Menschen mit Querschnittlähmung - Jessica Lilli Köpcke - E-Book

Menschen mit Querschnittlähmung E-Book

Jessica Lilli Köpcke

0,0

Beschreibung

When people who have paraplegia are allowed to talk about their own lives, lots of exciting, serious, funny and thought-provoking things come to light. You may sometimes remember only a few sentences of the stories they tell - but they are sentences capable of changing your whole attitude. This book represents a successful interplay between scientific research and participation. Experts in their own field use narrative methods to tell the stories of their lives and their own life-worlds, accompanied by highly expressive photos. Chapters discussing how to organize everyday life, sports, work and many other topics are presented, in some cases by public figures such Kirsten Bruhn, Christian Au and Andreas Schneider. People with an interest in the topic, specialists and the general public are thus given a glimpse from the inside into what living with paraplegia is like.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 397

Veröffentlichungsjahr: 2018

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Herausgeber

Prof. Dr. Jessica Lilli Köpcke, seit Oktober 2016 als Professorin für Heilpädagogik und Studiengangsleiterin an der Medical School Berlin tätig. Sie schloss ein Studium der Erziehungswissenschaften (BA) an der Freien Universität zu Berlin und ein Studium der Sozialen Arbeit (MA) an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin ab. An der Universität Leipzig promovierte sie zu dem Thema »Rekonstruktion der Bedeutung einer in der Adoleszenz erworbenen traumatischen Querschnittlähmung für den weiteren Lebensverlauf« und war dort als Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Erziehungswissenschaften im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung tätig. Berufliche Stationen waren die Schulsozialarbeit in einem Förderzentrum, Projekte des eingetragenen Vereins Spastikerhilfe Berlin und die Hamburger Assistenz Genossenschaft. Mit ihrem Coaching-Institut ist sie seit vielen Jahren als Seminarleiterin tätig, u. a. in der Arbeitsmarkt-Integration von Menschen mit Beeinträchtigung.

Arne Schöning, Kommunikationsexperte und freier Fotograf. 2003–2005 Peer Counseling und Projektmanagement für den Verein zur Förderung Querschnittgelähmter am Unfallkrankenhaus Berlin (UKB-Berlin). 2005–2006 Referent für Barrierefreiheit bei der Nationalen DFB Kulturstiftung WM 2006. Er arbeitet als Berater im Pro Seniore Pflegenetz Berlin Brandenburg für die Bereiche Wohnen im Alter, Kommunikation und Personalmarketing und als freier Dozent an der Medical School Berlin in der partizipativen Sozialforschung für den Studiengang Heilpädagogik. Er lebt selbst mit einer Querschnittlähmung und fungiert als »Experte in eigener Sache« in der Hochschullehre und in Forschungsprojekten.

Jessica Lilli Köpcke Arne Schöning (Hrsg.)

Menschen mit Querschnittlähmung

Lebenswege und Lebenswelten

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

 

Titelbild: Vaterfigur

Model: Steven Dylla

Fotografie: Arne Schöning

1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-033824-1

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-033825-8

epub:   ISBN 978-3-17-033826-5

mobi:   ISBN 978-3-17-033827-2

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhaltsverzeichnis

 

Teil I Einführung

Vorwort

Menschen mit Querschnittlähmung als Experten in eigener Sache

Jessica Lilli Köpcke

Die Methode des Storytellings in der partizipativen Sozialforschung

Jessica Lilli Köpcke

Teil II Lebenswelten

Alltag und Lifestyle

Jessica Lilli Köpcke

Blut, Schweiß und Tränen

Katrin Schreier

Nicht allein

Mario Swoboda

Als Kind die Vorstellung von Reisen, alles ohne Probleme?

Andreas Nickel

Barrierefrei!?!

Kirsten Bruhn

Aus der »Not« eine Tugend gemacht!

Richard Schaefer

Kein Leisetreter

Jens Sauerbier

Grenzgänger

David Weissbaum

Teil III Arbeitsleben

Berufliche Perspektiven

Jessica Lilli Köpcke

Start ins (Berufs-)Leben

Andreas Schönhofer

Mobilität schaffen

Stefan Volkmann

Das Unerwartete

Jörg Köhler

Langer Atem

Christian Au

Teil IV Abenteuersport

Von der Rehabilitation zum Abenteuersport

Jessica Lilli Köpcke

Sportliche Netzwerke

Christoph Pisarz

Was bewegen

Christoph Pisarz

Dog Trekking

Manuela Richter

Die Kriegerin

Katja Sandschneider

Ein Leben auf der Überholspur

Achim Freund

Sit Up Paddling

Steven Dylla

Mal Abtauchen

Dirk Michelus

Teil V Liebe und Sexualität

Körper, Sexualität und Partnerschaft

Jessica Lilli Köpcke

Love and Basketball

Maria Kreß (geb. Kühn)

Abgelegt

Timm Heienbrok

Lust und Vorurteil

Jessica Lilli Köpcke und Arne Schöning

Entfesselt

Dirk Michelus

Teil VI Wahrnehmung von Querschnittlähmung

Querschnittlähmung in der öffentlichen Wahrnehmung

Jessica Lilli Köpcke

Vom Landmädchen zum Model mit Querschnitt und Durchblick

Carolin Fischer

Etwas zu sagen haben

Andreas F. Schneider

Musik ist Medizin – ohne Nebenwirkungen

Dennis Sonne aka Sittin’ Bull

Singt meinen Song

Dennis Sonne aka Sittin’ Bull

Der Entstehungsweg der Bilder für das Projekt para-normal-lifestyle

Arne Schöning

 

 

 

 

Teil I

Einführung

Vorwort

 

Dieses Buch entstand durch den Wunsch, die unterschiedlichen Lebenswelten von Menschen mit Querschnittlähmung darzustellen und sie als Experten in eigener Sache zu ermutigen, gemeinsam einen neuartigen und interessanten Beitrag zum Thema Querschnittlähmung im Sinne der partizipativen Sozialforschung zu verfassen. Dabei geht es vorrangig darum, die individuelle Sicht der Menschen mit Querschnittlähmung in den Fokus zu stellen und damit über die häufig anzutreffende medizinische Sichtweise und die erste Phase der Rehabilitation nach einer Querschnittlähmung aus einer wissenschaftlichen Sicht hinaus zu gehen.

Insbesondere für zukünftige Fachkräfte, Angehörige und Menschen mit Querschnittlähmung selbst ist es wichtig, die diversen Möglichkeiten und Facetten eines Lebens mit Querschnittlähmung wahrzunehmen. Die partizipative Sozialforschung bietet den Rahmen, um Menschen mit Querschnittlähmung an einem Forschungsdiskurs zu beteiligen und sie zu »Experten in eigener Sache« zu machen. Dies bedeutet für das vorliegende Buch, dass es hierbei zu einem Zusammenspiel kommt, nach einer einführenden fachlichen Beschreibung einzelner Lebensbereiche tritt dann die Geschichte der Menschen mit Querschnittlähmung in den Vordergrund. Es gibt eine Vielzahl von Biografien und Autobiografien, die insbesondere die individuelle Bewältigung der Querschnittlähmung einzelner Personen thematisieren. Das vorliegende Buch versteht sich als Sammlung unterschiedlicher Geschichten und Bilder, die zeigen, welche außergewöhnlichen Wege Menschen mit Querschnittlähmung gehen können, aber auch die Normalität, mit der sie ihr Leben gestalten. Die Themenbereiche Alltag und Lifestyle, berufliche Perspektiven, Rehabilitation und Sport, Sexualität und Partnerschaft sowie die öffentliche Wahrnehmung von Menschen mit Querschnittlähmung werden dabei abgedeckt und zeigen, was im Rollstuhl alles möglich ist. Die bereits vorhandene Inklusion von Menschen im Rollstuhl in die Gesellschaft und sämtliche Bereiche des öffentlichen Lebens werden dabei häufig betont, es werden jedoch auch noch bestehende Grenzen aufgezeigt.

Das methodische Vorgehen orientiert sich an der Methode des Storytellings, bei der die Experten in eigener Sache die Möglichkeit haben, ihre Geschichte und ihr Leben in ihren eigenen Worten zu präsentieren. Dies führt zu einer sehr ungewohnten und individuellen Tonalität der Geschichten und stellt einen zusätzlichen Gewinn zu der reinen inhaltlichen Aussage dar.

Das Buch besteht aus zwei Elementen, zum einen aus dieser Sammlung von Geschichten, die von Menschen mit Querschnittlähmung geschrieben wurden, und zum anderen aus den Bildern von Arne Schöning, der die Geschichten fotografisch darstellt und visualisiert. Arne Schöning lebt selbst mit einer Querschnittlähmung und erreicht damit eine künstlerische Darstellung der Lebensbereiche aus seinem besonderen Blickwinkel zwischen Normalität und außergewöhnlichen Situationen.

Gemeinsam sind wir die Herausgeber dieses Buchs und schlagen damit eine Brücke zwischen wissenschaftlicher Betrachtung und Erfahrungswissen unserer Autoren, die einen einzigartigen und persönlichen Einblick in ihre Lebenswelt geben.

Zur besseren Lesbarkeit werden männliche und weibliche Bezeichnungen für unterschiedliche Personen und Personengruppen wechselnd genutzt. Die eindeutige Zuordnung zu einer Geschlechtergruppe ist an den entsprechenden Stellen kenntlich gemacht.

 

Jessica Lilli Köpcke und Arne Schöning

 

 

 

 

Menschen mit Querschnittlähmung als Experten in eigener Sache

Jessica Lilli Köpcke

Menschen mit Querschnittlähmung sind eine Gruppe in Deutschland, die in verschiedenen Kontexten unterschiedlich starke Beachtung findet. Im Bereich der Populärliteratur, Biografien und Autobiografien wird man schneller fündig als in der Fachliteratur der Sonder- und Heilpädagogik. Am wissenschaftlichen Diskurs der Disability Studies beteiligen sich Menschen mit Querschnittlähmung ebenfalls selten. Die Ursachen dafür könnten in einer möglichst autonomen und individuellen Lebenspraxis liegen und in der daraus resultierenden geringen Vernetzung. Der Bereich des Sports bildet dabei eine Ausnahme, dort engagieren sich viele Menschen mit angeborener und erworbener Querschnittlähmung und pflegen darüber eine Form des informellen Austauschs. Bevor die Autoren über ihr Leben mit Querschnittlähmung berichten, soll ein kurzer Überblick über die Auswirkungen einer Querschnittlähmung im medizinischen und sozialen Bereich der Lebenswelt gegeben werden.

Die Auswirkungen einer Querschnittlähmung sind vielfältig und individuell, Ausführungen dazu können nur eine grobe Einordnung bieten, die dann von den Autoren auf ihre spezifische Lebenswelt bezogen personifiziert dargestellt werden. Man unterscheidet zwischen der angeborenen Querschnittlähmung, bei der eine Fehlbildung des Rückenmarks zugrunde liegt, und der erworbenen Querschnittlähmung in Folge einer Schädigung des Rückenmarks (vgl. Kaltenborn 2007, S. 107). Wir haben uns bei der Auswahl der Autoren bewusst dafür entschieden, Menschen mit angeborener Querschnittlähmung (Spina bifida) und mit erworbener Querschnittlähmung durch Unfälle, neurologische Krankheitsbilder und Folgen anderer Grunderkrankungen in die Gruppe der Menschen mit Querschnittlähmung einzubeziehen. Dies zeigt erneut die große Spannweite und ermöglicht eine differenzierte Betrachtungsweise einer großen Gruppe von Menschen.

 

Als Querschnittlähmung wird ein aus einer Schädigung des Rückenmarkquerschnitts resultierendes Lähmungsbild mit Ausfall motorischer, sensibler und vegetativer Bahnen bezeichnet. Die systematische Einteilung der verschiedenen Formen der Querschnittlähmung wird von der Höhe der Schädigung der einzelnen Rückenmarkssegmente bestimmt. Lähmungen des Halsmarks, bei der alle vier Gliedmaßen betroffen sind, werden als Tetraplegie bezeichnet. Alle anderen Lähmungen mit der Beteiligung der unteren Extremitäten werden Paraplegie genannt. Eine weitere Unterscheidung ist die zwischen einer spastischen und einer schlaffen Lähmung. Mit Plegie wird allgemein eine zentrale, komplette motorische Lähmung ganzer Gliedmaßen oder einzelner Gliedmaßenabschnitte bezeichnet. Bei der Querschnittlähmung wird der Begriff weiter gefasst und umfasst die gelähmten Körperabschnitte unterhalb der Rückenmarkläsion mit den dazugehörigen Extremitäten (vgl. Gerner 1992, S. 3). Neben der vollständigen Querschnittlähmung, bei der das Rückenmark in seiner Kontinuität unterbrochen ist, gibt es auch die unvollständige, bei der noch gewisse, insbesondere sensible Restsymptome erhalten sind (vgl. Schade 1994, S. 273). Die sogenannte inkomplette Querschnittlähmung beinhaltet eine Aufrechterhaltung von motorischen und sensorischen Funktionen nach der Rückenmarkschädigung. Eine abschließende Diagnose, welche Funktionen nach einer spinalen Schockphase wieder vorhanden sind, dauert mehrere Wochen bis Monate an.

»It has now been shown in many centers that 60%–65% of patients with cervical spine injuries and tetraparesis have incomplete cervical lesions. Almost 100% of patients admitted to hospital 6–8 hours after lumbodorsal injury with paraplegia have complete lesions, yet some 50% have some root sparing« (Bedbrook 1981, S. 24).

Dies macht die Einteilung und Abschätzung der Funktionen und der Fähigkeiten der Personen, insbesondere bei der Alltagsbewältigung, schwierig, da trotz eines bestimmten Querschnittsniveaus in Form der Läsionshöhe die einzelnen Ausbildungsformen der Querschnittlähmung stark variieren und sehr individuell sind. Eine grobe Einteilung und Klassifizierung lässt sich anhand der folgenden Graphik ablesen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass bei einer inkompletten Querschnittlähmung die motorischen und sensorischen Funktionen in unterschiedlicher Ausprägung vorhanden sein können und diese Formen der Querschnittlähmung nur individuell am Einzelfall beschreibbar sind.

Graphik Querschnittlähmung (eigene Abbildung)

Die Halsmarkschädigung (C1-C4) ist durch eine komplette Lähmung des Zwerchfells gekennzeichnet und macht eine Beatmung unabdingbar. Schädigungen des unteren Halsmarks (C4-C8) erlauben eine eingeschränkte, jedoch eigenständige Atmung. Je tiefer die Lähmungshöhe, umso größer sind die Überlebenschancen und die Möglichkeit auf ein eigenständiges Leben. Ab einer Läsionshöhe unterhalb von C5 ist es beispielsweise möglich, die Schultern zu heben und den Arm im Ellenbogengelenk zu beugen. Bei der Brustmarkschädigung ist im Bereich von Th1 bis Th5 die Atmung zum Teil eingeschränkt, wobei die oberen Extremitäten eine vollständige Funktionsfähigkeit aufweisen. Die gesamte Rumpf- und Bauchmuskulatur sowie die Beine sind von der Lähmung betroffen. Schädigungen im Bereich des mittleren bis unteren Brustmarks (Th6 bis Th12) weisen unterschiedlich erhaltene Funktionen im Bereich der Rumpf- und Bauchmuskulatur auf und somit auch Unterschiede in der Sitzbalance und Sitzstabilität. Bei der Schädigung des Lumbalmarks ist vereinzelt und je nach Läsionshöhe (L5) eine Gehfähigkeit möglich. Bei einer Lähmung des Sakralmarks sind insbesondere die Blase, der Mastdarm und die Genitalorgane von der Lähmung betroffen (vgl. Gerner 1992, S. 6 f.).

Die Ausprägung einer Querschnittlähmung ist dynamisch zu verstehen. Nach der Rückenmarksverletzung kommt es zu einem spinalen Schock, der wenige Tage bis zu acht Wochen anhält. In dieser Zeit kommt es zu einem Komplettausfall der motorischen, sensiblen und vegetativen Funktionen unterhalb der Schädigungsstelle. Die Folgen sind eine schlaffe Lähmung der Muskulatur, der Verlust aller Reflexe, der Verlust der Wärmeregulation, Kreislaufstörungen und eine stark verminderte Blasen- und Darmtätigkeit (vgl. Kampmeier 2006, S. 205). Im Verlauf der Rehabilitationsphase ist es insbesondere bei der inkompletten Querschnittlähmung möglich, dass einzelne sensorische und motorische Funktionen in Abhängigkeit der Form der Schädigung des Rückenmarks sowie der betroffenen Nerven zurückkehren. Die Regeneration des Rückenmarks kann bis zu zehn Monate nach dem Bruch der Wirbel und der Verletzung des Rückenmarks erfolgen und viele Menschen mit Querschnittlähmung erhalten einen Teil der Funktionen unterhalb der Wirbelschädigung zurück. Pro Jahr werden circa 1.000 Menschen von einer Querschnittlähmung in Deutschland betroffen. Davon sind circa 70% Männer, 26% Frauen und 4% Kinder bis 16 Jahre. Circa 65% der Wirbelsäulenverletzungen haben eine Paraplegie zur Folge, 35% eine Tetraplegie (vgl. Kampmeier 2006, S. 199). Die Zahl der Menschen, die mit Spina bifida geboren werden, geht seit Jahren aufgrund der verbesserten Pränataldiagnostik sowie der Vorsorge mit Folsäure vor und während der Schwangerschaft zurück (vgl. Stein/Ermert 2016).

Laut einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes waren am 31.12.2013 17.031 Menschen von einer Querschnittlähmung betroffen, dies entspricht einem Prozentsatz von 0,2% im Gesamtdurchschnitt der so genannten »Schwerbehinderten Menschen« (vgl. Statistisches Bundesamt 2014, S. 10).

»Der Körper steht auf Grund unseres Leibseins alternativlos im Mittelpunkt unseres Weltkontaktes. Menschliche Entwicklung wie auch menschliches Leben und Lernen sind ohne ihn nicht zu denken« (Fischer 2007, S. 275).

Mit der Erkenntnis, dass der Körper nicht mehr »funktioniert« wie er sollte und eventuell nicht mehr aussieht wie er sollte, geht ein individueller Veränderungsprozess einher.

»But disease itself is a loss of predictability, and it causes further losses: incontinence, shortness of breath or memory, tremors and seizures, and all the other ›failures’ of the sick body. Some ill people adapt to these contingencies easily; others experience a crisis of control. Illness is about to live with lost control« (vgl. Frank 1995, S. 30).

Menschen mit Querschnittlähmung entwickeln individuelle Bewältigungsstrategien, um mit diesen Veränderungen umzugehen. Dieser Prozess wird dabei von einem Team aus Fachkräften begleitet. Diese Begleitung ist nicht nur bei einer erworbenen Querschnittlähmung wichtig, sondern auch von Geburt an bei Menschen mit Spina bifida. »Es ist a priori unnütz, eine Reflexion über die Entwicklung der Identität anzustellen, ohne diese an Strukturen und Funktionen des lebendigen Körpers zu binden« (Praschak 2011, S. 192). Die Körperwahrnehmung und die leibliche Entwicklung gehören auch bei Kindern zur Entwicklungsförderung und sind für die Stärkung des Selbstbildes unabdingbar.

 

In Deutschland gibt es zahlreiche Kliniken, die auf die Akutversorgung, Rehabilitation und lebenslange Nachsorge der Menschen mit Querschnittlähmung und anderen Rückenmarksschädigungen spezialisiert sind. Diese werden zusammenfassend als Querschnittzentren bezeichnet. Insbesondere für Menschen mit plötzlich erworbener Querschnittlähmung bieten die Zentren eine erste Orientierung und Vorbereitung auf ein verändertes Leben.

Der Betroffene erlebt die Tage nach dem Unfall wie in einem Trancezustand. Alles, was ihm in der Klinik wiederfährt, alle umfangreichen medizinischen Maßnahmen, das dreistündliche Umbetten, die künstliche Ernährung, die ungewohnte Passivität, die unbekannte Umgebung, der ungewohnte Tagesablauf, das Fehlen einer Intimsphäre, das Ausgeliefertsein, das Spüren des Verlustes von Körperfunktionen, der Verlust des Gefühls für Zeit und Dauer, hervorgerufen durch die Wirkung der Medikamente und die Tag und Nacht gleichmäßig intensive Aktivität um ihn herum, die Ungeheuerlichkeit der gesamten Situation im Vergleich zum Alltag vorher verschmelzen sich zu einem tiefen Gefühl der Entfremdung, zu einer Art Unwirklichkeitserleben (Sturm 1979, S. 29).

Dies führt dazu, dass Menschen mit Querschnittlähmung mit existenziellen Ängsten konfrontiert werden, vorrangig dabei ist die Angst vor dem Tod. Die Dauerüberwachung und die Intensität von Pflege und ärztlicher Betreuung lassen sie den Ernst ihres körperlichen Zustandes erahnen. Die Querschnittlähmung wird als Angriff auf die individuelle Existenz erlebt. Dieser Angriff wird schicksalhaft erlebt und ist mit dem Tod verbunden (vgl. ebd., S. 28). Mit diesen allgemeinen Erfahrungswerten lässt sich die erste Zeit im Querschnittzentrum beschreiben. Für Menschen mit Spina bifida liegen diese Erfahrungen häufig lange zurück. Sie erleben die Phase der Ungewissheit, der Angst verbunden mit zahlreichen Operationen meist in der frühen Kindheit.

Über diese medizinische Erstversorgung und pflegerische Leistungen hinaus übernehmen die Querschnittzentren zahlreiche weitere Aufgaben. Dazu gehören eine psychologische Betreuung, die physische Rehabilitation, die Ermöglichung eines weitestgehend selbstständigen Lebens, sozialarbeiterische Unterstützung bei der Wohnungssuche und der Eingliederung in den Arbeitsmarkt und eine lebenslange medizinische Nachsorge. Dies ist Teil der Eingliederung von Menschen mit Behinderung in das gesellschaftliche Leben und ist Bestandteil staatlicher Sozialpolitik, die im sozialen Sicherungssystem verankert ist. Dieses unterliegt dem Fürsorgeprinzip und hat sich als eigenständiges Politikfeld im Rahmen der Behindertenpolitik entwickelt. Die Inhalte dieses Feldes werden unter dem Begriff der Rehabilitation subsumiert und umfassen alle Leistungen des Sozialgesetzbuch SGB IX zur Eingliederung und Teilhabe von Menschen mit Behinderung oder von Menschen, die von Behinderung bedroht sind, im Bereich des Arbeitslebens und in der Gesellschaft (vgl. Wansing 2006, S. 112). Die Selbstständigkeitserhaltung von Menschen mit Querschnittlähmung ist das Hauptziel der Rehabilitation. Dafür wird unter anderem Unterstützung bei der Beantragung einer persönlichen Assistenz und bei der Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt geboten, die sich bis hin zu einer Kooperation mit Fahrschulen, die eine Erlangung einer Fahrerlaubnis mit einem entsprechend umgerüsteten PKW ermöglichen, erstreckt.

»Die Zielsetzungen und die Aufgaben der Rehabilitation orientieren sich nicht länger an einem paternalistischen Modell, wonach der Mangel an Partizipation durch ein Hilfesystem kompensiert wird. Vielmehr sollen barrierefreie Infrastrukturen geschaffen und die Unterstützung individueller Ressourcen und Handlungskompetenzen gewährleistet werden« (Krope/Latus/Wolze 2009, S. 11).

Menschen mit Querschnittlähmung verbringen während ihrer Erstrehabilitationen mehrere Monate bis hin zu einem Zeitraum von über einem Jahr in den Rehabilitationszentren und dieser Ort wird in einer wichtigen Phase ihres Lebens zu einer Art Heimat. Dementsprechend fallen die Empfindungen häufig ambivalent aus gegenüber ihrer Entlassung und einem Leben in einer häufig ungewissen Zukunft, mit einer neuen Wohnumgebung und einer anderen Lebenssituation als vor der Querschnittlähmung.

»Jack’s1 quote again reinforces the safety, security and sense of belonging that the participants felt during their stay in the QENSIUS. While the participants were pleased to return home to their loved ones, they seemed to feel that they were sacrificing their care and amity in doing so – they were now entirely »on their own«. There is no doubt that this loss appeared to make adjustment to Spinal Cord Injury post-hospital discharge more difficult« (Dickson/Ward/O’Brian 2011, S. 467).

Diese Übergänge zu gestalten stellt für die meisten Menschen mit Querschnittlähmung eine große Herausforderung dar, nicht zuletzt, da sich durch die Querschnittlähmung häufig die Lebenswelt verändert.

»Die Lebenswelt ist die alltägliche Wirklichkeit, in der der Mensch lebt und in der er handelt. Sie umfasst Natur-, Sozial- und Kulturwelt. Die alltägliche Lebenswelt ist intersubjektiv und damit sozial« (Hedderich 2003, S. 50).

Durch ihre Intersubjektivität ist die Lebenswelt immer in Abhängigkeit mit dem bestehenden sozialen Umfeld zu betrachten, in dem sich die Person bewegt. Menschen, die in ihrem Lebensverlauf eine Querschnittlähmung erwerben, bewegen sich bereits vor dieser in ihrem individuellen Lebensumfeld. Wie sich ihre Lebenswelt nach der erworbenen Beeinträchtigung verändert, ist auch von diesem Lebensumfeld abhängig. Die Lebensweltorientierung geht von einem Spannungsfeld von Grundbedürfnissen und gegebenen Verhältnissen aus, die häufig ambivalent erscheinen. In diesem Spannungsverhältnis entwickeln die Menschen Bewältigungsstrategien, um mit den vielfältigen Aufgaben und lebensweltlichen Verhältnissen zurecht zu kommen (vgl. Thiersch 2005, S. 66 f.). Dazu entwickeln sie vielfältige Strategien, um sich an dieses Lebensumfeld mit ihrer Beeinträchtigung anzupassen und in die zuvor gemeinsam geteilte Lebenswelt wieder »hineinzupassen«. »In dem Wissen, dass die Normalitätskategorie ›nichtbehindert‹ unerreichbar ist, wird in andere Kategorien wie Arbeit, Sport, Sexualität umso mehr Potenzial investiert« (Lüke 2006, S. 134). Ob die Anpassung an die Lebenswelt durch diese Strategien gelingt, ist individuell und abhängig von diversen anderen Faktoren des sozialen Umfelds, wie die allgemein geteilte Einstellung gegenüber Menschen mit Beeinträchtigung. Dabei ist die eigene Selbstwahrnehmung in der Interaktion mit anderen ein nicht zu unterschätzender Faktor, wie in der Studie von Dickson, Ward und O’Brian deutlich wird.

»Despite the commonality of such accounts, one participant (Jack) did acknowledge that he could have been overly sensitive to other people’s reactions to his SCI. The following account highlights a potential discrepancy between his interpretation of other people’s reactions and their actual reactions and implies that it is Jack’s own self-consciousness that may shape his interpretation of other people’s reactions: ›We’d go into a restaurant but I felt really out of place, I was in a wheelchair. You felt really out of place and you felt folk were looking at you, terrible. But I mean when I’d been out before and seen somebody in a wheelchair … just a fleeting glance and no more and you’ll think about it when you’re in a wheelchair and you think everybody’s actually staring at you‹« (Dickson/Ward/O’Brian 2011, S. 470 f.).

Daran anschließend ist das Thema der Abgrenzung von anderen Menschen mit Beeinträchtigung für viele Menschen mit Querschnittlähmung sehr präsent. Claudia Bruner beschreibt in ihrer wissenschaftlichen Studie zum Thema Dekonstruktion von Körper und Behinderung, wie sie selbst als Mensch mit Beeinträchtigung in bestimmten Situationen befangen auf die Präsenz von geistig- oder mehrfachbehinderten Menschen reagiert. Dieser von ihr als Abwehrimpuls bezeichnete Vorgang resultiert aus der Vorstellung von Außenstehenden in dieselbe Schublade gesteckt zu werden wie Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung und somit einer Wahrnehmung ausgesetzt zu sein, die zwischen körperlichen und anderen Behinderungen nicht oder nicht hinreichend genug differenziert (vgl. Bruner 2005, S. 14). Dickson, Ward und O’Brien kommen in ihrer qualitativen Studie zu ähnlichen Forschungsergebnissen.

»They also reported a wider assumption that if a person appeared physically impaired, then they were also mentally impaired – one participant claiming (Todd) ›if their body’s broken then their brain’s broken‹. Consequently, participants reported a feeling of being invisible – people would talk to whoever accompanied them in their wheelchair as opposed to them directly: ›You get angry, you know, and go »Why do they act the way they act?« It’s just condescending you, patronising. They’re not even talking down to you, they’re talking over you. (…) Just talking over the top of you all the time, you know. You’re not existing‹ (Ian)« (Dickson/Ward/O’Brian 2011, S. 470).

Dieser Aspekt verdeutlicht die Anstrengungen, die insbesondere Menschen mit einer erworbenen Beeinträchtigung auf sich nehmen, um sich ihrem sozialen Umfeld und ihrer Lebenswelt (wieder) anzupassen. Dabei sind die Normalitätsstrukturen deutlich, denen die Betroffenen entsprechen möchten, eine Stigmatisierung mit der Kategorie »Mensch mit Behinderung« soll unter allen Umständen vermieden werden. Menschen mit Spina bifida hingegen haben von Beginn an durch den Besuch einer Sonderschule, spezieller Freizeit- und Sportvereine, durch lange Krankenhausaufenthalte eine gesellschaftliche Sonderrolle, die dann zu einer Lebenswelt innerhalb der Community von Menschen mit Beeinträchtigung führt, wie die biografisch geführte Studie von Radke (2009) zeigt.

 

Im deutschen sozialwissenschaftlichen Diskurs zur sozialen Exklusion wird der Faktor Behinderung wenig beachtet, was in Anbetracht des vergleichsweise hohen Anteils an Menschen mit (Schwer-)Behinderung, von fast zehn Prozent, an der Gesamtbevölkerung überrascht (vgl. Wansing 2006, S. 78). Dabei ist die Rolle von Menschen mit Beeinträchtigung in der Gesellschaft gekennzeichnet durch »einen elementaren Widerspruch zwischen offizieller Entlastung für ihre Abweichung von der Norm einerseits und tatsächlicher Diskriminierung mit Zuweisung einer besonderen, abweichenden Rolle andererseits« (Cloerkes 2007, S. 166). Neben diesen Stigmatisierungsmechanismen einerseits werden andererseits ebenso häufig eigene Erfahrungen der Ausgrenzung und Isolierung auf Menschen mit Beeinträchtigung projiziert. Dies erklärt die Schuldgefühle, die Menschen ohne Beeinträchtigung gegenüber Menschen mit Beeinträchtigung entwickeln, und die zu einer Reaktionsbildung in Form von Überfürsorglichkeit führen können (vgl. Lenzen 2005, S. 1395). Diese diversen Formen des gesellschaftlichen Umgangs mit Menschen mit Beeinträchtigung, die häufig unbewusst und nicht intendiert erfolgen, prägen die Exklusionserfahrungen von Menschen mit Beeinträchtigung.

»Sequenzen von bereits eingenommenen Positionen in der Vergangenheit (…) werden als Prognose für Erfolg oder Misserfolg, d. h. für Relevanz oder Irrelevanz der Person, in die Entscheidungszukunft verlängert. Weil es keine Parallelisierung zwischen Differenzierungsformen und Inklusionsformen mehr gibt, mit der soziale Zugehörigkeiten und daran gebundene Möglichkeiten festgelegt sind, orientiert sich Inklusion an der personalen Vergangenheit, der Biografie als Inklusions- und Exklusionsgeschichte« (Bommes/Scherr 2000, S. 129).

Für die soziale Ausgrenzung in der Lebenslaufdimension bedeutet dies, dass Personen nicht nur aufgrund der aktuellen Lebenssituation ausgeschlossen werden, sondern auch aufgrund ihrer Zukunftsprognose. Ihre personale Vergangenheit und die Form der Adressierung in gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen sind Faktoren für den Verlauf der Karriere und für die aktuelle und zukünftige Position der Menschen mit Beeinträchtigung (vgl. Wansing 2006, S. 68). Diese Position umfasst alle Lebensbereiche wie die berufliche Zukunft oder das Eingehen einer Partnerschaft.

Bei der Analyse des Entstehens von Behinderungen sollten die Entwicklung, die individuellen Besonderheiten, Eigenschaften, Fähigkeiten, Bedürfnis- und Interessenslagen, die Ausprägung von Gefühlen und Strebungen und das Selbstwertgefühl des Menschen in die Betrachtung mit einbezogen werden. Damit werden die persönlichkeitspsychologischen Aspekte von Behinderung deutlich. Die Tätigkeiten der Menschen mit Querschnittlähmung in ihren Lebensfeldern, des Arbeitens und Lernens, der sozialen Beziehungen, Interessen, Gestaltung der Freizeitführung des alltäglichen Lebens und Lebensplanung bieten eine Grundlage für die Reflexion über Behinderung. Die subjektiven Begriffe der Menschen werden sichtbar, wie die Frage: Fühlen sie sich selbst behindert? (vgl. Suhrweier 1997, S. 212). Menschen mit Beeinträchtigung sind sich ihrer Leistungen bewusst, ihnen fehlt es jedoch an Verständnis und Anerkennung aus der Umwelt. Sie verknüpfen sich als Person, aus ihrer Selbstsicht, mit Attributen wie Stolz, Kompetenz, persönlicher Leistung und Erfolg. Es geht darum, die subjektive Seite des alltäglichen Erfolges für das Umfeld sichtbar zu machen (vgl. Kulmer 2000, S. 374). Dabei ist es für Menschen mit Querschnittlähmung von besonderer Bedeutung, die Stigmatisierung aufgrund ihrer Beeinträchtigung zu überwinden und als gleichwertig, kompetente Person anerkannt zu werden. Dabei wird als entscheidender Faktor deutlich, dass der Umgang mit der Querschnittlähmung sehr individuell ist und von allen Autoren die Querschnittlähmung in ihrer Bedeutung für den Lebensverlauf stark divergiert.

Jeder von ihnen ist dabei Experte für sein eigenes Leben. Experte zu sein beschreibt die spezifische Rolle einer Person als Quelle von Spezialwissen über die zu erforschenden sozialen Sachverhalte (vgl. Gläser & Laudel 2009, S. 12). Gerade in der Forschung und in der Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigungen ging es bisher meist eher um die Integration, als um die Inklusion, dass Menschen mit Beeinträchtigungen die wahren Experten in Bezug auf ihre Beeinträchtigung und ihr Leben sind, wird oft nicht wahrgenommen (vgl. PH-Heidelberg 2017). Der Begriff »Experten in eigener Sache« umfasst in seiner sozialwissenschaftlichen Dimension alle Bereiche des Lebens von Menschen mit Beeinträchtigung. Dazu gehört die eigene Lebenswelt selbstbestimmt zu gestalten, genauso wie politisch und gesellschaftlich eingebunden zu sein, in Bezug auf die Belange von Menschen mit Beeinträchtigung (vgl. Lormis 2016).

Seit vielen Jahren wird dieser Expertenstatus durch die Disability Studies manifestiert. Gegen die vorherrschende Betrachtungsweise von Behinderung richten sich insbesondere die Strömungen der Disability Studies, bei denen Wissenschaftler, die selbst mit einer Beeinträchtigung leben, den Diskurs über diesen Gegenstandsbereich maßgeblich bestimmen. Dabei ist aus einer interdisziplinär kritischen Sicht von Behinderung zu untersuchen, wie Lebenswelten von Männern und Frauen mit Beeinträchtigung erforscht und dargestellt werden können. Es ist zu betrachten, ob es Widerstand von den Betroffenen gegen die »Behindertenrolle« gegeben hat und wie sie diesen umsetzen (vgl. Schönwiese 2005, S. 54). Es wird mit dieser Forschung ein Weg bestritten, der eine stärkere Einbeziehung von Menschen mit Beeinträchtigung und deren Perspektive in die Forschung fordert (vgl. Flieger 2003). Dieser Forderung schließt sich auch eine kultursoziologische Betrachtungsweise des Gegenstandsbereichs der Behinderung an. »Vorzugsweise Anwendungswissenschaften wie Medizin, Psychologie und Heil- und Sonderpädagogik haben sich bislang – und zwar vor allem im deutschsprachigen Raum – für das Phänomen der Behinderung und die Lebenssituation behinderter Menschen interessiert« (Waldschmidt 2005, S. 9). Es geht dabei auch um eine Implementierung des Forschungsgegenstands in weitere Fachdisziplinen und eine breitere wissenschaftliche Aufstellung des Gegenstands in anderen Forschungsfeldern. In diesen Sinngebungsprozess sind aus heutiger Sicht die wissenschaftlichen Expertisen von Menschen mit Beeinträchtigung unverzichtbar mitzudenken.

»Die Berücksichtigung der Perspektive Betroffener, ihrer Erfahrungen, ihres Wissens, ihrer Befürchtungen und Kritik, die Anerkennung der divergenten Perspektiven der Individuen sowie die Bemühungen um Verständigung – dies wären wichtige Schritte in Richtung eines kulturellen Wandels, die einer der wichtigsten und grundlegendsten Forderungen der Behindertenbewegung nachkämen: ›Nichts über uns ohne uns‹« (Dederich 2007, S. 194).

Diese Einblicke in die Lebenswirklichkeit von Menschen mit Querschnittlähmung führen dazu, dass Wissenschaftler und Fachkräfte unterschiedlicher Fachrichtungen in ihren Sichtweisen und Einschätzungen bezüglich des Lebens mit einer körperlichen Beeinträchtigung vor neue Herausforderungen gestellt werden und die emanzipatorischen Bestrebungen nicht ignorieren können. Die partizipative Sozialforschung erkennt Menschen mit Querschnittlähmung als Experten für ihr eigenes Leben an und nutzt diese Perspektive, um eine gemeinsame Forschung auf Augenhöhe von Menschen mit und ohne Beeinträchtigung zu realisieren.

 

Literatur

Bedbrook, G. (1981): The Care and Management of Spinal Cord Injuries. New York: Springer Verlag.

Bommes, M/Scherr, A. (2002): Soziologie der Sozialen Arbeit. Weinheim: Beltz Juventa.

Bruner, C. (2005): Körperspuren: Zur Dekonstruktion von Körper und Behinderung in biografischen Erzählungen von Frauen. Bielefeld: transcript.

Dederich, M. (2007): Körper, Kultur und Behinderung: Eine Einführung in die Disability Studies. Bielefeld: transcript.

Dickson, A./Ward, R./O’Brien, G. (2011): Difficulties adjusting to post-discharge life following a spinal cord injury: An interpretative phenomenological analysis. Psychology, Health & Medicine, 16, S. 463–474.

Cloerkes, G. (2007): Soziologie der Behinderten: Eine Einführung. Heidelberg: Winter.

Fischer, D. (2007): Zukunftsperspektiven einer Körperbehinderten-Pädagogik. In Wieczorek, M./Haupt, U. (Hrsg.): Brennpunkte der Körperbehindertenpädagogik (S. 258–290). Stuttgart: Kohlhammer.

Flieger, P. (2003): Partizipative Forschungsmethoden und ihre konkrete Umsetzung. In: Hermes, G./Köbsell, S. (Hrsg.): Disability Studies in Deutschland: Behinderung neu denken (S. 200–204). Kassel: Dokumentation der Sommeruni.

Frank, A. (1995): The Wounded Storyteller: Body, Illness, and Ethics. Chicago: The University of Chicago Press.

Gläser, J./Laudel, G. (2009): Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse. Wiesbaden: VS Verlag.

Gerner, H.-J. (1992): Die Querschnittlähmung: Erstversorgung – Behandlungsstrategie – Rehabilitation. Berlin: Blackwell Wissenschaft.

Hedderich, I. (2003): Lebensweltstrukturen – Einführende Gedanken. In: Hedderich, I./Loer, H. (Hrsg.): Körperbehinderte Menschen im Alter: Lebenswelt und Lebensweg (S. 49–54). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Kaltenborn, K.-F. (2007): Querschnittslähmung. In: Schnoor, H.: Leben mit Behinderungen: Eine Einführung in die Rehabilitagtionspädagogik anhand von Fallbeispielen (S. 209–230). Stuttgart: Kohlhammer.

Kampmeier, A. (2006): Querschnittlähmung – Ursachen, Folgen, Rehabilitation. In: Kallenbach, K. (Hrsg.): Körperbehinderungen: Schädigungsaspekte, psychosoziale Auswirkungen und pädagogisch-rehabilitative Maßnahmen (S. 197–218). Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.

Krope, P./Latus, K./Wolze, W. (2009): Teilhabe im Dialog: Eine methodisch-konstruktive Studie zu den Lebenslagen von Menschen mit Behinderung. Münster: Waxmann.

Kulmer, U. (2000): Erfolgskonstruktionen – Strategie – Interviews mit körperbehinderten Frauen. Münster: LIT Verlag.

Lenzen, D. (2005): Pädagogische Grundbegriffe: Band 2. Reinbek: Rowohlt.

Lormis, N. (2016): https://www.rehacare.de/cgi-bin/md_rehacare/lib/pub/tt.cgi/Menschen_mit_Behinderung_in_ihrer_Kompetenz_wahrnehmen.html?oid=44900&lang=1&ticket=g_u_e_s_t. entnommen am: 03.09.2017

Lüke, K. (2006): Von der Attraktivität »normal« zu sein. In: Hermes, G./ Rohrmann, E. (Hrsg.): Nichts über uns – ohne uns! Disability Studies als neuer Ansatz emanzipatorischer und interdisziplinärer Forschung über Behinderung (S. 128–139). Neu-Ulm: AG SPAK.

PH-Heidelberg (2017): https://www.ph-heidelberg.de/presse-und-kommunikation/pressemitteilungen/pressemitteilungen/artikel/experten-in-eigener-sache.html. entnommen am: 26.04.2017

Praschak, W. (2011): Die Entwicklung der Körperidentität. In: Dederich, M./Jantzen, W./Walthes, R. (Hrsg.): Sinne, Körper und Bewegung. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik (S. 192–196). Stuttgart: Kohlhammer.

Radke, R. (2009): Lebensbilder von Menschen mit Spina bifida/ offener Rücken. Hamburg: Dr. Kovac.

Schade, J. (1994): Einführung in die Neurologie: Grundlagen und Klinik. Stuttgart: Gustav Fischer.

Schönwiese, V. (2005). Disablility Studies und die Frage nach der Produktion von Behinderung. In Geiling, U./ Hinz, A. (Hrsg.): Integrationspädagogik im Diskurs. Auf dem Weg zu einer inklusiven Pädagogik? (S. 53–70). Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.

Statistisches Bundesamt (2014): Statistik der schwerbehinderten Menschen 2013. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt.

Suhrweier, H. (1997): Behindertenpsychologie: Aus der Sicht Betroffener. Neuwied: Luchterhand.

Stein, R./Ermert, A. (2016): Spina bifida: Harnwege-Darm-Sexualität-Lexikon von A–Z. Dortmund: ASBH-Stiftung.

Sturm, E. (1979): Rehabilitation von Querschnittgelähmten: Eine medizin-psychologische Studie. Bern: Hans Huber.

Thiersch, H. (2005): Lebenswelt, Biographie und Behinderung. In: Jerg, J./Armbruster, J./Walter, A. (Hrsg.): Selbstbestimmung, Assistenz und Teilhabe: Beiträge zu ethischen, politischen und pädagogischen Orientierung in der Behindertenhilfe (S. 51–71). Stuttgart: Verlag Evangelische Gesellschaft.

Waldschmidt, A. (2005): Disability Studies: Individuelles, soziales und/oder kulturelles Modell von Behinderung? In: Dannenbeck, C./Bruner, C. (Hrsg.): Psychologie und Gesellschaftskritik: Disability Studies (S. 9–32). Gießen: Psychosozial-Verlag.

Wansing, G. (2006): Teilhabe an der Gesellschaft: Menschen mit Behinderung zwischen Inklusion und Exklusion. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

1     Zusammenfassung diverser Leitfadengestützter Interviews einer kanadischen Studie zum Thema »Widereingliederung in das soziale Umfeld nach einer erworbenen Querschnittlähmung«.

 

 

 

 

Die Methode des Storytellings in der partizipativen Sozialforschung

Jessica Lilli Köpcke

Gefesselt

Gefesselt am eisernen Stuhl

Überfällt mich an dunklen Tagen ein kaltes Gefühl.

Überwältigt von Erinnerungen an vergangene Zeiten

Als ich noch laufen konnte und auf Pferden reiten.

 

Die Sehnsucht nach stundenlangem Wandern

Über riesige Steine springen von einem zum anderen

Als ich in Seen und Flüsse sprang

Und unter Wasser die Schwerelosigkeit als absolute Freiheit empfand.

Den ganzen Tag Ski fahren im Winter

Am besten Schuss und dann manchmal hin fallen auf den Hintern.

Im Frühling auf Bäume klettern und dort oben verweilen

Die Landschaften betrachten über weite Meilen.

 

Der Sommer ausgefüllt von Fahrrad fahren und paddeln.

Im Freibad baden und ab und zu auf einem Pferd aufsatteln.

Der bunte Herbst erinnert einen ans Leben

Wie farbentrachte Blätter fallen lassen und nach Neuem streben.

 

– Dirk Michelus –

Liest man dieses Gedicht von Dirk Michelus, dann wird einem schnell klar, was die Kernaussage der partizipativen Forschung bedeutet. »Nicht Forschung über Menschen und auch nicht für Menschen, sondern Forschung mit Menschen« (Bergold/Thomas 2010, S. 133). Man bedenke, wie aufwendig ein Forschungsdesign aussehen müsste, um diesen Erkenntnisgewinn zu erzielen. Der Autor, der selbst seit einem Badeunfall mit einer Tetraplegie lebt, beschreibt darin sehr eindrücklich seine Gefühlswelt und gibt uns damit einen tiefen, unverfälschten Einblick. Das ist die Stärke und Qualität der partizipativen Sozialforschung.

Die Ansätze sind sehr unterschiedlich, die Gemeinsamkeit liegt in dem Aufbrechen von traditioneller Forschungsdichotomie und -hierarchie (vgl. Hedderich/Egloff/Zahnd 2015, S. 9). Über das Leben mit Beeinträchtigung herrscht auch heute noch ein defizit-orientiertes Bild im wissenschaftlichen Diskurs. »Das Vorstellungsbild eines defizitären und tief beschädigten Lebens« (Herringer 2014, S. 66). Durch eine Abkehr von diesem Blickwinkel schaffen wir es, Ressourcen zu sehen, Stärken wahrzunehmen und den Menschen in seiner ganzheitlichen Sichtweise zu betrachten (vgl. ebd.). Partizipative Forschung ist ein Oberbegriff für Forschungsansätze, die soziale Wirklichkeit partnerschaftlich erforschen und beeinflussen. Ziel ist es, soziale Wirklichkeit zu verstehen und zu verändern. Diese doppelte Zielsetzung, die Beteiligung von Menschen mit Beeinträchtigung als Co-Forscher/innen sowie Maßnahmen zur individuellen und kollektiven Selbstbefähigung und Ermächtigung der Partner im Sinne des Empowerment, zeichnet partizipative Forschungsansätze aus (vgl. von Unger 2014, S. 1). Ein weiteres grundlegendes Anliegen der partizipativen Forschung ist es, durch Teilhabe an Forschung mehr gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Es handelt sich also um ein klar wertebasiertes Vorhaben: Soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte, die Förderung von Demokratie und andere Wertorientierungen sind zentrale Anliegen (vgl. ebd.). Menschen mit einer Behinderung sollen die Möglichkeit erhalten und auch dazu befähigt werden, aktiv am öffentlichen Leben teilnehmen zu können, was eine Mitgestaltung beinhaltet (vgl. Thesing/Vogt, 2013, S. 157). Daraus resultieren die gleichen Rechte aber auch Pflichten, wie sie jeder in einem gesellschaftlichen Zusammenleben hat (vgl. Raichle, 2005, S. 127, zit. nach John/Jung/Lühr, 2012, S. 67). Es ist auf den Unterschied zwischen dem Begriff der »Teilnahme« und der »Teilhabe« zu achten, denn nicht immer sind diese beiden Begriffe gleichzusetzen, da eine »Teilnahme« häufig keine Möglichkeit zur Mitgestaltung beinhaltet (vgl. Wehr, 2011, S. 6, zit. nach John/Jung/Lühr, 2012, S. 67). Das Ziel der partizipativen Forschung ist es, soziale Wirklichkeit partnerschaftlich zu erschließen. Der gemeinsame Prozess bezieht sich auf das Verstehen und Verändern sozialer Wirklichkeit. Die politische Dimension liegt in der Motivation, einer gesellschaftlich marginalisierten Gruppe eine Stimme zu geben.

 

Partizipation und wissenschaftliche Forschungsmethoden scheinen einander zu widersprechen. Das Ideal einer Forschung, so wie sie im Rahmen der Naturwissenschaften entwickelt wurde, drückt sich in den sogenannten »Qualitätskriterien« von Objektivität, Reliabilität und Validität aus. Das heißt, die Ergebnisse sollen vom Forschenden unabhängig, wiederholbar und wahr sein, im besten Fall sind sie allgemeine Gesetze, die quasi immer gültig sind. Erkenntnissubjekt bei wissenschaftlicher Forschung sind die Forschenden. Auch in sozialwissenschaftlichen Untersuchungen sind die untersuchten Menschen »Forschungsobjekt« (vgl. Bergold 2013). Die partizipative Forschung hingegen versucht alle Menschen in den Forschungsprozess mit einzubeziehen, die von dem jeweiligen Thema und der Fragestellung betroffen sind. Mit diesem Forschungsansatz wird eine Nähe zum akademischen Wissenschaftsbetrieb hergestellt, der sich den Anliegen der Disability Studies verwandt fühlt und den Beforschten zu einer Stimme verhelfen will (vgl. Graf 2015, S. 32).

Das vorliegende Forschungsvorhaben schließt sich einer Sichtweise der partizipativen Forschung an, die das Ziel hat, die Sicht der beteiligten Menschen offen zu legen, ihnen eine Stimme zu geben, sodass ihre Interessen, Wünsche und auch Probleme öffentlich werden und in gemeinsames politisches Handeln einfließen können (vgl. Bergold 2013). Im sozialen Miteinander auf Partizipation zu setzen bedeutet anzuerkennen, dass alle Teilnehmenden ihre jeweils eigene Perspektive und Sichtweise haben und dass jede dieser Perspektiven ihre Berechtigung hat; es bedarf also einer gemeinsamen Aushandlung. Bei der Partizipation in Bezug auf Forschung, ändert sich die Situation grundlegend. Es gibt kein privilegiertes Erkenntnissubjekt mehr, sondern alle Beteiligten gewinnen im Forschungsprozess Erkenntnisse. Es gibt in diesem Prozess wissenschaftliche Experten, die über methodisches Wissen verfügen, ihnen stehen aber Experten der Lebenswelt gleichwertig gegenüber (vgl. ebd.).

Daraus ergibt sich die Nähe zwischen Subjekt und Objekt der Forschung, wie sie Graf (2015) beschreibt.

»Partizipative Forschung ist eine Praxis der Forschung, die anders vorgeht. Sie geht davon aus, dass sie die Trennung zwischen ForscherIn und Forschungsgegenstand nicht im strikten Sinne vornehmen kann, weil der Forschungsgegenstand selbst auch ForscherIn ist« (Graf 2015, S. 33).

Häufig wird wie bei Graf (2015) dargestellt dafür ein Zugang gewählt, in dem Interviews mit Menschen mit Beeinträchtigung geführt werden und diese Aussagen dann als Statements in den Forschungsprozess mit einbezogen werden. Durch die Verwendung der Methode des Storytellings ist es möglich, die ForscherInnen mit Beeinträchtigung unmittelbar zu Autoren werden zu lassen, ohne dass diese das wissenschaftliche Schreiben beherrschen müssen. Dadurch wird eine Authentizität erlangt, die bei ausgewählten Ausschnitten aus Interviews dem wissenschaftlichen und kritischen Blick des Wissenschaftlers ausgesetzt werden und somit eine Selektion nach Relevanz für den Diskurs aus Sicht des Wissenschaftlers stattfindet. Andererseits ist diese Beibehaltung der individuellen Tonalität der Autoren auch eine Herausforderung, da keine Vergleichbarkeit der Geschichten stattfinden kann und die Autoren einzelne Abschnitte und Themen, zu denen sie biografisch berichten wollten, unterschiedlich stark in den eigenen Lebensverlauf einbetten und somit manche Geschichten einen tieferen Einblick in die gesamte Lebensgeschichte bieten, während andere nur biografische Ausschnitte ausführlich darlegen.

 

Die präsentierten Lebensbereiche der Autoren sind autobiografisch. Noch stärker als die »Biografie« impliziert die »Autobiografie« die schriftliche Niederlegung lebensgeschichtlicher Erfahrungen. Es liegt somit entsprechend deutlicher die Intention des Subjekts zugrunde, seine Erinnerungen, d. h. die von ihm hergestellten Sinn- und Bedeutungszusammenhänge seines Lebens mit der sozialen Außenwelt zu kommunizieren (vgl. Brems 2002).

Den Autoren wurde eine kurze Handreichung gegeben, an der sie sich im Schreibprozess orientieren konnten. Die zentralen Fragen dabei lauteten:

•  Warum erzähle ich meine Story?

•  Wem erzähle ich meine Story?

•  Wie erzähle ich meine Story?

Zudem sollte sich an der klassischen Heldenreise im Storytelling nach Joseph Campbell (1949) orientiert werden.

Etappen der Heldenreise nach Joseph Campbell

•  Die gewohnte Welt des Helden

•  Der Ruf zum Abenteuer/Herausforderung

•  Verweigerung

•  Ein Mentor überredet ihn zur Reise, das Abenteuer beginnt

•  Die erste Schwelle, es gibt kein Zurück mehr

•  Die ersten Bewährungsproben, Verbündete und Feinde werden sichtbar

•  In der tiefsten Höhle trifft er auf den letzten Schwellenhüter und/oder den Gegner

•  Die letzte Prüfung

•  Der Held gewinnt den Schatz

•  Rückweg

•  Auferstehung des Helden – durch seine Erlebnisse ist er zu einer neuen Persönlichkeit gereift

•  Heimweg des Helden mit dem Elixier

Nicht alle Etappen müssen immer durchlaufen werden, diese dienen nur zur Orientierung.

Storytelling ermöglicht einen Erfahrungsabgleich, in dem uns Situationen gezeigt werden, die wir selbst schon erlebt haben und in die wir uns hineinversetzen können. Wir lernen gleichzeitig auch neue Handlungsoptionen kennen. Das Stellvertreterlernen zeigt uns Geschichten als Ersatzhandlungen und zeigt Ereignisse, die wir so noch nicht durchlebt haben und selbst nicht durchleben wollen, dies kann bis zu Todeserfahrungen gehen. Der Held der Geschichte durchläuft diese Stationen stellvertretend für uns und wir lernen durch diese Simulation. Die Kontextualisierung ermöglicht uns ein Erinnern und Verstehen. Wir durchsuchen Geschichten nach Erklärungsmustern, die es uns ermöglichen, Handlungsweisen und Erklärungsmuster zu verstehen (vgl. Sammer 2015, S. 29). Dabei ist »die subjektive Wahrnehmung von Emotionen ein entscheidender Faktor guter Geschichten« (vgl. ebd., S. 137).

Die Experten in eigener Sache brachten völlig unterschiedliche Voraussetzungen mit, manche sind Akademiker, manche schreiben auch beruflich viel und andere wurden zum ersten Mal zu Autoren eines Textes. Dies macht eine besondere Qualität der Methode des Storytellings aus, denn Vorerfahrungen sind nicht erforderlich und auch kein bestimmter akademischer oder literarischer Schreibstil. Gute Geschichten zeichnen sich durch Einfachheit aus, sie beinhalten immer wieder Überraschungsmomente (sind somit nicht linear voraussehbar), begleiten einen glaubwürdigen »Helden« (Protagonisten) und vor allem, sie berühren die Zuhörer auf die eine oder andere Art und Weise emotional, bieten somit Anknüpfungspunkte an die Lebenswelt der Leser. Dies bietet auch einen Vorteil in der Vermittlung von komplexen Sachverhalten wie individuellen Verarbeitungsprozessen einer Querschnittlähmung.

»Humans are not ideally set up to understand logic. They are ideally set up to understand stories« (Schank 1995).

Ein weiterer Zugang zu Lebenswelten ist die visualisierte Form des Storytellings. Dabei haben wir uns zu einem künstlerisch ästhetischen Zugang zu dem Thema Leben mit Querschnittlähmung entschlossen und die Fotografie als Medium der Visualisierung von Lebenswelten und Zugang zu diesen gewählt. Was macht ein starkes Bild aus? Es bietet ein Stück Enthüllung, es hat eine starke Aussagekraft und es strahlt eine individuelle Ästhetik aus. Ein Bild macht etwas begreifbar, das schwer zu zeigen ist (vgl. Anderson 2017, S. 134).

»Fotografie ist ein hervorragendes Instrument, um aufzuzeigen, dass sich Menschen mit Behinderungen nicht von denjenigen ohne Behinderungen unterscheiden: Denn wir alle haben Bedürfnisse, Emotionen Wünsche Hoffnungen und Träume [sic]« (Dammann 2015, S. 103).

Gemeinsam mit unseren Experten in eigener Sache nutzen wir die partizipative Sozialforschung, um einen Zugang zu der Lebenswelt von Menschen mit Querschnittlähmung zu schaffen und Einblicke in diese zu ermöglichen.

 

Literatur

Anderson, C. (2017): TED Talks: Die Kunst der öffentlichen Rede. Frankfurt am Main: Fischer.

Bergold, J. (2013): Partizipative Forschung und Forschungsstrategien eNewsletter Wegweiser Bürgergesellschaft 08/2013.

Bergold, J./Thomas, S. (2010): Partizipative Forschung. In: Mey, G./Mruck, K. (Hrsg.): Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie (S. 333–344). Wiesbaden: VS Verlag.

Borbonus, R. (2013): Begeistern mit Storytelling: Mehr Wirkung durch Geschichten. Wortaktiv Verlag.

Brems, J. (2002): Der autobiographische Text als Medium biographischer Lernprozesse in der Erwachsenenbildung. Eine Studie. Hamburg: Univ. Diss.

Dammann, P. (2015): Wir sind Menschen! Fotos von Menschen mit Behinderungen in der Öffentlichkeitsarbeit diverser Institutionen. In: Domening, D./Schäfer, U.: Mediale Welt inklusive! Sichtbarkeit und Teilhaben (S. 103–114). Zürich: Seismo Verlag.

Graf, E. (2015): Partizipative Forschung. In: Hedderich, I./Egloff, B./Zahnd, R. (Hrsg.): Biografie. Partizipation. Behinderung. Theoretische Grundlagen und eine partizipative Fallstudie (S. 32–42). Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.

Herringer, N. (2014): Empowerment in der Sozialen Arbeit. Stuttgart: Kohlhammer.

John, K./Jung, N./Lühr, C. (2012): Gesundheit, Behinderung und gesellschaftliche Teilhabe. In: von Saldern, M. (Hrsg.): Inklusion – Deutschland zwischen Gewohnheit und Menschenrecht (S. 53–71). Nordstedt: Books on Demand GmbH.

Sammer, P. (2015): Storytelling: Die Zukunft von PR und Marketing. Beijing: O’Reilly.

Schank, R. (1995): Tell me a story. Evanston: Northwest University Press.

Thesing, T./Vogt, M. (2013): Pädagogik und Heilerziehungspflege. Freiburg im Breisgau: Lambertus-Verlag.

von Unger, H. (2014): Partizipative Forschung. Einführung in die Forschungspraxis. Wiesbaden: VS Verlag.

Sammer, P. (2015): Storytelling: Die Zukunft von PR und Marketing. Beijing: O’Reilly.

Schank, R. (1995): Tell me a story. Evanston: Northwest University Press.

 

 

 

 

Teil II

Lebenswelten

 

 

 

 

Alltag und Lifestyle

Jessica Lilli Köpcke

Menschen mit einer Querschnittlähmung gelten gesellschaftlich betrachtet häufig als das gängige Beispiel eines Rollstuhlfahrers und Menschen mit Körperbehinderung. Diese Gruppe von Menschen mit Beeinträchtigung erfährt allgemein weniger gesellschaftliche Diskriminierung als andere, da das äußere Erscheinungsbild auf den ersten Blick weitgehend dem von Menschen ohne Beeinträchtigung entspricht, mit der Ausnahme des Rollstuhls. Dennoch werden sie der Gruppe der Menschen mit Behinderung eindeutig zugeordnet, insbesondere durch das »Erkennungsmerkmal« des Rollstuhls.

»Die Gesellschaft favorisiert ein Menschenbild, das geprägt ist von Gesundheit, Leistungsstärke, Wirtschaftskraft, Selbstständigkeit. Natürlich ist das alles wünschenswert. Es ist aber für viele Menschen mit schweren Behinderungen nicht lebbar« (Haupt 2010, S. 50).

In diesem Spannungsfeld bewegen sich Menschen mit einer Querschnittlähmung. Sie befinden sich in einer Situation, in der ihnen Normalität aberkannt wird und sie sich mit der Behinderung auseinandersetzen müssen, egal welches Erklärungsmodel und welches Konzept sie dabei für sich als sinnstiftend erachten. Die individuelle Sichtweise auf die eigene Beeinträchtigung ist dabei von der Zuschreibung von Behinderung durch gesellschaftliche und Umwelteinflüsse zu unterscheiden. Der alltägliche Begriff »Behinderung« meint verhindert zu sein etwas zu tun. Allgemein bezieht er sich auf Personen mit einer Schädigung und signalisiert, dass die betreffende Person zu einer Gruppe gehört, die aufgrund ihrer »abweichenden« körperlichen oder intellektuellen Verfassung an »normalen« Aktivitäten nicht teilnehmen kann (vgl. Thomas 2004, S. 31). In dieser Definition steht die Behinderung als körperliche Eigenschaft der Person im Vordergrund. Der Zugang zur gesellschaftlichen Teilhabe ist durch die individuellen Voraussetzungen der betroffenen Person nicht möglich. Sie ist durch das Sitzen im Rollstuhl beispielsweise nicht in der Lage, ein Theater zu besuchen, wenn es nur durch Stufen zugänglich ist. Bei diesem Betrachtungsansatz spielt die Relation von Barrieren und die individuelle Beeinträchtigung eine wichtige Rolle. Die Kritik an einem konstruktivistischen Verständnis von Behinderung lautet, dass man die Behinderung nicht dadurch ins Nichts auflösen kann, indem erklärt wird, die Barriere sei die Behinderung. Sie ist nicht vergleichbar mit einem zu hohen Treppenabsatz, sondern hat etwas mit einem selbst zu tun, sie ist ein Bestandteil des körperlichen So-Seins (vgl. Kastl 2010, S. 116). Insbesondere für Menschen, die eine Beeinträchtigung in ihrem Lebensverlauf erwerben, ist dieser Zusammenhang zunächst nicht ersichtlich und führt dazu, dass sie sich damit auseinandersetzen müssen und eigene Strategien im Umgang mit diesen unerwarteten, plötzlich eintretenden Barrieren entwickeln. Kirsten Bruhn zeigt dies anhand ihres Bildmotivs sehr eindringlich, in dem sie sich darin mit der Situation der Barrierefreiheit im Alltag auseinandersetzt.

 

Die Auseinandersetzung mit dem Alltag beginnt für Menschen mit einer erworbenen Querschnittlähmung jedoch erst nach der ersten Phase der medizinischen Versorgung und damit verbunden, verändert sich der Blick von außen auf den Körper und auf die veränderte Wahrnehmung der Identität bereits während der intensivmedizinischen Betreuung nach der traumatischen Querschnittlähmung.

»Die asymmetrische Beziehung zwischen Arzt und Patient, der objektivistische Blick auf Krankheit bei gleichzeitiger Ausblendung der Subjektivität des Patienten, die menschliches Leben als zunehmend verfügbar, und herstellbar erscheinen lassende Ausweitung technischer und intensivmedizinischer Behandlungsmöglichkeiten, aber auch Phänomene wie Spezialisierung, Institutionalisierung, Ökonomisierung und Verrechtlichung untergraben das Selbstbestimmungsrecht kranker und hilfsbedürftiger Menschen und machen diese zunehmend zu einem Objekt der Medizin« (vgl. Dederich 2011, S. 167).

Diese Wirkungsmechanismen werden in vielen Geschichten deutlich, Katrin Schreier hat sich in ihrer Erzählung auf den Bereich der Rehabilitation nach ihrer erworbenen Querschnittlähmung konzentriert. Sie beschreibt darin auch die individuelle Wahrnehmungsperspektive: Wie sieht sie sich nach der traumatischen Querschnittlähmung selbst und welche Bedeutung schreibt sie ihrer Beeinträchtigung auch im Hinblick auf die Interaktion und Wahrnehmung in ihrer Lebenswelt zu?

Die Maßnahmen und Ziele der Rehabilitation umfassen neben den rein medizinischen auch Maßnahmen zur Anpassung, beziehungsweise Integration in die Gesellschaft, zur sozialen (Wieder-)Eingliederung in durch die Beeinträchtigung verschiedenster Art und Ursache abgebrochene, gefährdete und erschwerte Sozialbeziehungen, wie zum Beispiel im Beruf, der Familie oder der Freizeit (vgl. Thimm 2006, S. 21). Daraus entsteht ein erster identitätsgebender Moment für Menschen mit einer erworbenen Querschnittlähmung, der die Etikettierung als »behindert« beinhaltet.

»Die Integration einschließlich der Rehabilitation bedingt oft zeitweise oder auch permanente Gruppenbildung von Personen mit gleichartiger Form der Behinderung« (Tembrock 1998, S. 195).

Als Beispiel seien die Querschnittzentren genannt, die Teil großer Kliniken sind und sich auf die Erstversorgung sowie die Rehabilitation und lebenslange Begleitung von Menschen mit Rückenmarksverletzungen spezialisiert haben. Hier kommen alle zusammen und erleben Menschen mit der gleichen Beeinträchtigung in unterschiedlichen Lebens- und Bewältigungsphasen. Das spezialisierte Wissen über die Beeinträchtigungsform ist hier gebündelt und ein Umgehen der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe, wenigstens für einen zeitlich abgeschlossenen Zeitraum, ist nahezu unmöglich. Menschen mit Spina bifida erleben diese Zuschreibung von Geburt an und können daraus resultierend die Beeinträchtigung schon frühzeitig als Teil ihrer Person in ihre Identität einbetten. Im Gegensatz dazu beinhaltet eine erworbene Beeinträchtigung eine plötzlich auftretende körperliche Schädigung mit der dazugehörigen Zuschreibung und Eingliederung in die Gruppe von Menschen mit Behinderung. Der daraus möglicherweise folgende Ausschluss von der sozialen und sonstigen Partizipation, die ein Mensch wünscht, ist nicht nur determiniert durch die organische Schädigung und Funktionseinschränkung. Insbesondere bei Menschen mit einer erworbenen Querschnittlähmung sind die Differenzen in der Zugänglichkeit zum sozialen Leben erheblich. Dies wird an einem Beispiel von zwei Querschnittgelähmten mit der gleichen Läsionshöhe1