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Die Menschen in der Großstadt mit all ihren kleinen Freuden, mit ihren Ängsten und Bedrängnissen: da ist die kleine Näherin, die keine Perspektiven in ihrem Leben sieht; der Botenjunge, der zu Unrecht beschuldigt wird, Geld unterschlagen zu haben; das ältliche Fräulein, das eines Tages im Lotto gewinnt und sein Leben von Grund auf ändern will; die junge Braut, die um einer andern willen verlassen wird; ein "möblierter Herr", der von einer Klavierlehrerin fasziniert ist; der Wirt des Ausflugslokals, dem an verregneten Pfingsttagen die Gäste ausbleiben; eine junge Frau, die plötzlich mit der Geliebten ihres Mannes konfrontiert wird. (Inhalt: Die kleinen braunen Schuhe. – Der Klingeljunge. – Das Los. – Roter Mohn. – Frühlingsschauer. – Die Einzige. – Eine Melodie. – Die Wasserratte. – Die Kinder. – Graumann.) Autorenporträt Clara Viebig (1860–1952) war eine deutsche Erzählerin, Dramatikerin und Feuilletonistin, die insbesondere der literarischen Strömung des Naturalismus zugerechnet wird. Aufgewachsen an der Mosel in Trier, verbrachte sie die meiste Zeit ihres Lebens in Berlin. Sie gehört zu den erfolgreichsten deutschen Schriftstellerinnen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und ihre Werke zählten damals in den bürgerlichen Haushalten zur Standardbibliothek. Bekannt wurde die Autorin vor allem durch den Roman "Das Weiberdorf", der 1900 erschien. Die Stärke Viebigs liegt unter anderem in der äußerst komplexen, oft symbolhaft wirkenden Darstellung der spröden Landschaft und ihrer Bewohner. Ihre Werke wurden insbesondere ins Französische, Spanische, Englische, Italienische, Niederländische, Norwegische, Schwedische, Finnische, Tschechische, Ukrainische, Slowenische und ins Russische übersetzt, einige auch in Blindenschrift übertragen. Clara Viebig, die mit einem jüdischen Verleger verheiratet war und nach 1935 im nationalsozialistischen Deutschland nicht mehr publizieren durfte, geriet nach dem Krieg für lange Zeit in Vergessenheit und wird nun endlich wiederentdeckt.
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Seitenzahl: 194
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Grossstadtnovellen
Saga
An der Ecke der Strasse war ein Schuhwarenladen: Herrenstiefel, Damenstiefel, grosse und kleine, standen im Fenster, überall war der Preis verzeichnet.
Billig! Billig! Gelegenheitskauf!
In der Mitte, so dass abends das Licht der elektrischen Kugellampe sich voll darüber ergoss, und tags die Sonnenstrahlen ihren Goldflimmer darumwoben, standen ein Paar Kinderschuhe, winzige Schuhchen von braunem Leder mit weichen Söhlchen und weissen Steppverzierungen. Sie waren ausgestopft, kleine himmelblaue Strümpfe ragten aus ihnen hervor; man konnte glauben, trippelnde Kinderbeinchen steckten darin.
„Fünf Mark, schade, das ist so teuer“, sagte die junge, blasse Frau und zupfte ihren Mann am Ärmel. „Du, sieh ’mal! Wie entzückend! Ach, wenn unser Kind die hätte!“
„Eh’ es geboren ist?! Ne du, das muss man nicht, so lang vorher was kaufen! Darin bin ich abergläubisch!“
Sie lächelte.
„Ich hab’ schon oft hier gestanden, ich kann gar nicht vorbeigehen. Alle Tage fürcht’ ich, sie sind weg. Das wäre schrecklich!“
Ein Ausdruck von Angst kam in ihr schmales Gesicht. „Wenn er die verkaufte, eh’ unser Kind geboren ist!“
Sie wagte nicht zu sagen: Kauf du sie doch! Sie war sehr still, sehr schüchtern. Ihre Augen ruhten mit einem merkwürdig verträumten Blick auf den kleinen, braunen Schuhen; seufzend und zögernd nur wandte sie sich ab.
Kanzleisekretär Mauke war mit seiner jungen Frau auf dem Spaziergang ins Freie; das heisst, sie wanderten ihre entlegene Vorstadtstrasse zu Ende. Die Häuser standen hier nur noch vereinzelt, von kleinen Leuten bis unters Dach bewohnt. Ungehindert vom Wagenverkehr trieben Rudel von lärmenden Kindern ihr Wesen. Da waren noch leere Bauplätze mit Schutthaufen und Sandgruben, und weiterhin primitiv umzäunte Ackerstückchen mit Bretterlauben. Hochgeschossene Sonnenblumen nickten, und verblühte rote Bohnen machten schwache Kletterversuche. Weithin breitete sich die sandige Fläche, das Vorland der grossen Stadt, die Herbstsonne stand darüber wie ein roter Ball; langsam rutschte der Ball tiefer und tiefer am Horizont.
Sie schlenderten hinein in die Röte, das Gesicht der jungen Frau war wie verklärt; sie hatte Tränen in den Augen, heimlich flüsterte sie: „Die Schuh, die schönen Schuhchen!“
Nachts träumte sie von ihnen. Oben, vier Treppen hoch, in der kleinen Wohnung tanzten sie über die Dielen; immer vorm Bett hin und her. Ihr braunes Leder glänzte und knarrte leise, die weissen Steppnähte blinkten freundlich, — sie lachten einen ordentlich an — die weichen Söhlchen glitten dahin wie schmeichelnde Katzenpfötchen. Und statt der himmelblauen Strümpfe steckten rosige Beinchen in den Schuhen — hei! wie flink die waren!
„Mariechen, lieg ruhig!“ Der Kanzleisekretär beugte sich über seine Frau. „Ist dir was?“
Sie war noch ganz verschlafen; verwirrt hob sie den blonden Kopf vom Kissen. „Ich habe von den — ach, du weisst schon! — so wundervoll geträumt!“
„Na, so was!“ Er war einigermassen beunruhigt. Als er am anderen Morgen in seinem abgeschabten Überzieher zum Bureau rannte, stand er an der Ecke still.
Im vollsten Sonnenglanz präsentierten sich die braunen Schuhe hinter der grossen Scheibe; sie waren wie in Gold getaucht, — Goldkäferchen, — er sah sie hüpfen. So reizend! Sie taten’s ihm an. Bah, abergläubisch musste man nicht sein! Wenn er Mariechen die Dinger da plötzlich auf die Kommode stellte, wie würde sie sich freuen! Er hörte schon ihren entzückten Schrei.
Fünf Mark! — Sinnend stand er.
Ein Windstoss kam plötzlich um die Ecke und traf ihn empfindlich kühl; die Sonne verkroch sich, schwarz gähnte das Schaufenster, und die Goldkäferchen waren tot, ganz ohne Glanz.
Es lief ihm eisig über den Rücken; erschauernd knöpfte er den abgeschabten Paletot fest zu und schlug den Kragen im Genick hoch. Nein, er konnte sie nicht kaufen! Da waren so viel notwendige Ausgaben, und wie viele würden noch kommen! Vor allen Dingen musste Feuerung ins Haus — brrr, es war kalt!
Er wandte sich ab, und der Wind schnob hinter ihm drein.
Fröstelnd sass er im Bureau und schrieb seine Akten ab. Durch den Fensterspalt verirrten sich nur spärliche Sonnenstrahlen; unten war der Hof verbaut und feucht, und hoch oben der Himmel so abgezirkelt, wie ihn der Schornsteinfeger durch den Schlot sieht.
Nach Stunden erst fing Mauke an, wieder warm zu werden. Sein Kollege hatte einen roten Nelkenstengel zwischen den Zähnen und sprach viel von Radeln und fabelhafter Hitze; das wirkte.
Sonnenschein lag auf dem Pflaster, als der Sekretär nach Hause ging; die Bäumchen an der Strassenseite hatten noch Grün. Er ging mit offenem Paletot, und da er eilig lief, schwitzte er.
Nun kam die Ecke. Eine verdammt zugige Ecke! Er musste doch Mariechen warnen, denn wenn man da lange stehen blieb, konnte man sich wirklich was holen. Ein eiskalter Luftzug strömte vom Fenster her; wenn die Ladentür aufging, roch es nach Moder. Der Mann lüftete schlecht, pfui!
Mauke guckte durch die Türscheiben; er hatte noch nie hier gekauft. Der Laden war dunkel wie ein Grab, und der Besitzer sah so verhungert aus, nur Haut und Knochen; er stand hinterm Ladentisch und spähte mit tiefliegenden Augen nach Kunden aus. Als er Mauke draussen bemerkte, dienerte er. Was hatte der Kerl für ein fatales Lächeln!
Verstimmt kam der Sekretär heim. Er sah’s Mariechen an, sie war enttäuscht, sie hatte gehofft, er würde die Schuhchen mitbringen. Ihr Kuss schien ihm kühler als sonst; wie ein Hauch, in wehmütiger Entsagung, berührten ihre Lippen seine Stirn.
Die Schuhchen, die Schuhchen! Es war ihre fixe Idee. Sie ging heimlich und sah sie wieder und wieder an.
Es wurde herbstlicher, kalte Regengüsse kamen und peitschten die letzten Blätter von den Bäumchen. Durchfröstelt, zerzaust vom Wind, stand die junge Frau am Ladenfenster und träumte.
O, wenn es erst in den Schuhchen lief, das liebe, kleine Kind! Sie würde es an die Hand nehmen und führen, es sollte dem Vater entgegentrippeln. Wie die Füsschen sich beeilten! Dann würde der nicht mehr unwirsch sein, dann würde er sich auch freuen über die braunen Schuhchen.
‚Lauf, lauf! Fall nicht! O mein Kind, mein liebes Kind in deinen kleinen Schuhchen!‘ — — —
Sie schreckte zusammen, der Alte hatte die Ladentür geöffnet und sah sie scharf an.
„Wünschen Sie etwas, meine Dame?“
Rot werdend zog sie ihre Hand zurück, sie hatte mit den Fingern liebkosend am Glas des Schaufensters auf und ab gestrichen. „Ich, — ich, — was kosten die kleinen Schuhchen?“
„Ach, die Erstlingsschuhchen! Gefallen Ihnen wohl? Billig, enorm billig! Bitte, treten Sie näher!“
Sie folgte ihm hinein, wie magnetisch gezogen.
Er streckte seinen dünnen Arm aus und langte die Schuhchen aus dem Schaufenster; mit den mageren Zeigefingern spiesste er sie auf und hielt sie ihr vors Gesicht. „Eminenter Gelegenheitskauf! Nur noch dies einzige Paar da. Sie sollten sich das nicht entgehen lassen, werte Dame! Darf ich sie Ihnen einwickeln?“
„Ich danke,“ sagte sie hastig, „nein, nein, ich kann nicht, — ich danke!“
„Sie werden sie doch noch holen!“ Er sah sie böse an. Lange konnte sie seinen tückischen Blick aus den tiefen, dunklen Augenhöhlen nicht vergessen.
Mit nassen Füssen, mit verwehtem Haar, aufgelöst vom Kampf gegen Regen und Wind, durchfroren vom langen Stehen, kam sie heim.
Seit jenem Tage kränkelte sie, sie hatte sich erkältet. Als ihr Kind geboren wurde, war sie sehr schwach. Sie hustete und fieberte und konnte noch nach vier Wochen das Bett nicht verlassen. —
Es ging in die fünfte Woche. Mauke sass neben ihrem Bett und hielt ihre Hand. Es war ganz still im Zimmer; das Kleine schlief, sie hatte es neben sich liegen und presste es im linken Arm fest an die Brust. Wie Rosen glühten ihre Wangen. Die Augen hatte sie geschlossen, goldig bewimpert waren die Lider; auf der weissen, kindlichen Stirn zogen die Brauen zwei eigensinnige Bogen.
Draussen lag Schnee und dämpfte jeden Schall. Am Fenster duftete der Hyazinthentopf, lange, blasse Blüten, nur mit einem Hauch von Farbe. Es wollte dämmern.
Sie schien zu schlafen. Er beobachtete sie lange, sehr lange, und dann reckte er den Hals — so konnte er gerade zum Fenster hinaussehen. Draussen alles tot und weiss, in einem fahlen Licht. Und jetzt hob sich die Dämmerung wie ein Riesenschatten und reckte sich am Haus in die Höhe und wuchs und wuchs, höher und höher, bis hinauf zu dem Fenster im vierten Stock.
Die Kranke rührte sich und seufzte.
„Mariechen,“ fragte er sanft, „hast du geschlafen?“
„Ja, — und geträumt!“ Ihre Stimme klang erfreut. „So schön wie damals! Nun ist unser Kind da, nun kannst du mir doch auch“ — sie stockte — „sei nicht bös! Ich möchte wohl wissen, ob die kleinen, braunen Schuhchen schon verkauft sind?“
Als die alte Nachbarin, welche die Kranke pflegte, mit der Lampe kam, ging der Sekretär und kaufte die Schuhe. Sie waren noch zu haben; grinsend und dienernd wickelte der Alte sie in ein grünweiss gestreiftes Seidenpapier.
Mauke kam heim und legte sie Mariechen aufs Bett. Sie hatte wieder mit geschlossenen Lidern geruht, nun schlug sie die Augen gross auf, ein seltsames Glühen war in ihnen.
„Sieh mal!“ Er schob ihr das grünweisse Seidenpapier-Päckchen unter die Hände. „Da, wickel mal aus!“ Schmunzelnd sah er seiner Frau zu.
Ihre Blicke wurden erstaunt-froh, leuchtender und leuchtender; mit fiebrig zitternden Händen wickelte sie an dem Papier, es riss mitten durch. „O die Schuhchen, die —“
Sie kam nicht weiter. Das Kind an ihrer Seite stiess einen Schrei aus, lauter denn je einen zuvor, streckte die geballten Fäustchen in die Luft und bäumte sich wie im Krampf.
„Nanu?“ Der Vater beugte sich erschrocken übers Bett. „Was hat er? Aha, er freut sich über seine Schuhchen!“
Und er nahm das Kind von der Seite der Mutter, tänzelte in der Stube mit ihm auf und ab und erzählte ihm kosend von seinen schönen, brauen Schuhchen.
Die junge Mutter hörte ganz still zu, die Freude hatte sie erschöpft; sie stiess nur in Absätzen einen langen, zitternden Seufzer der Befriedigung aus. —
In der kommenden Nacht starb Marie Mauke. Die alte Nachbarin wand ihr unter Stöhnen und Schluchzen den einen kleinen Schuh aus der kalten, krampfhaft geschlossenen Hand. Die Arme hatte ihn am Abend nicht hergeben wollen, nun musste sie doch. Die Hyazinthen am Fenster dufteten berauschend. Die Alte holte weinend eine Schere, schnitt die fetten Stengel ab und schob sie der Toten zwischen die blassen Finger.
Wochen vergingen, Monate. Oben auf dem Schrank standen die kleinen, braunen Schuhe vergessen. Mauke mochte sie nicht ansehen, sie erinnerten ihn zu schmerzlich an seine Frau. Sie verstaubten. Mitunter stieg die Nachbarin auf einen Stuhl, langte sie herunter und pustete sie ab; es tat ihr jedesmal leid um die hübschen Dinger. Zuletzt, — der Junge brauchte Schuhe, — zog sie sie ihm an und gab einen Klaps unter jedes Söhlchen: „Da, jrossartig, sitzen jrossartig! So’n Staatsbengel!“
Als der Sekretär nach Hause kam, strampelte ihm sein Junge auf dem Arm der Alten entgegen.
Der Kleine konnte noch nicht laufen und sprechen, aber eitel war er schon auf seine kleinen Schuhe. Er weinte, wenn man sie ihm nicht anzog; er krähte vor Vergnügen, wenn er sie anhatte, er betrachtete sie mit grossen Augen und kratzte mit dem nadelscharfen Nagel des Zeigefingerchens an den weissen Steppverzierungen.
„Mein Junge“, nickte Mauke. Das Wasser quoll ihm in die Augen. „Wenn Mariechen sie sehen könnte!“
Weiter sagte er nichts, er war kein Mann von vielen Worten, er nahm alles resigniert, Gutes wie Böses; die Sonne hatte ihm nie voll auf den Kopf geschienen, immer nur hatte er sie durch einen Fensterspalt an einem winzigen Stück Himmel gesehen.
Nach und nach litten die Schuhchen, der Junge rutschte soviel auf den Dielen. Die weissen Steppnähte waren längst schmutzig, das Braun schabte sich ab, und eines Tages klafften die Spitzen.
Mauke trug sie zum Ausbessern, aber der Alte im Eckladen brummte: „Kinderschuhe lohnen das Reparieren nicht!“ Dann grinste er: „Weg damit!“ Und dann zeigte er Mauke andere Schuhe: „Gibt ja so viel neue, — enorm billig, — hehe!“ Das grinsende Lachen erstickte ihn fast, er hüstelte. „Kaufen Sie neue, — schrumm, ein anderes Bild, — hehe, — alles vergänglich!“ — — — — — —
„Ich weiss was“, sagte Mauke beim Nachhausekommen zu seiner Freundin, der alten Nachbarin.
„Na, was denn, Herr Sekretär? Schiessen Sie mal los!“ Sie wurde sehr neugierig, denn er lächelte so geheimnisvoll. „Man los!“
Aber es war nichts aus ihm herauszubringen, er wiederholte nur noch einmal, wichtig wie ein Kind: „Ich weiss was!“
Am nächsten Sonntag früh küsste er seinen Jungen; der war nun ein Jahr alt. Dann zog er seinen besten schwarzen Rock an, bürstete den Zylinder spiegelblank und ging aus. —
Das Vorland der grossen Stadt schimmerte wie ein riesiges, weisses Feld; die Trottoire vor den letzten Häusern waren wohl frei gefegt, aber auf dem Damm türmten sich grosse Schneehaufen. Ein rechtes Weihnachtswetter. Und Tannenduft in der Luft; an den Strassenecken, auf den Plätzen grüne Tannenpyramiden, in den Läden bunte Lichter und goldige Ketten, Leckereien und glänzend-geriebene Äpfel.
Hinter der grossen Scheibe des Eckladens standen die Stiefel aufgereiht zum Weihnachtsausverkauf, mit Tannenzweigen und Watteflocken war das Fenster garniert.
Mauke warf einen trüben Blick auf die Schuhausstellung, einen langen, sehnenden Blick auf das Trottoirfleckchen vorm Schaufenster — da hatte sie so oft gestanden!
Und dann ging er weiter durch alle die Menschen, an fröhlichen Kindern vorüber, vorbei an hastenden Käufern, an Tannenbäumen, an rollenden Pferdebahnen und schwer knarrenden Lastwagen, an prangenden Läden und beschneiten Vorgärten, — immer weiter, bis der Weg stiller wurde, zuletzt ganz still.
Da war der Kirchhof.
Vor ihm her stapften zwei Kinder, ihre kleinen Gestalten waren das einzig Bunte in der ganzen Umgebung und das einzig Lebende. Sonst alles tot und schweigsam. Jetzt hörte er ihre Stimmen; sie lachten, sie waren ganz vergnügt und trugen ein geputztes Bäumchen. Durch die lange Mittelreihe der Gräber folgte er ihnen; da hielten sie an einem schmalen Hügel, sie pflanzten wohl dem toten Brüderchen oder Schwesterchen den Tannenbaum aufs Grab.
Auch die Toten bekommen zu Weihnachten Geschenke.
Mauke ging weiter, nicht gemessenen Schrittes, wie man hier zu gehen pflegt, nein, er lief eilig, wie beschwingt, er rannte. An weissen Hügeln vorbei, an weissen Bäumen vorbei, ganz zum Ende des Gartens und dann rechtsum — da lag sie.
Atemlos hielt er an, rot und heiss.
Scheu sah er sich um: niemand in Sicht! Einsam waren die vielen Ruheplätze mit den Gittern, die Schneehauben trugen.
Kahle Rosenstämme, verschneite Zypressen, und der Himmel darüber weisslich-grau und schwer zum Niedersinken.
Mauke zog etwas aus der Tasche und legte es nieder aufs Grab mitten darauf:
„Da, Mariechen, da hast du sie!“
Der Kollege mit dem roten Nelkenstengel arbeitete nicht mehr im gleichen Bureau mit Sekretär Mauke, seit Dezember hatte er die Stellung gewechselt. Ein paar Wochen nach Weihnachten begegnete er aber dem früheren Amtsgenossen auf der Strasse.
„He, Mauke!“ Der Kollege hatte heute keinen Nelkenstengel zwischen den Zähnen, wohl aber ein Tannenreis; er nahm’s heraus, um besser sagen zu können, wie er sich freue. „Ne, alter Knabe, famos, dass wir uns mal treffen, was? Na, wie jeht’s denn?“
„Ich habe mein Kind verloren“, sagte Mauke eintönig.
„Wie, — was?! Ne, so was! Wann denn?“ Der Kollege kaute wieder an dem Tannenreis, er musste sich Fassung daran saugen. „Wie alt war’s doch gleich?“
„Es hatte die ersten Schuhchen vertragen. Ich brachte sie Mariechen ’raus aufs Grab. Nun hat sie“ — Mauke schluckte, und dann wandte er sich ab.
Der andere hörte ihn noch murmeln: „Nun hat sie — die kleinen, braunen Schuhe!“
Der Hof eng, düster. Kaum ein Stück Himmel sah herein, und auch das angegraut vom Rauch der Schornsteine. Das Pflaster unten war stets feucht; die spitzen Steine schwitzten eine klebrige, modrige Nässe aus, nie wurden sie von der Sonne getrocknet. Die glitt nur im Sommer um die Mittagszeit bis zur Hälfte der dunklen Mauer des einen turmhohen Seitenflügels.
Drinnen in der Kellerwohnung war es immer halb Nacht. Tappte man die fünf nasskalten Stufen herunter, so stiess man die Nase an die schmale Eingangstür; strengte man die Augen recht an, konnte man auf einem angenagelten Stückchen Pappe lesen:
Stibike, Schuhmachermeister.
Es war später Mittag. Die kleinen Leute auf dem Hof hatten alle gegessen, sämtliche Fenster der beiden Seitenflügel standen offen; man hörte Tellergeklapper und Kindergequarr, Gerüche von Kohlrüben, Knoblauchwurst und gebratener Zwiebel wehten aus und ein.
Jetzt stimmte eine schrille Weiberstimme in den höchsten Tönen irgendeinen abgelebten Gassenhauer an; es kam was drin vor von Sommer und Liebe und Seligkeit. Die Weiberstimme gellte, sie tat sich ein ordentliches Genüge, dazwischen brüllte ein Kind auf, und Geschirr rasselte zur Erde.
„Nanu, Sie olle Zeterliese, halten Se man jefälligst de Schnauze! Wenn jeder hier nu so jröhlen wollte — is det en verfluchter Radau!“ Eine grobe Stimme schrie über den Hof; ein Fenster wurde krachend zugeworfen, der Gesang verstummte.
Nun war alles still. Bis zur Hälfte der hohen Seitenwand fingerten Sonnenstrahlen auf und nieder, reckten sich ein Stückchen weiter empor und zogen sich wieder scheu zurück. Draussen auf der Strasse sollte Sommer sein, heisser sogar, Bäume sollten mit vollem grünen Laub rauschen; hier grünte kein Hälmchen. Nur eine verbrauchte, dicke Luft machte einen schwitzen, und dabei fröstelte es einen doch über den Rücken.
Die kleinen Leute auf dem Hof hielten alle einen kurzen Mittagsschlaf — eins, halb zwei, zwei ist die richtige Stunde dafür — da, halt! Ein Fenster öffnete sich noch, und jemand schleuderte etwas aufs Pflaster. Ein Knochen war’s. Da lag er, das beschattete Licht blinzelte drüber hin.
Die Hundeaugen, die dort mit glühendem Funkeln von der morschen Hundehütte aus jenem dunkelsten Winkel spähen, wurden grösser und grösser vor Gier. Geräuschlos, Pfote vor Pfote setzend, schlich das Tier zur Hütte heraus; der magere Leib streckte sich ganz lang, er wand sich förmlich über die Steine, der Hals zerrte sich, die Zunge lechzte — vergeblich, die Kette war zu kurz, der Knochen nicht zu erreichen! Mit einem kläglichen Winseln gab der Hund seine Anstrengungen auf.
Nun lag er platt vor der Hütte, den struppigen Kopf auf die Pfoten gedrückt, die Augen halb geschlossen und doch wachsam nach allen Seiten schielend. Die Fliegen surrten ihm um das zottige Fell, sie setzten sich auf das klebrige Nass, das ihm gleich zähen Tränen aus den Augen lief; mit dumpfem Knurren richtete er sich halb auf und schlug mit dem Schwanz die hohlen Flanken.
Der Knochen, der Knochen — wie er da mitten auf dem Pflaster lag! Die Fliegen schwirrten jetzt hinüber und setzten sich darauf. Ein wehmütiges Licht glomm in den sprechenden Hundeaugen auf; noch ein letzter Blick, dann stiess die plumpe Schnauze an den Trinknapf — der alte Scherben leer, nicht einmal Wasser!
Mit hängender Zunge legte sich das Tier wieder nieder; noch ein Schnuppern nach rechts und links, dann schien es zu schlafen.
Da, horch! Klappen der Hoftür, schleichende Tritte auf dem Pflaster!
Mit leisem Gewinsel sprang der Hund auf, und nun umschlangen ihn schon zwei Arme, eine Kindergestalt kauerte sich neben ihn auf den Boden: „Na, Pluto, mein Hundeken!“
Es war eine überaus zärtliche Begrüssung. Der Hund machte einen täppischen Sprung und stiess den dicken Kopf gegen die schmale Brust des Knaben, leckte ihm die Hände, das Gesicht; und dieser liess sich’s gefallen mit einer müden, traurigen Freude.
„Pluto, mein Hundeken, keen Wasser? Na, warte man!“
Der Junge erhob sich von den Knien und füllte den halbzerbrochenen irdenen Napf am Brunnen; dann, als ob er die Hundegedanken erriete, brachte er den Knochen herbei und sah ernsthaft zu, wie die starken Zähne des Tieres den zermalmten.
Mit wehmütigem Lächeln zeigte er nun die leeren Hände: „Nischt mehr, Pluto, reeneweg nischt mehr! Aber warte man, hab’ man Jeduld, wenn ik Jelder habe, denn sollste dir wundern, mein Hundeken, denn spendiere ik wat! Denn kriegste die dicke Leberwurscht, die drüben bein’. Schlächter hängt! Du kannst dir druf verlassen.“
Hans Stibike hatte gut versprechen, — wo sollte er wohl das Geld herbekommen, das die dicke Leberwurst drüben beim Schlächter kostete?! Einstweilen hatte er nichts für den Freund, als jeden Morgen und jeden Abend die Hälfte seiner Stulle, ab und zu ein paar abgenagte Knochen, und all die Liebe, die sein junges Herz empfand.
Hans Stibike war Klingeljunge in der grossen Molkerei draussen im Norden.
Der Mond stand oftmals noch blass am Himmel, wenn der Klingeljunge den elterlichen Hof verliess; seine magere, kleine Gestalt drückte sich durch die noch menschenleeren Strassen. Im Winter war es eisigkalt, trotz der Fäustlinge und des Shawls um die Ohren; im Sommer schlich er in der glühenden Mittagshitze heim, matt wie eine Fliege. Er war im Wachstum zurück, seine zwölf Jahre sah ihm keiner an: matte Augen, platte Nase, wachsbleiche Ohren; die niedrige Stirn zeigte schon fest eingegrabene Falten, und der Rücken hatte die Neigung, sich zu krümmen.
Wie er jetzt dem Hund einen letzten liebevollen Abschiedsklaps gab und mit schiefgetretenen Absätzen übers spitzige Pflaster der Kellerwohnung zuschlorrte, schien alles Licht von seiner Gestalt zurückzuweichen. Am Eingang des Seitenflügels stand er noch einmal still, zog die Mütze vom fahlblonden, verklebten Haar und warf einen stumpf-gleichgültigen Blick aufwärts zu dem Stückchen Himmel; nur aus Gewohnheit, im Grunde war es ja so gleich, ob es regnete oder die Sonne schien.
Langsam schlich er die Kellerstufen hinunter — da war die Tür mit dem Pappstück:
Stibike, Schuhmachermeister.