeit, aber das hatte er schon wieder vergessen.
Auch diesen Patienten begleitete Herr Mainz freundlich nach draußen, »Holen Sie sich vorn bei meinen Damen die Überweisung ab«, waren seine letzten Worte, bevor es wieder hieß: »Der Nächste, bitte!«
Der Nächste war immer jemand aus der Reihe der Heimbewohner, die auch nicht mehr wirklich in Zeit und Ort orientiert waren. Sie setzten sich, nun schon seit Monaten, immer gern auf diesen Bereich vom Flur. Das war der Platz, an dem das meiste Leben auf dem Wohnbereich herrschte, wo fast alle Menschen regelmäßig vorbeikamen, andere Bewohner, Mitarbeiter. Es war der Platz vor dem Zimmer des ehemaligen Hausarztes Richard Mainz, der demenziell erkrankt war. Seine eingeschränkte Orientierung sorgte dafür, dass er Situationen aus dem Jetzt mit jenen von Früher verwechselte.