Merano fatale - Elisabeth Florin - E-Book

Merano fatale E-Book

Elisabeth Florin

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Beschreibung

Spritzige Lektüre mit Spannung und Humor: Am Tappeinerweg über Meran wird ein Kurgast ermordet. Während Ispettore Emmenegger kurz hofft, den Fall und seine Bergtour unter einen Hut zu bekommen, ändert sich alles, als die Mutter seiner Verlobten im Kommissariat auftaucht – und behauptet, den Mann vergiftet zu haben. Das ist ja eine schöne Familie, in die Emmenegger da einheiraten wird! Widerstrebend tauscht der Ispettore die Wanderstiefel gegen Lackschuhe und nimmt die Ermittlungen in der feinen und nicht ganz so feinen Gesellschaft Südtirols auf.

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Elisabeth Florin wuchs in Süddeutschland auf; ihre journalistische Laufbahn begann sie in den 1980er Jahren bei der RAI in Bozen. Von den Menschen in Südtirol und ihrer Geschichte fasziniert, verbringt sie seither viel Zeit in Meran und Umgebung, meistens in Begleitung ihres Mannes und ihres kleinen Hundes. Sie arbeitete fünfundzwanzig Jahre lang als Finanzjournalistin und Kommunikationsexpertin in Frankfurt am Main. www.elisabethflorin.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang finden sich Rezepte.

© 2024 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: shutterstock.com/Sonja Filitz

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

Lektorat: Carlos Westerkamp

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-156-0

Originalausgabe

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Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Im kalten Herzen gefriert die Treu.

William Shakespeare, »König Heinrich VIII

Tag 1 – Hundert Prozent Desaster

Meran, Kornplatz

Donnerstag, 23.März, gegen 17Uhr

Unheilverkündend blitzt die Klinge in der Nachmittagssonne.

»Halt endlich still. Ich tu dir doch nichts.«

Lügen, nichts als Lügen.

Die rothaarige Dame mittleren Alters keucht vor Entsetzen. Sie weicht zurück und duckt sich, aber es gibt kein Entrinnen.

Sie sind zu zweit.

Der Ältere packt sie mit einer Hand am Kinn, mit der anderen greift er nach ihrem Hals.

Aber die Rothaarige hat ihre Manieren auf den Straßen Merans gelernt. Nicht umsonst wird sie von allen, die sie kennen, die Wilde Hilde genannt.

Geschickt nutzt sie das Überraschungsmoment und zwickt den Älteren in den Finger.

»Autsch!« Ispettore Emmenegger steckt den blutenden Daumen in den Mund. Von einem gotteslästerlichen Fluch begleitet, fliegt die Schermaschine in hohem Bogen durch Emmeneggers Wohnzimmer.

Die Hündin öffnet das Maul. Es ertönt ein lang gezogener, Gänsehaut erregender Ton.

»Schau, was du angerichtet hast. Jetzt weint sie.« Der dreiundzwanzigjährige Paul Tschugg ist Schauspieler am Meraner Stadttheater – und selbst ernannter Hundeflüsterer.

Ispettore Emmenegger seufzt. Er hat die beiden geerbt: die Hündin von einem Mordopfer. Und Paul von seinem Vorgänger im Amt. Der hatte es sich zur Aufgabe gemacht, sich um den Jungen zu kümmern: ohne intakte Familie, als Teenager schwer erziehbar. Hinter seinem jungenhaften, gut aussehenden Äußeren schlummern skurrile Eigenheiten.

Emmenegger muss zugeben, dass sich Paul in den letzten Jahren rausgemacht hat. In seiner von Macken und aberwitzigen Ideen gebeutelten Seele steckt eine derart geballte Wucht Talent, dass den Direktoren der Theaterverwaltung nichts übrig blieb, als dem Jungen eine Chance zu geben. Seit dem Ende seiner Schauspielausbildung gehört Paul Tschugg zum festen Theaterensemble – bis zum Jahresende allerdings auf Probe.

In neun Monaten kann so gut wie alles passieren. Der Gedanke lässt Emmenegger schaudern.

***

Von Pauls Hand baumelt jetzt der Gürtel von Emmeneggers heiß geliebtem Bademantel, einem flaschengrünen Relikt aus den neunziger Jahren.

»He, was soll das?«

»Wir müssen sie mit irgendwas festbinden, sonst wird das nichts.«

»Aber nicht damit!«

»Jetzt stell dich nicht so an, alter Mann.«

Paul geht vor Hilde in die Hocke und schaut ihr in die braunen Triefaugen.

»Hilde, meine Süße. Dein Herrchen«, Paul deutet auf Emmenegger, »geht mit dir auf ein großes Fest. Dafür müssen wir dich supi-supi-schön machen. Okidoki?«

Hilde guckt von einem zum anderen, in ihren Augen steht Abscheu. Sie schüttelt sich.

Das würde Emmenegger am liebsten auch tun.

Die alljährliche Frühjahrsparty, von der Paul spricht, findet kurz vor Ostern im Haus von Emmeneggers Schwiegereltern in spe statt. Diesmal soll es ein besonders glamouröses Fest werden, denn der Termin fällt mit ihrem Hochzeitstag zusammen.

Die Party besteht aus albernem, geckenhaftem Angeber-Gequatsche reicher Leute, die Emmenegger nicht kennt und auch nicht kennen will. Und aus hochgestochenem Essen in Mini-Portionen, von denen kein Mensch satt wird, auf Mini-Tellern aus teurem Porzellan. Und zu allem Überfluss sind da diese hochmütig dreinschauenden Kellner, die jeden ohne Designerklamotten von oben herab behandeln.

»Wie wär’s denn diesmal zum Beispiel mit geselchtem Haxenfleisch und ein paar zünftigen Käseknödeln?« Doch die einzige Ernte, die Emmenegger mit dieser kulinarischen Anregung eingefahren hatte, war die ironische Miene von Eva, seiner Angebeteten.

Außerdem, und das ist das Schlimmste, wird auf diesem Fest getanzt. In diesem Umfeld ist es einem Mann nicht vergönnt, in Ruhe sein Bier zu trinken. Die Frauen sind ganz verrückt nach der Tanzerei. Ständig juchzt eine: »Damenwahl!«

Jeder vernünftige Mann würde einen Bogen um so eine Party machen.

Eva hat ihm allerdings deutlich vermittelt, dass für ihn Anwesenheitszwang herrscht. Und weil Hilde nicht so lange allein bleiben kann, muss sie mit.

Das Problem sind die Kellner. Hilde mag keine Schwarzbefrackten. Eilt einer vorbei, pflegt sie unter dem Tisch hervorzustürzen und den Nichtsahnenden am Hosenbein zu packen. Das Resultat ist immer das Gleiche. Das Opfer zuckt zusammen. Das Tablett gerät ins Schwanken. Biergläser und Teller fliegen durch die Luft. Alles endet in einer Schweinerei auf dem Boden.

Auch diesmal ist es so gut wie sicher, dass etwas passieren wird. Hilde ist ein Hund mit hundert Prozent Desaster-Garantie. Mit ihr als Partygast dürfte das lauwarme Verhältnis zwischen Emmenegger und Evas Eltern unaufhaltsam Richtung Eisberg driften, wie weiland die »Titanic«.

Wie lange sich das chinesische Porzellan und die Kristallgläser der Marthalers noch des Lebens erfreuen dürfen, steht in den Sternen.

»Am besten sage ich den Kellnern, sie sollen in Skistiefeln antreten«, sagte Eva, und es war nur zum Teil scherzhaft gemeint.

»Hilde hat das Herz auf dem rechten Fleck.« Wie immer sprang Paul der Hündin bei. »Sie hat viel durchgemacht. Der alte Mann und ich sind ihre Familie. Sie will uns nur beschützen.«

Eva weiß über Hildes Vergangenheit Bescheid, die so ähnlich ist wie die von Paul. Was blieb ihr übrig, als nachzugeben? Unter der Bedingung, dass die Hündin manierlich aussieht, soweit möglich, und olfaktorisch unauffällig ist.

***

»Wir heben sie auf den Tisch«, sagt Paul. »Fass mit an. Du nimmst sie an den Hinterbeinen.«

»Hast du sie noch alle? Auf meinen Esstisch?«

Paul zuckt die Achseln. »Siehst du hier einen anderen?«

»Aber nicht ohne Handtuch drunter!«

Das Handtuch, das Paul herbeischafft, entpuppt sich als das letzte flaschengrüne seiner Art. Wieder eins von Emmeneggers Lieblingsstücken. Eva hat schon mehrfach versucht, es zu entsorgen, hat sich aber erwischen lassen. Vielleicht werden sie und Hilde doch noch beste Freundinnen.

Als Hilde auf dem Tisch sitzt, kratzt sie sich ausgiebig. Paul grinst. »Sollten wir beim Baden nicht alle Flöhe erwischt haben?« Als er Emmeneggers Miene sieht: »War ein Scherz.«

Er guckt hoch zur Deckenlampe, in seinen Augen steht eine Paul-typische Mischung aus gewiefter Spekulation und engelsgleicher Reinheit. Emmenegger ahnt Böses.

»Das lässt du schön bleiben!«

Doch Paul hat bereits den Gürtel um die schwere Pendelleuchte geschwungen und die Enden um den Bauch der Hündin verknotet.

Hilde in flaschengrünem Bademantel-Gürtel-Geschirr hängt mit einer Art Seilzug an der Küchenlampe. Vielleicht ist die Konstruktion einen Hauch weniger professionell als in einem Hundesalon.

Was Paul in der Hitze des Gefechts vergessen hat: Emmeneggers Küchenfenster, das auf den Kornplatz hinausgeht, steht weit offen. Auf dem Kornplatz versammeln sich immer Tauben.

Kellner sind für Hilde Bösewichter niedriger Stufe, leicht zu verjagen. Tauben sind Erzfeinde. Abgesandte der Hölle.

Und schon lässt sich eine davon mit provokantem Flügelschlagen auf Emmeneggers Fensterbrett nieder. Eine Kriegserklärung!

Hilde zögert keine Sekunde. Dreißig Kilo Lebendgewicht machen einen Satz nach vorn. Ein Ruck, ein Knirschen – die Befestigung der Lampe reißt aus der Decke. Mit lautem Scheppern landet das Ensemble aus Chrom, Drähten und Dübeln auf Emmeneggers sorgsam polierter Tischplatte. Eine Glühbirne zerbirst, Glasscherben spritzen umher. Die Hündin wirft sich ins Geschirr, hechtet hinunter auf den Boden, rast zum Fenster – und zieht die Lampe samt Aufhängung hinter sich her.

Die Taube ist weg. Hilde steht mit den Vorderbeinen auf dem Fensterbrett und bellt sich die Seele aus dem Leib. Passanten schauen hoch und schütteln die Köpfe. Hildes Augen sind wild verdreht.

»Armes Mädel. Du musst dich nicht immer so aufregen.« Paul tätschelt Hilde den Kopf und schließt das Fenster.

Desaster-Garantie, hundert Prozent.

Wie gelähmt steht Emmenegger da und starrt seinen Tisch an. Die tiefen Kratzer sehen aus, als wäre ein Tyrannosaurus Rex drübermarschiert.

In das Chaos hinein läutet das Telefon.

Mord mit Herz

Café Unterweger am Tappeinerweg. Oberhalb Merans

Zur gleichen Zeit

Rosalinde Herzinger, von allen nur die Herz-Rosie genannt, stellt ein Tablett mit leeren Gläsern auf dem Tresen ab. Ihr Rückgrat brennt wie die Hölle. Vorsichtig streckt sie den Rücken durch.

Gott sei Dank, bald Feierabend. Nach dem Ansturm heute spürt Rosie jeden Knochen im Leib. Das Wetter ist herrlich und Meran voller Urlauber, die über den Tappeinerweg spazieren und dann hier, im Café Unterweger, einkehren. Alle wissen, wie gemütlich es sich inmitten von Zitronen- und Olivenbäumchen Brotzeit machen lässt.

Und der Ausguck von der Terrasse sucht wirklich seinesgleichen: Der Blick schweift über die Weinberge zum kleinen, romantisch zwischen Obstplantagen eingebetteten Dorf Gratsch. Dann hinüber zur Festung Thurnstein und weiter ins Etschtal hinein. Über allem thront majestätisch die Mutspitze, der Hausberg von Meran.

Rosie schaut in die Runde. Noch zwei Tische besetzt. Tisch vier, eine Familie mit zwei Kindern, zahlt gerade bei ihrer Kollegin.

Am Tisch eins, ganz vorn in der Ecke, sitzt ein einzelner Herr.

Rosie kennt ihn, wie man einen Stammgast kennt, der jedes Jahr hierherkommt. Meistens ist er allein, manchmal mit einer Frau. Rosie ist aufgefallen, dass die Damen wechseln. Offenbar ist er nicht verheiratet.

Wie immer ist der Mann wie aus dem Ei gepellt, die Kleidung war teuer, das sieht man. Trotzdem behandelt er die Herz-Rosie immer freundlich, nicht so überheblich wie die meisten mit Geld.

Sie schätzt ihn auf Anfang fünfzig, ein paar Jahre jünger als sie. Höchstens zehn. Also – ungefähr gleich alt.

Soll sie sich ein Herz fassen und hinübergehen? Ihn fragen, ob er vielleicht noch etwas möchte?

Vielleicht würde er sie auffordern, ein Glas mit ihm zu trinken, jetzt, wo das Lokal praktisch leer ist.

Nun steht sie am Tisch.

Merkwürdig, wie er dasitzt. So zusammengesunken. Hoffentlich ist ihm nicht schlecht geworden. Vorsichtig berührt Rosie ihn an der Schulter. Da kippt der Mann nach vorn. Im Fallen wirft er sein Weinglas um. Rote Flüssigkeit tropft auf Rosies Zehen, die aus ihren Gesundheitssandalen herausschauen.

Die Herz-Rosie will schreien, aber es kommt nur ein Keuchen aus ihrem Mund.

Irgendwo muss man sterben

Kornplatz, Meran. Kommissariat der Polizia di Stato

Wenig später

»Eigentlich hätten wir beide ab Montag Urlaub. Was meinst du: Soll ich versuchen, den Fall an die Carabinieri abzugeben? Seit seiner Beförderung zum Dienststellenleiter ist Pitti mächtig scharf drauf, sich zu profilieren.« Die Frage gilt Emmeneggers Kollegin und einziger Mitarbeiterin.

Als Leiter der Meraner Mordkommission kann Emmenegger so was allein entscheiden, aber zu viel Übermut hat schon Ikarus nicht überlebt. Eva Marthaler ist nämlich nicht nur seine Kollegin, sondern seit einem Jahr auch seine Lebenspartnerin. Da heißt es bei der Zusammenarbeit: Augen auf an der Bahnsteigkante.

»Das geht auf keinen Fall!« Eva schüttelt den Kopf, dass die dunkelroten Locken fliegen. »Carabiniere Pitti ist schon in Ordnung, aber sein Team in Meran-Mitte besteht zurzeit bloß aus zwei Schwachköpfen.«

Wohl wahr. Patrici und Conelli finden nicht mal den Dreck unter den eigenen Schuhen.

»Außerdem«, führt sie ins Feld, »ist der Mord auf der Terrasse vom Unterweger passiert. Jede Wette, dass der Tote ein Urlauber ist!«

Feriengäste als Mordopfer sind im Meraner Tourismusmarketing nicht vorgesehen. Meran ist stolz auf seine romantische Atmosphäre, die verträumten Gassen und lauschigen Promenaden, wo man selig die Zeit vergessen kann. Gewaltverbrechen? Die passieren anderswo.

Und wenn doch, dann muss der Täter hinter Schloss und Riegel, und zwar pronto, sonst treten die Politiker auf den Plan. Menschen, die Emmenegger ungefähr so gernhat wie die Wilde Hilde Tauben.

Erst neulich hat Polizeichef Branga, der unentwegt auf Facebook und X unterwegs ist und neuerdings auch per Instagram postet, in einem Co-Artikel mit seinem Schwiegervater, einem bekannten Politiker, Meran zur verbrechensfreien Zone erklärt. So etwas Ähnliches hat er schon mal gemacht. Dummerweise ist damals kurz danach ein Mord geschehen, genau wie jetzt.

Emmenegger grinst. »Irgendwo sitzt ein hinterhältiges Teufelchen, das dem Chef eins auswischen will.«

»Das ist kein Teufelchen«, witzelt Eva. »Das ist der Schutzengel der Mordermittler. Stell dir bloß vor, der Chef hätte recht!«

Eva hört sich nicht sonderlich traurig an, weil der Urlaub ausfällt. Stattdessen erwartungsvoll und ein bisschen aufgeregt. Emmenegger geht es genauso. Es ist ihr erster Mordfall nach längerer Zeit, in der sich außer einer Flut von Aktennotizen aus Rom nicht viel ereignet hat.

Im Stillen gratuliert Emmenegger dem Toten zu seinem verhängnisvollen Entschluss, nach Meran zu fahren. Irgendwo muss man schließlich sterben. Es gibt schlechtere Orte als den Unterweger.

Pfeifend greift der Ispettore nach dem Motorradschlüssel und wirft Eva den zweiten Helm zu.

Cherchez la femme

Café Unterweger am Tappeinerweg

18Uhr

Vor dem Eingang zum Café Unterweger hat sich eine Menschentraube gebildet. Die Leute stehen auf den Zehenspitzen und versuchen, über die Hecke zu spähen. Ein paar tuscheln miteinander.

Emmenegger seufzt. Die Segnungen von WhatsApp, Twitter und Co. »Ich vermute, eine der Kellnerinnen hat das Wasser nicht halten können. Hoffen wir mal, dass sie kein Foto der Leiche ins Internet gestellt hat.«

»Was wollen die bloß hier? Es gibt doch nichts zu sehen.«

»Das ist denen egal. Je weniger man sieht, desto grusliger kann man es sich ausmalen.«

Vor der Tür steht der Carabiniere Patrici. Er ist der große Schweiger des unsäglichen Duos der Station Meran-Mitte, in Insiderkreisen auch als Pat und Patachon bekannt. Er starrt über Emmenegger hinweg, als halte er vor dem Buckingham Palace Wache. Bloß dass dem König solche Ohrfeigengesichter bestimmt nicht vors Schloss kommen.

Patrici hat abstehende Ohren, eine gebrochene Nase und rot unterlaufene Augen wie ein Bernhardiner.

»Guten Morgen, Kollege«, sagt Eva mit zuckersüßer Stimme. »Sei so nett und lass uns durch.« Patrici rührt sich keinen Zentimeter.

Emmenegger greift nach seinem Handy. »Gib die Tür frei, Pat. Oder soll ich den Chef anrufen?«

In Patricis Miene zucken Blitze, als er seinen Spitznamen hört, aber er tritt zur Seite.

***

Am Tatort ist die Hölle los.

Jemand brüllt Anweisungen. Arnold Kohlgruber, Leiter der Meraner Spurensicherung, ist wie üblich der Meinung, alle außer ihm wären begriffsstutzig und taub. Wie immer tun seine Leute so, als hörten sie ihn nicht.

Kohlgruber ist gar nicht mal so unbeliebt, aber ständig Zielscheibe von Spott und derben Scherzen.

In grüner Schutzkleidung und mit Pinzetten und Plastikbeuteln zur Beweissicherung ausgestattet, nehmen seine Mitarbeiter gerade die letzten Proben innerhalb eines abgesperrten Areals um die Leiche.

Zwei Serviererinnen stehen an der Bar und rauchen.

Ansonsten ist das Lokal leer.

Gerade hat Kohlgruber Eva und Emmenegger bemerkt. Schon stürzt er auf sie zu. Eva raunt Emmenegger ins Ohr: »Achtung, Kohli-Bakterium im Anmarsch. Ich nehme schon mal Zeugenaussagen auf.«

Und weg ist sie. Emmenegger würde auch gern ausbüxen, aber es ist zu spät.

»Ich weiß schon, was hier passiert ist«, schallt es ihm entgegen.

War ja klar. Emmenegger verdreht die Augen.

Arnold Kohlgrubers Steckenpferd sind Tathergangsanalysen, seiner Meinung nach die hohe Kunst jeder Mordermittlung. Zuständig ist für so was die Mordkommission, also Emmenegger, aber das ist Kohlgruber einerlei. Er glaubt nämlich fest daran, dass er mit einer besonderen Begabung gesegnet ist.

Erst neulich hat er Emmenegger in einem schwachen Moment erzählt, dass er bereut, nicht selbst Kriminaler geworden zu sein.

Seither dankt Emmenegger seinem Herrgott jeden Tag dafür, dass der das verhindert hat.

Meistens trompetet Kohlgruber seine Theorie überall herum. Dann werden im gesamten Polizeihaus Wetten mit Geldeinsatz abgeschlossen, ob er ausnahmsweise richtigliegt. Auch ein blindes Huhn – Meistens laufen sie allerdings haushoch gegen ihn. Gottlob weiß Kohlgruber nichts davon.

»Es war Selbstmord. Ihr könnt gleich wieder gehen.«

Überrascht starrt Emmenegger den Spusi-Chef an. »Wie kommst denn auf so was, Arnold?«

Kohlgruber deutet hinüber zu der zusammengesunkenen Gestalt. »Erst mal hat er keine äußeren Verletzungen.«

»Jetzt hör aber auf. Du weißt doch selber, dass manche Stichwunden winzig sind. Außerdem …«, Emmenegger schaut hinüber zu der Leiche, »… stand irgendwas auf dem Tisch?«

»Ein Glas Rotwein, das umgekippt ist.«

»Und?«

Schnauben. »Wir haben natürlich Fingerabdrücke gesichert. Der Rest von dem Wein ist unterwegs ins Labor. Verschwendung von Steuergeldern.«

»Ich verstehe nicht, wieso du dich auf Selbstmord versteifst.«

»Schau ihn dir gleich mal an. Er sieht furchtbar mitgenommen aus.«

»Was hast du denn erwartet – das blühende Leben?«

Kohlgruber wedelt den Einwand mit einer Handbewegung fort. »Ja, tot ist er schon, aber ich meine was anderes. Ich wette, er hatte was Unheilbares.«

»Also wirklich!«

»Du musst dich reinversetzen in die Menschen, Emmenegger. Der Mann sieht nach der Diagnose den ganzen Jammer vor sich, fährt ein letztes Mal nach Meran und –«

»Und knipst sich das Licht auf der Sonnenterrasse vom Unterweger aus, in Anwesenheit von fünfzig Touristen, die Sahnetorten futtern?«

Kohlgruber schmollt. »Du bist immer so negativ. Vielleicht wollte er einfach ein bisschen Gesellschaft am Ende.«

»Hast du mal an dem Rest von dem Rotwein gerochen?«

Kohlgruber verzieht angeekelt das Gesicht. »Bei meiner empfindlichen Nase?« Neuerdings hat sich der Spusi-Chef wunde Schleimhäute zugelegt. »Igor hat das gemacht.« Igor ist Kohlgrubers bester Mann. »Es roch bloß nach Rotwein, sagt er.«

»Seid ihr mit dem Toten durch? Kann ich rüber?«

»Igor!«, schreit Kohlgruber im Falsett.

Der stemmt sich hoch und hebt den Daumen.

»Geldverschwendung«, meckert Kohlgruber schon wieder. »Der Mann hat irgendwas genommen, was schnell …«

Er spricht ins Leere. Emmenegger steht bereits neben dem Toten.

***

Der Mann trägt einen hellen Sommeranzug. Dezent und elegant. Im Kragen ist das Etikett eines bekannten Meraner Herrenschneiders eingenäht.

Vorsichtig greift Emmenegger in die Sakkotasche des Toten. Eine Brieftasche. Eine grüne Kreditkarte von American Express. Ein Ausweis mit einem Namen und einem Ort. Ulrich Brünner aus Frankfurt am Main.

In einer Brusttasche steckt eine goldene Karte mit Magnetstreifen, vermutlich eine Zimmerkarte. In der anderen ein schwarzes Handy von Motorola, ein altmodisches Gerät, mit dem man nur telefonieren kann.

Nirgendwo ein Tablettenröhrchen oder Blister. Emmenegger hat gelernt, auf sein Bauchgefühl zu hören. Und das sagt ihm: Das hier war kein Selbstmord.

Eva tritt neben ihn.

»Hilf mir mal.« Gemeinsam nehmen sie den Toten bei den Schultern, aber er lässt sich nicht aufrichten. Die Leiche ist starr und steif.

»Eine der Kellnerinnen sagt, dass er zusammengesunken dasaß. Als sie ihm auf die Schulter getippt hat, kippte er vornüber«, berichtet Eva.

»Da waren die Muskeln also noch beweglich.« Emmenegger. »Der Tod kann nicht lange davor eingetreten sein. Warten wir ab, was unsere hochverehrte Frau Dr. Landers dazu sagt. Wenn die Dame geruht aufzutauchen.« Gerichtsmedizinerin Landers ist für ihre Faulheit und Überheblichkeit bekannt. Aber über die reißt keiner im Polizeihaus Witze.

Am linken Handgelenk des Toten blinkt eine schlichte silberne Uhr mit eingekerbten Rillen auf der Lünette.

»Das ist eine Uhr mit Handaufzug«, sagt Eva mit sachkundiger Miene. »Mein Vater hat auch so eine von früher, aber die trägt er nie.«

»So was gibt’s noch?«, staunt Emmenegger. Plötzlich empfindet er Respekt für den Toten, der offenbar ein altmodischer Mensch mit einem Sinn für klassische Schönheit war.

Er geht in die Hocke, um dem Toten ins Gesicht zu sehen. Der Mann ist Anfang, Mitte fünfzig, ungefähr im gleichen Alter wie er selbst. Silbergraue Haare, am Oberkopf zurückgekämmt, im Nacken kurz geschnitten.

Unwillkürlich zwirbelt Emmenegger seine braungrauen Strähnen, die für einen Mann im Staatsdienst viel zu lang sind.

Er versteht jetzt, wie Kohlgruber zu seiner Selbstmordtheorie kommt. Die Wangen des Toten sind hohl. Unter den Augen liegen dunkle Schatten.

Trotzdem wirkt der Mann nicht so, als wäre er krank gewesen. Die feinen Linien um den Mund sehen aus, als hätten sie sich erst kürzlich gebildet. Die weißen Lachfältchen in dem von der Meraner Sonne gebräunten Gesicht erzählen dieselbe Geschichte.

Ein Mann mit Humor. Aber dann, vor nicht allzu langer Zeit, kamen Schmerz oder Trauer.

Unter buschigen Brauen starren braune Augen ins Leere. Sie verraten nichts, aber das ist nie der Fall.

Wie immer ist Eva ehrfürchtig, fast ein bisschen kleinlaut, wenn sie dem Tod begegnet. Leise sagt sie: »Er hat ziemlich gut ausgesehen, findest du nicht?«

»Irgendwie erinnert er mich an Gregory Peck.«

Emmeneggers Vorgänger hatte ein Faible fürs Hollywood-Kino, und ein bisschen davon hat im Laufe ihrer langjährigen Zusammenarbeit auf Emmenegger abgefärbt.

Eva runzelt die Stirn. »Gregory… Peck? Wer ist denn das?«

In manchen Augenblicken fühlt sich der Altersunterschied von siebzehn Jahren zwischen Eva und ihm an wie ein Roman, der nie geschrieben wurde.

»Gregory Peck war ein berühmter amerikanischer Filmschauspieler in den fünfziger, sechziger Jahren. Meistens hat er aufrechte Männer gespielt, denen irgendwas Schicksalhaftes zustieß.«

»Den muss ich bei Gelegenheit mal googeln.«

»Irgendwas Interessantes vonseiten der beiden Kellnerinnen?«

»Der Tote war Stammgast, er kam in den letzten Jahren immer wieder ins Café«, antwortet Eva. »Heute war eine Frau in seiner Begleitung. Irgendwann ist sie gegangen. Der Mann hat noch eine Weile allein dagesessen. Gegen halb fünf hat eine der beiden Bedienungen gesehen, wie er am Tresen vorbei in Richtung Toilette ging.«

»Das war alles?«

»Ich hab’s erst einmal dabei belassen. Du willst ihre Aussage sicher auch hören und bestimmt nicht die Wiederholung.«

»Da hast du recht. Ich komme gleich.«

***

Was hat Emmeneggers Vorgänger, Commissario Pavarotti, stets gesagt? »Blenden Sie die Gegenwart aus. Reisen Sie zurück in der Zeit. Dann geschieht der Mord erneut, direkt vor Ihren Augen.«

Er schließt die Augen. Und siehe da, die Geräusche der Spurensicherung, die ihre Sachen zusammenpackt, klingen ab. Evas Stimme, die in der Ferne mit einer Kellnerin redet, wird zu einem Flüstern. Kohlgrubers Tiraden verstummen.

Stattdessen hört er Tellergeklapper, Lachen und Kindergeschrei. Geschäftige Schritte von Kellnerinnen, die hin und her laufen.

Emmenegger sieht Ulrich Brünner, wie er sich nach einer Frau umdreht, die Richtung Ausgang eilt. Er beobachtet ihn, wie er aufsteht und in Richtung Toilette verschwindet.

Der Tisch ist verlassen. Nur das Weinglas steht da. Niemand achtet darauf.

Da ist jemand. Die Person geht vorüber. Sie streckt die Hand aus und schüttet etwas ins Glas. Nur ein Augenblick, dann ist es getan.

Doch eine Chance, dass jemand etwas beobachtet hat, gibt es immer.

***

Emmenegger tritt an die Theke, zu Eva und den beiden Serviererinnen.

Rosie Herzinger, die Übeltäterin mit dem Posting im Internet, schaut betreten drein. Sie würde ihren Lapsus liebend gern wiedergutmachen. Aber als Emmenegger fragt, ob sie ein paar Gäste des heutigen Nachmittags mit Namen kennt, muss sie passen.

»Es waren viele junge Ehepaare mit Kindern da, die ich vorher noch nie gesehen hab«, sagt sie. »Und auch die älteren Herrschaften kannte ich nur vom Sehen. Wie die heißen und wo die abgestiegen sind – keine Ahnung. Tut mir so leid.«

Emmenegger fragt nach Zahlungen per Kreditkarte.

Rosie zieht den Computer zurate. Wie sich zeigt, haben nur zwei Parteien eine Karte benutzt. »Ich erinnere mich an die. Das waren Familien mit Kindern.«

Unwahrscheinlich, dass der Täter unter ihnen ist. Trotzdem. »Drucken Sie mir bitte die Belege aus.«

»Die Elli hier«, Rosie stupst die junge Frau neben ihr in die Seite, »hat am Tisch von dem armen Mann bedient.«

Elli ist Aushilfe und ungefähr so gelangweilt wie ahnungslos. Von ihr ist nur zu erfahren, was ihr Bestellzettel hergibt: Tisch eins. Ein Viertel Vernatsch. Ein Cappuccino.

»Die Elli schaut den Leuten eh nie ins Gesicht, sondern bloß aufs Trinkgeld«, lästert Rosie.

Elli schmollt, und Emmenegger schickt die junge Frau nach Hause.

»Bleiben wir doch noch einen Augenblick bei Ihnen, Frau Herzinger.« Emmenegger ist kein Süßholzraspler, aber er stürzt sich ins Getümmel. »Auch wenn Sie nicht am Tisch des Toten bedient haben, eine erfahrene Kellnerin wie Sie hat die Augen doch überall.«

Die Rosie lächelt verschämt und wirft Emmenegger einen schmelzenden Blick zu.

»Na ja, der arme Mann ist so gegen vier gekommen«, sagt Rosie. »Genau weiß ich es nicht, weil der Teufel los war. Er hat mir zugewinkt und ist mit der Dame zu seinem Tisch.«

»Haben Sie die Frau schon mal gesehen?«

»Ja, ich glaube, die war schon ein paarmal mit ihm bei uns im Lokal.«

»Wie sah sie denn aus?«

»Elegant war sie …«, sagt Rosie schmachtend. »Sie trug eine dunkle Sonnenbrille, so eine mit riesigen Gläsern. Und sie hatte einen schwarz-weißen Hut mit breiter Krempe auf. Sie hat jedes Mal einen Hut getragen, glaub ich. Wegen der Sonnenbrille und dem Hut hab ich vom Gesicht nicht viel sehen können. Nur, dass ihre Lippen knallrot geschminkt waren.«

Sauber. Emmenegger überlegt, wie viele elegant gekleidete Frauen mit Sonnenbrillen von Armani oder Versace sich derzeit in Meran aufhalten. Ein paar tausend?

»Hatte der Tote reserviert?«, will Eva wissen.

Rosie nickt eifrig. »Er hatte den Tisch seit letzter Woche gebucht. Immer Dienstag und Donnerstag, vier Uhr.«

»Bestimmt haben Sie ein paar Worte aufgeschnappt, was der Tote mit der Frau beredet hat.« Eva.

Rosie fährt hoch, ihre Wangen brennen.

»Glauben Sie etwa, ich belausch unsere Gäst?«

»Ganz bestimmt nicht«, legt sich Emmenegger ins Mittel. »Meine Kollegin hat sich vielleicht ein bissel missverständlich ausgedrückt.«

Das Schnauben neben ihm lässt nichts Gutes ahnen.

»Der Tisch direkt hinter dem des Toten war Ihrer, hab ich recht?«

Rosie Herzinger nickt, ihre Stirn ist gerunzelt.

»Ich denk mir, dass Sie vielleicht kassieren mussten. Wenn zwei Meter entfernt gesprochen wird, dann lässt es sich nicht vermeiden, dass man was hört. Das ist was anderes als lauschen.«

»Das stimmt schon«, sagt Rosie, etwas besänftigt. »Aber da war – Moment.« Ihre Augen funkeln vor Aufregung. »An dem Tisch, von dem Sie sprechen, hat ein älteres Ehepaar gesessen. Die haben sich bei mir beschwert. Die Milch in ihrem Cappuccino wäre sauer. Pffft!«, macht Rosie empört. »Bei uns ist alles ganz frisch! Jedenfalls hab ich mich umgedreht, um zwei neue zu holen, und in dem Moment steht die Elegante auf. Sie hatte immer noch ihre Sonnenbrille auf der Nase, aber trotzdem hab ich gesehen, dass ihr Tränen die Wangen hinuntergelaufen sind. Meine Güte«, Rosie schlägt die Hand auf den Mund, »um ein Haar hätte ich das vergessen!«

»Das haben Sie gut beobachtet«, sagt Emmenegger lächelnd. »Ist die Dame noch einmal zurückgekommen?«

»Glaub ich nicht. Aber hundertprozentig sicher bin ich nicht. Kurz darauf hat die Elli, das ungeschickte Madl, ein Tablett mit Weizenbiergläsern fallen lassen, und ein Kind hat einen Schwall Bier ins Gesicht gekriegt. Der Kleine hat geschrien wie am Spieß. Der Boden war klitschnass und voller Scherben. Ich bin in die Küche gerannt, um Schaufel und Besen und ein paar Handtücher zu holen. Auf dem Rückweg ist mir der Herr Brünner entgegengekommen, als er Richtung Toilette ging. Von dem, was danach an seinem Tisch passiert ist, hab ich nichts mehr mitgekriegt. Außer später, als er dann tot war.«

***

Beim Hinausgehen sagt Eva spitz: »Ich hab gar nicht gewusst, dass du einer bist, der den Frauen schöntut.«

Emmenegger schickt ein stilles Stoßgebet zum Himmel. »Manchmal hilft ein bisschen Schöntun. Aber du hast ja gesehen, wie ungeschickt ich mich dabei anstell.«

Eva wirft ihm einen scheelen Blick zu. »Hast du mir auch schon mal schöngetan?«

»Das hättest du doch sofort gemerkt.«

»Also bloß deshalb nicht.« Auf Evas Gesicht liegt ein ironisches Lächeln. In ihren Augen stehen tausend Fragen.

Das ist einer dieser Momente zwischen ihnen, der Emmenegger Angst macht.

Er nimmt Evas Hand. »Du musst nicht jedes Wort abwiegen, das ich sag, mein Engel. Ich kann die Sätze nicht immer so schön drechseln, dass sie glatt und geschmeidig daherkommen. Aber ich mein es ehrlich, und ich dachte immer, das weißt du auch.«

Eva ist jung, hübsch und stammt aus reichem Haus. Alle Männer, die Augen im Kopf haben, schauen ihr hinterher. Sie kann jeden haben. Was findet sie ausgerechnet an ihm? Er ist dreiundfünfzig und immer noch nicht Commissario. Seit zwei Jahren drückt er sich vor der Prüfung, aus Angst, sie zu vermasseln.

Vielleicht hat Eva eingesehen, dass sie im Begriff ist, sich an den Falschen zu binden. Vielleicht sind die kleinen Scharmützel, die sich in letzter Zeit zwischen ihnen abspielen, ein Zeichen dafür.

Plötzlich stellt sich Eva auf die Zehenspitzen und gibt ihm einen Kuss. »Jetzt schau nicht so! Ich hab bloß Spaß gemacht!«

Emmenegger fällt ein Stein vom Herzen, aber ein bisschen Beklommenheit bleibt stecken.

Eva ist bereits wieder beim Fall – und Feuer und Flamme. »Wenn wir zurück im Kommissariat sind, lege ich als Allererstes die Mord-Akte an. Viel haben wir ja noch nicht. Pech, das mit den Biergläsern. Sonst hätte die Rosie Herzinger bestimmt noch mehr mitbekommen.«

»Es könnte Absicht gewesen sein.«

Eva reißt die Augen auf. »Du meinst, der Mörder hat das Glas umgestoßen, um Verwirrung zu stiften?«

»Oder ihm ist der Zufall zu Hilfe gekommen. Wir müssen ein paar von den anderen Gästen ausfindig machen. Vielleicht sind wir dann schlauer.«

***

Mittlerweile ist die Nacht hereingebrochen. Draußen vor dem Unterweger haben sich die Gaffer verzogen. Am Eingang, neben der großen Sisyphos-Figur aus Holz, steht bloß noch einer. Und ein Hund mit einer Knollennase, die einer Kartoffel ähnelt.

Küsschen und Umarmung. Eva steht in Pauls Fankurve, da kann er noch so viel Mist bauen.

»Wie findest du Hilde?« Paul.

Eva mustert die Hündin und schnüffelt. »Passabel. Kannst du mit ihren Ohren noch was machen? Die sehen immer noch nach Mottenfraß aus.«

»Wann steigt denn nun die große Fete?«

»Am Mittwoch in vierzehn Tagen«, sagt Eva leichthin und wirft Emmenegger einen Seitenblick zu.

Vierzehn Tage. Emmenegger sieht eine rote »14« vor seinem inneren Auge blinken, und daneben rasen die Sekunden unaufhaltsam rückwärts, wie beim Zählwerk einer Bombe. Und er hat keine Ahnung, wie er das Scheißding loswerden soll.

»Was machst du eigentlich hier?«, fragt er Paul schärfer, als er beabsichtigt hat.

»Dein Chef hat mir gesagt, dass du hier bist.«

»Du hast Branga angerufen, um mich ausfindig zu machen? Hast du sie noch alle?«

»Von wegen!« Pauls Miene ist die pure Entrüstung des Gerechten. »Der Mann hat zu Hause angerufen, weil er dich auf dem Handy wieder mal nicht erreichen kann. Ich hab ihm versprochen, dich aufzustöbern. Du sollst dich schleunigst bei ihm melden. Was ist denn da Aufregendes drin?« Paul zeigt auf den Plastikbeutel mit den Habseligkeiten des Toten, die Emmenegger in der Hand hält. »Lass mich raten. Huh«, er schlägt die Hand vor den Mund, »ein abgeschnittener Finger?«

Emmenegger verdreht die Augen. Pauls Faible für den Tod ist eine seiner Macken und das Theaterspielen das einzige Gegenmittel.

»Da brat mir einer einen Storch«, sagt Paul plötzlich mit gezierter Ernsthaftigkeit. Wieder einmal wechselt seine Stimmung, wie ein Pendel, das nie zur Ruhe kommt. »Eure Leiche war wohl ein ganz Vornehmer.«

»Woher willst du das denn wissen?«

»Na, wo er doch im Principe gewohnt hat. Unter fünfhundert Euro die Nacht geht da null.« Paul zeigt auf die goldene Zimmerkarte, die durch das Plastik schimmert.

Das Schlosshotel Principe im Winkelweg ist die vornehmste und teuerste Adresse in ganz Meran.

Eva staunt. »Woher weißt du das?«

»Ach, ich kenn da so einen.« Bescheiden blickt Paul zu Boden. »So einer« stellt sich als der Alleineigentümer des Hotels und einer der Kuratoren des Meraner Stadttheaters heraus, der die jungen Talente hin und wieder zum Tee ins Schlosshotel einlädt.

»Bist du sicher?« Emmenegger war in seinem ganzen Leben noch nie in dem Hotel und hätte diesen Zustand der Unschuld liebend gern beibehalten.

»Hundertpro.« Paul zeigt auf ein winziges weißes Wappen mit einer Krone, das in einer Ecke der Magnetkarte eingraviert ist. »Dass ich’s nicht vergesse: Du musst jetzt die Hilde übernehmen. Der Direx hat Zusatzproben angesetzt, weil wir morgen Abend mit der Zweitbesetzung für die Katharina spielen.« Paul gibt derzeit den Petruchio in Shakespeares »Der Widerspenstigen Zähmung«. Die Hauptrolle, was denn sonst?

Ehe er sich’s versieht, hat Emmenegger die Hundeleine in der Hand.

»Unmöglich. Ich kann mit Hilde nicht in diesen Nobelschuppen.«

Hilde schaut mit Kulleraugen von einem zum anderen. Ihr kupferfarbenes Fell steht am Kopf ab, als wäre der ganze Hund elektrisch aufgeladen. Der Schwanz zuckt. Ein Speichelfaden tropft aus ihrem Maul und landet auf dem Pflaster.

»Du machst das schon, alter Mann. Da kann Hilde schon mal ein bisschen feines Benimm für die Party üben.«

»Paul, heute Abend geht es wirklich nicht. Wir haben einen neuen Fall«, springt Eva Emmenegger bei.

»Weiß ich ja«, sagt Paul unbeeindruckt. »Aber die Kunst geht nun mal vor Mord.«

Und schon ist er verschwunden.

Sturm auf den Palast

Schlosshotel Principe, Winkelweg

Abends

Mit starrer Miene marschiert Emmenegger durch die Eingangshalle des Schlosshotels, ohne nach links und rechts zu blicken.

Mit gesenktem Kopf schlappt Hilde hinter ihm drein.

Als Letztes folgt Eva, die immer wieder stehen bleibt und sich dreht, um die Pracht zu bewundern.

Das »Schloss«, wie das Hotel von Eingeweihten genannt wird, ist nicht protzig. Es ist wunderschön. Über hundert Jahre alt und doch jungfräulich.

Weiße Säulen. Die Böden aus cremefarbenem Marmor. Dicke Teppiche dämpfen den Schritt.

Eine Freitreppe schwingt sich hinauf in den ersten Stock, leicht und fast schwerelos, so fein ist sie geschmiedet.

Hier rennt keiner. Hier gehen die Uhren langsamer.

Früher war Eva oft mit ihren Eltern zum Essen und anlässlich von Familienfeiern im Schlosshotel. So was gehört zum guten Ton für vermögende Leute – sehen und gesehen werden, den anderen zeigen, was man sich leisten kann. Deswegen kommt ihr Vater her, der liebe, alte Trottel.

Eva ist die Meinung anderer Leute ziemlich egal, für sie bedeutet das Principe etwas ganz anderes: ein Palast, in dem die Erinnerungen regieren, ein Bollwerk gegen das Verrinnen der Zeit. Das Principe ist nicht bloß Stein und Marmor, Holz und Kristall, es ist pure Beständigkeit. Solange es dieses Haus noch gibt, ist die Welt nicht ganz verloren.

Eva bleibt stehen und schließt die Augen. Auf einmal fühlt sie sich wieder wie achtzehn.

Sie erinnert sich an ein Abendessen anlässlich ihrer Maturafeier. Ein blaues Etuikleid aus Seide und Spitze, hochhackige Peep-Toes, ein Geschenk ihrer Mutter. Den Kopf voller Träume, das Herz hüpft im Tanz.

Ihre Hochzeitsfeier mit Emmi im Schloss – mein Gott, das wäre – unglaublich. Wer im Schlosshotel Principe den Bund fürs Leben eingeht, der startet unter dem wohlwollenden Auge all derer, die hier einmal geheiratet haben.

Aber daraus wird nichts. Und das liegt nicht nur daran, dass sie Emmi niemals überreden könnte.

Im Schlosshotel Principe finden keine Feiern und Veranstaltungen mehr statt. Niemand geht mehr im Hotel ein und aus, der dort kein Zimmer bewohnt.

Mittlerweile ist das Schloss ein reines Kurhotel für wohlhabende Leute, die entgiften und entschlacken wollen. »Ohne diese Spezialisierung hätte das Hotel keine Überlebenschance gehabt. Es ist zu klein, um im Wettbewerb mit den ganz Großen mitzuhalten«, hatte ihr Vater ihr kurz nach dem Wandel erklärt, als sie traurig war und sich ausgeschlossen fühlte.

Aber vielleicht könnte das Principe ja einmal eine Ausnahme …

»Jetzt komm endlich, Eva!«

Emmenegger lehnt am Empfangstresen, im Gespräch mit einem Mann mittleren Alters im dunklen Anzug. Der Mann zwinkert ihr zu, als wisse er genau, was in ihr vorgeht. Vielleicht tut er das ja.

Als sie in ihren Jeans und den Ballerinas die Halle überquert, kommt es ihr vor, als knistere ihr Kleid und ihre hochhackigen Schuhe versänken im Flor des seidenen Sarough.

Irgendwo im Haus spielt jemand leise Klavier.

***

Am Revers des Mannes hinter dem Empfangstresen heftet ein goldenes Schildchen: »Herr Ludwig«. Im Knopfloch steckt eine winzige Nadel. Das Wappen mit der Krone.

»Frau Marthaler, herzlich willkommen! Welche Freude, Sie wieder einmal im Haus zu sehen«, sagt er lächelnd. »Wenn auch aus traurigem Anlass. Ihr Kollege, Herr, äh …«, er zieht Emmis Visitenkarte zurate, »… Ispettore Emmenegger hat mir gerade mitgeteilt, was passiert ist. Das ist eine furchtbare Nachricht. Ich bin untröstlich.«

»Hallo, Herr Ludwig.« Eva streckt die Hand aus, um ihn zu begrüßen. Der Mann ist Empfangschef im Schloss, solange sie denken kann. »Schön, Sie zu sehen! Ich hoffe, es geht Ihnen gut.«

Bevor Ludwig antworten kann, tritt ein schlanker, hochgewachsener Mann Anfang fünfzig dazwischen, der sogar Emmenegger um einen halben Kopf überragt. Gegenüber dem zierlichen Ludwig sieht er aus wie ein Riese.

»Polizei? Bei uns im Haus?«

»Mordkommission.« Emmenegger übernimmt. »Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«

Der Neue mustert ihn von oben herab. »Mein Name ist Valentin Niederhofer. Ich bin der Direktor dieses Hotels. Ich entscheide, wer zu uns ins Haus kommt.«

»Herr Niederhofer, das ist Frau Marthaler. Sie und ihre Eltern sind Stammgäste«, legt sich Ludwig ins Mittel. »Außerdem müssen Sie wissen, dass –«

Emmenegger tritt einen Schritt vor. »Einer Ihrer Hausgäste wurde heute Nachmittag ermordet.«

Ludwig zu Niederhofer: »Es handelt sich um Herrn Brünner. Sehr bedauerlich.«

Der Hoteldirektor runzelt die Stirn. »Der Name sagt mir nichts. Welche Suite hat er bewohnt?«

»Die Suite Landhaus Rooftop Comfort«, gibt Ludwig Auskunft.

Eva kennt das Zimmer gut. Es liegt im Nebengebäude und ist eine der kleinsten Suiten im Haus.

In der Miene des Hoteldirektors steht deutlich: niemand Wichtiges. Kein Presserummel. Kein Reputationsschaden für das Hotel.

Ludwig kann auch Gesichter lesen. Seine Stimme klingt gepresst. »Herr Brünner war ein Stammgast. Er kam seit fünf Jahren für drei Wochen zu uns, immer im März oder April. Aber das können Sie nicht wissen. Sie sind ja erst seit einem Jahr im Haus.«

Niederhofer wendet sich an Emmenegger. »Also, was wünschen Sie?«

»Wir müssen eine Durchsuchung des Zimmers vornehmen, das der Tote bewohnt hat. Stellen Sie uns bitte eine komplette Liste Ihres Personals zusammen.« Emmenegger überlegt kurz. »Außerdem eine Aufstellung Ihrer Gäste in den letzten fünf Jahren, und zwar für die Zeit, während der Tote hier gewohnt hat.«

»Unerhört! Dem kann ich nicht zustimmen. Unsere Gäste verlassen sich darauf, dass wir ihre Privatsphäre schützen.«

»Möchten Sie, dass ich den Polizeichef anrufe? Sie können die Anweisung auch von ihm entgegennehmen, wenn Ihnen das lieber ist«, sagt Emmenegger kalt.

Da klingelt Niederhofers Telefon. »Ah – gut, dass Sie anrufen, Commendatore. Hier sind zwei Leute von …« Er hält inne. Sein Mienenspiel ist eine Mischung aus Überraschung, Ärger, aber auch Beflissenheit. »Ja, Commendatore. Wie Sie wünschen.«

»Der Eigentümer«, flüstert Ludwig Eva zu. »Wie immer ausgezeichnet informiert.«

»Herr Ludwig, dann begleiten Sie die Polizei mal zum Landhaus hinüber. Und danach stellen Sie die Unterlagen für die Herrschaften zusammen. Ich bin leider anderswo unabkömmlich.«

Als sich Niederhofer verabschiedet hat, kann sich Ludwig ein feines Lächeln nicht verkneifen. Statt eines Kommentars bückt er sich, um Hildes Kopf zu tätscheln. »Wie heißt er denn?«

»Das ist eine Sie«, sagt Emmenegger. »Die Hilde ist ein bisschen struppig, zugegeben. Aber sie hat ein Herz aus Gold.«

»Nur darauf kommt es an«, sagt Ludwig. »Wir nehmen den inoffiziellen Weg durch den Park, dann kann sie noch einmal …« Er hüstelt.

Nach einem Spaziergang durch einen palmengesäumten Garten erreichen sie ein kleines Schlösschen im klassischen Stil.

Die Hündin weicht dem Empfangschef, offenbar ihr neuer bester Freund, nicht von der Seite.

Misstrauisch betrachtet Eva Hildes lang heraushängende Zunge und die funkelnden Augen.

***

Ein kleines Türchen an der Schmalseite des Landhauses steht offen.

»Das ist der Lieferanteneingang«, erklärt Ludwig. »Im ersten Stock gibt es einen Patio als Verbindungsstück zwischen dem Hauptgebäude und dem Landhaus. Diesen Übergang benutzen unsere Gäste.«

Emmenegger dreht sich zu Eva um. »Hör mal, geh du doch mit Hilde zurück ins Büro.«

Eva starrt ihn an. »Du schickst mich weg? Aber wieso denn? Ich hatte mich so darauf gefreut …«

Emmenegger meidet ihren Blick. »Ich denk mir halt, dass es keine gute Idee ist, Hilde bei einer Zimmerdurchsuchung dabeizuhaben. Außerdem kannst du in der Zwischenzeit gleich die deutsche Kripo informieren.«

Sie zuckt die Achseln, ihre Miene eine einzige Enttäuschung.

Emmenegger sieht den beiden hinterher. Für ihn sind Häuser wie dieses Schlosshotel eine Zurschaustellung teurer Dinge, die die Welt nicht braucht. Eine Spielwiese für reiche Leute, die nicht wissen, wohin mit der Kohle. Und zeigen wollen, wie viel sie haben.

Für Eva sind sie – irgendwas, das er nicht versteht. Wieder einmal macht er sich Sorgen, dass Eva sich verändert und wird wie ihre Eltern.

Er hat bemerkt, wie verzückt sie vorhin aussah. Ihr Scharfblick ist getrübt von Erinnerungen, die mit diesem alten Gemäuer zusammenhängen. Es wird ihr guttun, wenn sie ein bisschen auf Distanz geht.

***

Der Empfangschef wartet auf der obersten Etage, die Schlüsselkarte in der Hand. Verwundert sieht er sich um. »Wo ist denn Frau Marthaler?«

»Sie musste leider zurück ins Büro.«

»Schade. Sie hätte sich gefreut, dieses Zimmer wiederzusehen.«

Meine Güte. Emmenegger kann nicht begreifen, warum reiche Leute so ein Brimborium um einen Schlafplatz machen.

Vor der Suite befindet sich eine kleine Sitzgruppe. »Bitte nehmen Sie Platz, Herr Ludwig. Ich möchte mich noch kurz mit Ihnen unterhalten. Wann genau hat Herr Brünner im Hotel eingecheckt?«

»Das war am Sonntag vor zwei Wochen. Er wäre noch eine weitere Woche bei uns gewesen«, sagt Ludwig leise.

»Da müssen Sie nicht nachsehen?«

Jetzt lächelt Ludwig. »Viele Jahre im Beruf trainieren das Gedächtnis für solche Dinge.«

»Hatte er einen Mietwagen?«

»Nein. Ansonsten hätte er einen unserer Parkplätze in Anspruch genommen. Angereist ist Herr Brünner wie immer mit dem Zug.«

»Wenn es kein Kuraufenthalt war, was machte er hier? Unternahm er Wanderungen?«

»Ich kann mich nicht entsinnen, ihn in Wanderkleidung gesehen zu haben. Ich vermute, er machte einfach Urlaub, Ispettore. Womit er sich genau die Zeit vertrieb, das entzieht sich leider meiner Kenntnis.«

»Der Tote kam seit fünf Jahren hierher. Da müssen Sie ihn doch ein wenig besser gekannt haben«, setzt Emmenegger nach.

Der Empfangschef faltet die Hände. »Wie man einen Menschen kennt, den man einmal im Jahr für ein paar Wochen zu Gesicht bekommt.«

»Sie haben vorhin gesagt, dass Ulrich Brünner ein feiner Mensch war. Wie kommen Sie darauf?«

Ludwig denkt einen Moment nach. »Er nahm sich immer die Zeit, einen Gruß oder ein freundliches Wort an die Angestellten zu richten. Das kann man leider nicht von jedem unserer Gäste sagen. Entschuldigung, das steht mir nicht zu.« Der Empfangschef macht eine zerknirschte Miene.

Emmenegger wird der Mann gleich sympathischer.

»Ich erinnere mich an eine Begebenheit, ich glaube, es war im letzten Frühjahr«, fährt Ludwig fort. »Ein Aushilfskellner war unachtsam und hat ein Tablett mit vollen Gläsern fallen lassen. Herr Brünner hat ihm geholfen, die Scherben einzusammeln. Anschließend hat er gegenüber dem Direktor behauptet, er habe den Jungen beim Vorbeigehen angerempelt.«

»Und das stimmte nicht?«

Ludwig lächelt. »Herr Brünner wollte verhindern, dass der Junge entlassen wird.«

»Hatte er viel Kontakt zu den anderen Gästen?«

Es kommt Emmenegger so vor, als wäre die Frage Ludwig ein wenig unangenehm.

»Nun, bei einem Aufenthalt von drei Wochen lernt man zwangsläufig andere Hausgäste kennen.« Ludwig überlegt. »Er schien mir recht beliebt zu sein. Aber das war kein Wunder, Herr Brünner war eben ein Gentleman der alten Schule. Und er tanzte gern.«

Was finden die Leute bloß an dieser Hopserei?

»Kann man denn hier im Hotel – äh – tanzen?«

»Selbstverständlich! Wir bitten unsere Gäste zweimal in der Woche ab fünf Uhr zum Tanz in den Tee-Salon. Und im Frühjahr und Herbst findet ein großer Ball statt.« Ludwig beugt sich vor und sagt mit gedämpfter Stimme: »Diese Veranstaltung ist besonders beliebt bei unseren alleinstehenden Gästen. Aber wir nennen ihn natürlich nicht den Ball der Einsamen Herzen. Die Direktion hielte das für – nun, despektierlich. Wie es der Zufall will, findet der nächste Ball in der kommenden Woche statt. Sie und die hochverehrte Frau Marthaler sind herzlich dazu eingeladen!«

»Vielen Dank, sehr freundlich.« Von dieser Einladung darf Eva nichts erfahren. »Wissen Sie, womit der Tote seinen Lebensunterhalt verdiente?«

»Bedauere. Vielleicht …«, Ludwig zögert, »… hatte er Arbeit nicht nötig. Damit wäre er nicht der Einzige unserer Gäste.« Ein verstohlener Blick zur Armbanduhr.

»Eine letzte Frage. Welchen Eindruck machte Herr Brünner in den letzten Tagen auf Sie?«

»Auf mich hat er so wie immer gewirkt. Gut gelaunt, entspannt. Ich kann es immer noch nicht glauben. Wahrscheinlich war es eine tragische Verwechslung, meinen Sie nicht auch?«

Theoretisch möglich, aber Emmenegger glaubt nicht daran. Dieser Mord auf der Terrasse vom Unterweger war zu gut geplant, als dass es am Ende den Falschen getroffen hat.

***

»Schließen Sie bitte auf, Herr Ludwig.«

Der öffnet die Tür und tritt mit einer seltsamen kleinen Handbewegung zur Seite – eine Art Willkommen, das ehrlich wirkt, wenn man bedenkt, wie oft der Mann das macht.

Ja, die Suite ist recht nett.

Stäbchenparkett, auf Hochglanz poliert. Ein halbrundes Fenster mit Butzenscheiben. Das Doppelbett im Biedermeierstil. Messinglampen mit Schirmen aus weißem Leinen. Ein zierlicher Schreibtisch.

Die Möbel in Emmeneggers Wohnung sind zwar nicht ganz so edel wie die hier, aber genauso altmodisch. Die seinen will Eva lieber heute als morgen entsorgen. Warum nur?

Emmenegger dreht sich zu Ludwig um. »Was kostet das hier?«

»Achthundert Euro pro Nacht.«

Achthundert! Das ist Raubrittertum. Mehr als hundertfünfzig hat Emmenegger noch nie für eine Hotelübernachtung hingeblättert, und das ist schon ein Batzen Geld für ein Bett für die Nacht.