Menschliches, noch Menschlicheres - Josep Maria Esquirol - E-Book

Menschliches, noch Menschlicheres E-Book

Josep Maria Esquirol

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Beschreibung

»Menschliches, noch Menschlicheres« ist ein authentisch-philosophischer Essay, in einer Sprache geschrieben, die so verständlich und präzise wie inspirierend ist. Mit seinem neuen Essay setzt der Autor seine Beschäftigung mit der Frage nach der menschlichen Situation und Bedingtheit fort. Ausgehend von der grundlegenden Fragilität des Menschlichen entwickelt Esquirol eine philosophische Anthropologie: die »Philosophie der Nähe«. Es sind scheinbar einfache Fragen, die der katalanische Philosoph Josep Maria Esquirol aufwirft: Wie heißt du? Woher kommst du? Was ist mit dir los? Diese Fragen bringen uns, so der Autor, Schritt für Schritt der tiefsten Mitte unserer Seele näher, dorthin, wo wir entdecken, dass wir von vier wesentlichen Unendlichkeiten durchdrungen und verletzt sind: Leben, Tod, Du und Welt. Esquirol zeigt auf, wie dieser »Furche« im Menschen das wohltuendste Handeln entspringt: ein Handeln, das »Welt in der Welt erschafft« und das Leben umsorgt; ein Handeln, das uns Orientierung gibt, uns stärkt, indem es versteht, Ernst und Leichtigkeit, Tag und Nacht, Himmel und Erde, Gegenwart und Hoffnung zusammenzubringen, ohne sie zu verwirren. Der neue Band ist sein bisher konzeptuellstes, am deutlichsten systematisch angelegtes Werk. Es geht nicht um eine Definition des Menschlichen, sondern um Orientierung.

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Josep Maria Esquirol

Menschliches, noch Menschlicheres

Eine Anthropologie der

unendlichen Verletzung

Aus dem Katalanischen übersetzt von

An-Magritt Ahn

Meiner

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Humà, més humà:

Una antropologia de la ferida infinita bei Quaderns Crema (Acantilado),

Barcelona. Wir danken dem Verlag für die Einräumung der

Übersetzungsrechte und dem Institut Ramon Llull für die

Förderung der Übersetzung.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische

Daten sind im Internet über ‹https://portal.dnb.de› abrufbar.

ISBN 978-3-7873-4484-0

ISBN eBook 978-3-7873-4486-4

© 2021 by Quaderns Crema, S. A. (Acantilado, Barcelona).

© für die deutsche Ausgabe: Felix Meiner Verlag Hamburg 2024.

Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen,

Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung

in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten.

Konvertierung: Bookwire

INHALT

I Konzeptueller Proviant

II Wie heisst du? (Der Name)

III Woher kommst du?

IV Was ist los mit dir? (Zu vielem fähig, aber …)

V Verletzt, in der tiefsten Mitte der Seele

VI Schwerkraft und poietische Beugung

VII Schwingungen: Stille, Wort, Gesang

VIII Menschliche Sanftheit, unmenschliche Kälte

IX Unter dem blauen Himmel, auf der flachen Erde

X Tag für Tag und die ein oder andere dunkle Nacht

XI Hoffnung ohne Luxus

XII Telegraphische Zeilen

Anmerkungen

Personenregister

Für meine Mutter, die vom ersten Tag an für mich sorgte.

Für meinen Vater, der mich bis zum Ende beschützte.

I KONZEPTUELLER PROVIANT

Es braucht nicht viel – zum Leben. Brot und Gesang.

Wir singen, um zu feiern, und wir singen, um keine Angst zu haben. Um die Dinge des Lebens zu feiern und um nicht so viel Angst vor dem Tod zu haben. So ist der Gesang das Wesen des Wortes und in jedem wertvollen Wort entweder die Feierlichkeit oder die Zuflucht zu spüren; das fürsorgliche und schutzbietende Flüstern warmer Worte oder der Gesang des Festes. Gesang, der umsorgt, und Gesang, der die Schönheit der Welt preist.

Der Gesang begleitet die Worte der Poeten und auch die der großen Denker. Er hat dennoch nichts Elitäres, denn er erklingt genauso sehr, wenn nicht noch klarer, in den Worten gutherziger Menschen. Etwas Gutes sagen – und tun –: darin liegt die Fortführung des Gesangs. Manchmal still, manchmal in diskreter, unvorhersehbarer Form wird uns der Gesang – das schwingende Wort – zur schützenden Unterkunft und zum Himmel.

Rundgesänge nannte man die Versionen der Volkslieder, die gewöhnlich auf den Straßen der Dörfer gesungen wurden. Gegen Ende seines Meisterwerks schildert Nietzsche, wie Zarathustra die Übermenschen darum bittet, mit ihm einen solchen Rundgesang anzustimmen; ein Lied, das einen Teil seiner Doktrin, seiner frohen Botschaft, seines Evangeliums, zusammenfasst. Dabei handelt es sich um das »Nachtwandler-Lied«, dessen Thema die Tiefe der Welt ist: »Die Welt ist tief und tiefer als der Tag gedacht!«1 Wenige Jahre danach, als Nietzsche schon seinen Verstand verloren hatte, würde Gustav Mahler in seiner Dritten Symphonie die Verse Nietzsches in die Stimme eines Altsolos mit pathetischen und bewegenden Tönen legen.

Und ob sie das ist, die Welt: tief! Doch was für eine Art Tiefe (pregonesa) ist das? Kann man darin eine Art ewige Wiederkunft ausmachen?

Die Welt ist sehr tief, ja, doch sie hat kein Mitleid mit uns. Die Tiefe des Menschlichen liegt dagegen in diesem Mitleid: mit allem und mit jedem; und wenn es am heftigsten bebt, dann nicht aufgrund der ewigen Wiederkunft, sondern um einer Wiederbegegnung willen.

Der Rundgesang von Nietzsche erinnerte mich an eine andere Art öffentliches Wort: das der alten Ausrufungen (pregons),2 die sich durch den unverwechselbaren Ton des Kornetts ankündigten. Früher gab es gewöhnlich in jedem Dorf einen Gemeindediener (Ausscheller oder Ausrufer; pregoner), der den Auftrag hatte, den Bewohnern die verschiedensten Nachrichten zu überbringen, einige darunter für die Gemeinschaft von größtem Wert, andere wiederum nur dem Bürgermeister und den immer gleichen Landbesitzern von Nutzen. Die Botschaft wurde durch die Straßen weitergetragen und fortlaufend wiederholt, damit sie von allen Dorfbewohnern, die sich an den Pforten und Fenstern versammelt hatten, gehört werden konnte. Und wenn es eines Tages unter den unzähligen, weit umher ausgerufenen Bekanntmachungen eine gegeben hätte, die darum bemüht war, eine Philosophie darzustellen? Ich sehe den Gemeindediener eines kleinen Dorfes in der italienischen Region Venetien gegen Ende des 19. Jahrhunderts fast vor mir – denn es hat irgendwie etwas Wirkliches an sich –; ein Gemeindediener, der zudem als Gemüsegärtner arbeitete und von dem man wusste, dass er in den Abendstunden Bücher zu lesen pflegte. Seine Reden waren sonderbar und man verstand sie letztendlich nie ganz, aber wer weiß, vielleicht sahen ihnen gerade deshalb die Anwohner erwartungsvoll entgegen. Ohne es lang auszuführen, verband er das, was er zu verkünden beauftragt war, mit anderen, eigens eingebrachten Dingen. Er wusste nur zu gut: Damit man ihm folgen könne, musste er mit lauter Stimme und in kurzen, durch längere Pausen voneinander getrennten Sätzen sprechen. Er wusste auch, dass er sie teilweise wiederholen musste, vor allem die ersten Sätze, und zwar für alle, die wie die langsam gehenden Alten ein bisschen Zeit brauchten, bis sie den Kopf hinausstreckten. In winziger Schrift notierte er alle Bekanntmachungen in einem Heft, mal mit einem Titel, mal nur mit einem Datum versehen. Die Pausen markierte er durch einen Bindestrich, die zu seiner Zeit geläufigen Telegramme nachahmend. Einmal verkündete er eine Nachricht, die noch seltsamer war als die, die er gewöhnlich ausrief und in der er wiederum von einem Ausrufer, wie er auch selbst einer war, berichtete. Sie trug den Titel »Philosophische Bekanntmachung am Morgen« und lautete so:

Nichts war notwendig – nichts vorbestimmt – weder du, noch der Himmel – weder ich, noch die Welt – weder Tag, noch Nacht – aber der Morgen brach an – und eines Morgens, nach einiger Zeit – der Nachtwächter sang sein Lied um sechs Uhr – der Laternenanzünder löschte die Lichter – und am Vormittag verkündete der Ausrufer: das Leben hat die Form eines Bogens – wie das Gewölbe des blauen Himmels – mit einem Laken und einem Namen – ist ein Mädchen zur Welt gekommen – jeden Tag, auf der flachen Erde – werden Hütten mit hölzernen Dächern errichtet – und die Linie der Wörter ist gebogen – um den Geschmack einer jeden Sache zu segnen – und die Trauer eines jeden Blicks zu trösten – nichts war vorbestimmt – weder du, noch der Himmel – weder ich, noch die Welt – weder Tag, noch Nacht –

Der ununterbrochene Dialog mit Nietzsche hat auch den Titel dieses Buches hervorgebracht; ein Titel, der den philosophischen Horizont zum Ausdruck bringt, nach dem es wert ist, alle Bemühungen auszurichten. Eine Sehnsucht, die so einfach zu sagen ist: Wäre doch der Mensch noch menschlicher! Menschlicher zu sein, meint nicht, über das Menschliche hinauszugehen, sondern gerade das Menschliche des Menschen zu intensivieren, es zu vertiefen, denn genau hierin liegt das Wertvollste überhaupt.

Währenddessen und ganz im Gegenteil hierzu erachtet Nietzsche es für notwendig, die menschliche Anomalie zu überwinden; ihn bekümmert und er beklagt die kärgliche Kraft des Menschen. Dieses Motiv ist im Grunde ein uraltes Klischee, das unsere übertriebene Schwäche betont. Es lohnt sich jedoch, sich zu fragen, ob Schwäche immer ein Anzeichen von Niedrigkeit ist. Und wenn Abraham sogleich unfähig gewesen wäre, den göttlichen Befehl anzunehmen, dem zufolge er seinen Sohn töten sollte? Zu wenig Glaube oder zu viel Menschlichkeit? Besonders ausdrucksstark finde ich die Verse Luigi Grotos, eines italienischen Dramaturgen der Renaissance, in einer theatralischen Interpretation des biblischen Dramas. Abraham klagt darin über seine tragische Situation und die Schwäche, die von ihm so empfunden wird: »Oh! Allzu verweiblicht; oh! Allzu menschlich …«.3

Genau das ist es! Zu menschlich zu sein wird hier mit der Tatsache in Verbindung gebracht, zu schwach und zu verweiblicht zu sein – das heißt, wörtlich genommen, mit der Tatsache, zu viel Weiblichkeit zu besitzen –. Angesichts des furchtbaren – und unmenschlichen! – Befehls Gottes, seinen Sohn zu opfern, fragt sich Abraham, perplex und verängstigt, was er nur tun soll. Zutiefst betrübt klagt er und führt die Schwäche spontan auf die Tatsache zurück, menschlich zu sein, allzu menschlich.

Sowohl die darin enthaltene Idee als auch der Wortlaut Grotos könnten nur zu gut – und wer weiß, vielleicht haben sie das auch tatsächlich getan – Nietzsche zum Titel seines Buches inspiriert haben: Menschliches, Allzumenschliches; genauso wie sie nun auch meinen Titel mitinspirieren sollten: Menschliches, noch Menschlicheres, der nun nichts mehr an Klage oder Geringschätzung an sich hat, ganz im Gegenteil. Was könnte es Menschlicheres geben als eine solche Schwäche? Dies ist nun die These dieses Buches. Neben dem Dialog mit Nietzsche bringt der Titel – Menschliches, noch Menschlicheres – fast wie ein Rückstoß auch die Gegenrede zu einer der ideologischen Evasionen unserer Zeit zum Ausdruck: die des Transhumanismus mit seinen süßen Versprechen auf ein Jenseits des Menschlichen. Natürlich beziehe ich mich damit nicht auf die Frage, was wir mit den biotechnologischen Erfindungen zu erreichen vermögen, sondern auf die ideologische Rede, von der diese begleitet und ausschmückt werden. Welch trauriges Paradox ist es doch, zu glauben und danach zu streben, über das Menschliche hinausgehen zu können, während es uns an Menschlichkeit noch fehlt! Sich also zu verirren und nicht zu bemerken, dass der bedeutendste Horizont nicht der ist, der weit in die Ferne reicht, sondern der, der tiefer ins Innere geht.

Jeder weiß aus seiner eigenen Erfahrung, dass wir Menschen uns irren können, ein wenig oder auch sehr. Es irren sich allerdings auch Zivilisationen. Dazu braucht man nicht unbedingt auf historische Beispiele zurückzugreifen: Unsere eigene ist schon länger vom Kurs abgekommen – oder vielleicht ist sie ihm auch noch nie so richtig gefolgt. Seit zwei Jahrhunderten leben wir nun schon unter der beharrlichen Rhetorik des Fortschritts und dennoch, an den Rändern türmen sich weiterhin auf ungeheuerliche Weise die Opfer. Das zwanzigste Jahrhundert zeigte, dass das Schlimmste – die extremste Unmenschlichkeit in Form totalitärer Gewalt – nun noch möglicher – und auch noch wahrscheinlicher – ist als jemals zuvor. Die Herrschaft der Welt wird auch jetzt noch von Banalität und persönlichen Interessen dominiert. Gemeinsam haben wir die Erde wie ein Vorratslager an Rohstoffen behandelt und diese nahezu aufgebraucht, um sie schließlich zum Abfalldepot umzuformen. Währenddessen macht uns die technologische Verwandlung der Gesellschaft, verbunden mit übertriebenem Konsumverhalten, narkotisch und droht stillschweigend, einfach alles ins Verderben zu stürzen.

Um Orientierung zu gewinnen, wären Veränderungen notwendig, die so grundlegend sind wie unwahrscheinlich. Dennoch sollte man nie aufgeben, sondern ganz im Gegenteil vom eigenen Standort aus Widerstand leisten. Vielleicht können wir auch nur einen bescheidenen Beitrag leisten und dennoch, alles zählt. Es bedarf Mut, um sich beispielsweise in Momenten großer Desorientierung doch an das Wesentliche zu halten und etwas Gutes zu tun.

Da trotz der zunehmenden Fülle an Theorien aller Art das Verständnis, das wir von uns selbst haben, nie geringer war, könnten wir Orientierung finden, indem wir herausspüren, dass das Menschliche im Grunde genommen eher mit Verantwortung als mit Macht zusammenhängt; dass eine menschlichere Zivilisation dazu führte, in der Welt zu wohnen, und keineswegs dazu, aus dem Haus zu gehen, um die Welt zu beherrschen; dass eine menschlichere Kultur keine ängstliche und auch keine nihilistische Kultur ist, sondern eine, die weiß, dass es keine intensivere Kraft gibt als die, die mit dem Sinn einhergeht. In der Schwäche, im Menschlichen, in der Verletzlichkeit …, in diesem zu, das in Wirklichkeit ein noch mehr ist, spürt man den Puls der Wahrheit.

Die essayistische Form des Schreibens hat einige Vorteile, ist jedoch natürlich nicht frei von Einschränkungen. Zu anderen Zeiten, als die Philosophiebücher gewöhnlich in Form von Traktaten erschienen, boten diese schon im Inhaltsverzeichnis ihre konzeptuelle Struktur dar. Im Essay ist die konzeptuelle Konstellation nie so expliziert formuliert, auch wenn man sie ausfindig machen kann. Jedes Konzept stellt einen Stern in dieser Konstellation dar. Nicht alle Punkte haben den gleichen Durchmesser oder die gleiche Leuchtkraft und dennoch sind sie alle unersetzlich im Hinblick auf die Gesamtfigur.

Mit der Philosophie der Nähe versuche ich, die Radikalität des Menschlichen (das, was an seine Wurzeln reicht bzw. es zur Wurzel macht; la radicalitat de l’humà)4 zu denken und auf diese Weise eine, in akademischen Begriffen ausgedrückt, philosophische Anthropologie auszuarbeiten, deren Grundkonzepte die folgenden wären: »jemand«, das Pronomen des Menschen; »Ausgesetztsein gegenüber den Unbilden der Witterung« (intempèrie),5 was die grundlegende Situation beschreibt; »Faltung des Fühlens« und »unendliche Verletzung«, die das Wesen des menschlichen Lebens ausdrücken; »poietische Beugung«, die die Bedeutung des Handelns nachvollzieht; sowie »Wiederbegegnung«, die den Horizont eines jeden Hoffens darstellt. Zu dieser Grundkonstellation kommen noch andere, ebenso bedeutsame, leuchtende Punkte: »Anfang«; »Zuflucht«; »Umgebung«; »Widerstand«; »Versammlung«; »Gesang«; »Gefährte sein« …

Man müsste in Worte fassen können, wie jeden Tag unter dem blauen Himmel und auf der flachen Erde jemand einen Namen erhält und so die unendliche Verletzung fühlt, die ihn ausmacht. Ich nehme nun schon einmal vorweg, dass unendliche Verletzung hier nichts mit Schmerzlichkeit zu tun hat und auch mit keinerlei Apologie des Leidens, im Sinne eines Mittels, irgendetwas zu erreichen. Unendliche Verletzung ist der Begriff, der mir letztendlich als der Treffendste erscheint, um den tiefen, wie ein querformatiges Kreuz geformten Einschnitt darzustellen, der uns bis in die Mitte unserer Seele berührt, oder besser gesagt, der unsere Seele hervorbringt. So ist »leben«, im günstigsten Fall, nah bei dieser Verletzung zu sein und von ihren Bewegungen aus zu tun.

Der Weg des Denkens ist ein besonderer. Manche haben vorgegeben, oder geben vor, ihn von einem hohen Gipfel oder einer Art spiegelnden und spekulativen Kanzel aus blickend zurückzulegen. Dann ist die zurückgelegte Strecke jedoch fiktiv, denn man hat noch nicht einmal mit den Füßen den Boden berührt; so tut sich ein Weitblick auf, der allerdings den Ernst und die Leichtigkeit verkennt, die jedem Schritt anhaften. Der Weitblick verbindet sich manchmal mit einer Dialektik, die darin besteht, die verschiedenen Etappen des dargestellten Weges als aus Gegensätzen gemacht zu verstehen, die mit ihrer Auflösung den Fortschritt erzeugten.

Es gibt allerdings auch eine andere Möglichkeit: Nicht reflektieren im Sinne von widerspiegeln, nicht spekulieren, sondern reflektieren im Sinne von nachdenken, nachsinnen.6 Kein Spiegel sein wollen, sondern ein achtsamer Pilger. Langsam gehen, ohne die Hindernisse, Schwierigkeiten und Kämpfe zu ignorieren, um die man keineswegs umhinkommt und auch nicht umhinkommen sollte. Die Aufmerksamkeit auf die Randbereiche gerichtet, auf die Farben des Bodens und der Bäume, vor allem jedoch auf die Bitten der Weggefährten. Im Unterschied zum Weitblick sucht der reflexive und aufmerksame Blick keine ganzheitliche Erklärung, sondern versucht vielmehr, Erklärungen zurückzunehmen (desexplicar),7 um sich so der Bedeutung der Dinge zu nähern. Heutzutage, da Theorien und allgemeine Geschwätzigkeit zu undurchdringlichem Gestrüpp anwachsen, bedeutet das Zurücknehmen der Erklärung, zu entwirren und sich so einen Weg zu bahnen, was notwendig wird, um ein wenig Klarheit zu schaffen und das Weitergehen zu ermöglichen. Wie seltsam es auch scheinen mag, entweder nehmen wir die Erklärungen ein wenig zurück oder wir werden von dem, was wirklich von Bedeutung ist, nichts begreifen. Klären heißt, die Verwirrung hinter sich und Licht hineinzulassen. Die Verworrenheit ist homogen. Die Erklärungen zurückzunehmen, schafft Klarheit und zugleich Unterschied, genauer gesagt, es lässt den Unterschied sich offenbaren. So kann daraufhin mit dem Unterschied – auf poetische Weise – etwas hervorgebracht werden. Antonio Machado sagte, das poetische Denken bringe Heterogenität hervor. Die Klärung – und die Unterscheidung – das ist das sokratische Nichtwissen; ein reflexives Nichtwissen, das entweder selbst hervorbringt oder wie ein Geburtshelfer dazu verhilft.

Klären also, um einen Weg zu bereiten, indem der Unterschied bemerkt und vermerkt wird. Aber auch hier muss achtgegeben werden: Man sollte unterscheiden, ohne dass die Unterscheidung in der Schizophrenie endet. Zwar unterscheiden, aber nicht trennen oder aufspalten, nichts stärker einander entgegensetzen als nötig, vielmehr unterscheiden, um zusammenzubringen: Himmel und Erde, Tag und Nacht, Leichtigkeit und Ernst, Handeln und Hoffen … Auf diese Weise ist die Philosophie der Nähe, während sie darauf bedacht ist, weder in der Verwirrung zu verharren noch sich in die pathologische Auftrennung zu stürzen, dem flexiblen Zusammenfügen (articulació) und der Nahtstelle verpflichtet.

Die Nahtstellen zu erkennen, in denen wir uns befinden, gibt Kraft, um neue zu schaffen. Denken als symbolisches Schaffen ist poietische Naht. Auf den schon bestehenden Nahtstellen können wir weitere schaffen, in Form eines Mehrwerts; man könnte ihn einen kreativen Mehrwehrt nennen.

Zutiefst beunruhigend, ja schizophren wäre die Erde ohne Beziehung zum Himmel oder der Himmel ohne Beziehung zur Erde. Der Horizont, der so beruhigend auf uns wirkt, ist relational. Beziehungen retten uns. Das Entsetzen besteht in den totalisierten Elementen: der Leere des Himmels, der dichten Dunkelheit der Erde … Die Beziehung ist schon Konkretisierung und die Dinge sind Dinge in der Konkretheit der Beziehung. Wenn etwas aus seinen Beziehungen herausgetrennt wird, wie das in manchen künstlerischen Prozessen geschieht, dann ist es, als verformte es sich auf ungeheuerliche Weise und erinnerte uns an das Rauschen des Abgrunds. Verbindungsstellen zu erkennen heißt dagegen schon, Orientierung zu finden und in der Lage zu sein, weitere hervorzubringen.

Der Weg des Denkens führt nicht über weite Flächen. Er strebt nicht danach, weit hinauszugehen, sondern eher dahin, sich ein bisschen nach innen zu richten. Und gerade deshalb denkt er über sich selbst nach, wiederholt das gleiche Lied und behält den gleichen Horizont.

Er ist kein Weg der Unbeweglichkeit, sondern ein Weg der Ausdauer. Deshalb erinnere ich mich oft und gerne an die so amüsante Anekdote, die Xenophon über Sokrates erzählt. Nach einem langen Aufenthalt in der Ferne kehrt Hippias – ein bekannter Sophist – nach Athen zurück. Eines Tages sieht er Sokrates, wie er sich gerade mit seinen Schülern unterhält. Da richtet er sich an ihn, aus einer gewissen Entfernung und in einem etwas spöttischen Ton:

»Führst du denn noch immer, Sokrates, jene gleichen Reden, die ich schon früher mal von dir gehört habe? Und Sokrates erwiderte: Was doch sicherlich noch schlimmer als dies ist, Hippias, ich führe nicht nur immer dieselben Reden, sondern auch über dieselben Gegenstände. Du dagegen mit deinem reichhaltigen Wissen sagst wahrscheinlich niemals dasselbe über dieselben Gegenstände. Natürlich, erwiderte jener, ich bin bemüht, immer etwas Neues zu sagen.«8

Fürsorge erfordert Wiederholung. Während ein gewisser Intellektualismus das Neue sucht, will das Herz vor allem wiederholen. Und es ist das Herz, das die Verletzung in sich trägt. Das macht es so ratsam, eher den Weisen zu folgen, die wie Sokrates die Fähigkeit haben, zu wiederholen, anstatt den Sophisten, die nur darauf aus sind, mit ihren angeblichen Innovationen zu blenden. Wir sind also darauf ausgerichtet, zu wiederholen, denn es sind nicht wir, die die Fragen stellen, sondern es sind die Fragen, die uns berühren und die sich uns stellen.

Die Erklärungen zurücknehmen und dann die Bewegung zum Grund hin wiederholen; das ist der Weg und das Mantra des Denkens. Eine Wiederholung, die die Dinge nicht so lässt, wie sie waren, denn der, der wiederholt, verändert sich selbst und wird den Anderen zum Zeugen. Von Lastheneia, Schülerin Platons, bis hin zu Margarita, Schwester der Caridad; wer zulässt, dass das Denken sein Leben verwandelt, ist ein spiritueller Mensch, ohne dies zur Schau zu stellen. Jemand, der morgens aufsteht, seine Arbeit erledigt, seine Nächsten versorgt, sich vergnügt … In fast alldem spürt man allerdings etwas Besonderes, etwas Rares. Zudem ärgert sich die spirituelle Person weder über den gesunden Menschenverstand noch tut sie das Leben der Anderen als unauthentisch ab, denn das ist geradeso wie ihr eigenes. Sie lebt die Normalität, befindet sich dennoch schon im Außergewöhnlichen. Sie lebt den Tag, jedoch in Beziehung zur Nacht. Sie führt einen intensiven, diskreten, gewaltlosen Kampf. Einen Kampf, in dem sie weder zu besiegen noch zu überzeugen erhofft. Keinen Gegner gilt es zu bezwingen. Es ist ein Kampf, der keinen Sieg sichtet, denn eine siegreiche Seele wäre fast schon ein Widerspruch. Der Kampf hat die Form des Weges, der Konstruktion und des Wartens, des Hoffens.

Hammer, Nägel und Mörtelkübel. Die Erklärungen zurücknehmen (desexplicar), um es danach noch einmal auf eine andere Weise zu sagen. Eine magere Philosophie ist keine Philosophie, die sich damit beschäftigte, oder hauptsächlich damit beschäftigte, abzureißen. Ihr Bemühen gilt nicht ausschließlich der skeptischen Kritik, sondern dem Suchen nach Gründen dafür, ein wenig zu vertrauen, um auf diese Weise etwas Gutes tun zu können. Das heißt, nicht nur Philosophie mit dem Hammer. Nach der Arbeit mit dem Hammer allein: Hammer und Nägel, um die Bretter miteinander zu verbinden und Decken und Überdachungen zu errichten. Nach der Arbeit mit dem Hammer allein: dazu der Mörtelkübel, um Sand und Wasser zu mischen und Stege und Brücken zu bauen.

Philosophie ohne Luxus. Nur mit dem nötigsten Proviant. Nur wenig, denn Übermäßigkeit ist nie gut. Und die Geduld des Denkens lässt sich sicherlich nicht mit ihr vereinbaren. Zum Denken braucht es nur ein bisschen Wärme als Grundlage. Allerdings keine Opulenz oder Verschwendung. Philosophie ohne Luxus, denn übermäßiges Reden ist immer unangebracht, lächerlich oder gefährlich. Ein wenig Vertrauen zu haben, ist oft sogar besser, als auf oberflächliche oder dogmatische Weise viel davon zu haben. Ganz ohne jedoch kann man nicht leben. Der Unterschied zwischen keinem und einem bisschen ist enorm. Die philosophische Hoffnung geht von ein wenig Sinn in ein wenig mehr Sinn über – obwohl dieses zweite Wenige in gewisser Weise unendlich ist; anders –.

Aus heutiger Sicht ist klar: Dass die Philosophie allzu oft mit einem gewissen Wohlstand und mit Muße in Verbindung gebracht wurde, hat ihr nicht besonders gutgetan. Sicherlich erfordert das Nachdenken Zeit, Geduld und die Grundbedürfnisse gedeckt zu haben. Übermäßigkeit und Opulenz begünstigen es allerdings nicht; nicht als äußere Umstände und auch nicht als Aufforderung, der es folgen könnte. Die Philosophie muss ihrem Wesen nach arm sein. Die übertrieben komfortable ist entweder zu fett oder zu kalt, zu prahlerisch, oder sie gibt zu sehr vor, zynisch zu sein. Es gibt »aristokratische« Philosophien, die keine Art Mitleid zeigen; akademistische Philosophien, die erstarren – für nichts leben –; unersättliche Philosophien, die, anstatt auf das Unendliche hinzuweisen, es entweder verkennen oder behaupten, es verschlungen zu haben; Philosophien, die Dogmen und Ideologien dienen … sind das wirklich noch Philosophien?

Eine Philosophie ohne Luxus weiß hauptsächlich zwei Dinge. Erstens: dass wenig viel ist. Zweitens: dass sie im Dienst des Handelns und der Orientierung des Lebens zu stehen hat. Dass das Nachdenken über das Leben dieses intensivieren sollte. Und dass das Nachdenken über das Böse dazu beitragen sollte, es zu bekämpfen. Dass eine gute Theorie an sich schon Geste und Handlung sein sollte.

Konspiration der Wüste. Die Philosophie der Nähe, freiwillige Erbin des Sokratismus und Postulantin der Franziskaner, ist eine Philosophie des Wir, der horizontalen Versammlung, von der sich nur diejenigen selbst ausschließen, die irgendeine Art Hochmut sehen lassen. Die Kon-spiration der Wüste zu erweitern heißt, ein und die gleiche Inspiration sowie ein und das gleiche Streben zu verbreiten: in Brüderlichkeit zusammenzuleben, mit Brot und Gesang oder, was das Gleiche ist: mit Zuhause und einem Fenster zum Himmel hin.

IIWIE HEISST DU? (DER NAME)

JEMANDEN BENENNEN

Nicht nur am ersten Tag, sondern auch am Tag darauf und auch an dem Tag, der dem Tag darauf folgt, zwingt uns die Blöße des menschlichen Gesichts in vielen Situationen dazu, uns vor den bestehenden Witterungsunbilden und dem Abgrund zu schützen, manchmal vielleicht hinter Brettern, die mit Seilen aneinandergebunden werden. Der Name, den wir uns geben, kommt mit der geheimnisvollen Blöße des Gesichts überein und wird gleichzeitig Mahnmal dieser abgründigen Bändigung; eine Mahnung und eine Weise, das Band erneut zu straffen, das dann und wann erschlafft.

Wie ist der Name des Menschen? Der Name einer Gattung bedeutet hier nicht viel, denn jede Person ist eine Welt für sich. Der Mensch hat keinen Gattungsnamen, der ausdrücken könnte, was er ist. »Ich weiß nicht, was ich bin; ich bin nicht, was ich weiß«, schrieb Silesius.9 Wenn von generischen Bezeichnungen wie Homo sapiens Gebrauch gemacht wird, so sollten diese in jedem Fall sekundär bleiben.

Jede Person ist jemand. Die so beantwortete Frage lautet Wer ist das? und nicht so sehr Was ist das?

Jemand, jemand anders, ein Anderer, noch Einer (un altre un).10

Jemand ist ein einfaches Pronomen, das wir mit Person, Individuum, Subjekt … und sogar mit dem heideggerschen Dasein gleichsetzen könnten, denn es schließt das Hier, die Faktizität, mit ein. Wenn gesagt wird: »Da ist jemand«, dann schließt sich dem gleich an: »Wo?«. Und vor allem wird sogleich gefragt »Wer?«. Daraufhin antworten wir spontan mit der scheinbaren Schlichtheit des Namens: »Jemand«. »Wer?«. »Anna«.

Es gibt keine Menschheit, die herumläuft. Es gibt keinen Gedanken, der denkt. Es gibt keine Liebe, die liebt. Es gibt keine Sprache, die spricht. Da sind Anna und Joan und sie gehen, lieben, denken und sprechen.

Wie ist also der Name des Menschen? Es lohnt sich hier die Redundanz, der Name des Menschen ist sein Name; der Eigenname; der Vorname. Es gibt keine größere Offenbarung des Menschen als die des Namens. Deshalb würde es eine extreme Gewalttat darstellen, einem Kind keinen Namen geben zu wollen oder, in die gleiche Richtung argumentierend, einer schon erwachsenen Person den Namen zu entreißen und sie auf diese Weise zu vernichten, wie dies in den nationalsozialistischen und stalinistischen Konzentrationslagern und so vielen anderen unmenschlichen Orten geschah.

Der Name ist Zeichen für etwas so Wertvolles, dass es vorsichtshalber einen geheimen geben muss. Ein geheimer, der im Extremfall als letztes Refugium dienen und uns vor Verschmähung und Demütigungen aller Art retten kann.

Die Gegebenheit, dass der Name hier zur Fährte wird, sollte uns jedoch nicht beirren. Das Entscheidende und das, wodurch wir uns angesprochen fühlen, ist keine grammatische Kategorie, sondern viel mehr die Tatsache, dass jemand, indem er ein Jemand ist, einen Namen verdient. Der Name ist also nur die Fährte, die auf das hinweist, was von Bedeutung ist: die Tiefe des Menschlichen.

Ein Blick, der dich erkennt, ist schon ein Blick, der den Namen nennt. Der Name ist zuvor Pronomen. Und das Pronomen ist zuvor Blick. Das macht es unmöglich, die Spur bis ans Ende zu verfolgen. Wenn ich vom Eigennamen spreche, denke ich an die Handlung, jemanden beim Namen zu nennen, jemanden als jemand anzusprechen, mit dem Namen, mit einem Pronomen, einem Kosenamen, einer Geste oder einem Blick.

Obwohl es auch Eigennamen gibt, die keine Personennamen sind – beispielsweise Ortsnamen –, beziehe ich mich hier, wenn ich von Eigennamen spreche, immer auf Anthroponyme. Und dennoch, wie soeben bemerkt, ist nicht so sehr die objektivierte Form der Sprache zu beachten, sondern eher das, was passiert, wenn ein Substantiv, nehmen wir mal an, Rose oder Erika,11 dazu dient, jemanden zu benennen, und so unmittelbar nicht nur Personenname, sondern auch Eigenname wird. Die Kraft des persönlichen Gesichts ist so groß, dass alles, was erst gemein war, eigen wird, sobald man es anspricht. In diesem Moment werden nicht nur die Nachnamen überflüssig, sondern sogar die linguistische Form des Namens selbst.

So viel ist klar, alles kann sich ins Negative kehren. Nur wenn man sich damit taktvoll an jemanden richtet, ist der Name im eigentlichen Sinn Name. Nicht aber, wenn dies nur so scheint oder wenn es sich nur um eine oberflächliche Form des Respekts handelt. Wichtig ist die Art und Weise, auf die der Name das fast unsichtbare Gesicht erreicht und wie dieses fast unsichtbare Gesicht schweigend den Namen verkündet. Diese Bewegung in doppelter Richtung ist die Grundlage des Zusammenseins und der Gemeinschaft.

Dass alles sich ins Negative kehren kann, bedeutet zudem, dass man sich selbst auch zu sehr bestätigen – und mehr als nötig signieren – kann, indem man immerzu und überall seinen Namen wiederholt und herausstellt. Dann kann es durch einen abwartenden, philosophischen Blick durchaus angebracht erscheinen, diese Ausartung zum Grund und zum Ziel der Kritik werden zu lassen.

NAME OHNE EIGENTUM

Natürlich kann man die Thematik des Namens in die Richtung der Logik des Eigentums und der Autorschaft hin auslegen. Das hat Derrida mit sehr viel Scharfsichtigkeit getan, um sie daraufhin heftig kritisieren zu können.12 Seinen Lesern möchte er die Gefahren aufzeigen, die diese exzessive Betonung der Urheberschaft und der Unterschrift mit sich bringt. Und damit hat er völlig recht, denn die Übersteigerung des Eigennamens zeugt von Selbstverherrlichung, Eitelkeit, Herrschsucht und einer durch die Idee der Macht geprägten Weltansicht.

In diesem Fall bedürfte es als Reaktion sehr wohl eines Lobes der Bescheidenheit sowie der Herausstellung der gemeinsamen Urheberschaft, des kollektiven Werkes und noch mehr der Anonymität. Genau genommen gibt nicht erst die individualistische Maßlosigkeit der heutigen Gesellschaft Anlass zu diesen Korrektiven; denn sie existieren schon sehr lang und stehen mit wertvollen Lebensweisen nach dem Prinzip der Askese und der Loslösung vom Selbst in Zusammenhang. Die Kartäuser unterschreiben beispielsweise nicht mit ihrem Namen; der von ihnen angestrebte Verzicht geht so weit und der Egoismus, von dem sie sich befreien möchten, wiegt so schwer, dass sie sich bemühen, ja sogar auf den Namen zu verzichten.

Den Namen mit der Etikette des Eigentums und der Urheberschaft zu versehen, macht all dies jedoch, so glaube ich, zu leicht zur Zielscheibe der Kritik, während sich die Aufmerksamkeit vom eigentlichen Wesentlichen entfernt, das nichts anderes ist als die einfache Benennung jemandes. Demnach muss zunächst bemerkt werden – auch um das Problem des Eigentums und das der Urheberschaft überhaupt erst richtig einordnen zu können –, dass die Alternative zum Egozentrismus nicht nur in der Anonymität oder im kollektiven Namen besteht, sondern vor allem im einfachen Nennen des Namens. Jenseits oder diesseits von Eigentumsurkunden und Souveränitätsansprüchen strahlt die Einfachheit des Namens.

Sie wird gefragt: »Wie heißt du?« und antwortet: »Ich heiße Anna, ich bin Anna«.

Dem Namen entgegengesetzt steht nicht die Anonymität, sondern die Unpersönlichkeit.

DER NAME, DER DICH ERREICHT

Der Name, der dich erreicht, ist verdient, ohne etwas dafür getan zu haben. Verdient, da das Gesicht Ausdruck des Anfangs und Antizipation der tiefen Verletzung ist. Einen Namen geben bedeutet, wie wir bald sehen werden, einen absoluten Anfang anzuerkennen. Es wird dem ein Name gegeben, der zum ersten Mal da ist, der eingeführt wird. Wie wichtig es auch sein mag, jedes Erbe ist zweitrangig; jedes, ohne Ausnahme: sei es biologisch, kulturell, familiär, »freudianisch« …

Der Eigenname verweist auf die Singularität der Person; er entspricht dem Ereignis der Geburt und der sakralen Handlung der Taufe. Dass die religiöse Feier, bei der das Weihwasser aus dem Taufbecken empfangen wird, heutzutage immer seltener praktiziert wird, bedeutet nicht, dass es nicht noch immer eine Reihe von Momenten gäbe, die damit in enger Verbindung stehen: der Moment, in dem die Eltern einen Namen wählen; wenn sie ihn den nächsten Angehörigen mitteilen; wenn sie denjenigen, der zur Welt kommt oder der gerade zur Welt gekommen ist, zum ersten Mal mit diesem Namen ansprechen … Die Taufe – oder das, was sie ersetzt – ist eine Feierlichkeit, bei der jemandem ein Name gegeben wird, der schon einen – geheimen – Namen hat. Man bestätigt und erkennt demjenigen öffentlich den Namen an, der einen Namen trägt.