Mephisto - Klaus Mann - E-Book + Hörbuch

Mephisto E-Book und Hörbuch

Klaus Mann

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Beschreibung

Neue Deutsche Rechtschreibung »Mephisto« von Klaus Mann erzählt die fesselnde Geschichte des Schauspielers Hendrik Höfgen, der im Dritten Reich seine moralischen Prinzipien opfert, um Karriere zu machen. In scharfsinniger und psychologisch tiefer Erzählweise zeigt Mann, wie Höfgen zum Star des nationalsozialistischen Regimes wird und sich dabei in Verrat und Opportunismus verstrickt. Der Roman ist mehr als ein historisches Dokument. Er beleuchtet die Verführbarkeit des Menschen und die Kompromisse zwischen Kunst, Moral und Macht, die auch heute relevant sind. Mit sprachlicher Brillanz und dichter Atmosphäre bleibt "Mephisto" ein zeitloses Meisterwerk, das lange nachwirkt und zum Nachdenken anregt. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 532

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Zeit:12 Std. 26 min

Sprecher:Ingolf Kloss
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Klaus Mann

Mephisto

Roman einer Karriere

Klaus Mann

Mephisto

Roman einer Karriere

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] EV: Querido Verlag N.V. Amsterdam, 1936 2. Auflage, ISBN 978-3-962819-03-3

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Inhaltsverzeichnis

Me­phi­sto: Teuf­li­scher Pakt mit dem Er­folg – Vor­wort zur Neu­auf­la­ge 2024

Vor­spiel – 1936

I. H.K.

II. Die Tanz­stun­de

III. Knor­ke

IV. Bar­ba­ra

V. Der Ehe­mann

VI. »Es ist doch nicht zu schil­dern …«

VII. Der Pakt mit dem Teu­fel

VIII. Über Lei­chen

IX. In vie­len Städ­ten

X. Die Dro­hung

Dan­ke

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Mephisto: Teuflischer Pakt mit dem Erfolg – Vorwort zur Neuauflage 2024

Klaus Manns Ro­man »Me­phi­sto« – er­schie­nen 1936 im Exil – zählt zu den be­deu­tends­ten Wer­ken der deut­schen Li­te­ra­tur des 20. Jahr­hun­derts. Der Schlüs­sel­ro­man er­zählt die Ge­schich­te des ta­len­tier­ten Schau­spie­lers Hen­drik Höf­gen, der sei­ne künst­le­ri­schen Idea­le für Ruhm und Er­folg im na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deutsch­land op­fert.

Ein Ro­man von zeit­lo­ser Ak­tua­li­tät

Me­phi­sto zeich­net ein be­klem­men­des Bild der mo­ra­li­schen Ver­stri­ckun­gen und frag­wür­di­gen An­pas­sun­gen im An­ge­sicht des Nazi-Re­gi­mes. Höf­gens Weg vom idea­lis­ti­schen Künst­ler zum ge­fei­er­ten Star un­ter den Na­tio­nal­so­zia­lis­ten steht sinn­bild­lich für den Op­por­tu­nis­mus und die Ge­wis­sens­kon­flik­te vie­ler In­tel­lek­tu­el­ler je­ner Zeit.

Kon­tro­ver­se und Ver­bots­ge­schich­te

Der Ro­man sorg­te be­reits nach sei­ner Ver­öf­fent­li­chung für große Kon­tro­ver­sen. Gu­staf Gründ­gens, ein be­rühm­ter deut­scher Schau­spie­ler, sah sich in der Fi­gur des Hen­drik Höf­gen por­trä­tiert und fühl­te sich da­durch dif­fa­miert. 1968 er­reich­te sein Ad­op­tivsohn Pe­ter Gorski ein Ver­bot des Ro­mans in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, wel­ches 1971 vom Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt be­stä­tigt wur­de. Das Ver­bot, das bis 1981 Wir­kung zeig­te, trug zur Le­gen­den­bil­dung um Gründ­gens bei und schür­te das In­ter­es­se am Werk.

Me­phi­sto: Ein wich­ti­ger Bei­trag zur deut­schen Li­te­ra­tur und Zeit­ge­schich­te

Die Neu­auf­la­ge von »Me­phi­sto« im Jahr 2024 macht die­sen li­te­ra­ri­schen Mei­len­stein er­neut der brei­ten Öf­fent­lich­keit zu­gäng­lich. Der Ro­man, der weit mehr ist als ein Schlüs­sel­ro­man, be­sticht durch sei­ne viel­schich­ti­ge Cha­rak­ter­zeich­nung, sei­ne tie­fe psy­cho­lo­gi­sche Präg­nanz und sei­ne scho­nungs­lo­se Zeit­kri­tik.

Me­phi­sto ist nicht nur ein pa­cken­des Le­se­er­leb­nis, son­dern auch ein wich­ti­ges Zeug­nis der deut­schen Ge­schich­te und eine zeit­lo­se Aus­ein­an­der­set­zung mit Fra­gen von Kunst, Moral und Po­li­tik.

J.S.

DER SCHAUSPIELERIN THERESE GIEHSE GEWIDMET

»Alle Feh­ler des Men­schen ver­zeih’ ich dem Schau­spie­ler, kei­ne Feh­ler des Schau­spie­lers ver­zeih’ ich dem Men­schen.«

Goe­the, »Wil­helm Meis­ter«

Vorspiel – 1936

»In ei­nem der west­deut­schen In­dus­trie­zen­tren sol­len neu­lich über acht­hun­dert Ar­bei­ter ver­ur­teilt wor­den sein, alle zu ho­hen Zucht­haus­stra­fen, und das im Lau­fe ei­nes ein­zi­gen Pro­zes­ses.«

»Nach mei­nen In­for­ma­tio­nen sind es nur fünf­hun­dert ge­we­sen; über hun­dert an­de­re hat man erst gar nicht ab­ge­ur­teilt, son­dern heim­lich um­brin­gen las­sen, ih­rer Ge­sin­nung we­gen.«

»Sind die Löh­ne wirk­lich so ent­setz­lich schlecht?«

»Mi­se­ra­bel. Da­bei fal­len sie noch – und die Prei­se stei­gen.«

»Die De­ko­rie­rung des Opern­hau­ses für heu­te Abend soll 60.000 Mark ge­kos­tet ha­ben. Dazu kom­men min­des­tens noch 40.000 Mark an­de­re Spe­sen – nicht mit­ge­rech­net die Un­kos­ten, die es der öf­fent­li­chen Kas­se ge­macht hat, das Opern­haus, we­gen der Vor­be­rei­tun­gen für den Ball, fünf Tage lang ge­schlos­sen zu hal­ten.«

»Eine net­te klei­ne Ge­burts­tags­fei­er.«

»Ekel­haft, dass man den Rum­mel mit­ma­chen muss.«

Die bei­den aus­län­di­schen jun­gen Di­plo­ma­ten ver­neig­ten sich, auf den Ge­sich­tern das lie­bens­wür­digs­te Lä­cheln, vor ei­nem Of­fi­zier in großer Uni­form, der hin­ter sei­nem Mo­no­kel einen miss­traui­schen Blick auf sie ge­wor­fen hat­te.

»Die gan­ze hohe Ge­ne­ra­li­tät ist da.« Sie spra­chen erst wie­der, als sie die große Uni­form au­ßer Hör­wei­te wuss­ten.

»Aber sie sind alle für den Frie­den be­geis­tert«, füg­te der an­de­re bos­haft hin­zu.

»Wie lan­ge noch?« frag­te fröh­lich lä­chelnd der Ers­te, wo­bei er eine klei­ne Dame von der ja­pa­ni­schen Bot­schaft be­grüß­te, die am Arm ei­nes hü­nen­haf­ten Ma­ri­ne­of­fi­ziers klein und zier­lich ein­her­schritt.

»Wir müs­sen auf al­les ge­fasst sein.«

Ein Herr vom Aus­wär­ti­gen Amt ge­sell­te sich zu den bei­den jun­gen Bot­schaft­sat­tachés, die so­fort dazu über­gin­gen, Pracht und Schön­heit der Saal­de­ko­ra­ti­on zu prei­sen. »Ja, der Herr Mi­nis­ter­prä­si­dent hat Freu­de an die­sen Din­gen«, sag­te, et­was ver­le­gen, der Herr vom Aus­wär­ti­gen Amt. – »Aber es ist al­les ge­schmack­voll«, ver­si­cher­ten die bei­den jun­gen Di­plo­ma­ten, bei­nah im glei­chen Atem. – »Ge­wiss«, sprach ge­quält der Herr aus der Wil­helm­stra­ße. – »Eine so pracht­vol­le Ver­an­stal­tung kann man heu­te nir­gends als in Ber­lin fin­den«, sag­te ei­ner der bei­den Aus­län­der noch. Der Herr vom Au­ßen­mi­nis­te­ri­um zö­ger­te eine Se­kun­de lang, ehe er sich zu ei­nem höf­li­chen Lä­cheln ent­schloss.

Es ent­stand eine Ge­sprächs­pau­se. Die drei Her­ren blick­ten um sich und lausch­ten dem fest­li­chen Lärm. »Ko­los­sal«, sag­te schließ­lich ei­ner von den bei­den jun­gen Leu­ten lei­se – dies­mal ohne je­den Sar­kas­mus, son­dern wirk­lich be­ein­druckt, bei­nah ver­ängs­tigt von dem rie­sen­haf­ten Auf­wand, der ihn um­gab. Das Flim­mern der von Lich­tern und Wohl­ge­rü­chen ge­sät­tig­ten Luft war so stark, dass es ihm die Au­gen blen­de­te. Ehr­furchts­voll, aber miss­trau­isch blin­zel­te er in den be­weg­ten Glanz. ›Wo bin ich nur?‹ dach­te der jun­ge Herr – er kam aus ei­nem der skan­di­na­vi­schen Län­der –. ›Der Ort, an dem ich mich be­fin­de, ist ohne Fra­ge sehr lieb­lich und ver­schwen­de­risch aus­ge­stat­tet; da­bei aber auch et­was grau­en­haft. Die­se schön ge­putz­ten Men­schen sind von ei­ner Mun­ter­keit, die nicht ge­ra­de ver­trau­en­er­we­ckend wirkt. Sie be­we­gen sich wie die Ma­rio­net­ten – son­der­bar zu­ckend und eckig. In ih­ren Au­gen lau­ert et­was, ihre Au­gen ha­ben kei­nen gu­ten Blick, es gibt in ih­nen so viel Angst und so viel Grau­sam­keit. Bei mir zu Hau­se schau­en die Leu­te auf eine an­de­re Art – sie schau­en freund­li­cher und frei­er, bei mir zu Hau­se. Man lacht auch an­ders, bei uns dro­ben im Nor­den. Hier ha­ben die Ge­läch­ter et­was Höh­ni­sches und et­was Verzwei­fel­tes; et­was Fre­ches, Pro­vo­kan­tes, und da­bei et­was Hoff­nungs­lo­ses, schau­er­lich Trau­ri­ges. So lacht doch nie­mand, der sich wohl fühlt in sei­ner Haut. So la­chen doch Män­ner und Frau­en nicht, die ein an­stän­di­ges, ver­nünf­ti­ges Le­ben füh­ren …‹ –

Der große Ball zum 43. Ge­burts­tag des Mi­nis­ter­prä­si­den­ten fand in al­len Räu­men des Opern­hau­ses statt. In den aus­ge­dehn­ten Foy­ers, in den Cou­loirs und Ves­ti­bü­len be­weg­te sich die ge­putz­te Men­ge. Sie ließ Sekt­pfrop­fen knal­len in den Lo­gen, de­ren Brüs­tun­gen mit kost­ba­ren Dra­pe­ri­en be­hängt wa­ren; sie tanz­te im Par­kett, aus dem man die Stuhl­rei­hen ent­fernt hat­te. Das Or­che­s­ter, das auf der leer­ge­räum­ten Büh­ne sei­nen Platz hat­te, war um­fang­reich, als soll­te es eine Sym­pho­nie auf­füh­ren, min­des­tens von Richard Strauss. Es spiel­te aber nur, in keckem Durchein­an­der, Mi­li­tär­mär­sche und jene Jazz-Mu­sik, die zwar we­gen nig­ger­haf­ter Un­sitt­lich­keit ver­pönt war im Rei­che, die aber der hohe Wür­den­trä­ger auf sei­nem Ju­bel­fes­te nicht ent­beh­ren woll­te.

Hier hat­te al­les sich ein­ge­fun­den, was in die­sem Lan­de et­was gel­ten woll­te, nie­mand fehl­te – au­ßer dem Dik­ta­tor selbst, der sich we­gen Hals­schmer­zen und an­ge­grif­fe­ner Ner­ven hat­te ent­schul­di­gen las­sen, und au­ßer ei­ni­gen et­was ple­be­ji­schen Par­tei­pro­mi­nen­ten, die nicht ein­ge­la­den wor­den wa­ren. Hin­ge­gen be­merk­te man meh­re­re kai­ser­li­che und kö­nig­li­che Prin­zen, vie­le Fürst­lich­kei­ten und fast den gan­zen Hochadel; die ge­sam­te Ge­ne­ra­li­tät der Wehr­macht, sehr vie­le ein­fluss­rei­che Finan­ziers und Schwer­in­dus­tri­el­le; ver­schie­de­ne Mit­glie­der des di­plo­ma­ti­schen Corps – meis­tens von den Ver­tre­tun­gen klei­ne­rer oder weit ent­fern­ter Län­der –; ei­ni­ge Mi­nis­ter, ei­ni­ge be­rühm­te Schau­spie­ler – die huld­vol­le Schwä­che des Ju­bi­lars für das Thea­ter war be­kannt – und so­gar einen Dich­ter, der sehr de­ko­ra­tiv aus­sah und üb­ri­gens die per­sön­li­che Freund­schaft des Dik­ta­tors ge­noss. – Über 2000 Ein­la­dun­gen wa­ren ver­schickt wor­den; von die­sen wa­ren etwa tau­send Ehren­kar­ten, die zum un­ent­gelt­li­chen Ge­nuss des Fes­tes be­rech­tig­ten; von den Emp­fän­gern der üb­ri­gen tau­send hat­te je­der fünf­zig Mark Ein­tritt zah­len müs­sen: so kam ein Teil der un­ge­heu­ren Spe­sen wie­der her­ein – der Rest blieb zu­las­ten je­ner Steu­er­zah­ler, die nicht zum nä­he­ren Um­gang des Mi­nis­ter­prä­si­den­ten und also kei­nes­wegs zur Eli­te der neu­en deut­schen Ge­sell­schaft ge­hör­ten.

»Ist es nicht ein wun­der­schö­nes Fest!« rief die um­fang­rei­che Gat­tin ei­nes rhei­ni­schen Waf­fen­fa­bri­kan­ten der Frau ei­nes süd­ame­ri­ka­ni­schen Di­plo­ma­ten zu. »Ach, ich amü­sie­re mich gar zu gut! Ich bin so glän­zen­der Lau­ne, und ich wünsch­te mir, dass alle Men­schen in Deutsch­land, und über­all, glän­zen­der Lau­ne wür­den!«

Die süd­ame­ri­ka­ni­sche Di­plo­ma­ten­frau, die nicht gut Deutsch ver­stand und sich lang­weil­te, lä­chel­te säu­er­lich.

Die mun­te­re Gat­tin des Fa­bri­kan­ten war von sol­chem Man­gel an En­thu­si­as­mus ent­täuscht und ent­schloss sich dazu, wei­ter zu pro­me­nie­ren. »Ent­schul­di­gen Sie mich, mei­ne Lie­be!« sag­te sie fein und raff­te die glit­zern­de Schlep­pe. »Ich muss eben mal eine alte Freun­din aus Köln be­grü­ßen – die Mut­ter un­se­res Staats­thea­ter­in­ten­dan­ten, Sie wis­sen doch, des großen Hen­drik Höf­gen.«

Hier tat die Süd­ame­ri­ka­ne­rin zum ers­ten Mal den Mund auf, um zu fra­gen: »Who is Hen­rik Hopf­gen?« – was die Fa­bri­kan­ten­gat­tin ver­an­lass­te, lei­se auf­zu­schrei­en: »Wie?! Sie ken­nen un­se­ren Höf­gen nicht? – Höf­gen, mei­ne Bes­te – nicht Hopf­gen! Und Hen­drik, nicht Hen­rik – er legt größ­ten Wert auf das klei­ne ›D‹!«

Da­bei war sie schon auf die dis­tin­guier­te Ma­tro­ne zu­ge­eilt, die am Arme des Dich­ters und Füh­rer­freun­des wür­de­voll durch die Säle schritt. »Liebs­te Frau Bel­la! Es ist eine Ewig­keit her, dass man sich nicht ge­se­hen hat! Wie geht es Ih­nen denn, Liebs­te? Ha­ben Sie manch­mal Heim­weh nach un­se­rem Köln? Aber Sie be­fin­den sich hier ja in ei­ner so glän­zen­den Po­si­ti­on! Und wie geht es Fräu­lein Josy, dem lie­ben Kind? Vor al­lem: Was macht Hen­drik – Ihr großer Sohn! Him­mel, was ist aus ihm al­les ge­wor­den! Er ist ja fast so be­deu­tend wie ein Mi­nis­ter! Ja ja, liebs­te Frau Bel­la, wir in Köln ha­ben alle Sehn­sucht nach Ih­nen und Ihren herr­li­chen Kin­dern!«

In Wahr­heit hat­te sich die Mil­lio­nä­rin nie­mals um Frau Bel­la Höf­gen ge­küm­mert, als die­se noch in Köln ge­lebt und ihr Sohn die große Kar­rie­re noch nicht ge­macht hat­te. Die Be­kannt­schaft zwi­schen den bei­den Da­men war nur eine flüch­ti­ge ge­we­sen; nie­mals war Frau Bel­la ein­ge­la­den wor­den in die Vil­la des Fa­bri­kan­ten. Nun aber woll­te die lus­ti­ge und ge­müt­vol­le Rei­che die Hand der Frau, de­ren Sohn man zu den na­hen Freun­den des Mi­nis­ter­prä­si­den­ten zähl­te, gar nicht mehr los­las­sen.

Frau Bel­la lä­chel­te huld­voll. Sie war sehr ein­fach, aber nicht ohne eine ge­wis­se ehr­ba­re Ko­ket­te­rie ge­klei­det; auf ih­rer schwar­zen, glatt flie­ßen­den Sei­den­ro­be leuch­te­te eine wei­ße Orchi­dee. Das graue, schlicht fri­sier­te Haar bil­de­te einen pi­kan­ten Kon­trast zu ih­rem ziem­lich jung ge­blie­be­nen, mit de­zen­ter Sorg­falt her­ge­rich­te­ten Ge­sicht. Aus wei­ten, grün­blau­en Au­gen schau­te sie mit ei­ner re­ser­vier­ten, nach­denk­li­chen Freund­lich­keit auf die ge­schwät­zi­ge Dame, die den leb­haf­ten deut­schen Kriegs­vor­be­rei­tun­gen ihr wun­der­vol­les Col­lier, ihre lan­gen Ohr­ge­hän­ge, die Pa­ri­ser Toi­let­te und all ih­ren Glanz ver­dank­te.

»Ich kann nicht kla­gen, es geht uns al­len recht gut«, sprach mit stol­zer Be­schei­den­heit Frau Höf­gen. »Josy hat sich mit dem jun­gen Gra­fen Don­ners­berg ver­lobt. Hen­drik ist ein we­nig über­an­strengt, er hat ra­send zu tun.«

»Das kann ich mir den­ken.« Die In­dus­tri­el­le schau­te re­spekt­voll.

»Darf ich Ih­nen un­se­ren Freund Cäsar von Muck vor­stel­len«, sag­te Frau Bel­la.

Der Dich­ter neig­te sich über die ge­schmück­te Hand der rei­chen Dame, die so­fort wie­der zu schwät­zen be­gann. »Un­ge­heu­er in­ter­essant, ich freue mich wirk­lich, habe Sie so­fort nach den Fo­to­gra­fi­en er­kannt. Ihr Tan­nen­berg-Dra­ma habe ich in Köln be­wun­dert, eine recht gute Auf­füh­rung, na­tür­lich feh­len die über­ra­gen­den Leis­tun­gen, wie man sie in Ber­lin jetzt ge­wöhnt ist, aber wirk­lich recht an­stän­dig, ohne Fra­ge sehr acht­bar. Und Sie, Herr Staats­rat – Sie ha­ben doch in­zwi­schen eine so groß­ar­ti­ge Rei­se ge­macht, alle Welt spricht von Ihrem Rei­se­buch, ich will es mir die­ser Tage be­sor­gen.«

»Ich habe viel Schö­nes und viel Häss­li­ches ge­se­hen in der Frem­de«, sag­te der Dich­ter schlicht. »Je­doch reis­te ich durch die Lan­de nicht nur als Schau­en­der, nicht nur als Ge­nie­ßen­der, son­dern mehr noch als Wir­ken­der, Leh­ren­der. Mich deucht, es ist mir ge­lun­gen, dort drau­ßen neue Freun­de für un­ser neu­es Deutsch­land zu wer­ben.« Mit sei­nen stahl­blau­en Au­gen, de­ren durch­drin­gen­de und feu­ri­ge Rein­heit in vie­len Feuil­le­tons ge­prie­sen wur­de, ta­xier­te er den ko­los­sa­len Schmuck der Rhein­län­de­rin. ›Ich könn­te in ih­rer Vil­la woh­nen, wenn ich das nächs­te Mal in Köln einen Vor­trag oder eine Pre­mie­re ha­be‹, dach­te er, wäh­rend er wei­ter­sprach: »Es ist für un­se­ren ge­ra­den Sinn un­fass­bar, wie viel Lüge, wie viel bos­haf­tes Miss­ver­ständ­nis über un­ser Reich im Um­lauf sind – drau­ßen in der Welt.«

Sein Ge­sicht war so be­schaf­fen, dass je­der Re­por­ter es »holz­ge­schnit­ten« nen­nen muss­te: zer­furch­te Stirn, Stahl­au­ge un­ter blon­der Braue und ein ver­knif­fe­ner Mund, der leicht säch­si­schen Dia­lekt sprach. Die Waf­fen­fa­bri­kan­tin war sehr be­ein­druckt, von sei­nem Aus­se­hen wie von sei­ner ed­len Rede. »Ach«, schau­te sie ihn schwär­me­risch an. »Wenn Sie ein­mal nach Köln kom­men, müs­sen Sie uns un­be­dingt be­su­chen!«

Staats­rat Cäsar von Muck, Prä­si­dent der Dich­ter­aka­de­mie und Ver­fas­ser des über­all ge­spiel­ten »Tan­nen­berg«-Dra­mas, ver­neig­te sich mit rit­ter­li­chem An­stand: »Es wird mir eine ech­te Freu­de sein, gnä­di­ge Frau.« Da­bei leg­te er so­gar die Hand aufs Herz.

Die In­dus­tri­el­le fand ihn wun­der­voll. »Wie köst­lich es sein wird, Ih­nen einen gan­zen Abend zu­zu­hö­ren, Ex­zel­lenz!« rief sie aus. »Was Sie al­les er­lebt ha­ben müs­sen! Sind Sie nicht auch schon Staats­thea­ter­in­ten­dant ge­we­sen?«

Die­se Fra­ge wur­de als takt­los emp­fun­den, und zwar so­wohl von der dis­tin­guier­ten Frau Bel­la, als auch vom Au­tor der »Tan­nen­berg«-Tra­gö­die. Die­ser sag­te denn auch nur, mit ei­ner ge­wis­sen Schär­fe: »Ge­wiss.«

Die rei­che Köl­ne­rin merk­te nichts. Viel­mehr sprach sie noch, mit durch­aus de­pla­zier­ter Schel­me­rei: »Sind Sie denn da nicht ein klein biss­chen ei­fer­süch­tig, Herr Staats­rat, auf un­se­ren Hen­drik, Ihren Nach­fol­ger?« Nun droh­te sie auch noch mit dem Fin­ger. Frau Bel­la wuss­te nicht, wo­hin sie bli­cken soll­te.

Cäsar von Muck aber be­wies, dass er welt­män­nisch und über­le­gen war, und zwar in ei­nem Gra­de, der an Edel­mut grenzt. Über sein Holz­schnitt­ge­sicht ging ein Lä­cheln, das nur in sei­nen ers­ten An­fän­gen et­was bit­ter schi­en, dann aber mil­de, gut und so­gar wei­se wur­de. »Ich habe die­se schwe­re Last ger­ne – ja, von Her­zen ger­ne an mei­nen Freund Höf­gen ab­ge­ge­ben, der wie kein an­de­rer be­ru­fen ist, sie zu tra­gen.« Sei­ne Stim­me beb­te; er war stark er­grif­fen von der ei­ge­nen Groß­mut und von der Schön­heit sei­ner Ge­sin­nung.

Frau Bel­la, die Mut­ter des In­ten­dan­ten, zeig­te eine be­ein­druck­te Mie­ne; die Le­bens­ge­fähr­tin des Ka­no­nen­kö­nigs aber war der­ar­tig ge­rührt von der ed­len und ma­je­stä­ti­schen Hal­tung des be­rühm­ten Dra­ma­ti­kers, dass sie bei­na­he wei­nen muss­te. Mit tap­fe­rer Selb­st­über­win­dung schluck­te sie die Trä­nen hin­un­ter; tupf­te sich die Au­gen flüch­tig mit dem Sei­den­tüch­lein und schüt­tel­te die wei­he­vol­le Stim­mung mit ei­nem sicht­ba­ren Ruck von sich ab. In ihr sieg­te die ty­pisch rhei­ni­sche Mun­ter­keit; sie schau­te wie­der strah­lend und ju­bi­lier­te: »Ist es nicht ein ganz herr­li­ches Fest?!«

Es war ein ganz herr­li­ches Fest, dar­über konn­te gar kein Zwei­fel be­ste­hen. Wie das glit­zer­te, duf­te­te, rausch­te! Gar nicht fest­zu­stel­len, was mehr Glanz ver­brei­te­te: die Ju­we­len oder die Or­dens­ster­ne. Das ver­schwen­de­ri­sche Licht der Kron­leuch­ter spiel­te und tanz­te auf den ent­blö­ßten, wei­ßen Rücken und den schön be­mal­ten Mie­nen der Da­men; auf den Speck­nacken, ge­stärk­ten Hemd­brüs­ten oder be­treß­ten Uni­for­men feis­ter Her­ren; auf den schwit­zen­den Ge­sich­tern der La­kai­en, die mit den Er­fri­schun­gen um­her­lie­fen. Es duf­te­ten die Blu­men, die in schö­nem Ar­ran­ge­ment ver­teilt wa­ren durch das gan­ze Lust­haus; es duf­te­ten die Pa­ri­ser Parf­ums all der deut­schen Frau­en; es duf­te­ten die Zi­gar­ren der In­dus­tri­el­len und die Po­ma­den der schlan­ken Jüng­lin­ge in ih­ren kleid­sam knap­pen S.S.-Uni­for­men; es duf­te­ten die Prin­zen und die Prin­zes­sin­nen, die Chefs der Ge­hei­men Staats­po­li­zei, die Feuil­le­ton­chefs, die Film­di­vas, die Uni­ver­si­täts­pro­fes­so­ren, die einen Lehr­stuhl für Ras­sen- oder Wehr­wis­sen­schaft in­ne­hat­ten, und die we­ni­gen jü­di­schen Ban­kiers, de­ren Reich­tum und in­ter­na­tio­na­le Be­zie­hun­gen so ge­wal­tig wa­ren, dass man sie so­gar an die­ser ex­klu­si­ven Ver­an­stal­tung teil­ha­ben ließ. Man ver­brei­te­te Wol­ken künst­li­chen Wohl­ge­ruchs, als gäl­te es, ein an­de­res Aro­ma nicht auf­kom­men zu las­sen – den fa­den, süß­li­chen Ge­stank des Blu­tes, den man zwar lieb­te und von dem das gan­ze Land er­füllt war, des­sen man sich aber bei so fei­nem An­lass und in Ge­gen­wart der frem­den Di­plo­ma­ten ein we­nig schäm­te.

»Tol­le Sa­che«, sag­te ein ho­her Herr von der Reichs­wehr zum an­de­ren. »Was der Di­cke sich al­les leis­tet!«

»So lan­ge wir es uns ge­fal­len las­sen«, sag­te der Zwei­te. Sie mach­ten gut­ge­laun­te Ge­sich­ter; denn sie wur­den fo­to­gra­fiert.

»Lot­te soll ein Kleid an­ha­ben, das drei­tau­send Mark kos­tet«, er­zähl­te eine Film­schau­spie­le­rin dem Ho­hen­zol­lern­prin­zen, mit dem sie tanz­te. Lot­te war das Ehe­weib des Ge­wal­ti­gen mit den vie­len Ti­teln, der sich zu sei­nem 43. Ge­burts­tag fei­ern ließ wie ein Mär­chen­prinz. Lot­te war eine Pro­vinz­schau­spie­le­rin ge­we­sen und galt als her­zens­gu­te, schlich­te, ur­deut­sche Frau. An ih­rem Hoch­zeits­ta­ge hat­te der Mär­chen­prinz zwei Pro­le­ten hin­rich­ten las­sen.

Der Ho­hen­zol­lern­prinz sag­te: »Ei­nen sol­chen Auf­wand hat mei­ne Fa­mi­lie nie­mals ge­trie­ben. – Wann wird das hohe Paar denn üb­ri­gens Ein­zug hal­ten? Un­se­re Er­war­tung soll wohl auf das Äu­ßers­te ge­stei­gert wer­den!«

»Lott­chen ver­steht’s«, mein­te sach­lich die ehe­ma­li­ge Kol­le­gin der Lan­des­mut­ter.

Ein aus­ge­spro­chen herr­li­ches Fest: alle An­we­sen­den schie­nen es aufs In­ten­sivs­te zu ge­nie­ßen, so­wohl die mit den Ehren­kar­ten, als auch die an­de­ren, die fünf­zig Mark hat­ten zah­len müs­sen, um da­bei sein zu dür­fen. Man tanz­te, schwatz­te, flir­te­te; man be­wun­der­te sich selbst, die an­de­ren und am meis­ten die Macht, die sich so üp­pi­ge Ver­an­stal­tun­gen wie die­se gön­nen durf­te. In den Lo­gen und Wan­del­gän­gen, an den ver­füh­re­ri­schen Buf­fets wa­ren die Kon­ver­sa­tio­nen sehr leb­haft. Man dis­ku­tier­te über die Toi­let­ten der Da­men, über das Ver­mö­gen der Her­ren und über die Prei­se, wel­che die Wohl­tä­tig­keits-Tom­bo­la brin­gen wür­de: als das wert­volls­te Stück wur­de ein Ha­ken­kreuz aus Bril­lan­ten ge­nannt, et­was sehr Nied­li­ches und Teu­res, als Bro­sche oder als An­hän­ger an ei­nem Col­lier zu tra­gen. Ein­ge­weih­te woll­ten wis­sen, dass es auch höchst amüsan­te Trost­prei­se ge­ben wür­de, zum Bei­spiel na­tur­ge­treu nach­ge­bil­de­te Tanks und Ma­schi­nen­ge­weh­re aus Lü­becker Mar­zi­pan. Ei­ni­ge Da­men be­haup­te­ten lau­nig, dass sie noch lie­ber ein Mord­in­stru­ment aus so süßem Stoff ha­ben woll­ten, als das kost­ba­re Ha­ken­kreuz. Es wur­de viel und herz­lich ge­lacht. Mit ge­dämpf­te­ren Stim­men be­sprach man sich über die po­li­ti­schen Hin­ter­grün­de der Ver­an­stal­tung. Es fiel auf, dass der Dik­ta­tor ab­ge­sagt hat­te und meh­re­re Par­tei­pro­mi­nen­te nicht ein­ge­la­den wor­den wa­ren; dass man aber Mit­glie­der der fürst­li­chen Fa­mi­li­en in so großer An­zahl an­we­send sah. An die­sen Um­stand knüpf­ten sich man­cher­lei dunkle und be­deu­tungs­vol­le Gerüch­te, die man sich im Flüs­ter­ton wei­ter­gab. Auch über den Ge­sund­heits­zu­stand des Dik­ta­tors woll­te der oder je­ner fins­te­re Neu­ig­kei­ten wis­sen; man be­sprach sie lei­se und lei­den­schaft­lich, so­wohl im Krei­se der aus­wär­ti­gen Pres­se­ver­tre­ter und Di­plo­ma­ten, als auch bei den Her­ren von der Reichs­wehr und der Schwer­in­dus­trie.

»Es scheint also doch Krebs zu sein«, be­rich­te­te hin­ter vor­ge­hal­te­nem Ta­schen­tuch ein Herr von der eng­li­schen Pres­se dem Pa­ri­ser Kol­le­gen. Bei die­sem aber war er an den Fal­schen ge­ra­ten. Pier­re La­rue hat­te das Aus­se­hen ei­nes höchst ge­brech­li­chen, da­bei recht tücki­schen Zwer­ges; schwärm­te aber für den He­ro­is­mus und für die schö­nen uni­for­mier­ten Bur­schen des neu­en Deutsch­land. Üb­ri­gens war er kein Jour­na­list, son­dern ein rei­cher Mann, der ver­klatsch­te Bü­cher über das ge­sell­schaft­li­che, li­te­ra­ri­sche und po­li­ti­sche Le­ben der eu­ro­päi­schen Haupt­städ­te schrieb und des­sen Le­bens­in­halt es be­deu­te­te, be­rühm­te Be­kannt­schaf­ten zu sam­meln. Die­ser eben­so gro­tes­ke wie an­rü­chi­ge klei­ne Ko­bold, mit dem spit­zen Ge­sicht­chen und der la­men­tie­ren­den Fis­tel­stim­me ei­ner kränk­li­chen al­ten Dame, ver­ach­te­te die De­mo­kra­tie sei­nes ei­ge­nen Lan­des und er­klär­te je­dem, der es hö­ren woll­te, dass er Cle­menceau für einen Schur­ken und Bri­and für einen Idio­ten hal­te, je­den hö­he­ren Ge­sta­po-Be­am­ten1 Be­am­ten je­doch für einen Halb­gott und die Spit­zen des neu­deut­schen Re­gi­mes für eine Gar­ni­tur von ta­del­lo­sen Göt­tern.

»Was ver­brei­ten Sie für in­fa­men Un­sinn, mein Herr!« Das Männ­chen schau­te er­schre­ckend bos­haft; sei­ne Stim­me ra­schel­te dürr wie ge­fal­le­nes Laub. »Der Ge­sund­heits­zu­stand des Füh­rers lässt nichts zu wün­schen üb­rig. Er ist nur ein biss­chen er­käl­tet.«

Die­sem klei­nen Scheu­sal war es zu­zu­trau­en, dass es hin­ging und de­nun­zier­te. Der eng­li­sche Kor­re­spon­dent wur­de ner­vös; er ver­such­te, sich zu recht­fer­ti­gen: »Ein ita­lie­ni­scher Kol­le­ge hat mir im Ver­trau­en so et­was an­ge­deu­tet …« Aber der schmäch­ti­ge Lieb­ha­ber prall ge­füll­ter Uni­for­men schnitt ihm mit Stren­ge das Wort ab: »Ge­nug, mein Herr! Ich will nichts mehr hö­ren! Das ist al­les un­ver­ant­wort­li­ches Ge­schwätz! – Ent­schul­di­gen Sie«, füg­te er sanf­ter hin­zu. »Ich muss den Ex­kö­nig von Bul­ga­ri­en be­grü­ßen. Die Prin­zes­sin von Hes­sen ist bei ihm, ich habe die Be­kannt­schaft Ih­rer Ho­heit am Hofe ih­res Va­ters in Rom ge­macht.« Er rausch­te da­von, die blei­chen und spit­zen Händ­chen auf der Brust ge­fal­tet, in der Hal­tung und mit dem Ge­sichts­aus­druck ei­nes in­tri­gan­ten Ab­bés. Der Eng­län­der mur­mel­te hin­ter ihm her: »Damned snob.«

Eine Be­we­gung ging durch den Saal, es gab ein hör­ba­res Rau­schen: der Pro­pa­gan­da­mi­nis­ter war ein­ge­tre­ten. Man hat­te ihn heu­te Abend nicht hier er­war­tet, alle wuss­ten um sei­ne ge­spann­te Be­zie­hung zu dem fet­ten Ge­burts­tags­kind – das sich üb­ri­gens sei­ner­seits noch im­mer ver­bor­gen hielt, um aus sei­nem En­trée dann den ganz großen Clou zu ma­chen.

Der Pro­pa­gan­da­mi­nis­ter – Herr über das geis­ti­ge Le­ben ei­nes Mil­lio­nen­vol­kes – hum­pel­te be­hän­de durch die glän­zen­de Men­ge, die sich vor ihm ver­neig­te. Eine ei­si­ge Luft schi­en zu we­hen, wo er vor­bei­ging. Es war, als sei eine böse, ge­fähr­li­che, ein­sa­me und grau­sa­me Gott­heit her­nie­der­ge­stie­gen in den or­di­nären Tru­bel ge­nuss­süch­ti­ger, fei­ger und er­bärm­li­cher Sterb­li­cher. Ei­ni­ge Se­kun­den lang war die gan­ze Ge­sell­schaft wie ge­lähmt von Ent­set­zen. Die Tan­zen­den er­starr­ten mit­ten in ih­rer an­mu­ti­gen Pose und ihr scheu­er Blick hing, zu­gleich de­mü­tig und hass­voll, an dem ge­fürch­te­ten Zwerg. Der ver­such­te durch ein char­man­tes Lä­cheln, wel­ches sei­nen ma­ge­ren, schar­fen Mund bis zu den Ohren hin­auf­zerr­te, die schau­er­li­che Wir­kung, die von ihm aus­ging, ein we­nig zu mil­dern; er gab sich Mühe, zu be­zau­bern, zu ver­söh­nen und sei­ne tief lie­gen­den, schlau­en Au­gen freund­lich bli­cken zu las­sen. Sei­nen Klump­fuß gra­zi­ös hin­ter sich her zie­hend, eil­te er ge­wandt durch den Fest­saal und zeig­te die­ser Ge­sell­schaft von zwei­tau­send Skla­ven, Mit­läu­fern, Be­trü­gern, Be­tro­ge­nen und Nar­ren sein falsch-be­deu­ten­des Raub­vo­gel-Pro­fil. An den Grup­pen von Mil­lio­nären, Bot­schaf­tern, Re­gi­ments­kom­man­dan­ten und Film­stars husch­te er, tückisch lä­chelnd, vor­über. Es war der In­ten­dant Hen­drik Höf­gen, Staats­rat und Se­na­tor, bei wel­chem er ste­hen blieb.

Noch eine Sen­sa­ti­on! In­ten­dant Höf­gen ge­hör­te zu den de­kla­rier­ten Fa­vo­ri­ten des Mi­nis­ter­prä­si­den­ten und Flie­ger­ge­ne­rals, der sei­ne Be­ru­fung an die Spit­ze der Staats­thea­ter durch­ge­setzt hat­te ge­gen den Wil­len des Pro­pa­gan­da­mi­nis­ters. Die­ser war, nach ei­nem lan­gen und hef­ti­gen Kampf, dazu ge­zwun­gen wor­den, sei­nen ei­ge­nen Pro­tegé, den Dich­ter Cäsar von Muck, zu op­fern und auf Rei­sen zu schi­cken. Nun aber ehr­te er de­mons­tra­tiv das Ge­schöpf sei­nes Fein­des durch sei­ne Be­grü­ßung und durch sein Ge­spräch. Woll­te der schlaue Meis­ter der Pro­pa­gan­da auf sol­che Wei­se vor der in­ter­na­tio­na­len Eli­te­ge­sell­schaft be­kun­den, dass es Un­stim­mig­kei­ten und Rän­ke zwi­schen den Spit­zen des deut­schen Re­gi­mes gar­nicht gebe und dass die Ei­fer­sucht zwi­schen ihm, dem Re­kla­me­chef, und dem Flie­ger­ge­ne­ral ins häss­li­che Ge­biet der Gräu­el­mär­chen ge­hö­re? Oder war Hen­drik Höf­gen – eine der meist­be­spro­che­nen Fi­gu­ren der Haupt­stadt – sei­ner­seits so un­er­mess­lich schlau, dass er es fer­tig brach­te, zum Pro­pa­gan­da­mi­nis­ter eben­so in­ti­me Be­zie­hun­gen zu un­ter­hal­ten wie zum Flie­ger­ge­ne­ral-Mi­nis­ter­prä­si­den­ten? Spiel­te er den einen Macht­ha­ber ge­gen den an­de­ren aus, ließ sich von den bei­den großen Kon­kur­ren­ten pro­te­gie­ren? Sei­ner le­gen­dären Ge­schick­lich­keit wäre es zu­zu­trau­en …

Das war ja al­les un­ge­heu­er in­ter­essant! Pier­re La­rue ließ den Ex­kö­nig von Bul­ga­ri­en ein­fach ste­hen und trip­pel­te durch den Saal – von sei­ner Neu­gier­de da­hin­ge­weht, wie eine Fe­der vom Win­de –, um die­ses sen­sa­tio­nel­le Ren­con­tre2 aus der nächs­ten Nähe mit an­zu­schau­en. Cäsar von Mucks stäh­ler­ne Au­gen knif­fen sich miss­trau­isch zu­sam­men, die Mil­lio­nä­rin aus Köln stöhn­te wol­lüs­tig vor lau­ter An­ge­regt­heit und Freu­de an der er­ha­be­nen Si­tua­ti­on; wäh­rend Frau Bel­la Höf­gen, die Mut­ter des großen Man­nes, al­len, die in ih­rer Nähe stan­den, gnä­dig und gleich­sam er­mun­ternd zu­lä­chel­te, als woll­te sie ih­nen be­deu­ten: Mein Hen­drik ist groß und ich bin sei­ne dis­tin­guier­te Mut­ter. Trotz­dem braucht ihr nun nicht gleich in die Knie zu sin­ken. Er und ich, wir sind auch nur von Fleisch und Blut, wenn­gleich sonst aus­ge­zeich­net vor den üb­ri­gen Men­schen.

»Wie geht es Ih­nen, mein lie­ber Höf­gen?« frag­te der Pro­pa­gan­da­mi­nis­ter an­mu­tig lä­chelnd den In­ten­dan­ten.

Auch der In­ten­dant lä­chel­te, aber nicht gleich bis zu den Ohren hin­auf, son­dern mit ei­ner Vor­nehm­heit, die fast schmerz­lich wirk­te. »Ich dan­ke Ih­nen, Herr Mi­nis­ter!« Er sprach lei­se, et­was sin­gen­den To­nes, da­bei äu­ßerst ak­zen­tu­iert. Der Mi­nis­ter hat­te sei­ne Hand noch im­mer nicht los­ge­las­sen. »Darf ich mich nach dem Be­fin­den Ih­rer Frau Ge­mah­lin er­kun­di­gen«, sag­te der In­ten­dant, und nun muss­te sein ho­her Ge­sprächs­part­ner end­lich ein erns­tes Ge­sicht ma­chen. »Sie ist heu­te Abend ein we­nig un­päss­lich.« Da­bei ließ er die Hand des Se­na­tors und Staats­rats los. Die­ser sag­te weh­mü­tig: »Wie leid mir das tut.«

Na­tür­lich wuss­te er – was al­len hier im Saa­le be­kannt war –, dass die Frau des Pro­pa­gan­da­mi­nis­ters völ­lig ver­zehrt und in­ner­lich ver­wüs­tet war, von Ei­fer­sucht auf die Gat­tin des Mi­nis­ter­prä­si­den­ten. Da der Dik­ta­tor sel­ber un­ver­ehe­licht blieb, war das an­ge­trau­te Weib des Re­kla­me­chefs die Ers­te Dame im Rei­che ge­we­sen, und sie hat­te die­se ihre gott­ge­woll­te Funk­ti­on mit An­stand und Wür­de er­füllt, ihr Tod­feind konn­te es nicht be­strei­ten. Dann aber kam die­se Lot­te Lin­den­thal da­her, eine mitt­le­re Schau­spie­le­rin – jung war sie auch nicht mehr –, und ließ sich hei­ra­ten von dem pracht­lie­ben­den Di­cken. Die Frau des Pro­pa­gan­da­mi­nis­ters litt un­be­schreib­lich. Man mach­te ihr den Rang der Ers­ten Dame strei­tig! Eine an­de­re dräng­te sich vor! Mit ei­ner Ko­mö­di­an­tin ward ein Kult ge­trie­ben, als ob die Kö­ni­gin Lui­se auf­er­stan­den wäre! Im­mer wenn es eine Ver­an­stal­tung zu Lot­tes Ehren gab, är­ger­te sich Frau Re­kla­me­chef so un­ge­heu­er, dass sie Mi­grä­ne be­kam. Auch heu­te Abend war sie im Bett ge­blie­ben.

»Ge­wiss hät­te sich Ihre Frau Ge­mah­lin hier sehr gut un­ter­hal­ten.« Höf­gen mach­te im­mer noch die fei­er­li­che Mie­ne. In sei­nen Wor­ten war von Iro­nie kei­ne Spur zu fin­den. »Zu scha­de, dass der Füh­rer ab­sa­gen muss­te. Auch der eng­li­sche und der fran­zö­si­sche Bot­schaf­ter sind ver­hin­dert.«

Mit die­sen Fest­stel­lun­gen, die er in sanf­tes­tem Tone vor­brach­te, ver­riet Höf­gen sei­nen ei­gent­li­chen Freund und Gön­ner – den Mi­nis­ter­prä­si­den­ten, dem er all sei­nen Glanz zu dan­ken hat­te – an den ei­fer­süch­ti­gen Pro­pa­gan­da­mi­nis­ter: die­sen aber hielt er sich für alle Fäl­le in der Re­ser­ve.

Der ge­wand­te Klump­fuß frag­te ver­trau­lich, nicht ohne Hohn: »Und wie ist hier die Stim­mung?«

Der In­ten­dant der Staats­thea­ter sag­te zu­rück­hal­tend: »Man scheint sich zu amü­sie­ren.«

Die bei­den Wür­den­trä­ger führ­ten ihre Un­ter­hal­tung lei­se; denn um sie dräng­ten sich Neu­gie­ri­ge, auch meh­re­re Fo­to­gra­fen wa­ren her­bei­ge­kom­men. Die Ka­no­nen­fa­bri­kan­tin flüs­ter­te eben Pier­re La­rue zu, der in Ver­zückung die blei­chen Kno­chen­händ­chen über der Brust ge­gen­ein­an­der rieb: »Un­ser In­ten­dant und der Mi­nis­ter – sind sie nicht ein herr­li­ches Paar? Bei­de so be­deu­tend! Bei­de so schön!« Sie dräng­te ih­ren üp­pi­gen, ge­schmück­ten Leib nahe an das ge­brech­li­che Kör­per­chen des Klei­nen. Der zar­te gal­li­sche Lieb­ha­ber des ger­ma­ni­schen He­ro­is­mus, der stram­men Jüng­lin­ge, des Füh­rer­ge­dan­kens und der ho­hen Adels­na­men fürch­te­te sich vor der at­men­den Nähe so viel weib­li­chen Flei­sches. Er ver­such­te, sich ein we­nig zu­rück­zu­zie­hen, wäh­rend er zirp­te: »Ex­qui­sit! Ganz char­mant! Un­ver­gleich­lich!« Die Rhein­län­de­rin be­teu­er­te: »Un­ser Höf­gen – das ist ein gan­zer Mann, sage ich Ih­nen! Ein Ge­nie, so et­was gibt es we­der in Pa­ris noch in Hol­ly­wood! Und so ur­deutsch, so ge­ra­de, ein­fach und ehr­lich! Ich habe ihn ja schon ge­kannt, als er noch so klein ge­we­sen ist.« Mit der vor­ge­streck­ten Hand deu­te­te sie an, wie klein Hen­drik ge­we­sen war, als sie, die Mil­lio­nä­rin, sei­ne Mut­ter auf den Köl­ner Wohl­tä­tig­keits­ver­an­stal­tun­gen kon­se­quent ge­schnit­ten hat­te. »Ein herr­li­cher Jun­ge!« sag­te sie noch, und be­kam so sinn­li­che Au­gen, dass La­rue pa­nisch die Flucht er­griff.

Man hät­te Hen­drik Höf­gen für einen Mann von etwa fünf­zig Jah­ren ge­hal­ten; er war aber erst neun­und­drei­ßig – un­ge­heu­er jung für sei­nen ho­hen Pos­ten. Sei­ne fah­le Mie­ne mit der Horn­bril­le zeig­te jene stei­ner­ne Ruhe, zu der sich sehr ner­vö­se und sehr eit­le Men­schen zwin­gen kön­nen, wenn sie sich von vie­len Leu­ten be­ob­ach­tet wis­sen. Sein kah­ler Schä­del hat­te edle Form. Im auf­ge­schwemm­ten, grau­wei­ßen Ge­sicht fiel der über­an­streng­te, emp­find­li­che und lei­den­de Zug auf, der von den hoch­ge­zo­ge­nen blon­den Brau­en zu den ver­tief­ten Schlä­fen lief; au­ßer­dem die mar­kan­te Bil­dung des star­ken Kinns, das er auf stol­ze Art hoch­ge­r­eckt trug, so­dass die vor­nehm schö­ne Li­nie zwi­schen Ohr und Kinn kühn und her­risch be­tont ward. Auf sei­nen brei­ten und blas­sen Lip­pen lag ein er­fro­re­nes, viel­deu­ti­ges, zu­gleich höh­ni­sches und um Mit­leid wer­ben­des Lä­cheln. Hin­ter den großen, spie­geln­den Bril­lenglä­sern wur­den sei­ne Au­gen nur zu­wei­len sicht­bar und wirk­sam: dann er­kann­te man, nicht ohne Schre­cken, dass sie, bei al­ler Weich­heit, eis­kalt, bei al­ler Me­lan­cho­lie sehr grau­sam wa­ren. Die­se grün­grau schil­lern­den Au­gen lie­ßen an Edel­stei­ne den­ken, die kost­bar sind, aber Un­glück brin­gen; gleich­zei­tig an die gie­ri­gen Au­gen ei­nes bö­sen und ge­fähr­li­chen Fi­sches. – Alle Da­men und die meis­ten Her­ren fan­den, dass Hen­drik Höf­gen nicht nur ein be­deu­ten­der und höchst ge­schick­ter, son­dern auch ein be­mer­kens­wert schö­ner Mann sei. Sei­ne zu­sam­men­ge­nom­me­ne, vor lau­ter be­wus­s­ter und be­rech­ne­ter An­mut fast stei­fe Hal­tung und sein kost­ba­rer Frack lie­ßen es über­se­hen, dass er ent­schie­den zu fett war, vor al­lem in der Hüf­ten­ge­gend und am Hin­ter­teil.

»Ich muss Ih­nen üb­ri­gens zu Ihrem Ham­let gra­tu­lie­ren, mein Lie­ber«, sprach der Pro­pa­gan­da­mi­nis­ter. »Eine fa­mo­se Leis­tung. Die deut­sche Büh­ne kann stolz auf Sie sein.«

Höf­gen neig­te ein we­nig das Haupt, in­dem er das schö­ne Kinn et­was nach un­ten drück­te: ober­halb des ho­hen, blen­den­den Kra­gens ent­stan­den zahl­rei­che Fal­ten am Hals. »Wer vor dem Ham­let ver­sagt, ver­dient den Na­men ei­nes Schau­spie­lers nicht.« Sei­ne Stim­me klag­te vor Be­schei­den­heit. Der Mi­nis­ter konn­te eben noch kon­sta­tie­ren: »Sie ha­ben die Tra­gö­die ganz ge­fühlt« – da ging ein un­ge­heu­rer Aufruhr durch den Saal.

Der Flie­ger­ge­ne­ral und sei­ne Gat­tin, die ge­we­se­ne Ak­tri­ce Lot­te Lin­den­thal, wa­ren durch die große Mit­tel­tü­re ein­ge­tre­ten: brau­sen­des Bei­falls­klat­schen und dröh­nen­der Zu­ruf be­grüß­ten sie. Durch ein Spa­lier von Men­schen, aus dem Ju­bel stieg, schritt das er­lauch­te Paar. Kein Kai­ser hat­te je­mals schö­ne­ren Ein­zug ge­hal­ten. Der En­thu­si­as­mus schi­en un­ge­heu­er: Je­der von den zwei­tau­send aus­er­le­sen fei­nen Men­schen woll­te sich, den an­de­ren und dem Mi­nis­ter­prä­si­den­ten, durch mög­lichst lau­tes Ge­schrei und Hän­de­klat­schen be­wei­sen, einen wie glü­hen­den An­teil er am 43. Ge­burts­tag des Ho­hen Herrn im Be­son­de­ren und am Na­tio­na­len Staa­te im All­ge­mei­nen nahm. Man brüll­te: »Hoch!«, »Heil!« und: »Wir gra­tu­lie­ren!« Man warf Blu­men, die von Frau Lot­te mit wür­de­vol­ler Gra­zie emp­fan­gen wur­den. Die Ka­pel­le spiel­te großen Tusch. Der Pro­pa­gan­da­mi­nis­ter be­kam ein hass­ver­zerr­tes Ge­sicht; aber dar­auf ach­te­te nie­mand, au­ßer viel­leicht Hen­drik Höf­gen. Die­ser stand un­be­weg­lich: er er­war­te­te sei­nen Gön­ner in zu­sam­men­ge­nom­me­ner, an­mu­tig stei­fer Hal­tung.

Man hat­te Wet­ten dar­über ab­ge­schlos­sen, in wel­cher Fan­ta­sie­uni­form der Di­cke heu­te Abend er­schei­nen wür­de. Es war eine as­ke­ti­sche Ko­ket­te­rie von ihm, nun die Ge­sell­schaft durch den al­ler­schlich­tes­ten Auf­zug zu ver­blüf­fen. Die fla­schen­grü­ne Li­tew­ka3 die er trug, wirk­te fast wie eine streng ge­schnit­te­ne Haus­ja­cke. Auf der Brust blitz­te ihm nur ein ganz klei­ner sil­ber­ner Or­dens­stern. In den grau­en Ho­sen wirk­ten sei­ne Bei­ne – die er sonst ger­ne un­ter lan­gen Män­teln ver­barg – be­son­ders um­fang­reich: es wa­ren Säu­len, auf de­nen er sich lang­sam da­hin­be­weg­te. Die ko­los­sa­li­sche Grö­ße und Brei­te sei­ner mons­trö­sen Fi­gur wa­ren ge­eig­net, Schre­cken und Ehr­furcht um sich zu ver­brei­ten – zu­mal kein An­lass be­stand, ir­gen­det­was an ihm ko­misch zu fin­den: dem Kühns­ten ver­ging das La­chen, wenn er er­wog, wie viel Blut schon auf den Wink des Speck- und Fleisch-Rie­sen ge­flos­sen war und wie un­er­mess­lich viel Blut viel­leicht noch strö­men wür­de zu sei­nen Ehren. Auf dem kur­z­en, wuls­ti­gen Hals er­schi­en sein mas­si­ves Haupt wie über­gos­sen von dem ro­ten Saf­te: das Haupt ei­nes Cäsars, von dem man die Haut ab­ge­zo­gen hat. An die­sem Ge­sicht war nichts Men­sch­li­ches mehr: es war aus ro­hem, un­ge­form­tem Fleisch, ein Klotz.

Der Mi­nis­ter­prä­si­dent schob sei­nen Bauch, des­sen enor­me Wöl­bung in die der Brust über­ging, ma­je­stä­tisch durch die strah­len­de Ver­samm­lung. Der Mi­nis­ter­prä­si­dent grins­te.

Sein Weib Lot­te grins­te nicht, son­dern ver­schenk­te Lä­cheln, eine Kö­ni­gin Lui­se in je­dem Zoll. Auch ihre Robe, de­ren Kost­bar­keit den Ge­sprächss­toff der Da­men ge­bil­det hat­te, war ein­fach bei al­lem Pomp: glatt flie­ßend, aus ei­nem schim­mern­den Sil­ber­ge­we­be, en­dend in ei­ner kö­nig­lich lan­gen Schlep­pe. Das Bril­lan­ten­dia­dem aber in der äh­ren­blon­den Fri­sur, die Per­len und Sma­rag­de auf dem Bu­sen über­tra­fen an Ge­wicht und Strah­lenglanz al­les, was es sonst noch zu be­wun­dern gab in die­ser üp­pi­gen Run­de. Das rie­sen­haf­te Ge­schmei­de der Pro­vinz­schau­spie­le­rin re­prä­sen­tier­te Mil­lio­nen­wer­te: sie ver­dank­te es der Galan­te­rie ei­nes Gat­ten, der ger­ne die Prunk­sucht und Kor­rum­piert­heit re­pu­bli­ka­ni­scher Mi­nis­ter und Bür­ger­meis­ter in öf­fent­li­cher Rede gei­ßel­te, und der Treue ei­ni­ger wohl­si­tu­ier­ter und be­vor­zug­ter Un­ter­ta­nen. Frau Lot­te ver­stand es, Auf­merk­sam­kei­ten von sol­chem Ge­wicht mit je­ner an­spruchs­lo­sen Hei­ter­keit hin­zu­neh­men, die ihr den Ruf der nai­ven und müt­ter­li­chen, ver­eh­rungs­wür­di­gen Frau ein­brach­te. Sie galt als un­ei­gen­nüt­zig, un­an­tast­bar rein. Sie war zur Ide­al­ge­stalt ge­wor­den un­ter den deut­schen Frau­en. Sie hat­te große, run­de, et­was her­vor­tre­ten­de Ku­hau­gen von ei­nem feucht­strah­len­den Blau; schö­nes blon­des Haar und einen schnee­wei­ßen Bu­sen. Üb­ri­gens war auch sie schon ein we­nig zu dick – man speis­te gut und reich­lich im Prä­si­den­ten­pa­lais. Man er­zähl­te sich be­wun­dernd von ihr, dass sie sich ge­le­gent­lich bei ih­rem Gat­ten für Ju­den aus der gu­ten Ge­sell­schaft ein­set­ze – die Ju­den ka­men trotz­dem ins Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger. Man nann­te sie den gu­ten En­gel des Mi­nis­ter­prä­si­den­ten; in­des­sen war der Fürch­ter­li­che nicht mil­der ge­wor­den, seit­dem sie ihn be­riet. Eine ih­rer be­rühm­tes­ten Rol­len war die Lady Mil­ford in Schil­lers »Ka­ba­le und Lie­be« ge­we­sen: jene Mätres­se ei­nes Ge­wal­ti­gen, die den Glanz ih­res Ge­schmei­des und die Nähe ih­res Fürs­ten nicht mehr er­trägt, da sie er­fah­ren hat, wo­mit man Edel­stei­ne be­zahlt. Als sie zum letz­ten Mal im Staats­thea­ter auf­trat, spiel­te sie die Min­na von Barn­helm: so de­kla­mier­te sie, ehe sie in den Palast des Flie­ger­ge­ne­rals über­sie­del­te, noch ein­mal die Sät­ze ei­nes Dich­ters, den ihr Ge­mahl und sei­ne Spieß­ge­sel­len het­zen und ver­fol­gen las­sen wür­den, leb­te er heu­te und hier. In ih­rer Ge­gen­wart wur­den die schau­er­li­chen Ge­heim­nis­se des to­ta­len Staa­tes be­spro­chen: sie lä­chel­te müt­ter­lich. Mor­gens, wenn sie ih­rem Gat­ten neckisch über die Schul­ter lug­te, sah sie To­des­ur­tei­le vor ihm auf dem Re­naissance­schreib­tisch – und er un­ter­zeich­ne­te sie; abends zeig­te sie den wei­ßen Bu­sen und die äh­ren­blon­de Kunst­fri­sur in Opern­pre­mie­ren oder an den ge­schmück­ten Ta­feln der Be­vor­zug­ten, die ih­res Um­gangs ge­wür­digt wur­den. Sie war un­be­rühr­bar, un­an­greif­bar; denn sie war ah­nungs­los und sen­ti­men­tal. Sie glaub­te sich um­ge­ben von der »Lie­be ih­res Vol­kes«, weil zwei­tau­send Ehr­gei­zi­ge, Käuf­li­che und Sn­obs Lärm mach­ten zu ih­ren Ehren. Sie schritt durch den Glanz und ver­schenk­te Lä­cheln – mehr ver­schenk­te sie nie. Sie glaub­te al­len Erns­tes, dass Gott ihr wohl­woll­te, weil er ihr so viel Ge­schmei­de hat­te zu­kom­men las­sen. Man­gel an Fan­ta­sie und an In­tel­li­genz be­wahr­te sie da­vor, an eine Zu­kunft zu den­ken, die mit die­ser schö­nen Ge­gen­wart viel­leicht we­nig Ähn­lich­keit ha­ben wür­de. Wie sie da­hin­schritt, er­ho­be­nen Haup­tes, über­gos­sen vom Licht und von der all­ge­mei­nen Be­wun­de­rung, gab es kei­nen Zwei­fel in ih­rem Her­zen an der Halt­bar­keit sol­chen Zau­bers. Nie­mals – so mein­te sie zu­ver­sicht­lich – nie­mals wür­de ab­fal­len von ihr die­ser Glanz; nie­mals wür­den die Ge­mar­ter­ten sich rä­chen, nie­mals wür­de die Fins­ter­nis nach ihr grei­fen.

Im­mer noch wur­de Tusch ge­spielt, eben­so laut wie aus­führ­lich; im­mer noch dau­er­te das hul­di­gen­de Ge­schrei. In­zwi­schen wa­ren Lot­te und ihr Di­cker beim Pro­pa­gan­da­mi­nis­ter und bei Höf­gen an­ge­kom­men. Die drei Her­ren ho­ben flüch­tig die Arme, die Gruß­ze­re­mo­nie läs­sig an­deu­tend. Dann neig­te Hen­drik sich mit ei­nem erns­ten und in­ni­gen Lä­cheln über die Hand der großen Dame, die er so oft auf der Büh­ne hat­te um­ar­men dür­fen. – Hier stan­den sie, dar­ge­bo­ten der bren­nen­den Neu­gier ei­ner ge­wähl­ten Öf­fent­lich­keit: vier Mäch­ti­ge in die­sem Lan­de, vier Ge­walt­ha­ber, vier Ko­mö­di­an­ten – der Re­kla­me­chef, der Spe­zia­list für To­des­ur­tei­le und Bom­ben­flug­zeu­ge, die ge­hei­ra­te­te Sen­ti­men­ta­le und der fah­le Int­ri­gant. Die ge­wähl­te Öf­fent­lich­keit be­ob­ach­te­te, wie der Di­cke dem Herrn In­ten­dan­ten auf die Schul­ter schlug, dass es krach­te, und sich mit ei­nem grun­zen­den La­chen er­kun­dig­te: »Na, wie geht’s, Me­phi­sto?«

Vom äs­the­ti­schen Ge­sichts­punkt aus war die Si­tua­ti­on für Höf­gen vor­teil­haft: ne­ben dem gar zu aus­la­den­den Ehe­paar wirk­te er schlank, und ne­ben dem agi­len aber krüp­pel­haf­ten Re­kla­me­zwerg hoch­ge­wach­sen und statt­lich. Üb­ri­gens bil­de­te auch sein Ge­sicht, so fahl und fa­tal es sein moch­te, einen im­mer­hin er­freu­li­chen Ge­gen­satz zu den drei Ge­sich­tern, die es um­ga­ben: mit den emp­find­li­chen Schlä­fen und dem kräf­tig ge­präg­ten Kinn er­schi­en es doch als das Ant­litz ei­nes Men­schen, der ge­lebt und ge­lit­ten hat; das Ge­sicht sei­nes flei­schi­gen Pro­tek­tors aber war eine ver­quol­le­ne Mas­ke; das der Sen­ti­men­ta­len eine tö­rich­te Lar­ve und das des Pro­pa­gan­dis­ten eine ver­zerr­te Frat­ze.

Die Sen­ti­men­ta­le sag­te mit see­len­vol­lem Blick zum In­ten­dan­ten, für den sie eine ge­hei­me – je­doch nicht gar zu ge­hei­me – Zu­nei­gung im Bu­sen trug: »Ich habe Ih­nen noch gar nicht ge­sagt, Hen­drik, wie wun­der­schön ich Ihren Ham­let fin­de.« Er drück­te ihr schwei­gend die Hand, wo­bei er einen Schritt nä­her an sie her­an­trat und eben­so in­nig zu bli­cken ver­such­te, wie es ihr von der Na­tur ge­ge­ben war. Der Ver­such muss­te miss­glücken: sei­ne fi­schi­gen Ju­we­len­au­gen ga­ben so viel sanf­te Wär­me nicht her. Des­halb mach­te er ein erns­tes, bei­nah et­was är­ger­li­ches, of­fi­zi­el­les Ge­sicht und mur­mel­te: »Ich muss ein paar Wor­te spre­chen.« Dann er­hob er die Stim­me.

Sie hat­te einen leuch­ten­den, raf­fi­niert ge­schul­ten Me­tall­ton und war bis in die ent­fern­tes­ten Win­kel des großen Saa­l­es hör­bar und wirk­sam, als sie aus­rief: »Herr Mi­nis­ter­prä­si­dent! Ho­hei­ten, Ex­zel­len­zen, mei­ne Da­men und Her­ren! Wir sind stolz – ja, wir sind stolz und froh, dass wir die­ses Fest heu­te in die­sem Hau­se mit Ih­nen, Herr Mi­nis­ter­prä­si­dent, und mit Ih­rer wun­der­vol­len Gat­tin be­ge­hen dür­fen …«

Mit dem ers­ten sei­ner Wor­te war das be­weg­te Ge­spräch der Zwei­tau­send-Per­so­nen-Ge­sell­schaft ver­stummt. In voll­kom­me­ner Stil­le, in de­vo­ter Re­gungs­lo­sig­keit lausch­te man der lan­gen, pa­the­ti­schen und plat­ten Glück­wun­sch­re­de, die der In­ten­dant, Se­na­tor und Staats­rat für sei­nen Mi­nis­ter­prä­si­den­ten hielt. Alle Au­gen wa­ren auf Hen­drik Höf­gen ge­rich­tet. Alle be­wun­der­ten ihn. Er ge­hör­te zur Macht. Er war ih­res Schim­mers teil­haf­tig – so lan­ge der Schim­mer hielt. Von ih­ren Re­prä­sen­tan­ten war er ei­ner der Feins­ten und Ge­wand­tes­ten. Sei­ne Stim­me brach­te, an­läss­lich des 43. Ge­burts­ta­ges sei­nes Herrn, die über­ra­schends­ten Ju­bel­tö­ne her­vor. Er hielt das Kinn hoch­ge­r­eckt, die Au­gen schim­mer­ten, sei­ne spar­sa­men und küh­nen Ges­ten hat­ten den schöns­ten Schwung. Er ver­mied es aufs Sorg­sams­te, ein wah­res Wort zu sa­gen. Der skal­pier­te Cäsar, der Re­kla­me­chef und die Ku­h­äu­gi­ge schie­nen dar­über zu wa­chen, dass nur Lü­gen, nichts als Lü­gen von sei­nen Lip­pen kämen: eine ge­hei­me Verab­re­dung ver­lang­te es so, in die­sem Saa­le wie im gan­zen Land.

Wäh­rend er sich dem Ende sei­ner An­spra­che mit bra­vou­rös ge­stei­ger­tem Tem­po nä­her­te, flüs­ter­te eine hüb­sche, kind­lich aus­se­hen­de klei­ne Dame – die Gat­tin ei­nes be­kann­ten Film­re­gis­seurs –, die im Hin­ter­grund des Rau­mes ein be­schei­de­nes Plätz­chen hat­te, ton­los ih­rer Nach­ba­rin zu:

»Wenn er fer­tig ist, muss ich hin­ge­hen und ihm die Hand schüt­teln. Ist es nicht fan­tas­tisch? Ich ken­ne ihn doch noch von frü­her – ja, wir sind in Ham­burg zu­sam­men en­ga­giert ge­we­sen. Das wa­ren ul­ki­ge Zei­ten! Und was hat der Mensch seit­dem für eine Kar­rie­re ge­macht!!«

Ge­sta­po: Die Ge­hei­me Staats­po­li­zei, auch kurz Ge­sta­po ge­nannt, war ein kri­mi­nal­po­li­zei­li­cher Be­hör­den­ap­pa­rat und die Po­li­ti­sche Po­li­zei wäh­rend der Zeit des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus von 1933 bis 1945.  <<<

Zu­sam­men­stoß, feind­li­che Be­geg­nung  <<<

Uni­form­rock mit Um­le­ge­kra­gen  <<<

I. H.K.

In den letz­ten Jah­ren des Welt­krie­ges und in den ers­ten Jah­ren nach der No­vem­ber­re­vo­lu­ti­on hat­te das li­te­ra­ri­sche Thea­ter in Deutsch­land eine große Kon­junk­tur. Um die­se Zeit er­ging es auch dem Di­rek­tor Os­kar H. Kro­ge glän­zend, den schwie­ri­gen Wirt­schafts­ver­hält­nis­sen zum Trotz. Er lei­te­te eine Kam­mer­spiel­büh­ne in Frank­furt a.M.: in dem en­gen, stim­mungs­voll in­ti­men Kel­ler­raum traf sich die in­tel­lek­tu­el­le Ge­sell­schaft der Stadt und vor al­lem eine an­ge­reg­te, von den Er­eig­nis­sen auf­ge­wühl­te, dis­kus­si­ons- und bei­falls­freu­di­ge Ju­gend, wenn es die Neu­in­sze­nie­rung ei­nes Stückes von We­de­kind oder Strind­berg gab oder eine Ur­auf­füh­rung von Ge­org Kai­ser, Stern­heim, Fritz von Un­ruh, Ha­sen­cle­ver oder Tol­ler. Os­kar H. Kro­ge, der selbst Essays und hym­ni­sche Ge­dich­te schrieb, emp­fand das Thea­ter als die mo­ra­li­sche An­stalt: von der Schau­büh­ne soll­te eine neue Ge­ne­ra­ti­on er­zo­gen wer­den zu den Idea­len, von de­nen man da­mals glaub­te, dass die Stun­de ih­rer Er­fül­lung ge­kom­men sei – zu den Idea­len der Frei­heit, der Ge­rech­tig­keit, des Frie­dens. Os­kar H. Kro­ge war pa­the­tisch, zu­ver­sicht­lich und naiv. Am Sonn­tag­vor­mit­tag, vor der Auf­füh­rung ei­nes Stückes von Tol­stoi oder von Ra­bin­dra­nath Ta­go­re, hielt er eine An­spra­che an sei­ne Ge­mein­de. Das Wort »Mensch­heit« kam häu­fig vor; den jun­gen Leu­ten, die sich im Steh­par­kett dräng­ten, rief er mit be­weg­ter Stim­me zu: »Ha­bet den Mut zu euch selbst, mei­ne Brü­der!« – und er ern­te­te Bei­falls­stür­me, da er mit den Schil­ler­wor­ten schloss: »Seid um­schlun­gen, Mil­lio­nen!«

Os­kar H. Kro­ge war sehr be­liebt und an­ge­se­hen in Frank­furt a.M. und über­all dort im Lan­de, wo man an den küh­nen Ex­pe­ri­men­ten ei­nes geis­ti­gen Thea­ters An­teil nahm. Sein aus­drucks­vol­les Ge­sicht mit der ho­hen, zer­furch­ten Stirn, der schüt­teren, grau­en Haar­mäh­ne und den gut­mü­ti­gen, ge­schei­ten Au­gen hin­ter der Bril­le mit schma­lem Gold­rand war häu­fig zu se­hen in den klei­nen Re­vuen der Avant­gar­de; zu­wei­len so­gar in den großen Il­lus­trier­ten. Os­kar H. Kro­ge ge­hör­te zu den ak­tivs­ten und er­folg­reichs­ten Vor­kämp­fern des dra­ma­ti­schen Ex­pres­sio­nis­mus.

Es war ohne Fra­ge ein Feh­ler von ihm ge­we­sen – nur zu bald soll­te es ihm klar wer­den –, sein stim­mungs­vol­les klei­nes Haus in Frank­furt auf­zu­ge­ben. Das Ham­bur­ger Künst­ler­thea­ter, des­sen Di­rek­ti­on man ihm im Jah­re 1923 an­bot, war frei­lich grö­ßer. Des­halb ak­zep­tier­te er. Das Ham­bur­ger Pub­li­kum aber er­wies sich als längst nicht so zu­gäng­lich dem lei­den­schaft­li­chen und an­spruchs­vol­len Ex­pe­ri­ment, wie je­ner zu­gleich rou­ti­nier­te und en­thu­sias­ti­sche Kreis, der den Frank­fur­ter Kam­mer­spie­len treu ge­we­sen war. Im Ham­bur­ger Künst­ler­thea­ter muss­te Kro­ge, au­ßer den Din­gen, die ihm am Her­zen la­gen, im­mer noch den »Raub der Sa­bi­ne­rin­nen« und »Pen­si­on Schöl­ler« zei­gen. Dar­un­ter litt er. Je­den Frei­tag, wenn der Spiel­plan für die kom­men­de Wo­che fest­ge­setzt wur­de, gab es einen klei­nen Kampf mit Herrn Schmitz, dem ge­schäft­li­chen Lei­ter des Hau­ses. Schmitz woll­te die Pos­sen und Rei­ßer an­ge­setzt ha­ben, weil sie Zug­stücke wa­ren; Kro­ge aber be­stand auf dem li­te­ra­ri­schen Re­per­toire. Meis­tens muss­te Schmitz, der üb­ri­gens eine herz­li­che Freund­schaft und Be­wun­de­rung für Kro­ge hat­te, nach­ge­ben. Das Künst­ler­thea­ter blieb li­te­ra­risch – was sei­nen Ein­nah­men schäd­lich war.

Kro­ge klag­te über die In­dif­fe­renz der Ham­bur­ger Ju­gend im Be­son­de­ren und über die Un­geis­tig­keit ei­ner Öf­fent­lich­keit im All­ge­mei­nen, die sich al­lem Hö­he­ren ent­frem­det habe. »Wie schnell es ge­gan­gen ist!« stell­te er mit Bit­ter­keit fest. »Im Jah­re 1919 lief man noch zu Strind­berg und We­de­kind; 1926 will man nur­mehr Ope­ret­ten.« Os­kar H. Kro­ge war an­spruchs­voll und üb­ri­gens ohne pro­phe­ti­schen Geist. Hät­te er sich be­schwert über das Jahr 1926, wenn er sich hät­te vor­stel­len kön­nen, wie das Jahr 1936 aus­se­hen wür­de? – »Nichts Bes­se­res zieht mehr«, groll­te er noch. »So­gar bei den ›We­bern‹ ges­tern ist das Haus halb leer ge­we­sen.«

»Im­mer­hin kom­men wir doch zur Not noch auf un­se­re Rech­nung.« Di­rek­tor Schmitz be­müh­te sich, den Freund zu trös­ten: Die Kum­mer­fal­ten in Kro­ges gut­mü­ti­gem und kind­li­chem al­ten Ka­ter­ge­sicht ta­ten ihm weh, wenn­gleich er doch sel­ber al­len Grund zur Sor­ge und auch schon meh­re­re Fal­ten hat­te in sei­ner feis­ten, ro­si­gen Mie­ne.

»Aber wie!« Kro­ge woll­te sich durch­aus nicht trös­ten las­sen. »Aber wie kom­men wir denn auf un­se­re Rech­nung! Berühm­te Gäs­te aus Ber­lin müs­sen wir uns ein­la­den – so wie heu­te Abend –, da­mit die Ham­bur­ger ins Thea­ter ge­hen.«

Hed­da von Herz­feld – Kro­ges alte Mit­ar­bei­te­rin und Freun­din, die schon in Frank­furt Dra­ma­tur­gin und Schau­spie­le­rin bei ihm ge­we­sen war – be­merk­te: »Du siehst wie­der mal al­les schwarz in schwarz, Os­kar H.! Es ist ja schließ­lich kei­ne Schan­de, Dora Mar­tin gas­tie­ren zu las­sen – sie ist wun­der­voll –, und üb­ri­gens kom­men un­se­re Ham­bur­ger auch, wenn Höf­gen spielt.« Wäh­rend sie Höf­gens Na­men aus­sprach, lä­chel­te Frau von Herz­feld klug und zärt­lich. Über ihr großes, matt ge­pu­der­tes Ge­sicht mit der flei­schi­gen Nase, den großen, gold­brau­nen, weh­mü­tig in­tel­li­gen­ten Au­gen ging ein be­schei­de­nes Auf­leuch­ten.

Kro­ge sag­te brum­mig: »Höf­gen wird über­zahlt.«

»Die Mar­tin üb­ri­gens auch«, füg­te Schmitz hin­zu. »Ihren gan­zen Zau­ber in Ehren und zu­ge­ge­ben, dass sie un­ge­heu­er zieht: aber tau­send Mark Abend­ga­ge, das ist doch wohl ein biss­chen toll.«

»Ber­li­ner Sta­ran­sprü­che«, mach­te Hed­da spöt­tisch. Sie hat­te in Ber­lin nie zu tun ge­habt und be­haup­te­te, den Be­trieb der Haupt­stadt zu ver­ach­ten.

»Tau­send Mark im Mo­nat für Höf­gen ist auch über­trie­ben«, be­haup­te­te Kro­ge, plötz­lich ge­reizt. »Seit wann hat er denn ei­gent­lich tau­send?« frag­te er her­aus­for­dernd Schmitz. »Es sind doch im­mer nur acht­hun­dert ge­we­sen, und das war reich­lich ge­nug.«

»Was soll ich ma­chen?« Schmitz ent­schul­dig­te sich. »Er ist zu mir ins Büro ge­sprun­gen und er hat sich mir auf den Schoß ge­setzt.« Frau von Herz­feld konn­te mit Be­lus­ti­gung fest­stel­len, dass Schmitz et­was rot wur­de, wäh­rend er dies er­zähl­te. »Er hat mich am Kinn ge­kit­zelt und hat im­mer wie­der ge­sagt: ›Tau­send Mark müs­sen es sein! Tau­send, Di­rek­tor­chen! Es ist eine so schö­ne run­de Sum­me!‹ Was soll­te ich da ma­chen, Kro­ge? Sa­gen Sie selbst!«

Es war Höf­gens schlaue Ge­wohn­heit, wie ein ner­vö­ser klei­ner Sturm­wind in Schmit­zens Büro zu fah­ren, wenn er Vor­schuss oder Ga­gen­er­hö­hung woll­te. Zu sol­chen An­läs­sen spiel­te er den über­mü­tig Lau­ni­schen und Ka­pri­zi­ösen, und er wuss­te, dass der un­ge­schick­te di­cke Schmitz ver­lo­ren war, wenn er ihm die Haa­re zaus­te und den Zei­ge­fin­ger mun­ter in den Bauch stieß. Da es sich um die tau­send-Mark-Gage han­del­te, hat­te er sich ihm so­gar auf den Schoß ge­setzt: Schmitz ge­stand es un­ter Er­rö­ten.

»Das sind Al­bern­hei­ten!« Kro­ge schüt­tel­te är­ger­lich das ver­sorg­te Haupt. »Über­haupt ist Höf­gen ein grun­dal­ber­ner Mensch. Al­les an ihm ist falsch, von sei­nem li­te­ra­ri­schen Ge­schmack bis zu sei­nem so­ge­nann­ten Kom­mu­nis­mus. Er ist kein Künst­ler, son­dern ein Ko­mö­di­ant.«

»Was hast du ge­gen un­se­ren Hen­drik?« Frau von Herz­feld zwang sich zu ei­nem iro­ni­schen Ton; in Wahr­heit war ihr kei­nes­wegs nach Iro­nie zu­mu­te, wenn sie von Höf­gen sprach, für des­sen ge­üb­te Rei­ze sie nur zu emp­fäng­lich war. »Er ist un­ser bes­tes Stück. Wir kön­nen froh sein, wenn wir ihn nicht an Ber­lin ver­lie­ren.«

»Ich bin gar nicht so be­son­ders stolz auf ihn«, sag­te Kro­ge. »Er ist doch nicht mehr als ein rou­ti­nier­ter Pro­vinz­schau­spie­ler, und das weiß er üb­ri­gens im Grun­de selbst ganz ge­nau.«

Schmitz frag­te: »Wo steckt er denn heu­te Abend?« – wor­auf Frau von Herz­feld lei­se durch die Nase lach­te: »Er hat sich in sei­ner Gar­de­ro­be hin­ter ei­nem Pa­ra­vent ver­steckt – der klei­ne Böck hat es mir er­zählt. Er ist im­mer furcht­bar auf­ge­regt und ei­fer­süch­tig, wenn Ber­li­ner Gäs­te da sind. So weit wie die wer­de er es nie­mals brin­gen, sagt er dann – und ver­steckt sich hin­ter ei­nem Pa­ra­vent, vor lau­ter Hys­te­rie. Die Mar­tin bringt ihn wohl be­son­ders aus der Fas­sung, das ist so eine Art von Hass­lie­be bei ihm. Heu­te Abend soll er schon einen Wein­krampf ge­habt ha­ben.«

»Da seht ihr sei­nen Min­der­wer­tig­keits­kom­plex!« rief Kro­ge und schau­te tri­um­phie­rend um sich. »Oder viel­mehr: dass er im Grun­de ir­gend­wo die rich­ti­ge Ein­schät­zung hat für sich sel­ber.« –

Die Drei sa­ßen in der Thea­ter­kan­ti­ne, die, nach den Ini­tia­len des Ham­bur­ger Künst­ler­thea­ters kurz »H. K.« ge­nannt wur­de. Über den Ti­schen mit den fle­cki­gen Tü­chern gab es eine ver­staub­te Bil­der­ga­le­rie: die Fo­to­gra­fi­en all je­ner, die sich im Lauf der Jahr­zehn­te hier pro­du­ziert hat­ten. Frau von Herz­feld lä­chel­te wäh­rend des Ge­sprächs manch­mal hin­auf zu den Nai­ven und Sen­ti­men­ta­len, den ko­mi­schen Al­ten, Hel­den­vä­tern, ju­gend­li­chen Lieb­ha­bern, Int­ri­gan­ten und Sa­lon­da­men, die von Schmitz und Kro­ge über­se­hen wur­den.

Dr­un­ten, im Thea­ter, spiel­te Dora Mar­tin, die mit ih­rer hei­se­ren Stim­me, der ver­füh­re­ri­schen Ma­ger­keit des ephe­bi­schen Kör­pers und den tra­gisch wei­ten, kind­li­chen und un­er­gründ­li­chen Au­gen das Pub­li­kum der großen deut­schen Städ­te ver­hex­te, einen Rei­ßer zu Ende. Die bei­den Di­rek­to­ren und Frau von Herz­feld hat­ten nach dem zwei­ten Akt ihre Loge ver­las­sen. Die üb­ri­gen Mit­glie­der des Künst­ler­thea­ters wa­ren im Saal ge­blie­ben, um der Ber­li­ner Kol­le­gin, die sie halb be­wun­der­ten und halb hass­ten, bis zum Schluss zu­zu­se­hen.

»Das En­sem­ble, das sie sich mit­ge­bracht hat, ist ja wirk­lich un­ter je­der Kri­tik«, stell­te Kro­ge ver­ächt­lich fest.

»Was wol­len Sie?« mein­te Schmitz. »Wie soll sie je­den Abend ihre tau­send Mark ver­die­nen, wenn sie sich auch noch teu­re Leu­te mit auf die Rei­se nimmt?«

»Aber sie sel­ber wird im­mer bes­ser«, sag­te die klu­ge Herz­feld. »Sie kann sich jede Ma­nie­riert­heit leis­ten. Sie kann wie ein geis­tes­kran­kes Baby spre­chen: sie be­zwingt.«

»Geis­tes­kran­kes Baby ist nicht schlecht«, lach­te Kro­ge. »Man scheint un­ten fer­tig zu sein«, füg­te er hin­zu, mit ei­nem Blick durchs Fens­ter. Die Leu­te ka­men den ge­pflas­ter­ten Weg her­auf, der vom Thea­ter, an der Kan­ti­ne vor­bei, zu dem Tor führ­te, durch das man auf die Stra­ße trat.

Nach und nach füll­te sich die Kan­ti­ne. Die Schau­spie­ler grüß­ten mit ei­ner re­spekt­voll be­ton­ten Herz­lich­keit den Di­rek­to­ren­tisch und rie­fen dem Wirt, ei­nem ge­drun­ge­nen, kräf­ti­gen Grei­se mit weißem Kne­bel­bart und blau­ro­ter Nase, klei­ne Scher­ze zu. Vä­ter­chen Han­se­mann, der Kan­ti­nen­be­sit­zer, war für das En­sem­ble eine bei­nah eben­so be­deu­tungs­vol­le Per­sön­lich­keit wie Schmitz, der ge­schäft­li­che Di­rek­tor. Von Schmitz konn­te man Vor­schuss be­kom­men, wenn er sich ge­ra­de in gnä­di­ger Lau­ne be­fand; bei Han­se­mann aber muss­te man an­schrei­ben las­sen, wenn in der zwei­ten Mo­nats­hälf­te die Gage auf­ge­braucht und ein Vor­schuss nicht ge­neh­migt wor­den war. Alle stan­den bei ihm in der Krei­de; man be­haup­te­te, dass Höf­gen ihm mehr als hun­dert Mark schul­dig war. Han­se­mann hat­te es also kei­nes­wegs nö­tig, auf die Wit­ze sei­ner un­so­li­den Gäs­te ein­zu­ge­hen; un­be­weg­ten Ge­sich­tes, dro­hen­den Ernst auf der Stirn, ser­vier­te er Co­gnac, Bier und kal­ten Auf­schnitt, den nie­mand be­zahl­te.

Alle spra­chen über Dora Mar­tin, je­der hat­te sei­ne ei­ge­ne An­sicht über den Rang ih­rer Leis­tung; nur dar­über, dass sie ent­schie­den zu viel Geld ver­dien­te, wa­ren sich alle ei­nig.

Die Motz er­klär­te: »An die­ser Star­wirt­schaft geht das deut­sche Thea­ter zu­grun­de« – wozu ihr Freund Pe­ter­sen grim­mig nick­te. Pe­ter­sen war Vä­ter­spie­ler mit dem Ehr­geiz zum He­ro­i­schen; er be­vor­zug­te Kö­ni­ge oder ad­li­ge alte Hau­de­gen in his­to­ri­schen Stücken. Lei­der war er et­was zu klein und dick für die­se Par­ti­en – was er aus­zu­glei­chen such­te durch eine stram­me und kamp­fes­lus­ti­ge Hal­tung. Zu sei­nem Ge­sicht, das den Aus­druck falscher Bie­der­keit zeig­te, hät­te ein grau­er Schif­fer­bart ge­passt; da er fehl­te, wirk­te sei­ne Mie­ne ein we­nig kahl, mit der lan­gen, ra­sier­ten Ober­lip­pe und den sehr blau­en, aus­drucks­voll blit­zen­den, zu klei­nen Au­gen. Die Motz lieb­te ihn mehr, als er sie: das wuss­ten alle. Da er ge­nickt hat­te, wand­te sie sich nun di­rekt an ihn, um in ei­nem in­ti­men und be­deu­tungs­vol­len Ton zu sa­gen: »Nicht wahr, Pe­ter­sen: über die­se Miss­wirt­schaft ha­ben wir schon häu­fig mit­ein­an­der ge­spro­chen?« Er be­stä­tig­te treu­her­zig: »Ge­wiss doch, Frau!« und blin­zel­te Ra­hel Moh­ren­witz zu, die auf­ge­macht war als das per­ver­se und dä­mo­ni­sche jun­ge Mäd­chen: mit schwar­zen Po­nies bis zu den ra­sier­ten Au­gen­brau­en und ei­nem großen, schwarz­ge­ran­de­ten Mo­no­kel im Ge­sicht, das üb­ri­gens kind­lich, paus­bä­ckig und völ­lig un­ge­formt war.

»In Ber­lin wir­ken die Mar­tin­schen Mätz­chen viel­leicht«, sprach die Motz re­so­lut. »Aber un­serei­nem kann sie nichts vor­ma­chen, wir sind schließ­lich lau­ter alte Thea­ter­ha­sen.« Sie blick­te bei­fall­hei­schend um sich. Ihr Fach war die ko­mi­sche Alte; zu­wei­len durf­te sie auch rei­fe Sa­lon­da­men spie­len. Sie lach­te gern, viel und laut, wo­bei sie schar­fe Fal­ten um den Mund be­kam, in des­sen In­nern Gold fun­kel­te. Im Au­gen­blick frei­lich zeig­te sie eine wür­de­voll erns­te, bei­nah zor­ni­ge Mie­ne.

Ra­hel Moh­ren­witz sag­te, wo­bei sie hoch­mü­tig mit ih­rer lan­gen Zi­ga­ret­ten­spit­ze spiel­te: »Nie­mand kann schließ­lich leug­nen, dass die Mar­tin ir­gend­wo eine enorm star­ke Per­sön­lich­keit ist. Was sie auf der Büh­ne auch macht: im­mer ist sie un­er­hört in­ten­siv da – ihr ver­steht, was ich mei­ne …« Alle ver­stan­den es; die Motz aber schüt­tel­te miss­bil­li­gend den Kopf, wäh­rend die klei­ne An­ge­li­ka Sie­bert mit ih­rem ho­hen, schüch­ter­nen Stimm­chen er­klär­te: »Ich be­wun­de­re die Mar­tin. Es geht eine zau­ber­haf­te Kraft von ihr aus, fin­de ich …« Sie wur­de sehr rot, weil sie einen so lan­gen und ge­wag­ten Satz vor­ge­bracht hat­te. Alle sa­hen mit ei­ner ge­wis­sen Rüh­rung zu ihr hin. Die klei­ne Sie­bert war rei­zend. Ihr Köpf­chen mit dem kurz­ge­schnit­te­nen, links ge­schei­tel­ten blon­den Haar glich dem ei­nes drei­zehn­jäh­ri­gen Bu­ben. Ihre hel­len und un­schul­di­gen Au­gen wur­den da­durch nicht we­ni­ger an­zie­hend, dass sie kurz­sich­tig wa­ren: man­che fan­den, dass ge­ra­de die Art, auf die An­ge­li­ka beim Schau­en die Au­gen zu­sam­men­kniff, ih­ren be­son­de­ren Ch­ar­me aus­ma­che.

»Un­se­re Klei­ne schwärmt wie­der ein­mal«, sag­te der schö­ne Rolf Bo­net­ti und lach­te et­was zu laut. Er war je­nes Mit­glied des En­sem­bles, das die meis­ten Lie­bes­brie­fe aus dem Pub­li­kum er­hielt: da­her sein stol­zer, mü­der, vor lau­ter Bla­siert­heit bei­nah an­ge­wi­der­ter Ge­sichts­aus­druck. Der klei­nen An­ge­li­ka ge­gen­über je­doch war er der Wer­ben­de: schon seit län­ge­rem be­müh­te er sich um sie. Auf der Büh­ne durf­te er sie oft in den Ar­men hal­ten, das brach­te sein Rol­len­fach mit sich. Im Üb­ri­gen aber blieb sie sprö­de. Mit ei­ner wun­der­li­chen Hart­nä­ckig­keit ver­schenk­te sie ihre Zärt­lich­keit nur dort­hin, wo nicht die min­des­te Aus­sicht be­stand, dass man sie er­wi­der­te oder auch nur wünsch­te. Rüh­rend und be­geh­rens­wert, wie sie war, schi­en sie ganz da­für ge­macht, viel ge­liebt und sehr ver­wöhnt zu wer­den. Der son­der­ba­re Ei­gen­sinn ih­res Her­zens aber ließ sie kühl und spöt­tisch blei­ben vor Rolf Bo­net­tis stür­mi­schen Be­teue­run­gen, und ließ sie bit­ter­lich wei­nen über die ei­si­ge Ge­ring­schät­zung, die Hen­drik Höf­gen ihr ge­gen­über an den Tag leg­te.

Rolf Bo­net­ti sag­te ken­ner­haft: »Als Frau kommt die­se Mar­tin je­den­falls gar nicht in Fra­ge: ein un­heim­li­cher Zwit­ter – si­cher hat sie so et­was wie Fisch­blut in den Adern.«

»Ich fin­de sie schön«, sag­te An­ge­li­ka, lei­se aber ent­schlos­sen. »Sie ist die schöns­te Frau, fin­de ich.« Schon stan­den ihr die Au­gen voll Trä­nen: An­ge­li­ka wein­te häu­fig, auch ohne be­son­de­ren An­lass. Träu­me­risch sag­te sie noch: »Es ist merk­wür­dig – ich spü­re ir­gend eine ge­heim­nis­vol­le Ähn­lich­keit zwi­schen Dora Mar­tin und Hen­drik …« Dies er­reg­te all­ge­mei­ne Ver­wun­de­rung.

»Die Mar­tin ist eine Jü­din.« Es war der jun­ge Hans Mi­klas, der sich un­ver­mit­telt so ver­neh­men ließ. Alle schau­ten be­trof­fen und et­was an­ge­wi­dert zu ihm hin. – »Der Mi­klas ist köst­lich«, sprach die Motz in ein be­tre­te­nes Schwei­gen hin­ein und ver­such­te zu la­chen. Kro­ge run­zel­te die Stirn, ver­wun­dert und de­gou­tiert, wäh­rend Frau von Herz­feld nur den Kopf schüt­teln konn­te; üb­ri­gens war sie blass ge­wor­den. Da die Pau­se lang und pein­lich wur­de – der jun­ge Mi­klas stand bleich und trot­zig an die The­ke ge­lehnt – sag­te Di­rek­tor Kro­ge schließ­lich ziem­lich scharf: »Was soll denn das?« und mach­te ein Ge­sicht, so böse, wie es ihm eben mög­lich war. Ein an­de­rer jun­ger Schau­spie­ler, der sich bis da­hin lei­se mit Va­ter Han­se­mann un­ter­hal­ten hat­te, sag­te forsch und ver­söhn­lich: »Ho­p­la, das ist da­ne­ben ge­gan­gen! Lass nur, Mi­klas, so­was kann vor­kom­men, du bist sonst ein ganz bra­ves Kind!« Da­bei klopf­te er dem Übel­tä­ter auf die Schul­ter und lach­te so herz­lich, dass alle ein­stim­men konn­ten; so­gar Kro­ge ent­schloss sich zu ei­ner Hei­ter­keit, die frei­lich krampf­haf­ten Cha­rak­ter hat­te: er schlug sich mit der fla­chen Hand auf den Schen­kel und warf den Ober­kör­per nach vor­ne, so hef­tig schi­en er sich plötz­lich zu amü­sie­ren. Mi­klas aber blieb ernst; er dreh­te das ver­stock­te, blei­che Ge­sicht zur Sei­te, die Lip­pen böse auf­ein­an­der ge­presst. »Sie ist doch eine Jü­din.« Er sprach so lei­se, dass fast nie­mand es hö­ren konn­te; nur Otto Ul­richs, der ge­ra­de erst durch sei­ne Un­be­fan­gen­heit die Si­tua­ti­on ge­ret­tet hat­te, hör­te es, und nun straf­te er ihn mit ei­nem erns­ten Blick.

Nach­dem Di­rek­tor Kro­ge durch sein Ge­läch­ter aus­führ­lich be­kun­det hat­te, dass er die Ent­glei­sung des jun­gen Mi­klas durch­aus von der ko­mi­schen Sei­te nahm, wink­te er Ul­richs. »Ach Ul­richs, kom­men Sie doch bit­te mal einen Au­gen­blick!« Ul­richs setz­te sich an den Tisch zu den Di­rek­to­ren und Frau von Herz­feld.

»Ich will mich nicht in Ihre An­ge­le­gen­hei­ten mi­schen, wirk­lich nicht.« Kro­ge ließ es sich an­mer­ken, dass die Sa­che ihm äu­ßerst pein­lich war. »Aber es kommt jetzt im­mer häu­fi­ger vor, dass Sie in kom­mu­nis­ti­schen Ver­samm­lun­gen auf­tre­ten. Ges­tern ha­ben Sie schon wie­der ir­gend­wo mit­ge­macht. Das scha­det Ih­nen doch, Ul­richs, und uns scha­det es auch.« Kro­ge sprach lei­se. »Sie wis­sen doch, wie die bür­ger­li­chen Zei­tun­gen sind, Ul­richs«, sag­te er ein­dring­lich. »Su­spekt sind wir den Leu­ten oh­ne­dies. Wenn ei­nes un­se­rer Mit­glie­der sich nun po­li­tisch ex­po­niert – es kann ver­häng­nis­voll für uns sein, Ul­richs.« Kro­ge trank sehr has­tig sei­nen Co­gnac aus, er war so­gar et­was rot ge­wor­den.

Ul­richs ant­wor­te­te ru­hig: »Es ist mir sehr er­wünscht, Herr Di­rek­tor, dass Sie von die­sen Din­gen zu mir spre­chen. Na­tür­lich habe ich auch schon über sie nach­ge­dacht. Vi­el­leicht ist es bes­ser, wir tren­nen uns, Herr Di­rek­tor – glau­ben Sie mir, dass es mir nicht leicht fällt, die­sen Vor­schlag zu ma­chen. Aber auf mei­ne po­li­ti­sche Be­tä­ti­gung kann ich nicht ver­zich­ten. Ihr müss­te ich so­gar mein En­ga­ge­ment op­fern, und das wäre ein Op­fer; denn ich bin ger­ne hier.« Er sprach mit ei­ner an­ge­neh­men, dunklen und war­men Stim­me. Wäh­rend er re­de­te, schau­te Kro­ge mit ei­ner vä­ter­li­chen Sym­pa­thie auf sein in­tel­li­gen­tes, kraft­vol­les Ge­sicht. Otto Ul­richs war ein gut aus­se­hen­der Mann. Sei­ne hohe, freund­li­che Stirn, von der das schwar­ze Haar weit zu­rück­wich, und die en­gen, dun­kel­brau­nen, ge­schei­ten und lus­ti­gen Au­gen flö­ßten Ver­trau­en ein. Kro­ge moch­te ihn sehr. Des­halb wur­de er jetzt bei­nah zor­nig.

»Aber Ul­richs!« rief er aus. »Da­von kann doch gar kei­ne Rede sein. Sie wis­sen ganz ge­nau, dass ich Sie nie­mals fort­las­sen wür­de!« »Wir kön­nen Sie gar nicht ent­beh­ren!« füg­te Schmitz hin­zu – der di­cke Mensch über­rasch­te zu­wei­len durch eine merk­wür­dig vi­brie­ren­de, hel­le und hüb­sche Stim­me –; wozu die Herz­feld ernst be­stä­ti­gend nick­te. »Es ist doch nur ein klein biss­chen Zu­rück­hal­tung, worum ich Sie bit­te«, ver­si­cher­te Kro­ge.

Ul­richs sag­te mit Herz­lich­keit: »Ihr seid alle sehr nett zu mir – wirk­lich sehr nett – und ich wer­de mir Mühe ge­ben, dass ich euch nicht gar zu sehr kom­pro­mit­tie­re.« Die Herz­feld lä­chel­te ihm ver­trau­lich zu. »Es ist Ih­nen ja­wohl nicht ganz un­be­kannt«, sag­te sie lei­se, »dass wir po­li­tisch weit­ge­hend mit Ih­nen sym­pa­thi­sie­ren.« – Der Mann, mit dem sie in Frank­furt ver­hei­ra­tet ge­we­sen war und des­sen Na­men sie führ­te, war Kom­mu­nist. Er war viel jün­ger als sie und hat­te sie ver­las­sen. Zur­zeit ar­bei­te­te er in Mos­kau als Film­re­gis­seur.

»Weit­ge­hend!« be­ton­te Kro­ge mit lehr­haft er­ho­be­nem Zei­ge­fin­ger. »Wenn­gleich nicht ganz, nicht in al­len Stücken. Nicht alle un­se­re Träu­me ha­ben sich in Mos­kau er­füllt. Kön­nen die Träu­me, die For­de­run­gen, die Hoff­nun­gen der Geis­ti­gen sich er­fül­len un­ter der Dik­ta­tur?«

Ul­richs ant­wor­te­te ernst, wo­bei sei­ne en­gen Au­gen noch schma­ler wur­den und einen bei­nah dro­hen­den Blick be­ka­men: »Nicht nur die Geis­ti­gen – oder die, wel­che sich so nen­nen – ha­ben ihre Hoff­nun­gen und For­de­run­gen. Noch dring­li­cher sind die For­de­run­gen des Pro­le­ta­ri­ats. Die­se wa­ren, so wie die Welt heu­te ist, nur zu er­fül­len mit­tels der Dik­ta­tur.« Hier zeig­te Di­rek­tor Schmitz ein be­stürz­tes Ge­sicht. Ul­richs, um dem Ge­spräch eine leich­te­re Wen­dung zu ge­ben, sag­te lä­chelnd: »Üb­ri­gens wäre auf der Ver­samm­lung ges­tern das Künst­ler­thea­ter bei­nah durch sein pro­mi­nen­tes­tes Mit­glied re­prä­sen­tiert wor­den. Hen­drik woll­te ei­gent­lich auf­tre­ten – im letz­ten Au­gen­blick ist er dann lei­der ver­hin­dert ge­we­sen.«

»Höf­gen wird im­mer im letz­ten Au­gen­blick ver­hin­dert sein, wenn es sich um An­ge­le­gen­hei­ten han­delt, die be­denk­lich für sei­ne Kar­rie­re wer­den könn­ten.« Kro­ge hat­te ver­ächt­lich den Mund ver­zo­gen, wäh­rend er dies sag­te. Hed­da von Herz­feld sah ihn fle­hend und kum­mer­voll an. Als aber Otto Ul­richs mit Über­zeu­gung äu­ßer­te: »Hen­drik ge­hört zu uns«, lä­chel­te sie er­löst. »Hen­drik ge­hört zu uns«, wie­der­hol­te Ul­richs. »Und er wird das durch die Tat be­wei­sen. Sei­ne Tat wird das Re­vo­lu­tio­näre Thea­ter sein. In die­sem Mo­nat soll es er­öff­net wer­den.«

»Noch ist es nicht er­öff­net.« Kro­ge lä­chel­te bos­haft. »Zu­nächst ist nur das Brief­pa­pier da, mit der schö­nen Über­schrift ›Re­vo­lu­tio­näres Thea­ter‹. Neh­men wir aber so­gar ein­mal an, es kommt zur Er­öff­nung: glau­ben Sie, Höf­gen wird sich her­aus­trau­en mit ei­nem wirk­lich re­vo­lu­tio­nären Stück?«

Ziem­lich hef­tig er­wi­der­te Ul­richs: »In der Tat glau­be ich das! Üb­ri­gens ist das Stück ja schon aus­ge­sucht – man kann wohl sa­gen, dass es ein re­vo­lu­tio­näres ist.«

Kro­ge mach­te, mit der Mie­ne und Ge­bär­de ei­nes mü­den und ver­ächt­li­chen Zwei­fels: »Wir wer­den ja se­hen.« Hed­da von Herz­feld, die be­merk­te, dass Ul­richs rot wur­de vor Är­ger, fand es ge­ra­ten, nun­mehr das The­ma zu wech­seln.

»Was war das ei­gent­lich vor­hin für eine fan­tas­ti­sche klei­ne Äu­ße­rung von die­sem Mi­klas? Stimmt es also doch, dass der Bur­sche An­ti­se­mit ist und mit den Na­tio­nal­so­zia­lis­ten zu tun hat?« Bei dem Wort »Na­tio­nal­so­zia­lis­ten« ver­zerr­te sich ihr Ge­sicht vor Ekel, als hät­te sie eine tote Rat­te be­rührt. Schmitz lach­te ver­ächt­lich, wäh­rend Kro­ge sag­te: »So einen kön­nen wir ge­ra­de ge­brau­chen!« Ul­richs ver­si­cher­te sich durch einen Sei­ten­blick, dass Mi­klas ih­nen nicht zu­hör­te, ehe er mit ge­dämpf­ter Stim­me er­klär­te:

»Hans ist im Grun­de ein gu­ter Kerl – ich weiß das, denn ich habe mich oft mit ihm un­ter­hal­ten. Mit so ei­nem Jun­gen muss man sich viel und nach­sich­tig be­schäf­ti­gen – dann ge­winnt man ihn viel­leicht noch für die gute Sa­che. Ich glau­be nicht, dass er für uns schon ganz ver­lo­ren ist. Sei­ne Auf­säs­sig­keit, sei­ne all­ge­mei­ne Un­zu­frie­den­heit sind falsch ge­lan­det – ver­ste­hen Sie, was ich mei­ne?« Frau Hed­da nick­te; Ul­richs flüs­ter­te eif­rig: »In so ei­nem jun­gen Kopf ist al­les wirr, al­les un­ge­klärt – es lau­fen ja heu­te Mil­lio­nen her­um wie die­ser Mi­klas. Bei de­nen gibt es vor al­lem einen Hass, und der ist gut, denn er gilt dem Be­ste­hen­den. Aber dann hat so ein Bur­sche Pech und fällt den Ver­füh­rern in die Hän­de, und die ver­der­ben sei­nen gu­ten Hass. Sie er­zäh­len ihm, an al­lem Übel sei­en die Ju­den schuld, und der Ver­trag von Ver­sail­les, und er glaubt den Dreck, und ver­gisst, wer ei­gent­lich die Schul­di­gen sind, hier und über­all. Das ist das be­rühm­te Ablen­kungs­ma­nö­ver, und bei all die­sen jun­gen Wirr­köp­fen, die nichts wis­sen und nicht rich­tig nach­den­ken kön­nen, hat es Er­folg. Da sitzt dann so ein Häuf­chen Un­glück und lässt sich Na­tio­nal­so­zia­list schimp­fen!«

Sie schau­ten alle vier zu Hans Mi­klas hin, der an ei­nem klei­nen Tisch in der ent­fern­tes­ten Ecke des Rau­mes, bei der di­cken al­ten Souf­fleu­se, Frau Efeu, bei Wil­li Böck, dem klei­nen Gar­de­ro­bier, und bei dem Büh­nen­por­tier, Herrn Knurr, Platz ge­nom­men hat­te. Von Herrn Knurr wur­de be­haup­tet, dass er ein Ha­ken­kreuz un­ter dem Rockaufschlag ver­steckt tra­ge und dass sei­ne Pri­vat­woh­nung voll sei von den Bil­dern des na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen »Füh­rers«, die er in der Por­tiers­lo­ge denn doch nicht auf­zu­hän­gen wag­te. Herr Knurr hat­te hef­ti­ge Dis­kus­sio­nen und Strei­tig­kei­ten mit den kom­mu­nis­ti­schen Büh­nen­ar­bei­tern, die ih­rer­seits nicht im H. K. ver­kehr­ten, son­dern ih­ren ei­ge­nen Stamm­tisch in ei­ner Knei­pe ge­gen­über hat­ten – wo sie zu­wei­len von Ul­richs be­sucht wur­den. Höf­gen wag­te sich bei­nah nie an den Stamm­tisch der Ar­bei­ter; er fürch­te­te, die Män­ner wür­den über sein Mo­no­kel la­chen. An­de­rer­seits pfleg­te er zu kla­gen, das H. K. sei ihm durch die An­we­sen­heit des na­tio­na­lis­ti­schen Herrn Knurr ganz ver­lei­det. »Die­ser ver­fluch­te Klein­bür­ger«, sag­te Höf­gen von ihm, »der auf sei­nen Füh­rer und Er­lö­ser war­tet, wie die Jung­fer auf den Kerl, der sie schwän­gern soll! Mir wird im­mer heiß und kalt, wenn ich an der Por­tiers­lo­ge vor­bei­ge­hen muss und an das Ha­ken­kreuz un­ter sei­nem Rockaufschlag den­ke …«