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Spritziger Humor und herrlich originelle Figuren vor atemberaubender Südtiroler Kulisse. In Meran werden kurz nacheinander zwei tote Frauen gefunden. Ein Fall, der Ispettore Emmenegger und seine Kollegin Eva Marthaler unter Zugzwang setzt. Denn eine heiße Spur führt zu Emmeneggers bestem Freund, dem Wirt des bekanntesten Bierlokals in Meran. Unterstützt werden sie vom chaotisch-genialen Schauspielschüler Paul, der undercover in den Küchen der Südtiroler Gastronomie ermittelt. Nur dass er leider so gar keine Ahnung vom Kochen hat. Entsprechend turbulent geht es zu, bevor klar wird, wie die Morde mit einem zwanzig Jahre alten Kriminalfall zusammenhängen.
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Seitenzahl: 342
Veröffentlichungsjahr: 2025
Elisabeth Florin wuchs in Süddeutschland auf; ihre journalistische Laufbahn begann sie in den 1980er Jahren bei der RAI in Bozen. Von den Menschen in Südtirol und ihrer Geschichte fasziniert, verbringt sie seither viel Zeit in Meran und Umgebung, meistens in Begleitung ihres Mannes und ihres kleinen Hundes. Sie arbeitete fünfundzwanzig Jahre lang als Finanzjournalistin und Kommunikationsexpertin in Frankfurt am Main. www.elisabethflorin.de
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang finden sich Rezepte.
© 2025 Emons Verlag GmbH
Cäcilienstraße 48, 50667 Köln
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, unter Verwendung eines Motivs von mauritius images/Ingo Boelter
Lektorat: Carlos Westerkamp
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-271-0
Originalausgabe
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Restaurantkritiker sind gnadenlose Raubtiere.
Damals
Irgendwo im Hochgebirge der Texelgruppe. 2.000 m ü. M.
Frühwinter 2004
Alles hatte mitgespielt, nur das Wetter nicht.
Sie waren keine Viertelstunde aufgestiegen, da ging der Griesel in heftiges Schneetreiben über. Bald reichte ihnen der Schnee bis über die Knöchel. Der Wind heulte um ihre Ohren, und Eiskristalle peitschten ihnen ins Gesicht wie Pfeilspitzen. Die Motorradkluft hielt warm, und die Stiefel ließen kaum Feuchtigkeit durch. Aber durch den tiefen Schnee zu stapfen war irre anstrengend. Und es kam immer mehr von dem weißen Zeug runter.
Mittlerweile hatte sich auf ihren Rucksäcken eine Schneeschicht gebildet. Immer wieder blieben sie stehen, um sie abzuschütteln. Der Inhalt durfte auf keinen Fall nass werden.
»Konzentrier dich doch mal! Ständig bist du am Stolpern.«
»Diese Knarre ist schwer wie Blei. Am liebsten würde ich sie in die nächste Felsspalte schmeißen.«
»Denk lieber an den Blick von dem Typen, als du abgedrückt hast. Als er wusste, dass sein Gehirn gleich Matsch sein würde.«
»Ja, das war echt magisch. Wie er die Augen aufriss. Und dann der Kopf, wie der nach hinten gezuckt ist, als ihn die Kugel erwischte. Schade, dass es so schnell vorbei war.«
»Meinst du, er hat noch was gedacht, bevor ihm der Hinterkopf wegflog?«
»Dazu war keine Zeit mehr. Aber Schiss hatte der. Ich hab gesehen, dass er sich in die Hose gemacht hat, bevor er starb.«
Sie stießen sich an und prusteten.
»Bist du sicher, du findest die Hütte bei dem Wetter? Ist ja schon ’ne Weile her.«
»Vertrau mir. Es ist nicht mehr weit.«
Nach einer Viertelstunde schälte sich ein schwacher Umriss aus dem Schneegestöber.
In der Hütte war es dämmrig. Nur Schemen waren zu erkennen: eine Holzbank unterm Fenster. Der dunkle Kamin in der Ecke.
Sie schüttelten sich den Schnee von den Jacken und zogen ihre durchnässten Schuhe aus. »Hoffentlich ist noch Holz da. Wir müssen Feuer machen.«
»Schalt die Lampe ein. Ich will einen Blick drauf werfen.«
»Du bist nicht gescheit. Jemand könnte das Licht sehen.«
»Ach was. Kein Mensch ist hier, weit und breit.«
Gemeinsam zerrten sie die Rucksäcke in die Mitte der Stube. »Unglaublich, wie schwer die sind, wo es bloß …«
»Psst! Da war irgendwas.«
»Du spinnst. Was du hörst, ist der Blizzard.«
»Nein. Da war ein Brummen. Vielleicht ein Tier.«
Sie sahen sich an. »Scheiße, ein Bär?« Flüstern. »Der was zu fressen sucht.«
»Hier gibt’s schon lange keine mehr. Sei still.«
Jetzt hörten sie es beide. Einen Motor, der sich näherte.
»Rucksack zu. Beeilung!«
Der Motor erstarb. Stille.
»Verdammt, was machen wir jetzt?« Worte wie ein Hauch.
»Gib mir die Knarre.«
Und dann öffnete sich die Tür.
Zwanzig Jahre später
Tag 1 – Sport ist Mord
Auf dem Algunder Waalweg
5.Mai, frühmorgens
Während sie läuft, zieht Lisa die kleinen Ohrhörer aus den Ohren, die sie zu Hause eingesetzt hat. Heute fehlt ihr die rechte Lust auf Harry Styles, der von den Zeichen der Zeit singt. Stattdessen will sie das Zwitschern der Vögel und das Knirschen ihrer Nikes auf dem torfigen Boden hören.
Es ist früh am Morgen, ein paar Minuten vor halb acht. Außer Lisa ist kein Mensch unterwegs. Unter sich sieht sie ein paar ameisengroße Figuren, helle Flecken im Grün. Leute, die im Weinberg arbeiten.
Lisa lockert die Schultern, ihre Schritte beschleunigen sich. Sie ist auf dem Rückweg, jetzt kann sie noch einen Zahn zulegen.
Der Seiser-Alm-Halbmarathon ist im Juli. Langsam fühlt sich Lisa mental und körperlich fit. Zweimal die Woche läuft sie die gut zehn Kilometer. Ungefähr fünf sind es hinüber nach Gratsch unterhalb von Schloss Tirol, und dann noch einmal dieselbe Strecke zurück zum Ausgangspunkt in Plars, wo sie wohnt.
Der Algunder Waalweg ist ihr Übungsparcours. Mit seinen Ausblicken aufs Etschtal bietet er was fürs Auge, was die Anstrengung beim Laufen ein bisschen leichter macht.
Außerdem gibt es auf dem Weg, der durch Weinberge und Apfelfelder führt, viele schattige Abschnitte. Und das kleine Bächlein – der Waal, der früher zur Bewässerung benutzt wurde – gurgelt fröhlich neben ihr.
Plötzlich runzelt Lisa die Stirn. Da vorn, wo der Weg hinunter zur Straße führt, kommt er schon, der Tunnel.
Diese Stelle, wo ihre Laufstrecke in eine kurze Unterführung eintaucht, ist die einzige, die sie nicht leiden kann.
Wegen der Maueröffnungen, die wie Schießscharten aussehen, und der vereinzelten Lämpchen ist es gottlob nicht stockdunkel darin. Aber diese schläfrige Dämmerung und die im Halbdunkel schwebenden Staubteilchen geben ihr jedes Mal das Gefühl, in eine andere Welt geraten zu sein.
Es sind bloß um die fünfzig Meter. Nach kurzer Zeit scheint wieder die Sonne.
Irgendetwas stimmt nicht. Aus dem Tunnel hört Lisa ein Summen und Brummen. Ein Wespennest? Aber das hätte sie doch auf dem Hinweg …
Sie wird unwillkürlich langsamer.
Was ragt dort aus dem Tunnel? Ist das – ein Fuß?
Sie bleibt stehen. Das Summen wird lauter. Sie will nicht zum Eingang, doch irgendetwas zieht sie unaufhaltsam weiter.
Ihr Herz rast. Ihre Nackenhaare stellen sich auf. Plötzlich ist ihr kalt.
An dem Fuß steckt ein Schuh. Braun, ordentlich geschnürt, mit flachem Absatz. Der ist ein wenig abgetreten.
Lisa hält die Augen fest auf den Schuh gerichtet. Sie will um jeden Preis vermeiden, sich das Bein über dem Schuh anzusehen, den schwarzen Rock – und …
Da ist Blut. Auf dem Mauerwerk hinter der toten Frau. Oh Gott, es rinnt aus ihrem Mund. Ihre Augen starren Lisa an.
Die Frau – die Frau …
Irgendwer stöhnt auf. Lisa merkt, dass sie das selber ist.
Überall sind Fliegen. Sie sitzen in dem Blut und auf der Brust und dem Gesicht der Toten.
Eine davon landet auf Lisas Hand.
Ihre Beine geben nach.
Keuchend und würgend sinkt sie auf die Knie und erbricht sich in den Waal.
Es kommt Lisa vor wie eine Ewigkeit, bis sie endlich wieder denken kann. Mit zitternden Fingern tastet sie in der Innentasche ihrer Laufjacke nach dem Mobiltelefon.
Ein Bett wie ein Sarg
Meran, Kornplatz
8Uhr morgens
Mit wildem Blick sieht er sich um. Niemand da, der ihm helfen kann. Er kann die Beine nicht bewegen. Der schwarze Linoleumboden fühlt sich an wie Teer.
»Ich bin verloren«, flüstert Ispettore Emmenegger, Leiter der Meraner Mordkommission.
Eine Schrankwand kommt drohend auf ihn zu. Schwupps, sitzt er in einem Relaxsessel. Seine Beine kippen nach oben. Gleißendes Licht sticht in seine Augen. Um seine Arme schlängelt sich ein Elektrokabel.
Emmenegger zappelt, und mit jeder Bewegung wippt der Stuhl tiefer.
»Hilfe! Helft mir doch!«
Von weit weg hört er eine fremde Stimme: »Sie müssen auf den Knopf drücken! Den Knopf!«
Ein Ruck – der Sessel kippt nach vorn. Emmenegger landet unsanft mit dem Po auf dem Boden seines Schlafzimmers.
Benommen rappelt er sich auf. Das war schon der zweite Alptraum in Folge. Emmenegger wundert das kein bisschen.
Seine Freundin Eva Marthaler und er haben vor ein paar Tagen einem großen Einrichtungshaus in Burgstall einen Besuch abgestattet.
Eva hat zwar noch ihre kleine Wohnung, aber mittlerweile übernachtet sie meistens bei ihm. Und bestürmt ihn, seine alten Möbel auszumustern.
Emmenegger sieht sich in seinem Wohnzimmer um. Zugegeben, die Sessel aus braunem Leder kommen ein bisschen behäbig daher. Aber sie sind superbequem, was will man mehr?
Das Schlimmste ist Evas Feldzug gegen sein Bett. Na ja, es quietscht beim Umdrehen und bei anderen Sachen.
Eva hat sich so ein neumodisches Ding in den Kopf gesetzt.
»Bock-spring-Bett? Was hat so ein Vieh in meinem Schlafzimmer verloren?«
Und schon trällerte Herr Müller, dieser geschniegelte Verkäufer vom Möbelhaus Etschland: »In Boxspringbetten schläft man wie im Himmel!«
Emmenegger will aber nicht wie im Himmel schlafen. Dorthin kommt er noch früh genug.
»Viele berühmte Schauspieler besitzen solche Betten«, schwadronierte der Verkäufer über Emmeneggers Kopf hinweg. »George Clooney und seine Frau zum Beispiel, die ruhen in einem herrlichen Boxspringbett.« Es klang, als lägen die beiden in einem Sarg.
»Ich wette, Cary Grant hat auf einem ganz normalen Lattenrost geschlafen!«
»Cary Grant ist tot. Das hat er jetzt von seinem Lattenrost!«, trumpfte Eva auf.
Emmeneggers Handy klingelt. Während er zuhört, breitet sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus.
Der Möbelkauf wird länger warten müssen.
In manchen Fällen hat ein Mord auch was Positives.
Overkill
Algunder Waalweg, im Tunnel
9Uhr
»Mach dich auf was gefasst.« Emmenegger lenkt den Dienstwagen auf den Parkplatz am Eingang des Waalwegs. Da stehen bereits zwei Fahrzeuge der Spurensicherung und ein Krankenwagen. Er stellt den Motor ab. »Der Tatort ist wohl eine ziemliche Schweinerei.«
»Kopfschuss mit großem Kaliber, hab ich läuten hören.« Eva tut, als würde sie so was jeden Tag zu Gesicht bekommen. In Wirklichkeit ist ihr genauso mulmig zumute wie ihm.
Der Notruf ist bei der Carabinieri-Station Meran-Mitte eingegangen. Die Schilderung der Kollegen klingt nach einem speziellen Fall, außerhalb des Üblichen. Falls man einen Mord so bezeichnen kann.
Im Gehen blickt Emmenegger zu Eva hinüber. Ihre Locken hüpfen auf und ab, das rotblonde Haar sprüht Funken. Eva ist seit über drei Jahren die Frau seines Herzens. Und sie ist seine Kollegin und einzige Mitarbeiterin in der Meraner Mordkommission.
»Das Opfer ist eine ältere Frau.« Eva wird langsamer. »Der Mörder hat direkt vor ihr gestanden und ihr in den Kopf geschossen.«
Ihre blauen Augen suchen die seinen.
Sie sind allein auf der Strecke. Alle Eingänge zum Waalweg sind abgeriegelt.
Vogelgezwitscher. In den Obstbäumen rauscht ein leichter Sommerwind. Weinblätter rascheln leise. Und irgendeiner brüllt.
»Da vorn muss es sein. Ich hör ihn schon.«
Wie immer ist Arnold Kohlgruber, der Chef der Spurensicherung von Meran, schon von Weitem zu vernehmen. Seine lauthals erteilten Anweisungen kümmern allerdings keinen. Seine Mitarbeiter benehmen sich, als wären sie taub.
»Er klingt anders als sonst. Irgendwie gedämpft.«
»Vielleicht ist er heiser.«
Jetzt macht der Weg eine Biegung. Der Tunnel kommt in Sicht. Überall rot-weißes Absperrband, so straff festgezurrt, als wäre die Welt dadurch ein bisschen sicherer.
Ein Uniformierter tritt auf sie zu. »Frau Marthaler. Emmenegger. Mein Gott.« Carabiniere Pitti schüttelt den Kopf. Von seinem leicht amüsierten Tonfall ist heute nichts zu spüren. »Schreckliche Sache. Das ist nicht bloß Mord. Sondern eine verdammte Hinrichtung.«
»Wissen wir, wer die Tote ist?«
»Wir haben ihre Handtasche sichergestellt. Darin befand sich eine Geldbörse mit ihrem Ausweis. Maria Klagenfurth, wohnhaft in der Kallmünzgasse, geboren am 5. Mai 1964 in Meran.«
Ach du meine Güte. Die arme Frau hat heute Geburtstag, sogar einen runden. Den sechzigsten.
»Wer hat die Leiche gefunden?«
»Eine Joggerin. Die hat uns benachrichtigt. Jetzt sitzt sie in dem Krankenwagen auf dem Parkplatz. Sie steht unter Schock.« Pitti räuspert sich. »Die Leiche liegt am anderen Ende des Tunnels. Kohlgruber hat Holzplanken legen lassen. Auf die tretet bitte.«
***
Drinnen im Tunnel ist es gleißend hell. Das kalte Licht der Scheinwerfer sticht in die Augen. Leute in grünen Plastiküberzügen kauern auf dem Boden. Einer davon fischt mit einem Sieb nach irgendwas im Bach. Igor, Kohlgrubers rechte Hand. Ein Nicken zur Begrüßung.
Die Frau lehnt mit dem Oberkörper an der Wand. Die Mauer ist schwarz vor geronnenem Blut. Der Unterleib liegt im Waal. An der Bachkante sind Blutspritzer.
Genau in der Mitte zwischen den Augenbrauen ist ein kreisrundes Loch. Der Mund der Toten ist halb geöffnet. Zähne und Unterlippe blutverkrustet. Aufs Kinn ist Blut getropft.
Hinter sich hört er Eva husten. Er dreht sich zu ihr um. Ihr Gesicht ist blass.
Am liebsten würde er sie an den Schultern packen und von hier wegbringen. Wenn’s sein muss, zum Einrichtungshaus, Möbel kaufen.
»Alles in Ordnung, meine Liebe?« Die süffisante Stimme kennt jeder Polizist in Meran. Dr. Sara Landers, die Gerichtsmedizinerin, kniet neben der Toten auf einer Plane. Eva wirft der Frau einen bitterbösen Blick zu.
Die Landers ist wie immer elegant gekleidet, aber heute ist ihr dunkelgrauer Hosenanzug ein wenig zerknittert, und auf dem Kittel, den sie drüber trägt, sind Schmutzspuren.
»Aus kurzer Distanz mit einer großkalibrigen Waffe in den Kopf geschossen«, sagt Sara Landers im Aufstehen. »Zur Waffe kann Ihnen die Spurensicherung vermutlich mehr sagen. Am Hinterkopf befindet sich eine große Austrittswunde. Alles Weitere nach der Obduktion.«
»Wissen Sie schon, wann der Tod eingetreten ist?«
Sara Landers berührt den blutigen Kiefer der Toten. Die Geste wirkt seltsam sanft bei der Frau, die wegen ihrer kalten Augen und des unnahbaren Wesens im ganzen Polizeihaus den Spitznamen Eiskönigin trägt. »Die Leichenstarre hat gerade eingesetzt. Meiner Meinung nach ist sie höchstens zwei Stunden tot.«
Emmenegger betrachtet die Tote. Die geweiteten Augen sind starr und leblos, aber er bildet sich ein, Überraschung darin zu lesen.
Kurz geschnittene graue Haare. Stämmige Taille. Ein paar Pfund Übergewicht, auch an den Hüften.
Ein schwarzer Faltenrock, wahrscheinlich Kunstfaser. Feste Schnürschuhe aus Kunstleder, die bequem ausschauen. Die Strümpfe dunkel, drunter die Wülste von Krampfadern. Vielleicht ein Beruf, der mit viel Stehen verbunden war.
Die Oberarme, die aus den kurzen Ärmeln hervorschauen, sind muskulös. Aus dem Ausschnitt des sonnengelben Poloshirts lugt ein buntes Halstuch. Es wirkt neu, bis auf die Blutspritzer. Vielleicht ein Geburtstagsgeschenk. Wahrscheinlich war sie stolz darauf und konnte es gar nicht erwarten, den Schal vorzuführen …
Eva hat auch ein paar, aber die flattern lose im Wind, zusammen mit ihrem Haar. Das Tuch der Frau ist festgesteckt. Nicht einmal der Tod konnte es durcheinanderbringen.
Eine praktische, ordentliche Frau. Wahrscheinlich hatte sie nicht viel Phantasie. Aber auf jeden Fall eine, die die kleinen Dinge im Leben mochte – und fröhliche Farben liebte.
Vorsichtig greift Emmenegger nach der rechten Hand der Toten. Kein Ehering. Schwielen an den Handflächen. Sie hatte wohl kein leichtes Leben.
Die Finger sind schon steif. Emmenegger weiß selbst nicht recht, warum er sie kurz drückt.
Pitti ist herangetreten.
»Wo ist ihre Handtasche? Ich würde sie mir gern mal ansehen.«
Pitti verzieht den Mund. »Tut mir leid, daran hab ich nicht gedacht. Die Spusi hat sie eingetütet; sie ist schon auf dem Weg ins Labor.«
»War ein Handy drin?«
»Nein. Bloß der Geldbeutel und ihre Hausschlüssel. Äh – wegen dieser Joggerin, die sie gefunden hat. Die Sanis haben ihr eine Beruhigungsspritze gegeben. Ihr solltet jetzt gleich mit ihr sprechen.«
»Eva, könntest du das übernehmen?«
Ihre Augen werden schmal. Emmenegger sieht ihr hinterher, wie sie mit erhobenem Kopf davonstapft.
Jemand tippt ihm von hinten auf die Schulter. Arnold Kohlgruber, der Spusi-Chef, ist ein vierschrötiger Mann mit einem struppigen Haarschopf und einem Hang zum Drama.
»Ich kann dir sagen, womit wir’s hier zu tun haben. Hundertprozentig ein Jagdunfall.«
Emmenegger seufzt. Kohlgruber ist berüchtigt wegen seiner abstrusen Theorien zum Tathergang. Dass so was Aufgabe der Kripo ist und nicht die seine, ist ihm wurscht.
»Der halbe Hinterkopf ist weg. Die Munition wahrscheinlich .44er Magnum. Das war eine Jagdwaffe. Irgendein Depp war auf Hasenjagd und hat falsch gezielt.«
»Jetzt hot’s di, Kohlgruber. Wieso sollte einer mit so einem Ding auf einen Hasen schießen wollen? Von dem Tier würde kaum was übrig bleiben.«
»Ich sag ja, das war ein Depp. Ein junger Kerl halt, wahrscheinlich so ein Freizeit-Wilderer.«
»Das war doch kein Versehen! Der Schütze muss direkt vor der Frau gestanden haben.«
»Vielleicht war er zeitweilig wirr im Kopf.«
»Verwirrt, aha. Er will also dem Hasen eins aufs Fell brennen. Der sich plötzlich in eine Frau verwandelt.«
»Jesses, dir kann man wieder mal nix recht machen.« Frustriert wirft Kohlgruber die Arme hoch und kollidiert dabei beinahe mit der Tatortbeleuchtung. »Du kannst dich ja dann entschuldigen, wenn ihr den Wilderer habt.« Und weg ist er.
***
Während Eva Richtung Parkplatz läuft, versucht sie sich zu beruhigen. Um ein Haar hätte sie sich vorhin übergeben und den Tatort versaut.
Es war nicht das viele Blut, was ihr zugesetzt hat. Da war eine Präsenz in dem Tunnel gewesen, die sie hatte schaudern lassen. Etwas sehr Böses.
Ein guter Freund fällt ihr ein, Schauspieler am Meraner Stadttheater. Er hätte es auch gespürt.
Emmi gegenüber wird sie es auf keinen Fall erwähnen. »Deine Phantasie geht wieder mal mit dir durch, Eva Marthaler«, flüstert sie durch die Zähne.
Seit ein paar Monaten ist ihre Beziehung ein bisschen angespannt. Emmi neckt sie nicht mehr so oft. Und auch Evas Herz ist schwer.
Eigentlich wollten sie heiraten. Doch dann hat der Polizeichef durchblicken lassen, dass er ein Ehepaar als Ermittlerteam nicht akzeptieren kann. Eva liebt Emmi, aber sie kann sich nicht vorstellen, die Polizeiarbeit aufzugeben. Ihm geht es genauso. Es gibt derzeit keine freien Stellen außerhalb der Meraner Mordkommission, die in Frage kämen.
Einer offenen Aussprache weichen sie beide aus. Erst mal liegen die Hochzeitspläne auf Eis.
Eins von Evas Prinzipien: Wenn man sich ein Herz fasst und die Dinge anpackt, findet sich ein Ausweg. Aber diesmal will ihr partout nichts einfallen, was dem lähmenden Warten ein Ende setzt.
Eva denkt wieder an das Etwas im Tunnel.
Irgendwas Schlimmes bahnt sich an.
Auf dem Parkplatz an der Töllgrabenbrücke vertreten sich zwei Sanitäter die Beine und rauchen.
Auf dem Beifahrersitz kauert eine junge Frau in einer rosa Jogginghose und einem bauchfreien Top. Die Wolldecke, die über ihrem Schoß liegt, umklammert sie so fest, dass die Knöchel weiß hervortreten.
Ihr Gesicht ist zart. Aber da ist etwas in ihrer Miene, das nicht ganz zu dem kindlichen Äußeren passt.
»Hallo. Sind Sie Lisa Sobriner?«
Die junge Frau antwortet nicht.
»Mein Name ist Eva Marthaler. Ich bin von der Kriminalpolizei. Können Sie mich verstehen?«
Wieder keine Reaktion. Das Beruhigungsmittel wirkt bereits. Heute ist das wohl Zeitverschwendung.
Eva will gerade gehen, da hört sie, wie die Frau flüstert: »Zuerst war es – als wäre es nicht real. Verstehen Sie?«
Eva rutscht auf den Sitz neben der Frau.
»Es war wie im Horrorfilm. Die tote Frau – das Blut – aber das war ja echtes, und dann … dann …«
»Dann wurde es noch viel schlimmer«, sagt Eva. »Ich weiß.«
Die Frau hebt den Kopf. »Sie sind von der Polizei?«
»Ich heiße Marthaler«, nickt Eva. »Polizia di Stato, Meran. Ich weiß, es ist kein guter Zeitpunkt. Sie haben einen schlimmen Schock erlitten. Könnten Sie mir trotzdem kurz erzählen, wie es war, bevor Sie die Tote gefunden haben? Ihre Aussage ist extrem wichtig für uns.«
Lisa Sobriner beißt auf ihre Fingerknöchel. Ihre Augen sind voller Tränen. »Ich kann nicht. Nicht noch mal. Bitte …«
Eva nimmt die Hand der jungen Frau. »Blenden Sie es aus. Konzentrieren Sie sich auf die Zeit davor. Auf Ihren Lauf. Sie können das.«
Lisa stößt einen kurzen, zittrigen Seufzer aus und zieht den Kopf ein. So wie es Hilde, Emmis Hündin, manchmal macht, wenn sie schreckliche Angst vor irgendwas hat.
Eva legt ihr den Arm um die Schulter. Zwischen ihnen liegen nicht mal zehn Jahre. »Jetzt kann Ihnen nichts mehr passieren. Versuchen Sie es einfach.«
»Ich …« Lisa schaudert. »Anfangs war alles wie sonst. Ich bin heute Morgen wie immer losgelaufen. Hätte ich das nur nicht –«
»Wann war das?«
»Um halb sieben. Ich lauf jeden Tag um dieselbe Zeit«, sagt Lisa. Ihre Stimme ist jetzt fester.
Ihre Arbeit in einem Supermarkt in Algund fängt um neun Uhr an. »Es macht mir nichts aus, früh aufzustehen. Das war schon immer so.« Das kleine Lächeln ist so schnell wieder verschwunden, wie es gekommen ist.
»War sonst jemand da außer Ihnen? Ein Auto vielleicht?«
»Kein Auto. Der Parkplatz war leer.« Lisa überlegt kurz. »Da lehnte ein Rad im Gebüsch. Es fiel mir auf, weil es vollkommen schwarz war. Die Speichen, sogar die Klingel.«
Schwarze Räder sieht man gelegentlich. Trotzdem richten sich die Härchen auf Evas Unterarmen auf. So ein Rad kennt sie. Sie wehrt die Vorahnung ab. Der Gedanke ist absurd.
»Wie ging es weiter?«
Um ihre Zeit zu stoppen, sah Lisa während ihres Laufs immer wieder auf die Uhr. Um sechs Uhr dreiunddreißig kam sie das erste Mal an der Stelle vorbei. Alles war in bester Ordnung.
Sie lief bis zur Hängebrücke unterhalb von Schloss Tirol in der Nähe der Ortschaft Gratsch. Dort machte sie ein paar Lockerungsübungen. Es war fünf nach sieben Uhr, als sie umkehrte und dieselbe Strecke wieder zurückrannte. Und dann … Lisa vergräbt ihr Gesicht in den Händen.
»Wann haben Sie die Leiche gefunden?«, will Eva wissen.
Lisa Sobriner schüttelt den Kopf. »Ich weiß nicht genau. Ich war einfach – mir war so schlecht. Am ganzen Leib hab ich gezittert …«
»Haben Sie in dem Tunnel irgendjemand gesehen? War da vielleicht ein Geräusch?«, forscht Eva weiter.
»Ich weiß nicht. Ich glaube nicht. Oh Gott, ich hatte solche Angst …«
»Vorher, als Sie gelaufen sind. Sind Sie da jemandem begegnet oder haben etwas gehört?«
»Nicht auf dem Hinweg. Da bin ich niemandem begegnet. Aber auf dem Rückweg, ich hatte ungefähr die Hälfte der Strecke geschafft, da hab ich Hundegebell gehört. Kurze Zeit später traf ich auf den Hund. Er kläffte irgendwas im Gebüsch an. Bei ihm war ein junger Mann in schwarzen Klamotten, der versuchte ihn weiterzuziehen, aber dieser hässliche Hund hörte nicht auf ihn.«
»Ein junger … Mann … Hund?«, stammelt Eva. Ihre Stimme hört sich fremd an.
Schwarzes Rad. Schwarze Klamotten. Hässlicher Hund.
Die Kombination gibt es bloß einmal.
Der Hund ist eine Hündin. Sie heißt Hilde und gehört Emmi. Allerdings hat Hilde außer Emmenegger noch ein Herrchen. Und das trägt schwarze Klamotten.
»Er war Mitte zwanzig oder so. Groß und ziemlich dünn.« Lisa gähnt. Die Spritze tut ihre Wirkung.
»Danke, Frau Sobriner. Der Krankenwagen fährt Sie jetzt nach Hause, damit Sie sich erholen können.«
Als die Sanis mit Lisa vom Parkplatz rollen, setzt sich Eva in Bewegung. Erst hastet sie. Dann rennt sie. Immer schneller.
***
Emmenegger späht Richtung Parkplatz. Wo bleibt Eva so lange?
»Wann ging der Notruf der Joggerin bei euch ein?«
Pitti checkt seine Notizen. »Um sieben Uhr sechsundvierzig.«
Emmenegger wendet sich an Sara Landers, die gerade zusammenpackt. »Können Sie die Tatzeit näher eingrenzen?«
»Dem Zustand der Leiche nach trat der Tod nicht früher als halb acht und nicht später als halb neun ein.«
Also zwischen halb acht und dem Notruf um Viertel vor acht.
»Wenn Sie mich nach meiner persönlichen Erfahrung fragen, würde ich den Mordzeitpunkt kurz vor der Auffindung ansetzen.« Die Gerichtsmedizinerin schnappt sich ihre Tasche. »Sie haben meinen Bericht heute Nachmittag in Ihrer E-Mail.« Sie rauscht von dannen.
Emmenegger wundert sich. Normalerweise muss er um jedes Fitzelchen Information betteln. Sollte die Eiskönigin mit Mitte vierzig altersmilde werden?
»Ich hab gerade einen Typen abgefangen, der mit seiner Kamera aus den Büschen kroch.« Igor Kroner, Schusswaffenspezialist und Kohlgrubers Stellvertreter, hat die Gabe, sich unbemerkt anzuschleichen. »Hier. Seine Karte. Du sollst ihn anrufen, Emmenegger.« Igor verzieht das Gesicht. »Ich würde das nicht machen. Ein Ohrfeigengesicht, wenn ich je eins gesehen hab.«
Auf der Karte steht: »Magnus Braunhofer, Der Südtiroler, Lokalredaktion«. Emmenegger kennt den Mann besser, als ihm lieb ist. Ein Sensationsjournalist der schlimmsten Sorte.
»Der Kerl kriegt von mir nicht mal das Schwarze unter meinen Fingernägeln.«
Igor nickt wortlos und will sich umdrehen, aber Emmenegger hält ihn zurück. »Hast du schon was zu der Waffe?«
Der andere zögert. »Du weißt doch, der Chef hat den Daumen auf den Infos.«
»Igor, komm schon. So lange kann ich nicht warten.«
»Tja, die Kugel ist durch den Hinterkopf ausgetreten. Trotzdem haben wir das Projektil nicht gefunden, auch die Hülse nicht. Wahrscheinlich ist beides in den Waal gefallen, und der hat alles fortgespült. Nach meiner persönlichen Meinung, wenn ich mir die Wunde so anschaue, war die Patrone eine .44er Remington Magnum.«
Kohlgruber hat vorhin dasselbe gesagt.
.44er Magnum ist eine der stärksten Munitionen, die man mit einer Handfeuerwaffe abfeuern kann. Mit dem Kaliber kann man einem Menschen mir nichts, dir nichts den Kopf wegpusten. Es gibt nicht allzu viele Pistolen, die dafür in Frage kommen. Jede ist groß und schwer.
»Wer läuft mit so einem Schießprügel durch die Gegend?«
Igor zuckt die Achseln. »Jäger benutzen so was für den Fangschuss, zum Beispiel, um Wildschweine zu töten. Wenn die schwer verletzt sind, können sie sehr gefährlich sein. Da musst du mit einem einzigen Schuss ein Ende machen.«
»Dein Chef hat von Hasen gesprochen.«
Igor tippt sich an die Stirn, dann läuft er knallrot an und schaut weg. »Bist du fertig? Können wir die Leiche wegbringen lassen?«
»Ja.«
Da kommt Eva um die Ecke geschossen, weiß im Gesicht.
»Was ist los?«, fragt er, als sie schwer atmend vor ihm anhält.
»Nicht hier«, flüstert sie.
Paul spielt Komödie
Kornplatz, Mordkommission
Eine halbe Stunde später
»Paul und Hilde am Tatort.« Emmenegger geht zur Tür. Schließt sie, lehnt sich dagegen. »Diese Zeugin muss sich irren.«
Paul Tschugg ist der Freund, an den Eva heute kurz gedacht hat. Mit seinem Talent stellt der junge Schauspieler all seine Kollegen am Meraner Stadttheater in den Schatten. Darüber hinaus ist er der liebste, verrückteste Kerl, den es auf der Welt gibt.
Dass sich seine wunderlichen Ideen normalerweise in Grenzen halten, verdankt er der Schauspielerei. Sie ist Medizin für Pauls unsteten Geist. Wenn sie nicht zur Verfügung steht, wird er unruhig und verlegt das Drama ins wirkliche Leben.
Zurzeit ist das Stadttheater wegen Renovierung geschlossen. Und Paul befindet sich in einem Schwebezustand, ein Raumschiff ohne Kontakt zur Basisstation.
In dieser Lage kann nur noch eine helfen: die Hündin Hilde.
Paul und Hilde sind zwei gestrandete Seelen. Die Wilde Hilde, wie Freunde sie nennen, hat Emmenegger von einem Mordopfer übernommen. Seither sind sie und Paul ineinander vernarrt.
»Wir behalten die Zeugenaussage für uns, bis wir mit ihm geredet haben.«
»Es war eine offizielle Aussage, die in die Mordakte muss«, gibt Eva zu bedenken. »Wenn Lisa Sobriner mit einem Carabiniere darüber redet, haben wir ein Riesenproblem.«
»Ich ruf Paul an.«
Nach ein paarmal Klingeln ertönt das Besetztzeichen. »Er hat mich weggedrückt.« Emmenegger seufzt. »Irgendwas ist im Busch. Er weicht mir schon seit Tagen aus.«
»Du glaubst doch nicht ernsthaft …?«
»Unsinn.«
»Vielleicht hab ich mehr Glück.« Eva.
Nach dem ersten Läuten flötet eine Stimme aus dem Hörer: »Die Leichenhalle ist geschlossen. Es ist Mittagszeit!«
»Paul, wo steckst du?«
Kichern. »Schaut mal nach draußen!«
Emmenegger stürmt zum Fenster.
Unten auf dem Kornplatz hat sich eine Menschentraube gebildet. In ihrem Mittelpunkt, auf zwei aufeinandergestapelten Holzpaletten: Paul und eine junge Frau.
Die Leute lachen und klatschen. Anscheinend ist da unten eine Szene aus einer Komödie im Gange.
Das Mädchen linst immer wieder auf einen Zettel. »Das ist die, die keinen Text behalten kann«, sagt Emmenegger. Seit Jahren besteht eines von Pauls Projekten darin, die junge Frau vor dem Rausschmiss aus dem Ensemble zu bewahren.
Beifall brandet auf. Paul winkt seinen Fans zu, dann springt er von der provisorischen Bühne. Der Mann vom Obststand an der Ecke, dem die Paletten gehören, kommt strahlend und applaudierend auf ihn zu.
Alle lieben Paul.
***
Ein paar Minuten später spaziert der junge Mann ins Kommissariat. In seinem Schlepptau: Hilde, struppig wie eh und je. Der Hut voller Scheine ragt aus ihrem Maul. Das Kunststückchen hat Paul ihr beigebracht, bei dem letzten großen Mordfall, in den er involviert war.
Er wirft Eva eine Kusshand zu. Emmenegger erntet das amüsierte Lächeln eines Weltenbummlers. Auftritt des talentierten Mister Ripley von Patricia Highsmith.
Nonchalant schlendert Paul durchs Zimmer, setzt sich auf Emmeneggers Bürostuhl und schlägt die Beine übereinander.
Emmenegger mustert sein Outfit. Heute sind es schwarze, weit geschnittene Hosen mit Bundfalte, ein schwarzes Hemd und eine schmale Lederkrawatte gleicher Farbe. Bei jedem anderen in Pauls Alter wäre diese Kombination der schnellste Weg in die soziale Vereinsamung.
Hilde fläzt sich neben ihn auf den Fußboden. Ihr Kopf sinkt auf ihre Pfoten. Der Hut kippt um. Ein Windstoß lässt die Scheine durchs Zimmer flattern. Plötzlich hat Emmenegger das Gefühl, in eine Räuberpistole geraten zu sein.
»Ich hatte einen wundervollen Vormittag, Freunde«, flötet Paul.
»Wir hatten eine Leiche.«
»Etwa zum Dessert?« Paul zeigt auf Emmenegger und sagt mit Fistelstimme: »Sie haben da ein Einschussloch im Rücken, mein Guter.«
»Jetzt lass mal die Faxen. Was wir außerdem haben, sind ein schwarz gekleideter Mann Mitte zwanzig und ein Hund, die am Tatort gesehen wurden.« Er beugt sich vor. »Was hattet ihr beiden heute Morgen auf dem Algunder Waalweg zu suchen?«
Paul tut, was er immer macht, wenn er sich in die Enge getrieben fühlt. Er flüchtet sich in eine Rolle.
»Ach daaas.« Der talentierte Mister Ripley inspiziert seine Fingernägel. »Ich kann mich gar nicht recht erinnern, wo ich war, weißt du?«
Emmenegger ist wieder mal sprachlos.
»Natürlich hast du nichts mit dem Mord zu tun«, schaltet sich Eva ein. »Aber wir müssen wissen, was du gesehen hast.«
»Das würde ich euch ja zu gern sagen.« Bedauernd hebt Paul die Schultern. »Aber ich schlafwandle in letzter Zeit. Es passiert meistens so gegen sieben Uhr morgens. Sehr lästige Sache, das.«
»Mit dem Schmarren kommst du nicht durch. Du bleibst so lange hier, bis du mit der Wahrheit rausrückst.«
»Jetzt droht er mir«, erklärt Paul der Wand.
»Das siehst du ganz richtig! Notfalls stecke ich dich in eine Zelle, bis du zur Vernunft kommst!«
»Emmi, hör auf«, sagt Eva leise.
»Das ist ja nicht zum Aushalten.« Verdrossen stemmt sich Paul vom Stuhl hoch. »Komm, Hilde, wir gehen.« Gehorsam tappt Hilde zur Tür.
»Hiergeblieben!«
»Verhafte mich doch, alter Mann.«
Und schon sind sie verschwunden.
Emmenegger reißt die Tür auf. Der Flur ist wie ausgestorben. Er sprintet zum Fenster. Der Kornplatz ist ebenfalls leer, bis auf zwei Feriengäste, die sich über einen Stadtplan beugen.
»Paul. Um sieben Uhr morgens irgendwo draußen.« Emmenegger lässt sich auf seinen Stuhl fallen. Der frühe Morgen ist gar nicht Pauls Zeit. »Hat es vielleicht mit dem Theater zu tun?«
»Das hat doch zu.«
»Das ist es ja. Er hat diese irrationale Angst, dass es nie wieder aufmacht.« Vergeblich hatte Emmenegger versucht, Paul zu beruhigen. »In drei Monaten sind die neuen Wasserleitungen gelegt, und zur Wintersaison läuft alles wieder normal.«
»Ach, Pläne«, hatte Paul wegwerfend erwidert, mit einem Ton, als habe er schon zigtausend Bauvorhaben scheitern sehen.
»Ich glaube eher, er schützt jemanden.« Eva.
Möglich. Für seine Freunde würde Paul fast alles tun. Für sie lügen? Klar, wo ist das Problem?
»Ich werde nie verstehen, was in dem Jungen vorgeht«, seufzt Emmenegger. So oft hat er Paul schon aus der Klemme geholfen. Warum vertraut er ihm nicht?
Eva liest seine Gedanken. »Sei nicht enttäuscht, Emmi. Lass ihm Zeit.«
Sie holt ein Flipchart aus einem Aktenschrank und stellt es auf. »Komm, wir fassen mal zusammen.«
In der letzten Stunde ist ein bisschen mehr über das Opfer hereingekommen.
Maria Klagenfurth, sechzig Jahre alt, war Kellnerin. Ihre letzte Festanstellung hatte sie in einem Restaurant in Meran. Das Kesser’s, Laubengasse 15.
»Ich finde den Namen im Restaurantführer nicht. Ich glaube, das Lokal gibt es nicht mehr.«
»Eine Kellnerin«, sagt Emmenegger langsam. Wieso schießt jemand einer harmlosen, hart arbeitenden Frau eine Kugel in den Kopf?
»Laubengasse 15.« Eva zupft an ihrer Lippe. »Ich weiß, wo das ist. Da ist jetzt ein anderes Restaurant. Warte mal.« Sie tippt auf ihrem Handy herum. »Ah, hier. Das Ossobuco. Davon hab ich schon gehört. Keine Sterne, aber nahe dran. Ins Ossobuco wollte ich immer schon mal.«
Emmenegger stöhnt.
Das Getue, das Leute um Restaurants veranstalten, nervt ihn. Essen soll gut schmecken und satt machen. Kein vernünftiger Mensch gibt ein Schweinegeld für drei Salatblätter und ein Stück Fleisch aus, das so dünn ist, dass man durchgucken kann. So was kommt noch früh genug auf den Teller, wenn er keine Zähne und keinen Appetit mehr hat.
»Dafür bin ich nicht der Richtige, meine Süße. Geh mit deinen Eltern hin.«
Eva zieht eine Schnute. »Das wollte ich ja. Aber Paps ist störrisch wie ein alter Maulesel. Keinesfalls schmeißt er solchen Lokalen sein sauer verdientes Geld in den Rachen, sagt er. Ein Schnitzel soll nach Schnitzel schmecken und nicht nach Sushi. Und dass die Küche kein Versuchslabor wäre. Er findet es eklig, wenn man Nahrungsmittel zerlegt und anders wieder zusammensetzt. Paps ist halt altmodisch, du kennst ihn ja.«
Ein warmes Gefühl steigt in Emmenegger auf. Gleich findet er Evas alten Herrn, mit dem er inzwischen eh gut klarkommt, noch sympathischer.
Aber weil Eva so enttäuscht guckt: »Wir reden später in Ruhe drüber, Süße. In dem Ossobuco hat die Tote keine Anstellung mehr gehabt?«
»Offenbar nicht.«
»Ich frage mich, was eine Kellnerin um die Zeit auf dem Waalweg gewollt hat.«
»Bestimmt war sie mit jemandem verabredet.«
»Und wie kam sie dahin? Unter ihrem Namen ist kein Auto registriert.«
»Wahrscheinlich mit dem Bus.«
»Könntest du das überprüfen?«
Eva nickt. »Ich skizziere mal den Zeitablauf.«
Emmenegger atmet langsam aus.
Lisa Sobriner lief um kurz nach halb sieben Uhr am Parkplatz los. Sie erreichte den Tunnel, der ungefähr einen halben Kilometer vom Ausgangspunkt entfernt ist, ein paar Minuten später. Von Maria Klagenfurth oder einer anderen Person keine Spur.
Um sieben hatte die Frau die Ortschaft Gratsch unterhalb von Schloss Tirol erreicht und nach ein paar Aufwärmübungen kehrtgemacht.
Eva zeichnet ein Streckenprofil auf das Flipchart. »Ihren Angaben nach ist ihr auf dem Rückweg der Schwarzgekleidete mit Hund – also Paul samt Hilde – entgegengekommen. Das muss, grob geschätzt, gegen sieben Uhr fünfzehn gewesen sein. Die nächste Zeitangabe, die wir haben, ist sieben Uhr und sechsundvierzig Minuten. Lisas Anruf bei den Carabinieri.«
Emmenegger rechnet. »Die Frau hat fünfundzwanzig Minuten für den Hinweg gebraucht. Und für den kürzeren Rückweg bis zum Tunnel vierzig Minuten? Da stimmt was nicht.«
»Sie hat mir erklärt, dass sie nicht gleich angerufen hat. Sie konnte nicht klar denken. Ihr war schlecht.«
»Glaubst du ihr?«
»Irgendwas war komisch.« Eva, nachdenklich. »Zuerst redete sie ziemlich konfus. Es kann am Schock gelegen haben, aber auf mich wirkte sie eher nervös als geschockt. Auf jeden Fall sollten wir uns bei der Spurensicherung erkundigen, ob Erbrochenes am Tatort gefunden wurde.«
»Sie könnte es getan haben.« Emmenegger. »Um halb acht trifft Lisa Sobriner am Tunnel ein. Sie tötet Maria Klagenfurth, vergräbt die Pistole irgendwo im Wald und alarmiert die Polizei.«
»Die Frau war im Laufdress. Sie hätte die Waffe unmöglich am Körper verstecken können. Vielleicht hat Paul gesehen, ob sie irgendwas bei sich trug.«
Emmenegger schlägt mit der Faust auf den Tisch. »Der Junge muss mit uns reden! Wie kann ein erwachsener Mensch so bockig sein?«
In Emmeneggers Tasche brummt etwas.
Die Handynummer auf dem Display ist die von Claudio Branga. Emmenegger stöhnt, dann drückt er den Anruf weg. Wahrscheinlich will der Polizeichef wieder irgendwas auf Instagram posten, was die Volksseele beruhigen soll. Oder – Gott bewahre – ein Reel mit Emmenegger drehen: »Hallo, ihr Lieben, Sie sehen hier meinen besten Mann, wie er gerade vor sich hin ermittelt.«
Der Chef ist in Ordnung, hat aber ein Händchen dafür, einem Menschen die Zeit zu stehlen.
Es summt wieder. Diesmal ist es der Anschluss des Forsterbräu.
Der Pächter des Traditionslokals auf der Meraner Freiheitsstraße ist ein guter Freund. Seinen Namen Erwin Rudolf benutzen bloß Fremde. Für Eva, Emmenegger und die Kumpel aus seinem Motorradclub ist Erwin »der Dude«.
Aus dem Hörer dringen undefinierbare Geräusche. Ein Rotzen und Schniefen.
»Du, jetzt ist es wirklich ganz schlecht. Ich hab eine frische Leiche, um die ich mich kümmern muss.«
»Das is es ja.« Der Dude schnäuzt sich laut. »So oane hab ich auch.«
Der Kellnerinnen-Killer
Freiheitsstraße
12Uhr mittags
Auf der Freiheitsstraße herrscht geschäftiges Treiben. Draußen vor den Bars und Cafés sitzen Feriengäste einträchtig neben Angestellten der Cassa Popolare und schlürfen Cappuccino und Aperol Spritz. Vor der Theke der Cafeteria Erb, auf der sich Semmeln mit Schweinebraten, Schinken und anderen Köstlichkeiten stapeln, hat sich eine Schlange gebildet.
Auch das Forsterbräu ist so ein Besuchermagnet. Normalerweise. Heute steht der Dude vor der Tür und schickt die Leute weg. »Bei uns geht heut nix. Gehts woanders hin.«
»Wieso denn? Des hot’s ja no nia gebn«, murrt ein einheimischer Stammgast.
»Oanmol isch immer das erste Mol.« Der Dude fährt sich übers Gesicht. Er ist ein bedächtiger Mann, ihn bringt so leicht nichts aus der Ruhe. Heute sind seine Augen geschwollen, die Haut fahl. Er sieht zehn Jahre älter aus als Mitte fünfzig.
Der Dude ist Eva der liebste von Emmeneggers alten Kumpanen aus dem Motorradclub. Sie hätte ihn gern gedrückt, aber das muss bis später warten.
»Da seids ja endlich. Bloß ihr … zwoa? Wo sind die Leut von der Spurensicherung?«
»Die waren bis eben in Algund beschäftigt. Schauen wir doch erst mal, womit wir’s zu tun haben.«
»Das hab ich dir doch schon alles am Telefon gesagt, Emmi. In meinem Kühlraum liegt a Leich«, antwortet der Dude mit Grabesstimme.
»Weißt du, wer es ist?«
Der Dude nickt. »Eine unserer Kellnerinnen. Bettina Sandvoss heißt sie. Noch a junges Ding. Nicht mal dreißig.«
»Hast du den Notarzt geholt?«
»Wozu denn? Das Madl war steif gefroren. Da war nix mehr zu machen.« Tief betrübt schüttelt er den Kopf.
Im Kellergeschoss des Forsterbräu ist es feucht und zugig. Eva fröstelt. Hier unten war sie noch nie.
Die Tür zum Kühlraum liegt in einer schlecht beleuchteten Nische hinter der Treppe, die hinauf zum Hintereingang und zum Gastgarten führt. Die Stahltür ist massiv, mit einem schwarzen Außenhebel.
»Ich hätt die Tina am liebsten rausgezogen. Aber dann dacht ich, ich lass besser alles so, wie es ist.« Der Dude lässt den Kopf hängen. »Die Kält macht ihr ja nix mehr aus.«
Er steckt einen Schlüssel ins Schloss und dreht den Hebel.
Die junge Frau kauert neben der Tür. Ihr Kopf lehnt an einem Eisenregal mit eingeschweißten Fleisch- und Wurstwaren. Die Augen sind halb geöffnet. Auf den Wangen schimmern gefrorene Tränen. In ihren Wimpern hängen Eiskristalle. Die Lippen sind geschwollen und aufgeplatzt.
Das Gesicht der jungen Frau sieht aus wie das eines Clowns: wachsbleich, die Wangen rot. Das hier ist keine Theaterschminke. Der Tod hat sie gezeichnet.
Blutige Fingerspitzen. Und rote Schmierspuren an der Innenseite der Tür. In ihrer Verzweiflung hat die Frau versucht, die schwere Stahltür mit bloßen Händen aufzukriegen. Aussichtslos. Aber wer dem Tod ins Auge sieht, der kann nicht denken.
»Sie ist wohl nicht sanft gegangen«, sagt Emmenegger leise.
»Nein«, flüstert Eva und wischt eine Träne weg.
Reiß dich zusammen.
Sie zwingt sich, die Tote noch einmal anzusehen. Irgendwoher kennt sie das Gesicht. Und auch beim Namen Bettina Sandvoss klingelt was bei ihr, aber sie kriegt es nicht zu fassen.
Der Dude ist ihrem Blick gefolgt. »Das war koan Unfall nit. Die Tür war abgeschlossen. Und der Zweitschlüssel, den die Tina immer benutzt hat, der ist verschwunden.«
Eva hat den Dude noch nie weinen sehen.
»I denk mir, die Tina hat den Schlüssel draußen stecken lassen, als sie rein is. Ich hab ihr oft gesagt, dass sie so was nit tian soll, weil’s gefährlich is.« Er schluchzt auf und wendet sich ab. »Irgendeine Drecksau hat gesehen, dass sie hier runter is, hat sie eingeschlossen und den Schlüssel mitgenommen. Wenn ich das Schwein in die Finger krieg …« Er ballt die Fäuste.
Eva zückt ihr Mobiltelefon, um die Kavallerie herbeizurufen.
»Jetzt erzähl mal von Anfang an.« Emmenegger.
»I bin heut kurz vor Mittag hier herunter, um den Schweinsbraten aus der Kühlung zu holen. Alles sah normal aus – bis i drin war und die Tina gesehen hab – das unglückliche Madl …« Seine Stimme versickert.
»Ist das eine Überwachungskamera?« Emmenegger hat ein schwarzes Kästchen an der gegenüberliegenden Wand entdeckt.
Der Dude schließt die Tür zum Kühlraum. »Ja, aber die funktioniert lang nit mehr.«
»Hast du eine Ahnung, wie der Täter hier reinkam?«
»I denk scho.«
Der Dude geht voran, zu einem Durchgang, der in den Gastgarten des Lokals führt. Ein kleines Fenster ist eingeschlagen. »Das is das Fenster von der Herrentoilette. Von da aus geht’s zum Treppenhaus.«
»Zeig mir die Toilette.«
Neben dem Waschbecken liegt eine Menge Glasscherben, wie nicht anders zu erwarten. Schuhabdrücke sind auf den ersten Blick keine zu sehen.
»Eins musst du mir erklären, Dude. Wie kommt eine Kellnerin an den Zweitschlüssel zu deinem Kühlraum?«
»Weil ich ihn ihr gegeben hab«, sagt der Dude mit einem tiefen Seufzer. »Kommts mit hoch in die Bierschwemm. Ich brauch jetzad an Kaffee.«
***
Oben in der »Schwemm«, wie das Bierlokal von Eingeweihten genannt wird, brennen nur die Messinglampen über der langen Theke. Der Dude hantiert am Hauptschalter. Die Hängeleuchten über den Tischen gehen an und tauchen den großen Raum in ein rotes Licht.
Sie lassen sich auf zwei der Barhocker vor dem langen Tresen nieder.
Eva war schon viele Male in dieser gemütlichen Gaststube mit den roten Lampenschirmen und blitzenden Zapfhähnen. Zwischen hier und dem Kellergewölbe liegen bloß ein paar Höhenmeter. Trotzdem ist die Schwemm von den dunklen Katakomben unter ihren Füßen etwa so weit entfernt wie Mutter Erde vom Eisplaneten Uranus.
»Zwei Morde am gleichen Tag. Könnte derselbe Täter wie beim Mord an Maria Klagenfurth gewesen sein.«
»Ich weiß nicht, Eva. Ganz unterschiedlicher Modus Operandi.«
»Schon, aber zwei Kellnerinnen! Das kann doch kein Zufall sein. Vielleicht ein Psychopath, der seinen Stil noch nicht gefunden hat.«