Menschen und andere Tiere. Vom Wunsch, einander zu verstehen - Georg Rüschemeyer - E-Book

Menschen und andere Tiere. Vom Wunsch, einander zu verstehen E-Book

Georg Rüschemeyer

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Beschreibung

Wie weit geht das Verständnis zwischen Mensch und Tier? Der Wunsch, mit anderen Lebewesen kommunizieren zu können, ist tief in uns verwurzelt. Die Sprache der Tiere zu verstehen oder den zwei- bis vierbeinigen Freunden das Sprechen beizubringen – es gibt ganze Bücher darüber. Unzählige Geschichten erzählen vom Wunsch der Menschen, mit Tieren sprechen zu können. Wie viel Wahres steckt nun aber in solchen Geschichten? Wie unterscheidet sich überhaupt die menschliche Sprache von der Sprache der Tiere? Sind der Grizzly-Man oder Jane Goodall bloß tierverliebte Spinner? Hat es tatsächlich Wolfskinder gegeben? Solchen und noch viel mehr Fragen geht der ausgewiesene Wissenschaftsjournalist Georg Rüschemeyer nach – informativ, kompetent und kurzweilig. Ein Buch, das bewusst entzaubert und doch keine Wünsche offen lässt.

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Seitenzahl: 150

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Georg Rüschemeyer

Vom Wunsch, einander zu verstehen

Mit Bildern von Nora Coenenberg

Herausgegeben von Tilman Spreckelsen

 

 

Mit Bildern von Nora Coenenberg

 

 

Über dieses Buch

 

 

Wie weit geht das Verständnis zwischen Mensch und Tier?

 

Der Wunsch, mit anderen Lebewesen kommunizieren zu können, ist tief in uns verwurzelt. Die Sprache der Tiere zu verstehen oder den zwei- bis vierbeinigen Freunden das Sprechen beizubringen – es gibt ganze Bücher darüber. Unzählige Geschichten erzählen vom Wunsch der Menschen, mit Tieren sprechen zu können. Wie viel Wahres steckt nun aber in solchen Geschichten? Wie unterscheidet sich überhaupt die menschliche Sprache von der Sprache der Tiere? Sind der Grizzly-Man oder Jane Goodall bloß tierverliebte Spinner? Hat es tatsächlich Wolfskinder gegeben? Solchen und noch viel mehr Fragen geht der ausgewiesene Wissenschaftsjournalist Georg Rüschemeyer nach – informativ, kompetent und kurzweilig. Ein Buch, das bewusst entzaubert und doch keine Wünsche offen lässt.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

Georg Rüschemeyer, geboren 1970, wollte als Kind entweder Giraffe oder Heinz Sielmann werden. Bei Tieren ist er dann immerhin geblieben. Nach dem Abitur studierte er Biologie in Regensburg und den USA und später als Zusatzstudiengang Wissenschaftsjournalismus in Berlin. Heute schreibt er unter anderem für den Wissenschaftsteil der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« und die Magazine »mare« und »GEO«. Er lebt mit seiner Familie in den Niederlanden.

 

Nora Coenenberg, geboren 1978 in Starnberg, arbeitet seit 2008 als Illustratorin für zahlreiche große Zeitungen und als Infografikerin für den Spiegel-Verlag in Hamburg. Nach einem abgeschlossenen Wirtschaftsstudium erlangte sie 2009 an der HAW Hamburg ihr Diplom mit dem Schwerpunkt »Informative Illustration«. Im Jahr 2009 wurde sie außerdem von der »Society for News Design« für ihre Arbeiten in der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« ausgezeichnet.

Vorwort

Die Geschichte ist wirklich unglaublich: Wir schreiben das Jahr 1940, mitten im Zweiten Weltkrieg. Belgien ist von der Deutschen Wehrmacht besetzt. Die gerade mal siebenjährige Misha läuft aus dem Haus ihrer Pflegeeltern weg und macht sich ganz allein und zu Fuß in Richtung Osten auf, nur ein bisschen Proviant und einen Spielzeugkompass in der Tasche. Sie will ihre Eltern suchen, die von den deutschen Besatzern in die Ukraine verschleppt wurden. Vier Jahre dauert ihre Irrfahrt, auf der sie wie durch ein Wunder immer wieder ihren Verfolgern entkommt. Als sie in Polen in den tiefen Wald flüchtet, trifft die kleine Misha auf ein Rudel Wölfe. Anstatt das Mädchen zu fressen, nehmen die Raubtiere Misha bei sich auf, teilen ihr Futter mit ihr und wärmen sie im eiskalten Winter.

Als die inzwischen in den USA lebende Misha Defonseca 1997 ihre Memoiren mit dem Titel »Überleben mit den Wölfen« veröffentlichte, wurde das Buch zu einem Bestseller. Einige Leser fanden die Geschichte allerdings nicht unglaublich spannend, sondern unglaublich unglaublich: Sie hielten sie für frei erfunden.

Misha Defonseca, die in Wirklichkeit Monique de Wael heißt, schwor immer wieder, dass sie wirklich alles so erlebt hatte –, bis ein Journalist Anfang 2008 in einem Gemeindearchiv alte Unterlagen fand. Die Papiere bewiesen, dass die kleine Monique 1943, also mitten in der Zeit ihrer Abenteuer, brav in Brüssel zur Schule gegangen war. Kurz darauf gab de Wael schließlich zu, die Geschichte ihrer Kindheit unter Wölfen nur erfunden zu haben. Sie entschuldigte sich damit, dass sie sich ihre Phantasieerlebnisse schon als Kind so zurechtgelegt hatte und dass sie sich für sie inzwischen »wahrer« anfühlten als die Wirklichkeit.

Damals, Anfang 2008, las ich zum ersten Mal vom Fall Misha Defonseca, der gerade als Spielfilm in die Kinos gekommen war. Ich wunderte mich darüber, wie lange es gedauert hatte, bis jemand der Wahrheit auf die Spur gekommen war. Ein Kind, das unter Wölfen aufwächst – das gibt es doch wohl nur im »Dschungelbuch«, dachte ich. Oder ist an solchen Geschichten vielleicht doch mehr dran? Und wäre es überhaupt vorstellbar, dass wilde Tiere ein Menschenkind bei sich aufnehmen? Die Idee für ein Buch über Wolfskinder war geboren, und je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr grundlegende Fragen taten sich auf: Können sich Mensch und Tier gegenseitig verstehen? Wie groß ist der Unterschied in ihrer Art und Weise zu denken und zu fühlen? Sind Menschen, die davon träumen, mit Tieren zu leben, einfach nur Spinner? Und was passiert in den Köpfen von Mensch und Tier, wenn sie voneinander lernen?

Auf der Suche nach Antworten bin ich vor allem in der Verhaltensforschung und der Psychologie fündig geworden.

Die eine dieser beiden Wissenschaften beschäftigt sich mit Tieren, die andere mit Menschen. Früher hielt man das für zwei ganz unterschiedliche Forschungsgebiete, heute überschneiden sich beide mehr und mehr. Eine Prise Philosophie steckt auch im Buch, nämlich dort, wo es um die Grenzen dessen geht, was Wissenschaftler überhaupt erforschen können.

Viel Spaß!

Kapitel 1

Er wächst bei Wölfen auf, ein Bär und ein schwarzer Panther werden seine besten Freunde und machen aus dem Findelkind Mowgli schließlich einen stolzen jungen Mann. In Rudyard Kiplings »Dschungelbuch« und erst recht in der berühmten Trickfilm-Fassung von Walt Disney sind Tiere die besseren Menschen und aufopfernde Zieheltern. Die Idee für seine vor weit über hundert Jahren entstandene Geschichte aus dem indischen Urwald kam Kipling nicht von ungefähr: Damals kursierten in englischen Zeitungen und Magazinen viele Berichte über sogenannte Wolfskinder – Kinder die von Wölfen aufgezogen wurden und sich wie wilde Tiere benahmen. Was verbirgt sich hinter all diesen Geschichten, die bis heute unsere Phantasie anregen? Gab es die Wolfskinder wirklich und wenn ja, was war ihre wahre Geschichte?

Wolfskinder

Mit einem kleinen Ruck bleibt der Weidenkorb im Schlamm des Tiber stecken, auf dessen Wellen er die vergangenen Stunden dem Mittelmeer entgegengeschaukelt war. Wie durch ein Wunder (oder hatte Tiberinus, der Flussgott, seine Finger im Spiel?) sind die beiden Säuglinge in seinem Inneren noch am Leben, auch wenn sie vor Hunger und Kälte wimmern. Doch das Wunder ist noch nicht zu Ende: Gerade watet eine Wölfin durchs seichte Wasser, sie läuft direkt auf den Korb zu. Eigentlich ist sie auf der Suche nach etwas Fressbarem. Als sie die beiden Jungen in dem Korb erblickt, regt sich in ihr ein wundersames Gefühl: der Mutterinstinkt. Sie nimmt den Henkel des Korbs zwischen ihre Zähne und trägt ihn in ihre Höhle, die sie sich in die Böschung am Ufer des Flusses gegraben hat. Behutsam nimmt sie beide Kinder aus dem Korb und legt sie zwischen ihre eigenen neugeborenen Welpen. Schließlich legt sie sich selbst nieder und lässt all die hilflosen Wolfs- und Menschenbabies Milch aus ihren Zitzen trinken.

Wir schreiben das Jahr 770 vor unserer Zeitrechnung (so ungefähr zumindest) und sind gerade Zeugen der wundersamen Rettung von Romulus und Remus geworden. Die beiden sind die Kinder der Königstochter Rhea Silvia. Deren Onkel Amulius hatte Rhea Silvias Vater, König Numitor vom Thron gestürzt. Aus Angst vor Nachfahren, die sich an ihm rächen könnten, verbot der böse Onkel seiner Nichte Rhea Silvia, jemals Kinder zu bekommen. Als sie trotzdem die Zwillinge auf die Welt bringt, lässt er die beiden in einem Weidenkorb auf einem Fluss aussetzen, wo sie ertrinken sollen.

Doch dann kommt die Wölfin und rettet die beiden. Ein Schafshirte findet sie später, zieht die Kinder auf und nach allerlei Hin und Her stürzen die beiden den bösen König und gründen schließlich die Stadt Rom, aus der das römische Imperium hervorgehen sollte.

So oder so ähnlich haben es zumindest römische Geschichtsschreiber später erzählt. Die Geschichte von der Wölfin, ohne die es die Stadt am Tiberfluss nie gegeben hätte, klingt allerdings ziemlich märchenhaft und tatsächlich glaubt heute niemand, dass sich die Gründung Roms genau so zugetragen hat. Nach weit über 2500 Jahren ist es leider auch reichlich spät, um herauszubekommen, ob die Sage zumindest einen wahren Kern besitzt.

Ähnlich ist das auch mit den vielen anderen Berichten über Wolfskinder aus späteren Jahrhunderten. Zahllose solche Fälle sind seit dem Mittelalter überliefert – von dem Wolfsjungen, den Jäger des hessischen Landgrafen Heinrich 1341 im Wald fangen und der sich wie ein wildes Tier benimmt, über das Bärenmädchen von Fraumark, das 1767 in Ungarn aus der Höhle eines Bären gezerrt wird, bis zum Gazellenjungen von Mauretanien, der um 1900 von einer Antilope aufgezogen worden sein soll – was daran wahr und was erfunden ist, lässt sich heute kaum noch feststellen, auch wenn einige Geschichten glaubwürdiger sind als andere.

Zu einer regelrechten Modeerscheinung wurden diese Geschichten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als aus Indien von einer ganzen Serie von Wolfskindern berichtet wurde. Indien war damals eine britische Kolonie, und zumeist waren es auch Briten, die in Briefen und Berichten in die Heimat von den seltsamen Begebenheiten erzählten. Einer von ihnen war Hercules Grey Ross. Nachdem er in einer Zeitschrift von einem ähnlichen Fall gelesen hatte, schrieb er einen langen Leserbrief mit seinen eigenen Erinnerungen:

»Als ich in Sultanpur (das ist ein Distrikt in Nordindien) als Verwalter tätig war, brachte mir die Polizei einen Knaben – das war im Jahr 1860 oder 1861 – und erklärte mir, sie habe ihn in einem Wolfsbau aufgefunden. … Ich sah den Knaben von da an beinahe täglich. Er schien etwa vier Jahre alt und hockte auf dem Boden wie ein Hund, beide Arme vor sich hingestreckt, die Hände flach auf den Boden. Er zog die Beine ein wie ein Hund. Er bewegte sich, indem er hüpfte wie ein Affe, wobei er nie aufrecht stand und die Hände stets den Boden berührten. Er knurrte oder machte andere Geräusche, etwas zwischen einem Bellen und einem Grunzen. Gekochtes Essen rührte er nie an, rohes Fleisch aß er dagegen gierig. Ein Polizist kümmerte sich um ihn. Allmählich brachte dieser ihm bei, Milch zu trinken, dann auch Milch und Brot zu sich zu nehmen und so weiter. Der Knabe war gewiss kein Schwachsinniger. Nachdem man ihn gezähmt hatte, kam er in die Schule. Am Schluss wurde er Polizist. Alle waren damals davon überzeugt, dass es sich eindeutig um ein Wolfskind handelte. Ob es so etwas überhaupt gibt, bleibt dahingestellt. Ich persönlich sehe keinen Grund daran zu zweifeln. Die Eingeborenen sind von dieser Vorstellung überzeugt. Zugegeben, sie glauben an viele Legenden, die völlig widersinnig sind …«

Ross war sich im Nachhinein selbst nicht mehr ganz sicher, ob er die Geschichte glauben sollte oder nicht. Doch viele seiner Landsleute waren nicht so skeptisch. Nachdem um 1850 die ersten Wolfskindgeschichten bekannt geworden waren, kam es in England zu einer regelrechten »Wolfskind-Manie«. Die Leute rissen sich um die zumeist tragisch mit dem baldigen Tod des Kindes endenden Geschichten und aus der riesigen britischen Kolonie Indien wurde reichlich Nachschub geliefert.

Zweifel erlaubt

Was aber ist nun dran an den indischen Wolfskindgeschichten? Viele davon wurden von Leuten aufgeschrieben, die selber gar nicht dabei waren, als das vermeintliche Wolfskind gefunden wurde. Oft kannten sie überhaupt nur Gerüchte darüber – und Gerüchte werden ja bekanntlich immer phantastischer, je mehr Menschen sie erzählen.

Es gibt auffällig viele Ähnlichkeiten in den einzelnen Geschichten, die sich häufig bis in kleine Details gleichen. Meist wird von knurrenden, auf allen Vieren laufenden und rohes Fleisch fressenden Kindern erzählt. Das könnte natürlich daran liegen, dass sich alle Kinder, die mit Wölfen aufwachsen, ähnlich benehmen. Wahrscheinlicher ist aber, dass die Erfinder von Wolfskindgeschichten einfach nur voneinander abgeschrieben haben. Doch gilt das auch für den berühmtesten Fall aus neuerer Zeit, den beiden indischen Wolfsmädchen Kamala und Amala, die der Missionar Joseph Singh am 9. Oktober 1920 im westbengalischen Distrikt Midnapore aufgefunden hatte?

Singh beschreibt in seinen Tagebüchern, wie er die beiden Mädchen in einer Höhle aufspürte, in der sie von einer Wolfsmutter und ihrer Sippe behütet wurden. Die etwa acht Jahre alte Kamala und die kaum zweijährige Amala zeigten alle wolfskindtypischen Verhaltensweisen: Sie wollten keine Kleidung anziehen und aßen nur rohes Fleisch, sie kratzten und bissen und liefen wie Wölfe äußerst geschickt auf allen Vieren.

Lange Zeit galt die Geschichte von Kamala und Amala als echt – immerhin waren ihre Existenz und auch ihr seltsames Verhalten durch viele Augenzeugenberichte und Fotos belegt, die in Singhs Waisenhaus entstanden. Doch es gab auch Zweifel: Waren die beiden wirklich von einer Wölfin aufgezogen worden? Wie so oft ließ sich das im Nachhinein kaum noch nachvollziehen. Die Mutterwölfin sei von seinen Begleitern leider erschossen worden, schreibt Singh – noch so eine Sache, die sich in vielen Geschichten ähnelt.

Tierische Adoption

Am ehesten können uns heute Biologen und Verhaltensforscher beim Lösen dieses Rätsels helfen. Durch die Zeit vermögen auch sie nicht zu reisen, aber sie liefern doch Antworten auf die entscheidende Frage: Wäre es überhaupt denkbar, dass sich eine Wölfin jahrelang um ein Menschenbaby kümmert, bis dieses groß genug ist, für sich selbst zu sorgen?

Immerhin kennt man aus dem Tierreich durchaus Fälle, in denen Tierwaisen von anderen Müttern adoptiert werden: Stirbt zum Beispiel eine Gorilla- oder Schimpansenmutter, so kümmern sich manchmal andere Mütter der Gruppe um die Waisen und säugen sie zusammen mit ihren eigenen Kindern. Manchmal kriegen selbst die großen, starken Affenmänner ein weiches Herz und übernehmen die Fürsorge für ein Waisenkind, das dann allerdings schon über das Säuglingsalter hinaus sein muss.

Einen besonders schönen Fall beschrieb Anfang 2010 der Leipziger Affenforscher Christophe Boesch aus dem Taï-Nationalpark in Westafrika. Ein erwachsener Schimpansenmann, den die Forscher Freddy nannten, nahm sich dabei des damals gut zweijährigen Victor an, der gerade seine Mutter verloren hatte. Die beiden kuschelten zusammen, Freddy trug Victor auf dem Rücken, wie es sonst Mütter mit ihren Jungen tun, und verteidigte ihn, wenn andere Affen aus der Gruppe zu frech wurden.

Freddy und Victor sind aber nur eines von 18 Beispielen von Adoption, die die Forscher in den letzten 27 Jahren im Taï-Urwald beobachtet haben. Mal waren es Männchen, die sich aufopferungsvoll um die Waisen kümmerten, mal Weibchen. Meistens waren die Jungen schon alt genug und nicht mehr auf die Milch ihrer Mutter angewiesen, aber in zwei Fällen säugten Adoptivmütter die Waisen über mehrere Jahre hinweg zusammen mit ihren eigenen Jungen und retteten ihnen so das Leben. Boesch vermutet, dass solche Fälle im Urwald viel häufiger vorkommen, als man bisher dachte.

Das Adoptieren von Waisenkindern ist aber nicht nur von Affen, sondern auch von anderen sehr eng in einer Gruppe zusammenlebenden Tierarten überliefert. Und auch manche Haustiere, vor allem Hunde und Katzen, sind dafür bekannt, dass sie sich ohne Murren fremde Kinder unterjubeln lassen. Regelrecht berühmt für ihren ausgeprägten Mutterinstinkt ist die südafrikanische Labrador-Hündin Lisha. Sie lebt in der Nähe eines Wildparks und hat schon mehr als 30 Wildtier-Waisenkinder aufgezogen, darunter kleine Geparden, Seelöwen, ein Zwergflusspferd und selbst ein Baby-Stachelschwein. Allerdings gibt Lisha ihren Zöglingen keine Milch – die kommt aus der Tüte von Lishas Besitzern, die sich zusammen mit der Hündin um die Tierwaisen kümmern.

Schlagzeilen machte vor einigen Jahren eine Löwin im Samburu-Nationalpark in Kenia: Sie adoptierte ein junges Antilopen-Kälbchen, das sie liebevoll umsorgte und vor anderen Löwen schützte. Das verwirrte Kälbchen ließ sich dies auch gefallen und schmiegte sich eng an seine Ziehmutter. Ganz freiwillig war die Adoption trotzdem nicht: Die echte Antilopenmutter lief immer etwas abseits mit und säugte ihr Junges, wenn die Löwin gerade mal nicht in der Nähe war. Was die Raubkatze zu ihrem fürsorglichen Verhalten animierte, ist schwer zu sagen – zur Vegetarierin wurde sie jedenfalls nicht, denn andere Antilopen jagte sie weiterhin ganz nach Löwenart. Möglicherweise hatte sie ihr eigenes Junges verloren und der angestaute Mutterinstinkt in ihr suchte sich einfach das nächstbeste Ding, das ihr auf vier Beinen über den Weg lief.

Wie auch immer: Die schöne Geschichte von der Freundschaft zwischen Jäger und Beute geht nicht gut aus. Nach einer Weile rissen andere Löwen die kleine Antilope und fraßen sie auf. Die traurige Löwin schnappte sich darauf einfach das nächste Kalb als Ersatz – sechs Baby-Antilopen sollen es in zwei Jahren gewesen sein. Immerhin gab es keine weiteren Opfer: Den späteren Zwangsadoptierten gelang es nach ein paar Tagen, mit ihrer echten Mutter zu fliehen.

Es müsste also schon einiges zusammenkommen für eine echte Wolfskindgeschichte: Eine Wolfsmutter, die selbst gerade Junge und genug Milch übrig hat, müsste das Kind finden und es vor allem erst einmal nicht auffressen. Und das ist schon wieder ein großes »Wenn«, denn bei einem Raubtier wie dem Wolf wäre das Verspeisen wohl die natürlichste Reaktion. Tatsächlich kam es in Indien noch vor gar nicht so langer Zeit oft vor, dass Menschen von Wölfen getötet und gefressen wurden – und die meisten Opfer waren Kinder.

Vor allem nachts hatten die Räuber leichtes Spiel, weil sich viele arme Familien kein richtiges Haus leisten konnten, um sich vor Wolfsangriffen zu schützen. Zudem fingen die Menschen damals an, mit Gewehren so viel Rehe und anderes Wild zu schießen, dass den Wölfen nichts anderes übrigblieb, als sich ihr Fressen in den Abfällen menschlicher Dörfer zu suchen – und dabei bot sich manchmal eben die Gelegenheit, sich ein wehrloses Baby aus einer der Hütten zu schnappen. Heute sind Wölfe in Indien sehr selten geworden, doch noch immer gibt es vereinzelte Berichte über tödliche Attacken auf Menschen.

Nehmen wir aber einmal den sehr unwahrscheinlichen Fall an, dass eine Wolfsmutter ein menschliches Baby raubt, es lebend und wohlbehalten in ihren Bau bringt und ihm Milch gibt. Selbst dann würde das Kind nicht lange überleben. Denn Wolfswelpen werden nur in den ersten Wochen gesäugt, ein Menschenbaby müsste aber viel länger Milch bekommen, bevor es rohes Fleisch essen könnte, wie es fast alle Geschichten berichten.

Auch wenn es nicht mit allerletzter Sicherheit auszuschließen ist, wurde also wohl nie irgendeines der vielen sogenannten Wolfskinder wirklich von wilden Tieren aufgezogen. Zu diesem Schluss kommt auch der Journalist P. J. Blumenthal, der ein sehr umfassendes Buch über Wolfskinder geschrieben hat (»Kaspar Hausers Geschwister«, Piper Verlag), für das er fünf Jahre lang alle alten Berichte gelesen und auf ihre Glaubwürdigkeit überprüft hat.

Was wäre der Mensch ohne Kultur?