Commissario Pavarotti kam nie nach Rom - Elisabeth Florin - E-Book

Commissario Pavarotti kam nie nach Rom E-Book

Elisabeth Florin

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Beschreibung

Düstere Spur in das Südtirol der Nachkriegszeit. Eine deutsche Schriftstellerin und ihr Mann werden in Meran kaltblütig erschossen – es sieht nach einer Hinrichtung aus. Der Fall führt Commissario Pavarotti und seine große Liebe Lissie von Spiegel ins Herz der deutschen Verlagsszene nach Frankfurt. Womöglich hat die Autorin zu intensiv recherchiert: über die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Nazis scharenweise auf der 'Rattenlinie' nach Südtirol flohen – mit tatkräftiger Unterstützung höchster Kreise. Wer versucht hier sein Geheimnis mit aller Macht zu schützen?

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Elisabeth Florin wuchs in Süddeutschland auf; ihre journalistische Laufbahn begann sie in den 1980er Jahren bei der RAI in Bozen. Von den Menschen in Südtirol und ihrer Geschichte fasziniert, verbringt sie seither viel Zeit in Meran und Umgebung. Sie arbeitet seit fünfundzwanzig Jahren als Finanzjournalistin und Kommunikationsexpertin in Frankfurt am Main und lebt mit ihrem Mann und ihrem kleinen Hund im Taunus.

www.elisabethflorin.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2018 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Glasshouse/Ainsley Kellar

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Carlos Westerkamp

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-361-5

Originalausgabe

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Geschichten sind Überbleibsel,Teile einer unentdeckten,seit jeher bestehenden Welt.

Stephen King,»Das Leben und das Schreiben«

Mann in Schwarz

An einem Abend im Juni, der zu warm für die Jahreszeit war, wartete ein Mann im schwarzen Anzug auf den Nachtzug von Bozen nach München.

Der Mann war mittelgroß und schlank, fast hager, und mit seinem grau melierten schwarzen Haar und dem römischen Profil zog er die Blicke der meisten Frauen zwischen dreißig und fünfzig auf sich. Es schien ihn nicht zu kümmern.

Als die blecherne Durchsage aus den Lautsprechern ertönte, was stets dazu führt, dass Bewegung in die Reisenden kommt, wandten die Frauen ihre Aufmerksamkeit ihrem Gepäck und ihrer Begleitung zu, es wurden Küsse getauscht, Abschiedstränen geheuchelt, und so bemerkte fast niemand, was direkt vor ihren Augen geschah.

Der Mann im schwarzen Anzug machte einen großen Schritt über die weiße Linie, welche den Bahnsteig von den Gleisen trennt und die Gefahrenzone signalisiert, trat an die äußerste Kante und neigte seinen Oberkörper dem sich schnell nähernden Zug entgegen.

In letzter Sekunde, als der Zug auf ihn zurauschte und der Fahrtwind ihm bereits drohend durchs Haar fuhr, taumelte der Mann zurück.

Mit bleichem Gesicht blickte er sich um. Ungerührt strebte die Menschenmenge an ihm vorbei zu den sich öffnenden Türen, einige Reisende traurig, manche froh und viele in Gedanken mit den Ärgernissen und Unbequemlichkeiten der kommenden Stunden beschäftigt, in denen sie auf kleinem Raum mit anderen eingesperrt durch die Landschaft rasen würden.

Nur eine Frau war stehen geblieben und starrte ihn mit schreckgeweiteten Augen an.

Der Mann warf ihr einen Blick zu, senkte den Kopf leicht zum Zeichen des Wiedererkennens, dann wandte er sich um und schwang sich so leichtfüßig auf die Plattform des Zuges, dass die Frau einen Augenblick lang dachte, sie habe sich getäuscht, wegen des Rauschs vom Vortag, der vielleicht noch nicht ganz aus ihrem System entschwunden war. Bis sie sich erinnerte, dass sie seit einem Jahr keinen Tropfen mehr getrunken hatte.

Die Frau kannte den Mann seit über fünfzig Jahren, hatte ihn nie leiden können, auch nicht, als sie noch Kinder waren, aber ihm war es zu verdanken, dass sie bald wieder in der Lage war, ihren Beruf auszuüben. Außerdem war Blut dicker als Wasser.

Sie dachte kurz nach, dann griff sie nach ihrem Handy und wählte eine Nummer in Meran. Das Gespräch dauerte ungefähr fünf Minuten, dann legte sie auf und wählte erneut. Das Telefon klingelte in einem kleinen Dorf in der Nähe von Frankfurt am Main.

***

Derweil schlenderte der Mann im schwarzen Anzug durch den Zug, als existiere das Gedränge bloß in der Phantasie seiner verschwitzten, atemlosen Mitreisenden. Höflich trat er beiseite, als eine Frau zwei Kinder und einen großen Koffer durch den Gang wuchtete, half einer alten Dame, ihr Gepäck auf der Ablage zu verstauen, und wartete geduldig mit einer Mischung aus Mitgefühl und Erleichterung, bis sich ein dicker Mann in seinen Sitz gezwängt hatte und mit dankbarem Blick, denn zum Sprechen fehlte ihm der Atem, zu ihm aufsah wie ein gestrandeter Wal.

Als er schließlich in der ersten Klasse angelangt war und dem Schaffner lächelnd sein Ticket überreichte, hätten ihn dieser und ein jeder der Reisenden, dessen Weg er gekreuzt hatte, als Italiener aus dem Norden bezeichnet, vielleicht aus Mailand, als einen Mann, der sich beruflich und privat mit den schönen Dingen des Lebens beschäftigte, vielleicht der Nachkomme einer alten italienischen Uhrendynastie oder möglicherweise sogar ein unbekanntes Mitglied des schwerreichen Agnelli-Clans. Trotzdem sah er nicht aus wie ein Lebemann, Gott bewahre, auch wenn es in seinen Augen immer wieder aufblitzte, aber das war kein Mutwille, sondern pure Selbstironie. Jeder konnte erkennen, dass das ein Mann war, dem das Leben einiges abverlangt hatte. Kummer und Müdigkeit hatten ihr Werk getan und Falten auf seine Stirn gezeichnet, die Gesichtszüge verhärtet, die Wangen ausgehöhlt.

Das waren die Äußerlichkeiten. Was dem Schaffner und den Reisenden verborgen blieb, und das war gut so, war der Inhalt einer Akte, die er sich ansah, nachdem er es sich im Großraumwagen der ersten Klasse bequem gemacht hatte (was in ein paar Stunden schwieriger als jetzt sein würde, denn ein Schlafwagen war nicht vorhanden).

Dazu öffnete der Mann auf seinem Tablet ein PDF, das er schon auf dem Weg zum Bahnhof heruntergeladen hatte.

Die Akte enthielt Texte und Fotos, und auf ihnen waren weder Luxusuhren noch Entwürfe für schnittige Autos abgebildet, sondern die Markenzeichen des Todes. Die kleinen dunkelroten Kreise auf den Stirnen der zwei toten Gesichter sahen aus wie Brandmale.

Der Mann im schwarzen Anzug konnte in Anbetracht dieser Bilder nur eins von beiden sein: ein Auftragskiller auf höchstem professionellen Niveau, der für seinen Kunden das Dossier eines kürzlich erledigten Auftrags zusammenstellte – oder ein Kriminalist.

Ratternd überquerte der Zug ein Gleiskreuz und verließ das Bahnhofsgelände.

Commissario Luciano Pavarotti, der Frieden mit seinem Namen gemacht hatte, seitdem die körperliche Ähnlichkeit mit seinem Namensvetter der Vergangenheit angehörte, blickte aus dem Fenster. Fabrikhallen, Tankstellen und Elektronikmärkte zogen an ihm vorbei.

Er bereute nicht, was er vorhin getan hatte. Seit dem frühen Morgen war eine Menge geschehen, und manchmal wurde die Versuchung eben zu groß, dem ganzen Wirbel ein Ende zu setzen. Dazu kamen die Umstände des neuen Falles, die ihn zu dieser Reise nach Deutschland zwangen, ausgerechnet in den Taunus, eine Gegend, in die er freiwillig unter keinen Umständen einen Fuß gesetzt hätte.

Doch der Mordfall, genauer gesagt handelte es sich um zwei Morde, ließ ihm keine Wahl.

In Meran war ein deutsches Ehepaar getötet worden. Eine Putzfrau hatte die Leichen heute am frühen Morgen am Pool eines Luxushotels gefunden. Jemand hatte den Mann und die Frau erschossen, präzise Treffer in die Stirnmitte, effizient, so wie Profis eine Hinrichtung ausführen. Allerdings glaubte Pavarotti nicht an einen Auftragsmörder. Die Umstände sprachen dagegen.

Er schloss die Augen. Die Frau hatte am Beckenrand gelegen, die Beine im Wasser. Sie musste gesessen haben, als es passierte, ihre Beine hatten locker im Wasser gebaumelt. Nach dem Schuss war sie nach hinten auf den Fliesenboden gefallen, und ihr blondes gewelltes Haar hatte sich auf dem Marmor auf eine Art ausgebreitet, wie es ein Regisseur nicht besser hätte arrangieren können. Sie war eine schöne Frau gewesen, ganz zweifellos, mit einem Look, der an die dreißiger oder vierziger Jahre erinnerte. Kinnlanges Haar, rote Lippen, blaue Augen mit langen Wimpern. Sie sah jünger aus, als sie eigentlich war. Anna Santer, dreiundvierzig, wohnhaft in Glashütten, einem Dorf in Deutschland.

Ihr Mann, Lex Santer, achtundvierzig, hatte auf einem Sonnenbett gelegen, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Er hatte entspannt ausgesehen, so als hörte er seiner Frau zu, wie sie mit den Beinen im Wasser planschte, während er über etwas Angenehmes nachdachte. In seinen toten Augen spiegelte sich keine Besorgnis, nur ein wenig Überraschung.

Pavarotti glaubte nicht, dass der Mörder ein Fremder war.

Ein anderer Reisender, in verknittertem Anzug mit schlecht geknoteter Krawatte, trat aus der Tür zum Speisewagen und setzte sich auf den Platz gegenüber Pavarotti. Eine bayerische Physiognomie, das Gesicht war feist, aufgeschwemmt, die Haut glänzte in der Dämmerung bläulich und fahl. Wohl ein deutscher Geschäftsmann auf der Rückfahrt nach München. Die Augen des Mannes huschten neugierig über Pavarottis Gesicht, seine Kleidung und das Tablet auf dem Tisch.

Pavarotti drückte das PDF weg und verstaute das Tablet in seiner Anzugtasche. Er mochte keine Gespräche im Zug, und schon gar nicht über seinen Beruf. Der Verlauf solcher Unterhaltungen war vorhersehbar. Ihr Inhalt passte zum Kaffee und zu den Speisen, die einem Menschen im Zug zugemutet werden.

Was, Sie sind Kriminalkommissar? Italiener? Das erklärt natürlich alles. Bei euch tragen sogar die Bullen Armani. Uups, Entschuldigung. Wie bitte, in Meran? Ich dachte immer, das ist ein Kurort. Na, Sie sind aber fein raus. Morgens als Erstes ein Cappuccino auf der Piazza oder auch zwei. Dann ein bisschen Papierkram und ein Aperitif. Anschließend Siesta bis um fünf. Beschaulicher Job, fette Pension, anstatt zu schuften wie wir, und wissen Sie was, ich hab noch nicht mal mehr eine Sekretärin. Ich scheiße auf die Kostensenkung. Sie haben bestimmt einen ganzen Stall voller Laufburschen, Sie Glücklicher. Mann, wie ich Sie beneide.

Pavarotti erhob sich und ging zu dem nächstgelegenen Zwischenstück zwischen zwei Abteilen. Der Zug beschleunigte, und Pavarotti griff nach einer Haltestange. Er lehnte sich an die Wand, überließ seine Kniegelenke dem Spiel der Kufen und spürte das Knirschen von Metall auf Metall unter seinen Füßen.

Einen einzigen Mitarbeiter hatte er, und der war kein Laufbursche, sondern eine Wucht. Seit Emmenegger vor einem halben Jahr zum Ispettore befördert worden war, redete ihn Pavarotti mit seinem Titel an, obwohl er Formalitäten hasste.

Mit mehr Selbstbewusstsein hätte der Mann den Rang weit früher erreichen können. Doch Emmenegger war zufrieden. Der Ispettore scherte sich weniger um die Mordrate pro Kopf, die Meran ins oberste Drittel der norditalienischen Kriminalstatistik katapultiert hatte, der Himmel wusste, wieso. Es war das persönliche Waterloo seines Chefs, das Emmenegger Kopfzerbrechen bereitete, und er betrachtete sich als Pavarottis getreuer Adjutant im immerwährenden Krieg gegen den Trübsinn.

Ganz nebenbei hatte er Pavarotti geholfen, die verstörenden Kriminalfälle der letzten Jahre zu lösen, indem er die Beinarbeit übernahm, Archive, Akten und das Internet durchforstete, Pavarottis Grobheiten ertrug und mit einem feinen Lächeln die Proportionen ihrer Zusammenarbeit geraderückte.

Pavarotti schaute auf sein Mobiltelefon. Nach dem, was er sich auf dem Bahnhof in Bozen geleistet hatte, war mit einem Anruf seines besten und einzigen Mitarbeiters zu rechnen. Doch das Telefon schwieg beharrlich.

Als Pavarotti seinen Platz im Abteil wieder einnahm, schlief sein Gegenüber. Der Kopf war nach hinten auf das Polster gesunken, der Mund stand halb offen. Pavarotti betrachtete das Gesicht des Mannes. Das Berechnende seiner Züge hatte im Schlaf einer stillen Heiterkeit Platz gemacht.

Auch das Gesicht des Toten am Pool hatte entspannt ausgesehen und ein wenig belustigt. Es war ebenfalls rund wie das des Schlafenden, aber damit endeten die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Männern. Lex Santer war ein großer, schlanker Mann mit hervorstehenden Wangenknochen, über die sich die Haut spannte, und mit einer markanten Kinnpartie. Sein Gesicht, die Brille mit kleinen, rechteckigen Gläsern und die hohe Stirn mit einem Haaransatz, der die Schlacht gegen das mittlere Alter verloren hatte, verliehen Santer das Aussehen eines Mannes, der sich am liebsten mit Zahlen und Fakten beschäftigt.

Noch eine Stunde bis München. Es hatte wenig Sinn zu schlafen, denn in München musste er umsteigen.

Pavarotti legte den Kopf zurück und dachte an diese furchtbaren ersten Sekunden am Tatort.

Was für ein Glück, dass es einen Fotografen gab, der die Szene bis ins Kleinste dokumentiert hatte. Pavarotti hatte sich auf nichts konzentrieren können als auf das Gesicht der Toten.

Er hatte sie damals bloß aus der Entfernung gesehen und nur für ein paar Minuten, aber manches muss man nicht aus der Nähe betrachten, um sich daran zu erinnern.

Regungslos hatte er am Pool gestanden, weil er nicht wusste, wie er sonst seinen Schrecken verbergen sollte. Alle dachten, er spiele wie immer den stummen Beobachter am Rande, der jede Einzelheit in sich aufnahm, während Gerichtsmedizin und Spurensicherung kamen und gingen.

Emmenegger hätte vielleicht das Entsetzen gespürt, das Pavarottis ganze Statur und seine steinerne Miene ausstrahlten.

Doch der Ispettore war anderweitig beschäftigt.

Emmeneggers Routine war bereits in Gang gekommen, und sie lief wie immer wie am Schnürchen. Im Nu hatte er das Hotelregister beschlagnahmt sowie Namen und Adresse der Opfer ausfindig gemacht. Er sorgte dafür, dass das Schluchzen der Putzfrau aufhörte, die die Toten gefunden hatte, und nahm ihre Aussage auf. Allerdings ergaben weder das Gestammel dieser Zeugin noch die Befragung der verstörten Gäste und des nicht minder fassungslosen Hauspersonals verwertbare Erkenntnisse. Niemand hatte etwas gesehen oder gehört.

Zum letzten Mal war das ermordete Ehepaar gegen einundzwanzig Uhr lebend gesehen worden, als die beiden in der Hotelbar einen Drink zu sich nahmen. Der Computer des Hotels, in dem ein Glas Chardonnay und ein Aperol Spritz um einundzwanzig Uhr drei auf die Suite No. 19 gebucht worden waren, bestätigte die Angaben des Barkellners Lupo Sanic, der am Vorabend Dienst gehabt hatte.

Sanic sagte aus, als die beiden die Bar verließen, habe er angenommen, dass sie zu Bett gehen würden. Die Aussage wurde von einem anzüglichen Grinsen begleitet, das Emmenegger dem Mann am liebsten aus dem Gesicht geschlagen hätte.

Frustriert (und mit einer aufkeimenden Ahnung, dass sich der Fall als schwierig erweisen würde) wandte sich Emmenegger seiner Lieblingsbeschäftigung zu: der Recherche im Internet.

Der Tote war Mitinhaber einer kleinen Agentur für Fondsanalyse gewesen. Das Unternehmen hieß FONDSpot, und auf der Internetseite, die Emmenegger mit seinen flinken Fingern aufrief, war von fünfundzwanzig Mitarbeitern und zwei geschäftsführenden Partnern die Rede. Der eine, ein Mann namens Julius Schaller, war zuständig für Marketing und Vertrieb. Der andere war der Tote, Lex Santer.

»Lex Santer verantwortete die Beurteilung und Bewertung von Investmentfonds.« Emmeneggers Augen huschten über die Webseite.

»Wie funktioniert diese Bewertung?«, fragte Pavarotti.

»Das geht aus der Seite nicht hervor«, erwiderte Emmenegger. »Keine Ahnung. Ich habe leider keine Fonds, sondern bloß ein Sparbuch. Aber Sie werden es zweifellos herausfinden, Chef.«

Pavarotti besaß ebenfalls keine Investmentfonds. Das Geld, das ihm seine Mutter hinterlassen hatte, steckte in Münzen und Barren aus Gold, dessen Kursverlauf er als einzigen aufmerksam verfolgte.

Was man sich auch immer unter der nebelhaften Tätigkeit des Beurteilens und Bewertens von Finanzprodukten vorzustellen hatte, mit ihr war zweifellos viel Geld zu verdienen. Lex und Anna Santer hatten in einem der teuersten Hotels von Meran gewohnt. Die Villa Belle Époque, deren Fassade hielt, was ihr Name versprach, war ein Boutique-Hotel mit zwanzig Zimmern auf zwei Etagen im Villenviertel Obermais, unmittelbar neben einem herrlichen Park mit Obstplantagen und einem kleinen Weinberg. Eine Nacht in der Suite, die das Ehepaar eine Woche zuvor bezogen hatte, kostete knapp vierhundert Euro.

Dass Lex Santer ein wohlhabender Mann war, hatte Pavarotti bereits in dem Augenblick geahnt, als er die tote Frau betrachtete. Noch im Tod sah sie aus wie eine Filmdiva, und der Cineast in Pavarotti erkannte sofort eine gewisse Ähnlichkeit mit Ingrid Bergmann, vor allem um die Mundpartie.

Zu dieser Frau hätte ein Mann wie Gregory Peck gepasst, und sofort musste Pavarotti an einen Film mit den beiden großartigen Schauspielern denken, dem er bei der Aufklärung einer früheren Mordserie die zündende Idee und den Durchbruch zu verdanken gehabt hatte.

Mit ihren starken Farbkontrasten – dem Blau des Pools, den blendend weißen Liegen, dem Badeanzug in schimmerndem Gold, den Anna Santer trug, und den roten Malen auf der Stirn – ähnelte die Szene einem Filmset aus der frühen Glanzzeit von Hollywood nach dem Krieg, als Männer mit ausgeprägtem Sinn für Dramatik auf den Regiestühlen saßen und sich an den ungeahnten Möglichkeiten delektierten, die der Farbfilm bot.

Nun, dieser Tote hatte nicht das düster-geheimnisvolle Aussehen eines Gregory Peck besessen, er hätte nicht einmal als zweite Besetzung getaugt. Obwohl der Körper nach dem Tod zu einer leeren Hülle wurde und das Gesicht zu einer puppenhaften Maske erstarrte, traute sich Pavarotti doch das Urteil zu, dass Lex Santer auch nicht die souveräne Männlichkeit eines Cary Grant oder die Verwegenheit eines Humphrey Bogart ausgestrahlt hatte. Lex Santer war ein nach innen gekehrter Analytiker gewesen, in dessen asketischem Gesicht keinerlei Sinnlichkeit zu spüren war, ein Mann, der lieber mit Zahlen als mit Menschen umgegangen war. Santers Foto in seinem Reisepass hatte Pavarottis Eindruck bestätigt.

Blieb also nur sein Geld.

Pavarotti schalt sich wegen seines Zynismus, aber er vermutete, dass er am Ende recht behalten würde.

Sanft glitt der Zug mit Höchstgeschwindigkeit dahin, doch Pavarotti fand keinen Schlaf. Der Mann, der ihm gegenübersaß, schlummerte tief und fest, er saß breitbeinig da, sein Kopf war gegen das Fenster gesunken, und die Leselampe schien ihm hell ins Gesicht. Pavarotti griff nach oben und schaltete sie aus. Der Lichtspot über einem Leser in der Sitzreihe schräg gegenüber sandte einen Lichtstreifen über den Gang, ansonsten lag das Abteil in bläulichem Halbdunkel.

Pavarotti starrte aus dem Fenster und sah, wie sich die Konturen der schwarzen Landschaft in der Scheibe spiegelten.

Er hatte den Ispettore nach dem Sitz von Santers Firma gefragt. Emmenegger war seinem Blick ausgewichen und von einem Fuß auf den anderen getreten.

»Nun reden Sie schon«, sagte Pavarotti.

»Königstein im Taunus«, sagte Emmenegger schließlich widerstrebend.

Das Städtchen Königstein befand sich in der Nähe von Frankfurt am Main. Der entscheidende Punkt war allerdings, dass es nur zehn Kilometer vom Haus einer Frau entfernt lag, der Pavarotti nicht begegnen wollte.

»Wenn Sie wollen, fahre ich nach Deutschland«, sagte Emmenegger.

»So weit kommt’s noch, Ispettore. Ich habe kein Problem mit dem Taunus, wirklich.«

Erleichterung und Sorge zogen über Emmeneggers Gesicht wie helle und dunkle Wolkenfelder.

»Ich buche Ihnen ein Hotel in Frankfurt«, sagte Emmenegger. »Nicht nötig, im Taunus zu übernachten. Von Frankfurt brauchen Sie mit dem Wagen nur eine halbe Stunde bis zu Santers Agentur.«

»Meinetwegen«, sagte Pavarotti und nach einer kurzen Pause: »Danke.« Als ob es darauf ankäme, wo er wohnte. Allein der Gedanke, deutschen Boden zu betreten, setzte quälende Erinnerungen frei, aber er hatte nicht vor, Emmenegger darüber zu informieren.

»Kümmern Sie sich bitte um die Ergebnisse der Gerichtsmedizin und der Spurensicherung, während ich fort bin. Nehmen Sie den Wagen, Ispettore. Ich gehe zu Fuß nach Hause und packe den Koffer.«

Bitte und danke. Das war neu, genauso wie die förmliche Anrede. Wie auf Kommando leuchteten Emmeneggers Augen auf. Die Freude über die Anerkennung verdrängte die Sorge um den Chef für einen Moment, und mit federndem Schritt eilte Emmenegger nach draußen zum Wagen.

Mittlerweile ärgerte sich Pavarotti, dass er sich in Bozen dermaßen hatte gehen lassen.

Vermutlich saß Emmenegger jetzt zu Hause, rang die Hände und fragte sich, ob es vermessen wäre, anzurufen. Überlegte hin und her, ob er die passenden Worte finden würde, ohne dem Chef zu nahe zu treten.

Kurz erwog Pavarotti die Möglichkeit, dass seine Schwester den Vorfall für sich behalten hatte.

Wohl kaum.

Jetzt konnte es nicht mehr weit nach München sein. Windgepeitschte schwarze Bäume bogen sich im Oval seines Gesichts. Als der Lesende auf der anderen Gangseite plötzlich das Licht löschte, verschwand Pavarottis Gesicht von der Scheibe, als habe die Nacht es verschluckt.

***

Sonntag, zwei Tage nach den Morden

Um fünf Uhr am Sonntagmorgen verließ der Mann im schwarzen Anzug, dessen Zustand genauso tadellos war wie am Abend zuvor, als Einziger den ICE in Frankfurt.

Er war in München in diesen Zug umgestiegen, der in wenigen Minuten weiter nach Amsterdam fahren würde, eine Destination, die für die meisten Urlauber erstrebenswerter war als die Bankenstadt Frankfurt.

An Wochentagen glich der Frankfurter Hauptbahnhof zu dieser frühen Stunde einem Ameisenhaufen. Aber nicht am Sonntag. Die große Bahnhofshalle und die Bahnsteige waren wie ausgestorben.

Deshalb sah er die Frau sofort, als sich die Türen öffneten. Sie stand etwa zwanzig Meter von ihm entfernt, fast unmittelbar am Beginn von Gleis 21, an dem der Zug zum Stehen gekommen war.

»Was willst du hier?«, fragte er.

»Deine Schwester hat mich angerufen«, sagte Lissie von Spiegel.

Sein Gesicht war weiß, als er fragte: »Was hat sie dir erzählt?«

»Ich hätte dich fast nicht erkannt. Du hast noch mal zwanzig Kilo abgenommen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.«

»Was – hat – sie – dir – erzählt?«

»Das müssen wir nicht hier auf dem Bahnsteig diskutieren. Ich fahre dich zu deinem Hotel.«

»Ich nehme mir ein Taxi. Es ist nicht weit.«

»Es sind vierzig Kilometer. Dein Hotelzimmer in der City habe ich abbestellt.«

»Du hast was?« Pavarotti war so laut geworden, dass sich der Schaffner zu ihnen umdrehte, die Trillerpfeife bereits im Mund.

»Ich kenne das Hotel, das Emmenegger für dich ausgesucht hat. Die Zimmer sind nicht klimatisiert und gehen auf die Straße hinaus, der Service ist miserabel. Ich dachte, du schläfst besser woanders.«

Als sie seine Miene sah, schüttelte sie belustigt den Kopf. »Nicht bei mir, du Esel. In einem gemütlichen Zimmer in einem netten kleinen Hotel. Du hast doch im Taunus zu tun, sagt Emmenegger. Wollen wir?«

Eine Verschwörung hinter seinem Rücken. Er wusste nicht, über wen er wütender sein sollte. Über seine Schwester Editha, die sie angezettelt hatte, um ihn zu ärgern. Oder über Emmenegger, der polizeiinterne Informationen ausgeplaudert hatte. Er packte den Griff seiner Tasche so fest, dass seine Fingerknöchel weiß wurden, und folgte der Frau, die er mehr liebte als sein Leben, über eine steile Treppe nach unten zum unterirdischen Parkhaus des Frankfurter Hauptbahnhofs.

***

Sie fuhren auf der Autobahn nach Norden, aber nicht lange, vielleicht eine Viertelstunde, dann nahmen sie die Ausfahrt, die zu den Höhen des Taunus führte. Lissie redete unentwegt, zeigte auf Punkte in der vorbeiziehenden Landschaft, erzählte über den Limes und die Römer, die hier ihr Bollwerk gegen die Germanen errichtet hatten.

Pavarotti saß stumm daneben und betete, es möge ein anderes Hotel sein. Aber solche Wünsche gingen selten in Erfüllung. In stummer Ergebenheit schloss er die Augen, als Lissie am Marktplatz einer kleinen Ortschaft namens Schmitten bremste und neben einer Kirche aus grauem Stein auf einen Hotelparkplatz einbog. Das Hotel Hadrian war ein in der Sonne schimmerndes Kleinod mit einer grün-silbernen Efeufassade und glänzenden hellgrauen Holzbalken.

Der Hotelier stand mit einer weißen Schürze am Eingang, und als er Pavarotti sah, wollte er ihm schon freudig entgegeneilen, doch der machte ihm hinter Lissies Rücken ein Zeichen. Diskrete Hoteliers genießen nicht umsonst den Ruf, auf den kleinsten Wink zu reagieren, und so begnügte sich der Mann mit einem Kopfnicken zu dem neuen Gast hin, begrüßte stattdessen Lissie herzlich, fast überschwänglich, und Pavarotti so, als habe er ihn noch nie gesehen.

Das Zimmer war dasselbe wie beim letzten Mal, mit einem gut gefederten Bett, in dem man angenehm schlief, welches sich aber auch für andere Dinge eignete, und Pavarotti wünschte, man hätte ihm ein anderes Zimmer gegeben.

Er öffnete die Fenster, die Luft war warm, aber von einer angenehmen Frische, viel kühler als in Frankfurt, vor allem unter dem Glasdach des Frankfurter Hauptbahnhofs.

Lissie stand noch an der Rezeption und unterhielt sich mit dem Wirt. Das Verhör konnte ebenso gut gleich beginnen, auf der Hotelterrasse, auf der man immerhin angenehm saß, das wusste er noch.

Sie bestellte einen Caffè Latte und einen Grappa, obwohl es erst sechs Uhr morgens war.

Pavarotti nahm es schweigend zur Kenntnis. Sie auf ihre Alkoholprobleme anzusprechen würde sie als Vorstoß werten, mit dem er dem ihren zuvorkommen wollte.

Er bestellte einen Espresso und wartete.

»Früher warst du gesprächiger«, sagte sie.

»Früher hattest du kürzere Haare«, sagte er.

Sie hob die Hand zu ihren Haaren, die jetzt ihr Kinn umspielten. Früher waren sie sehr kurz gewesen, nicht länger als ein Streichholz, und hatten eng an ihrem schmalen Gesicht gelegen.

Ein apartes Gesicht, nicht so schön wie das von Anna Santer, aber so viel lebhafter. Im Moment war ihre Gesichtshaut allerdings fahl, und eine Falte auf der Stirn strafte ihren lächelnden Mund Lügen.

»Ich vermisse Meran«, sagte sie, ohne ihn anzusehen.

»Du vermisst Meran«, war alles, was ihm einfiel, und er kam sich vor wie ein Papagei.

»Ich habe den ›Südtiroler‹ abonniert«, sagte sie nach einer kurzen Weile. »Er kommt immer mit zwei Tagen Verspätung, aber das macht nichts. Außerdem hat er eine Webseite. Du siehst, ich erfahre alles. Du bist ja viel in der Zeitung. Man schreibt gut über dich. Emmenegger hat es zum Ispettore gebracht, habe ich gelesen. Das ist fein. Er ist ein prima Kerl. Er passt auf dich auf. Das hat er immer schon getan.«

»Ja, das stimmt«, sagte er nur. Und wappnete sich.

»Gibt es die Verdinser Klause noch?«, fragte sie. »Weißt du noch? Da habe ich einmal einen Salzstreuer in einen Spiegel geschleudert.« Ihre Augen blitzten, und er musste lachen.

»Natürlich weiß ich das noch. Der Spiegel war antik und hat mich ein halbes Monatsgehalt gekostet.«

Und so ging es eine Zeit lang weiter. Sie tauschten längst vergangene Histörchen aus, kramten die alten Fälle hervor, erinnerten sich gegenseitig an Ereignisse, die bei beiden keiner Erinnerung bedurften, und umrundeten vorsichtig, als gingen sie über dünnes Glas, alles, was zu schmerzhaft war, um erwähnt zu werden.

»Meine Schwester hat dir eingeredet, dass ich selbstmordgefährdet bin, nicht wahr?«, sagte Pavarotti.

Lissie umklammerte die Tischkante, ihr Blick glitt zur Seite.

»Stimmt es?«

»Natürlich nicht«, sagte Pavarotti fest. »Schau mich an. Sehe ich aus wie ein Selbstmordkandidat?«

»Du siehst gut aus«, gab sie zu. »Aber auf dem Bahnhof …? Du wolltest –«

»Himmel«, sagte Pavarotti und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, nicht laut, aber mit Entschiedenheit. Ein Schlag, der besagte: Ich bin Herr der Lage. »Ich war einen Moment lang zu nahe an der Bahnsteigkante, bin aber sofort zurückgetreten, als der Zug kam.« Er beugte sich vor. »Du weißt doch, wie sehr meine Schwester das Dramatische liebt. Andere in Aufregung zu versetzen ist ihr Lebenselixier. Der Anruf bei dir diente nur dem Zweck, mich in Verlegenheit zu bringen und dich zu beunruhigen. Das scheint ihr ja prächtig gelungen zu sein.«

»Wie man hört, hast du es schon einmal versucht«, sagte Lissie, ohne ihn anzusehen.

»Das ist Unsinn. Das hat sich der verrückte Freund meines Sohnes ausgedacht. Der Kerl hat eine blühende Phantasie. Hat ›man‹ dir auch erzählt, was er mit meiner Wohnung angestellt hat, angeblich um mir die Selbstmordgedanken auszutreiben?«

»Si. Er hat in deinem Wohnzimmer auf einen Beutel mit Schweineblut geschossen.« Wieder dieses falsche Lächeln.

»Das war nicht komisch, glaub mir. Aber lassen wir das. Willst du denn gar nicht wissen, warum ich hier bin?«

Eine unpassende Formulierung. Sie klang neckisch, fast wie ein Flirtversuch, der die Gegenfrage »Etwa meinetwegen?« herausforderte.

Sie reagierte anders, als er erwartet hatte.

»Das weiß ich bereits. Du hast einen neuen Fall.«

Pavarottis Mund wurde schmal. »Woher hast du diese Information?«

»Da war ein kleiner Artikel im ›Südtiroler Online‹, gestern Nachmittag. Ein Mann und eine Frau, Wohnort nahe Frankfurt. Doppelmord. Keine Namen. Die habt ihr wohl unter Verschluss gehalten. Wie hießen die Toten denn?«

»Das Frankfurter Einzugsgebiet ist groß. Es ist wenig wahrscheinlich, dass du das Paar gekannt hast.«

»Ein Ehepaar?« Lissies Gesicht war blass geworden.

»Was hast du?«, fragte Pavarotti.

»Nichts, wieso? Jetzt lass mal die Katze aus dem Sack. Wie heißen die zwei?«

Pavarotti beobachtete sie scharf. »Santer.«

Ihre Hand fuhr zum Mund. Sie schluckte und fuhr sich durch ihr Haar, sodass es nach allen Seiten abstand.

Sie hatte sich nicht besonders gut im Griff, auch wenn sie das wohl nicht merkte. Das war das Tückische an der Körpersprache.

»Also, dann spann mich nicht auf die Folter«, sagte sie im Versuch, nonchalant zu klingen, aber ihre Stimmbänder gehorchten ihr nicht. »Das Ganze hört sich unglaublich aufregend an.«

***

Sie war schon immer eine gute Zuhörerin gewesen.

Während Pavarotti ihr die Fakten auseinandersetzte, lauschte sie aufmerksam und machte nur ein paar Bemerkungen, aber die waren scharfsinnig, und er spürte bereits, wie ihre Anwesenheit sein Jagdfieber anstachelte, wie in alten Zeiten.

Er rief sich zur Ordnung. Nichts war wie früher. Sie standen auf verschiedenen Seiten, und zwischen ihnen dehnte sich ein See aus Fragen aus, und den würde keiner von beiden jemals durchqueren.

»Die beiden hatten die Angewohnheit, spätabends im Pool zu schwimmen«, sagte Pavarotti. »So spät, dass sonst niemand mehr draußen war, weil die Terrasse schon geschlossen war und die anderen Gäste sich in ihren Zimmern oder an der Bar aufhielten. Der Mörder muss das gewusst haben. Er war bestens über alle Abläufe in diesem Hotel informiert.«

»Scheint so«, sagte Lissie. »Was sagt die Gerichtsmedizin zum Tatzeitpunkt?«

»Nicht später als dreiundzwanzig Uhr«, antwortete Pavarotti. »Um diese Zeit saßen noch ein paar Gäste an der Bar. Keiner von ihnen hat etwas gehört, sagt Emmenegger. Der Täter muss einen Schalldämpfer benutzt haben. Der Mord war genau geplant.«

»Glaubst du an einen Profi? Ich nicht.« Lissie schüttelte den Kopf. »Das war bestimmt kein Fremder. Bei einem Unbekannten hätten die beiden Verdacht geschöpft. Es war schließlich mitten in der Nacht und dunkel bis auf die Poolbeleuchtung und das Licht der Bogenlampe an der Hauswand.«

»Woher weißt du das?«

Das Zögern war winzig. »Ich war schon einmal in dem Hotel. Vor Jahren. Bevor wir zwei uns kennengelernt haben. Ich glaube, ich habe auf der Terrasse einen Kaffee getrunken.«

Lissie fuhr fort, ein wenig außer Atem und ohne ihn anzusehen. »Stell dir das vor. Sie saßen einfach da, sahen ihrem Mörder zu und warteten, bis er sie erschoss«, sagte sie. »Vielleicht haben die drei sich sogar unterhalten. Vielleicht war es ein anderer Gast, der lächelnd auf sie zukam, eine Hand in der Manteltasche, in der die Waffe steckte. Oder es war ein Kellner, der so tat, als wolle er nach ihren letzten Wünschen fragen.«

»Ich sehe, deine Phantasie ist immer noch so lebhaft wie früher«, sagte Pavarotti und hoffte, dass nur er selbst sein Zähneknirschen hören konnte. »Für solche Schlussfolgerungen ist es noch zu früh. Emmenegger und ich haben das gesamte Hotelpersonal befragt, zumindest alle, die in Frage kommen. Angeblich hat niemand außer zwei Kellnern, dem Barmann und dem Hoteldirektor ein Wort mit den beiden gewechselt. Ich kann mir keinen Grund denken, warum einer davon die zwei hätte erschießen sollen. Du?«

»Und die Gäste?«, wich Lissie aus.

»Gleiches Spiel. Wir konnten bei niemandem eine Verbindung zu dem Paar entdecken. Die beiden waren sowieso die einzigen Deutschen im Hotel. Und jetzt wüsste ich gern, warum du eben dermaßen erschrocken bist.«

»Erschrocken?«

»Hör auf damit, Lissie.«

Sie starrte an ihm vorbei, schwieg lange. »Ich glaube, ich kenne – kannte – die tote Frau«, sagte sie schließlich.

Erzähl mir etwas, das ich noch nicht weiß, dachte Pavarotti. Laut sagte er: »Tatsächlich?«

»Nun ja, wenn sie es wirklich ist. Ist sie … war die Frau Schriftstellerin? Mit Vornamen Anna?«

»Ja, in der Tat.«

Lissie biss sich auf die Lippe. »Dann ist sie es. Scheiße. Wir haben uns hin und wieder getroffen, auf Buchmessen oder Literaturfestivals. Wie das so ist, wenn man in den gleichen Kreisen verkehrt.« Plötzlich kicherte sie, es war ein kaputter Ton, der nach Hysterie klang. »Einmal haben wir sogar eine gemeinsame Lesung bestritten. Es war furchtbar, weil sie so unglaublich … Oh Gott, es tut mir leid …«

»Eine gemeinsame Lesung? Was meinst du damit?«

»Sie war Autorin, genau wie ich selber. Wir haben sogar im selben Verlag publiziert.«

»Du schreibst? Das ist … Ich meine, wie bist du …?«

Lissies Augen strahlten, aber die Wärme fehlte. »Da bist du baff, was?«

Pavarotti erfuhr, dass Lissie nicht nur schrieb, sondern recht erfolgreich war.

Die Idee, wahre Kriminalfälle zu spannenden Romanen zu verarbeiten, sei während ihres letzten gemeinsamen Falles entstanden. Zurück in Deutschland, hatte Lissie ihr Manuskript zunächst beiseitegeschoben, weil die Fertigstellung mühsam war und weil sie fürchtete, dass ihre Begabung nicht ausreichte. Allerdings litt sie nach wie vor an chronischen Geldsorgen, und (wie sich später herausstellte) an einem Mangel an Lebensmut.

Die Folgen einer Schusswunde, die einen partiellen Gedächtnisverlust ausgelöst hatte, wollten einfach nicht abklingen.

»Anfangs kamen viele Erinnerungen zurück. Aber das hast du ja damals noch miterlebt«, sagte sie. »Ich dachte schon, die Sache ist vorbei und ausgestanden. Tja, zu früh gefreut. Nach zwei, drei Monaten, als die ersten großen Schübe vorbei waren, ging es viel langsamer voran. Irgendwann gab es keine neuen Erinnerungen mehr, und alles blieb mehr oder weniger so, wie es war. Das größte Problem ist mein Personengedächtnis. Fakten und Ereignisse sind kein Problem, aber es ist, als weigere sich mein Kopf, Menschen, die ich in den letzten fünfundzwanzig Jahren getroffen habe, zur Kenntnis zu nehmen.«

An diesem Punkt brauchte Lissie eine Beschäftigung, die sie ablenkte, und zwar schnell. Durch puren Zufall stieß sie eines Abends (bei der Suche nach ihrer letzten Kiste Weißwein, aber das verschwieg sie) auf ihr vergessenes Manuskript.

»Du hast unseren damaligen Fall veröffentlicht?«, fragte Pavarotti.

»Tja, mittlerweile ist das Buch in fünf Sprachen übersetzt. Jetzt arbeite ich an einem zweiten Roman. Ein junges Paar, das im Bayerischen Wald spurlos verschwunden ist. Ein gruseliger Fall, entspricht aber den Tatsachen.«

Der erste Teil war eine dreiste Lüge, ihr Buch war überhaupt nicht übersetzt worden, und das würde wohl auch nie passieren. Der Roman blieb ein Achtungserfolg. Finanziell gesehen war das Beste an ihrer neuen Beschäftigung der Beitritt zur Künstlersozialkasse.

»Toll«, sagte Pavarotti. »Ich gratuliere dir. Das nenne ich ein gelungenes Comeback.«

Lissie winkte ab, mit einer kleinen, etwas gezierten Handbewegung. »Mehr Glück als Verstand.«

Pavarotti kaufte ihr die Bescheidenheit keine Sekunde ab.

»Was hat Anna Santer eigentlich geschrieben? Etwas Ähnliches wie du?«

Ein Blick streifte ihn. »Gott bewahre. Sie hat Regionalkrimis verfasst. Ihre Bücher spielen in Südtirol, meistens mit einem Schuss Zeitgeschichte aufgepeppt. Ganz okay, mehr aber auch nicht.«

»Wegen ihrer Bücher ist sie dann wohl nicht gestorben«, sagte Pavarotti und erhob sich. »Es war nett, dich wiederzusehen. Aber jetzt muss ich los. Ich hab einen Termin bei der Kripo Bad Homburg und mit dem zweiten Geschäftsführer dieser Finanzagentur. Vielleicht kennst du die Firma. Du warst ja früher mal in derselben Branche. Sie heißt FONDSpot, hat etwas mit Kapitalanlagen zu tun.«

»Nie gehört«, sagte Lissie.

»Schade. Im Internet bezeichnet sich das Unternehmen als Analysehaus für Investmentfonds. Du warst doch früher mal vom Fach. Was wird da deiner Meinung nach analysiert?«

»Tja, ich vermute, dass sie die Qualität von Kapitalanlagen bewerten, je nachdem, wie viel Rendite die abwerfen und wie hoch das Risiko ist. Die Investmenthäuser lassen sich die Bewertung eine schöne Stange Geld kosten, weil sie prima damit werben können.«

»Die Anbieter bezahlen für die Bewertung?« Pavarotti staunte. »Wie kann ich dann sicher sein, dass sie ehrlich und unabhängig ist?«

»Kannst du nicht. Das ganze System ist krank«, sagte Lissie.

»Da scheinen viel Geld und halbseidene Geschäftspraktiken im Spiel zu sein«, sagte Pavarotti. »Das macht zwei gute, handfeste Motive.«

Doch sein Bauchgefühl sagte ihm, dass er nicht so leicht zum Ziel kommen würde.

Der neue Fall war außergewöhnlich. Er war kein Mathematikfall, wie er diejenigen nannte, die sich lösen ließen, wenn man alle Fakten zusammentrug und in eine sinnvolle Beziehung zueinander setzte.

Dies hier war ein Fall des sechsten Sinns. Leider besaß er diesen nicht.

Emmeneggers Denkprozesse wurden von einem kleinen Rinnsal gekreuzt, in dem dieser sechste Sinn plätscherte. Lissie schöpfte aus einem ganzen Ozean voll mit diesem Zeug.

Doch der Ozean befand sich auf der anderen Seite der Welt.

Sie würden sich mit Emmeneggers Rinnsal begnügen müssen.

***

Lissie saß in ihrem roten Fiat 500 und beobachtete, wie Pavarotti mit einem Mann sprach, der an einem silbernen Audi mit einem Hertz-Aufkleber an der Heckscheibe lehnte. Autoschlüssel wechselten den Besitzer, dann stieg Pavarotti ein und fuhr weg, ohne sich noch einmal umzusehen.

Als er verschwunden war, startete sie den Motor.

Das Wiedersehen war besser gelaufen als erwartet. Der hungrige Blick, mit dem er sie früher so oft angesehen hatte, war verschwunden und hatte einer trägen Melancholie Platz gemacht, die unter Garantie die Frauen Schlange stehen ließ.

Er war so von seiner neuen Adonisfigur eingenommen, dass er gar nicht merkte, wie herablassend er sich verhielt. Dennoch, alles in allem fand Lissie sein Benehmen erträglicher als die waidwunden Augen von früher, die ihr überallhin gefolgt waren, wohin sie auch ging.

Glaubte er wirklich, sie hätte sich Sorgen gemacht, dass er sich etwas antat? Wenn es darum ging, Menschen zu durchschauen, war dieser Mann blind auf beiden Augen, und das war ein unveränderlicher Faktor, den auch der neue Pavarotti nicht ändern konnte, mitsamt seiner stutzerhaften Kleidung, seinem Fitnesstick und seiner Angewohnheit, neuerdings an der Passer zu joggen, verfolgt von der Boulevardpresse, die an seinen Lippen hing, wenn er ihnen ein paar Brocken über seine Fälle hinwarf.

Luciano Pavarotti 2.0, ein eitler Fatzke, der sich von den Medien feiern ließ.

Oh ja, Lissie verschlang gierig den kleinsten Artikel, den sie über ihn veröffentlichten, druckte ihn aus, sammelte, heftete ab. Mittlerweile war der fünfte Leitz-Ordner voll.

Sie hatte jeden Online-Newsletter über Südtirol abonniert, der umsonst zu haben war, und für alles andere, das Wochenmagazin »BLIZZ« oder den »Meraner Kurier«, brauchte sie auch nicht zu bezahlen, bisher jedenfalls nicht, dank ihrer guten Quelle.

Luciano Pavarotti, der neue Medienstar von Meran, der sich in seiner Berühmtheit sonnte. Während sie nicht einmal die engsten Freunde von früher wiedererkannte. Und wer, bitte, war an allem schuld?

Die altbekannte Starrheit kroch in ihre Beine, und bevor die Lähmung sich weiter ausbreitete und ihre Fahrtüchtigkeit einschränkte, lenkte sie den Fiat auf einen Parkplatz, legte die Arme locker auf das Steuerrad, versuchte eine bequeme Stellung einzunehmen und richtete ihre Augen auf die Tannen, die sich dunkel gegen den bleiernen Himmel abzeichneten. Die Taubheit hatte inzwischen ihre Hüfte erreicht. Sie würde jetzt mindestens eine halbe Stunde lang pausieren müssen.

Sein Blick hatte Bände gesprochen. Er hatte ihr niemals zugetraut, dass sie wieder auf die Beine kam. Und schon gar nicht als Autorin, etwas, wozu man Begabung brauchte. Er hatte sie in eine Schublade verfrachtet, die mit dem Wort »Versager« beschriftet war.

Für ihn war sie bloß jemand, der mit seinem Leben gescheitert war, abgestürzt von viel zu ambitionierten Höhenflügen, zu nahe an die Sonne geraten wie Ikarus. Es stimmte ja – das Wachs, das ihr ach so perfektes Leben zusammengehalten hatte, war geschmolzen, und sie war hart aufgeschlagen.

Lissie von Spiegel, Ex-Karrierefrau. Ex-Sportwagenfahrerin. Ex-vermögend. Mit einem Ex-Leben.

Von wegen, du Arschloch. Mein Rückgrat ist noch nicht gebrochen.

Die Arme und die Zehen begannen zu prickeln. Die Schwere auf ihrer Brust zog sich zurück. Lissies Atem wurde ruhiger, und sie ließ den Wagen wieder an.

Pavarottis Schubladendenken hatte etwas für sich. Er würde nicht auf den Gedanken verfallen, dass sie etwas anderes war als das, was er in ihr sah.

Ispettore Emmenegger war in dieser Hinsicht ein anderes Kaliber, aber der war glücklicherweise nicht hier.

Unmoralische Angebote

In der Diele warf Lissie ihre Hausschlüssel auf die Kommode und kramte nach dem anderen Schlüssel. Ihre Handflächen wurden sofort feucht, als sie ihn nicht gleich fand. Schließlich stießen ihre Finger am Boden der Tasche auf eine raue Oberfläche. Da war er, der Schlüssel samt Schlüsselanhänger aus Rochenleder, ein schönes Stück in Form einer Schlaufe, die sie allerdings inzwischen als böses Omen empfand.

Das Lämpchen des Anrufbeantworters blinkte. Mit dem Schlüssel in der Hand drückte sie auf Play.

»Hör zu, hier ist Walter, dein Verleger. Bitte ruf mich so schnell wie möglich zurück. Du hast ja meine Mobilnummer. Es geht um Anna Santer.«

Sie war drauf und dran, die Nachricht zu ignorieren, doch dann überlegte sie es sich anders.

Walter Timm war sofort dran. »Liselotte?«

»Ja«, sagte sie mit gereizter Stimme. Sie hasste ihren kompletten Vornamen. Walter wusste das ganz genau und benutzte ihn trotzdem.

Walter Timm war ein boshafter Mittfünfziger mit einem Hang zum Zynismus, mit dem er jeden Schriftsteller ins Visier nahm, egal, ob Bestsellerautor oder einer unter ferner liefen.

Lissie wusste, dass sich Walter im Grunde selbst verachtete, wegen seiner Geschäftstüchtigkeit, die seiner Meinung nach eines Kulturschaffenden unwürdig war. Wie sehr ihn sein Erfolg beschämte, hatte er ihr eines Abends sturzbetrunken auseinandergesetzt, unmittelbar nach Veröffentlichung ihres ersten Romans. Sie war geschmeichelt gewesen, dass er, der bekannte Frankfurter Verleger, mit ihr zur Feier ihres großen Tages einen Scotch trinken wollte. Aus einem wurden fünf, und sie merkte schnell, dass er nur einen Vorwand gesucht hatte, um seinem verhassten Büro zu entfliehen.

Seitdem fühlte sich Lissie im Umgang mit ihm gehemmt und verlegen, obwohl sie davon überzeugt war, dass er sich nicht an diesen peinlichen Abend erinnerte.

»Hast du es schon gehört?«, fragte er statt einer Begrüßung.

»Ja«, sagte Lissie. »Tut mir sehr leid. Anna war eine großartige Schriftstellerin.« Was rede ich denn da, fragte sie sich.

»Ja, ja«, sagte Walter kurz angebunden. »Seit drei Wochen ist unser Herbstprogramm draußen, und die Buchhändler rennen uns die Bude ein mit Bestellungen für ihr neues Buch. Der Roman wird ein Bestseller, darauf kannst du Gift nehmen, vor allem jetzt, wo sie tot ist. Eine halbe Million Exemplare und mehr, und da sind die E-Books noch nicht mit drin. Das letzte Buch einer Kriminalautorin, die das schreckliche Schicksal ihrer Figuren erlitt.«

»Schäm dich, Walter«, sagte Lissie.

Walter Timm kicherte. »Der Heiligenschein steht dir nicht, Liselotte. Du würdest deine Seele verschachern, wenn dir das eine halbe Million verkaufte Exemplare von deinem nächsten Buch einbrächte.«

»War das der Grund deines Anrufs? Mich zu beleidigen?«, sagte Lissie spitz.

»Jetzt krieg dich wieder ein«, sagte Walter. »Wir haben Annas Manuskript nicht. Den Abgabetermin vor zwei Wochen hat sie sausen lassen, aber da klingelten im Lektorat noch keine Alarmglocken. Sie war ohnehin nie die Pünktlichste. Und jetzt ist sie tot, und keiner von uns weiß, wo sie das Zeug abgespeichert hat. Stell dir vor, der USB-Stick mit dem Buch geht in dem ganzen Durcheinander verloren, oder so ein Vollpfosten bei der Polizei beschlagnahmt die Datei. Ich kriege Zustände, wenn ich bloß daran denke.«

»Und was hab ich damit zu tun?«

»Mir ist ein Plan B eingefallen«, sagte Walter. »Nur für den Fall, dass ihr Buch nicht wiederauftaucht. Du bist doch eine Schnellschreiberin. Und du kennst dich in Südtirol aus.«

»Das ist nicht dein Ernst, oder? Du willst, dass ich den Ghostwriter spiele, und dann bringst du das Buch als ihr letztes Werk auf den Markt? Abgesehen von kleineren moralischen Bedenken – du kannst nicht ernsthaft annehmen, dass du mit dem Schwindel durchkommst. Ich schreibe komplett anders als Anna.«

»Komm schon, Lissie. Annas Stil ist etwa so schwer zu kopieren wie die Gelben Seiten. Zerbrich dir nicht meinen Kopf. Es geht hier nicht um den Pulitzerpreis. Es reicht vollkommen, wenn das Zeug einigermaßen lesbar wird. Der Roman wird so oder so ein Selbstläufer.«

»Worum geht’s da überhaupt?«

Walter seufzte. »Wenn ich das nur wüsste. Sie hat ein riesiges Geheimnis draus gemacht. Die Vorschautexte, die sie uns geliefert hat, sind eine Ansammlung von Allgemeinplätzen. ›Alte Schuld‹. ›Dunkles Geheimnis‹. ›Unheilvolle Verstrickung‹. Plattitüden vom Feinsten.«

»Walter, so sehen alle eure Programmtexte aus. Mit Geheimnis hat das nichts zu tun, bloß mit der Anpassung an euer Niveau.«

»Spar dir das, Liselotte. Außerdem ist es eh egal, um welches Thema es bei ihrem Buch geht. Such dir einen Plot aus. Am besten den mit dem geringsten Aufwand.«

»Und was ist mit meinem Projekt?«

»Was soll damit sein? Arbeite halt an zweien gleichzeitig. Die achthundert Seiten deines letzten waren ohnehin dreihundert zu viel. Fass dich kurz, dann wirst du mit beiden rechtzeitig fertig. Statt einem Wälzer schreibst du zwei Bücher mit je vierhundert Seiten, dann stimmt die Rechnung wieder. Dieser Umfang verkauft sich sowieso besser, und wir sparen Druckkosten.«

»Keine Chance«, sagte Lissie.

»Ich mache dein Buch zum Spitzentitel im Frühjahrsprogramm«, sagte Walter.

Einen kurzen Moment herrschte Stille in der Leitung.

»Soll das etwa ein Bestechungsversuch sein?«

»Wo denkst du hin? Ich glaube bloß, dass es gut in unser Programm passt. Ein Truman Capote wird zwar nicht aus dir, aber den braucht heute auch keiner mehr. Die ersten fünfzig Seiten, die du uns geschickt hast, sind ganz hübsch. Verschwundene Leute verkaufen sich immer.«

Lissie war perplex. »Du liest Manuskripte deiner Autoren?«

Sie hörte Walters Kichern. »Nur ausgewählte. Warum sollte ich meine Zeit mit Fast-Food-Literatur verschwenden?«

»Herzlichen Dank, dass du bei mir eine Ausnahme gemacht hast«, sagte Lissie, aber die Ironie war an Walter verschwendet.

»Also, was ist jetzt? Ich muss heute noch ein paar Bücher verlegen.«

»Ich will ein Werbebudget von hunderttausend Euro für mein neues Buch«, sagte Lissie. »Und du gibst den Buchhändlern sechzig Prozent Rabatt auf jedes Exemplar, wenn sie meinen Roman auf ihrem besten Büchertisch präsentieren.«

»Du bist ja wahnsinnig«, schrie Walter. »Willst du, dass ich Geld verbrenne? Denn dass das klar ist: Dein Buch wird nie und nimmer ein Bestseller. Muss ich es –«

»Walter. Stopp.«

»… dir buchstabieren? Ich streite nicht ab, dass du erzählen kannst, aber du schreibst viel zu kompliziert. Die Leute lesen heute Bücher eine Viertelstunde vor dem Einschlafen, falls sie nicht gerade twittern oder ihr Profilbild bei Facebook ändern. Die haben weder Zeit noch Geduld für deine Hakenschläge und endlosen Rückblenden. Schreib endlich geradeaus, nach vorn, und hör auf mit dem literarischen Brimborium. Vielleicht lasse ich mich dann dazu hinreißen, mehr Geld in die Hand zu nehmen.«

»Walter, du bist genauso phantasielos wie ein Buchhändler«, sagte Lissie. »Du siehst nicht weiter als bis zu deiner Nasenspitze. Es gibt nichts, was die Leute mehr schaudern lässt als wahre Verbrechen direkt vor ihrer Haustür, die nie geklärt wurden.« Sie unterbrach sich. »Ich habe jetzt keine Lust, dich zu bekehren. Entweder wir sind uns einig, oder du kannst Annas Buch selber schreiben.«

Walter Timm stöhnte. »Und ich dachte, mein alter Hund wäre dickköpfig und stur. Also gut. Ich erkundige mich bei der Polizei. Wenn sich das Manuskript nicht einfindet, sind wir im Geschäft.«

»Nicht ohne einen schriftlichen Vertrag über das Finanzielle«, sagte Lissie, aber Walter hatte bereits aufgelegt.

Lissie blieb einen Moment lang regungslos in der Diele stehen. Dann schob sie den Schlüssel mit dem Anhänger aus Rochenleder zurück in ihre Tasche und rannte zu ihrem Wagen. Mit einem Knall fiel die Tür hinter ihr zu.

***

Der Leihwagen war von der Hertz-Zentrale am Frankfurter Flughafen geliefert worden, auf die Minute pünktlich, in diese Einöde, an einem Sonntag. Nur die Deutschen brachten so etwas fertig.

Felder, auf denen der Weizen hoch stand, zogen an Pavarotti vorbei, abgelöst durch dichten Hochwald, durch den sich die kurvige Straße schlängelte.

Sein Navigationssystem zeigte ihm an, dass er sein Ziel in wenigen Minuten erreichen würde. Er passierte ein Ortsschild, auf dem stand: »Glashütten, fünf Kilometer«.

Das Gespräch mit Lissie war besser gelaufen als erwartet. Sie hatten sich wie zivilisierte Menschen unterhalten, keiner von ihnen war aus der Rolle gefallen. Sie hatte es vermieden, ihn mit Fragen über die Szene am Bahnhof zu löchern. Und er hatte seinen Zorn bezähmt.

Der glomm immer noch in ihm, auch nach Monaten, und er wusste nicht, was ihn mehr schmerzte: dass Lissie ihn niemals lieben würde oder die Erkenntnis, dass sie ihm die ganze Zeit etwas vorgemacht hatte.

Zum wiederholten Mal an diesem Tag nahm er sich vor, die Ermittlungen in Deutschland zügig abzuschließen. Die Unnachgiebigkeit, mit der er seine Müdigkeit ignorierte, hatte sich ausgezahlt. Die dringendsten Punkte waren bereits abgehakt, auch dank der deutschen Kriminalpolizei. Bald konnte er von hier verschwinden und diese Gegend, die ihm so zuwider war, hinter sich lassen.

Die Deutschen hatten nicht lange gefackelt. Das Anwesen der Santers in Glashütten war polizeilich abgesperrt. Emmenegger hatte den Leiter der zuständigen Mordkommission angerufen, während Pavarotti im Zug saß, und so erwartete ihn im Kommissariat von Bad Homburg, der nächsten größeren Ortschaft, bereits die Zustimmung der deutschen Polizei, dass er als Italiener auf deutschem Boden ermitteln durfte, natürlich unter der Bedingung, dass er die deutschen Kollegen auf dem Laufenden hielt.

Der deutsche Hauptkommissar, ein Mann namens Klaus Foliari, der einen italienischen Namen und deutsche Gründlichkeit besaß (die Großeltern waren in den fünfziger Jahren nach Deutschland ausgewandert), händigte ihm ein Dossier mit dem Hintergrund der beiden Toten aus.

Beide Toten hatten einen Studienabschluss in Mathematik gehabt. Lex Santers Mutter war zweimal verheiratet gewesen und wohnte heute allein in der Nähe von München. Sie war von den bayerischen Kollegen benachrichtigt worden.

Anna Santer, geborene Winterling, stammte aus Wien; von ihrer Familie lebte niemand mehr.

Das Dossier enthielt keine Anhaltspunkte für die Tat, ein Umstand, für den sich Foliari wortreich entschuldigte.

Von Bad Homburg aus war Pavarotti nach Ruppertshain gefahren, ein Dorf unweit von Königstein.

Julius Schaller bewohnte den gesamten obersten Stock in einem Flügel des sogenannten Zauberbergs in Ruppertshain, einer früheren, mittlerweile luxussanierten Lungenheilanstalt. Neben vermögenden Yuppies residierten dort inzwischen Rechtsanwaltskanzleien, Psychotherapiepraxen für gestresste Banker und Steuerberatungsfirmen.

Die Wohnung (umlaufende Terrasse und eigener Rooftop-Pool) war in Porzellantönen eingerichtet, viel Weiß und Creme, mit einer Spur Rosa und einem ganz hellen Türkis, einer Menge Sofas und Kissen und surrealistischen Bildern in Aluminiumrahmen. Pavarotti fand, dass es sich eher um die Wohnung einer Frau als die eines Mannes handelte, und er fragte sich, wer die Einrichtung ausgesucht hatte. Schaller war nicht verheiratet.

Der Mann begrüßte Pavarotti mit einem Händedruck, der eine Spur zu fest war. Es war ein Händedruck, der Bedeutsamkeit und das Wissen um den Ernst der Situation ausdrücken sollte.

Schaller war ein vierschrötiger Mann, dessen Beine im Vergleich zu seinem Körper zu kurz geraten waren. Wenn er sich setzte, entstand der Eindruck eines hochgewachsenen Menschen, wenn er aufstand, verwandelte er sich in einen gedrungenen Mann, eine Wirkung, die so verblüffend wie komisch war.

Allerdings sah Schaller nicht aus, als wäre mit ihm zu spaßen. Unter seinem Designer-Shirt zeichneten sich dicke Muskelstränge ab. Sein breiter Oberkörper verschlankte sich zur Taille hin, die so schmal war wie die einer Frau. Pavarotti fragte sich, welchen Leistungssport der Mann wohl in seiner Freizeit ausübte. Vielleicht boxte er. Wenn ja, dann war es bestimmt Kickboxen, ein Sport, in dem fast alles erlaubt war.

Julius Schaller war für den Verkauf von Lex Santers Fondsanalysen verantwortlich, was so viel hieß wie eine raffinierte Form der Erpressung.

Schaller versuchte erst gar nicht, das Geschäftsmodell von FONDSpot zu bemänteln. Seine Erklärungen klangen kalt und nüchtern, ungefähr so wie die Stimme der Meraner Gerichtsmedizinerin Sara Landers, wenn sie die Ergebnisse ihrer Sektion auf Tonband diktierte. Hin und wieder glaubte Pavarotti einen verächtlichen Ton herauszuhören.

Die Firma analysierte neben den eigentlichen Fonds auch die fachliche Kompetenz der Anbieter, und dieses Urteil über die Eignung, Finanzprodukte für Privatkunden anzubieten, floss in Santers Beurteilung der Produkte mit ein. Daran fand Pavarotti im Grunde nichts auszusetzen. Allerdings konnten diese Kompetenzurteile, anders als die Bewertungen der Produkte, nur unter Mithilfe der Analysekandidaten erstellt werden, und wer sich dagegen wehrte und nicht dafür bezahlen wollte, wurde mit einer niedrigen Punktzahl für fachliche Kompetenz bestraft.

»Lex hat immer gesagt, das lässt sich nicht anders machen. Ohne die erforderlichen Informationen sei er außerstande, gute Noten zu vergeben.«

»Die Fonds der Verweigerer erhalten ganz automatisch eine viel schlechtere Note als die anderen, die mitmachen und zahlen?«

»So ist es.«

Pavarotti hatte nicht geglaubt, dass sich seine Verachtung für die Methoden der Finanzindustrie noch steigern ließe.

Julius Schaller besaß ein Alibi für die Mordnacht. Er hatte an einer Veranstaltung der Fondsbranche in Mannheim teilgenommen. Pavarotti würde es natürlich überprüfen, hatte aber keinen Zweifel, dass sich das Alibi als hieb- und stichfest erweisen würde. Der Mann hatte kein Motiv für die Tat. Sein Partner, der Analyst, war das Herz der Firma gewesen, und ohne seine Arbeit und seinen Ruf gab es nichts mehr, was Schaller verkaufen konnte.

»Sobald alle wissen, dass Lex tot ist, verliert die Firma rapide an Wert«, sagte Schaller. »Ohne seinen Biss sind wir für die Haie da draußen kein ernst zu nehmender Gegner.«

Feinde? Nun, die hatte Lex Santer zweifellos reichlich gehabt. Dass Fondsgesellschaften nicht erfreut waren, wenn sich ihre Produkte aufgrund Santers Beurteilung schlecht verkauften, konnte sich Pavarotti lebhaft vorstellen. Eine Investmentgesellschaft hatte vor Kurzem eine Unterlassungsklage eingereicht, aber das schien Schaller nicht zu berühren. »Die werden vor Gericht den Kürzeren ziehen, wie alle anderen auch.«

FONDSpot hatte im Laufe des fünfjährigen Bestehens der Firma Hunderte schlechter Beurteilungen veröffentlicht. Das bedeutete eine Menge Mordmotive, und Pavarotti bat Schaller um eine Liste aller bewerteten Fonds und ihrer Anbieter.

»Na, da haben Sie sich ja einiges vorgenommen«, sagte Schaller. »Kommen Sie morgen Mittag in die Firma, gegen ein Uhr. Dann habe ich die komplette Übersicht auf dem Tisch. Aber wenn Sie mich fragen, ist das vergebene Liebesmüh. Ich kann nicht glauben, dass irgendein Trottel Lex bloß wegen einer schlechten Beurteilung umgebracht hat.«

Pavarotti hatte ebenfalls Zweifel, aber es war dennoch unumgänglich, die Unternehmen zu durchleuchten. Gottlob war seine Anwesenheit in Deutschland dazu nicht notwendig. Klaus Foliari und sein Team würden die Herkulesarbeit übernehmen.

Er bog nach rechts ab und passierte das Ortsschild von Glashütten.

***

Das Anwesen der Santers befand sich am Ortsrand von Glashütten, am Ende einer Sackgasse. Es lag auf einer kleinen Anhöhe unmittelbar am Waldrand.

Im Schutz eines dicken Baumstamms beobachtete Lissie das Haus. Es war totenstill. In den riesigen Fensterscheiben spiegelten sich die schwarzen Silhouetten der Fichten, und es wirkte so, als habe die Dunkelheit von dem Anwesen Besitz genommen.

Das Haus bestand praktisch nur aus Glasflächen, die mit schwarzen Holzbohlen und weißem Verputz zusammengehalten wurden. »Ich lebe in der Perversion eines Fachwerkhauses«, hatte Anna einmal gesagt. Sie sprach immer öfter von ihren Träumen, in denen sie in einem richtigen Fachwerkhaus wohnte, mit schiefen Wänden und einem krummen Giebel und ohne ihren Mann, der mit einer Welt außerhalb des Neunzig-Grad-Winkels nicht zurechtkommen würde.

Jetzt würde Annas Traum niemals wahr werden.

Das Auto von Annas Nachbarn stand unter einem Carport, ansonsten war die Straße leer.

Lissie hatte ihren Wagen wie immer auf einem Wanderparkplatz abgestellt. Sie hob den Feldstecher an die Augen. Nichts regte sich hinter den zugezogenen Vorhängen des Nachbarhauses auf der anderen Straßenseite, zu dem der Carport gehörte. Der Herr Professor, über den sich Anna mit Genuss lustig gemacht hatte, befand sich mit seiner jungen Frau auf einer Kreuzfahrt in die Südsee, die er sich nicht leisten konnte.

Lissie zog die Baseballkappe tief ins Gesicht und überquerte die wenigen Meter bis zur Grundstücksgrenze. Sie schritt zügig aus, aber nicht zu schnell. In dieser Gegend rannte außer Einbrechern niemand.

Sie öffnete die Gartentür auf der Rückseite des Grundstücks und stieg über das rot-weiße Absperrband, das akkurat um das gesamte Anwesen gespannt war. Den Schlüssel an der Schlaufe aus Rochenleder hatte sie bereits in der Hand, und das Schloss der kleinen Kellertür ließ sich geräuschlos öffnen. Anna hatte es eigenhändig geölt. Es war das einzige im Haus, das sich mit einem herkömmlichen Schlüssel öffnen ließ. Anna hatte darauf bestanden, weil sie dem ganzen elektronischen Klimbim nicht traute.

Lissie schlüpfte ins Haus.

Alles befand sich an seinem Platz, die Winterstiefel aufgereiht in einem Wandregal, die Türen der Waschmaschine und des Trockners halb geöffnet, wie es sich gehörte. Die Packungen und Flaschen mit Waschmitteln waren blitzsauber, ein Zustand, der üblicherweise nach der ersten Benutzung durch normale Sterbliche verschwindet. Hier jedoch waren die Flaschen sorgfältig abgewischt und auf Hochglanz poliert.

Der Deckel des Waschpulverkartons war exakt abgetrennt, die Kanten so messerscharf, dass man sich daran schneiden konnte. Kein Pulverkorn hatte sich auf die Ablagefläche verirrt, oder, Gott bewahre, auf den grauen, glänzenden Fliesenboden.

Die Putzfrau der Santers, die früher als Aufseherin im Frankfurter Gefängnis Klapperfeld gearbeitet hatte, bekam genaue Anweisungen von Lex Santer und hielt sich buchstabengetreu daran. Die Schirinka ließ sich nur mit dem Nachnamen anreden, ohne Frau, und sprach gerne von »säubern« statt von »putzen« und »sauber machen«.

Genauso wie Lex Santer konnte es ihr nie blank genug sein, und Anna hatte vermutet, dass sie den Stock oder Schlimmeres benutzt hatte, um die Ordnung im Gefängnis wiederherzustellen, falls es einer wagte, aus der Reihe zu tanzen.

Mehrfach hatte Anna versucht, die Frau loszuwerden, aber sie erreichte nur, dass die Schirinka sie noch mehr hasste.

Die Alte und Lex waren aneinandergekettet gewesen, als wären sie Mutter und Sohn.