Merciful Death - Erbarme dich ihrer - Kendra Elliot - E-Book

Merciful Death - Erbarme dich ihrer E-Book

Кендра Эллиот

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Beschreibung

Jetzt das eBook zum Einführungspreis sichern! Überleben ist ihr oberstes Ziel – doch was, wenn die Bedrohung aus den eigenen Reihen kommt? Der Romantik-Thriller »Merciful Death – Erbarme dich ihrer« ist der 1. Fall für die toughe FBI-Spezialagentin Mercy Kilpatrick, eine erfahrene Prepperin. Jetzt macht ein Serienkiller Jagd auf Überlebenskünstler in ihrer Heimatstadt … Mercy Kilpatrick, aufgewachsen in einer Prepper-Familie in Oregon, wurde seit ihrer frühen Kindheit auf jede Art von Katastrophe vorbereitet. Trotzdem zwang eine Familientragödie sie zur Flucht. 15 Jahre später wird die kampferprobte FBI-Agentin in ihre Heimatstadt geschickt, um bei der Aufklärung einer mysteriösen Mordserie zu helfen: Ein gnadenloser Killer hat es auf Überlebenskünstler abgesehen und stiehlt ihre Waffen. Das FBI befürchtet, dass der Mann einen Terror-Anschlag vorbereitet. Mercy dagegen sieht erschreckende Parallelen zu ihrer Vergangenheit. Zusammen mit Polizeichef Truman Daly macht Mercy sich an die Ermittlungen und versucht dabei, ihrer Familie und ihren Geheimnissen aus dem Weg zu gehen. Doch das wird von Tag zu Tag schwieriger – vor allem, weil Truman etwas in Mercy sieht, das sie verzweifelt zu verbergen versucht … Spannende Fälle, Familiengeheimnisse und Romance – eine explosive Mischung die süchtig macht Die amerikanische Bestseller-Autorin Kendra Elliot liefert mit dem ersten Thriller ihrer Mercy-Kilpatrick-Serie einen lupenreinen Pageturner. Reichlich Twists, eine langsam intensiver werdende Liebesgeschichte und Einblicke in die geheimnisvolle Welt der Prepper geben dem Thriller seine besondere Würze.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 508

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Kendra Elliot

Merciful Death

Erbarme dich ihrer

Thriller

Aus dem Englischen von Kerstin Fricke

Knaur eBooks

Über dieses Buch

FBI-Agentin Mercy Kilpatrick, aufgewachsen in einer Prepper-Familie in Oregon, wurde früh auf Katastrophen vorbereitet. Nach einer Familientragödie musste sie aber fliehen. Fünfzehn Jahre später fordern mysteriöse Morde in ihrer Heimatstadt ihre Rückkehr. Um den Fall zu lösen und den Serienkiller zu stoppen, ist sie auf Polizeichef Truman Daly angewiesen. Doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass er ebenso effizient wie charmant ist …

In Merciful Truth werden Mercy und Truman mit Brandstiftern konfrontiert, die Eagle’s Nest in Angst und Schrecken versetzen. Als zwei Sheriffs gezielt getötet werden, müssen sie sich auf die Jagd nach einem rücksichtslosen Mörder machen und durch ihr ganz eigenes Fegefeuer gehen …

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Zweiunddreißig

Dreiunddreißig

Vierunddreißig

Fünfunddreißig

Sechsunddreißig

Siebenunddreißig

Achtunddreißig

Neununddreißig

Vierzig

Einundvierzig

Zweiundvierzig

Dank

Für meine Mutter,

die mich gelehrt hat,

wie man Apfelmus macht und Gurken einweckt.

Für meinen Vater,

der mir gezeigt hat,

wie man Holz fällt und es perfekt stapelt.

Eins

Mercy Kilpatrick fragte sich, wem sie beim Portland-FBI auf die Füße getreten war.

Sie stieg aus dem Wagen und ging an zwei SUVs des Deschutes County Sheriffs vorbei, um sich das Grundstück genauer anzusehen, auf dem das einsame Haus auf der bewaldeten Ostseite der Vorläufer der Cascade Mountains lag. Der Regen prasselte auf Mercys Kapuze, und ihr Atem kondensierte vor ihrem Gesicht. Sie stopfte sich die Enden ihrer langen dunklen Locken unter den Mantel und bemerkte den vielen Schutt hinter dem Haus. Was für jeden anderen wie überwucherte Hecken und unachtsam weggeworfener Müll ausgesehen hätte, fiel ihr auf den ersten Blick als sorgfältig geplantes Leitsystem ins Auge.

»Was für ein Chaos«, sagte Special Agent Eddie Peterson, der ihr vorübergehend zugewiesen worden war. »Anscheinend wohnt hier ein Messie.«

»Das ist kein Chaos.« Sie zeigte auf die Dornenhecke und einen riesigen Haufen verrosteten Altmetalls. »In welche Richtung möchten Sie bei diesem Anblick gehen?«

»In jede außer in diese«, antwortete Eddie.

»Ganz genau. Der ganze Müll wurde bewusst dorthin gelegt, um Besucher in den freien Bereich vor dem Haus zu leiten und daran zu hindern, sich an den Seiten oder dahinter umzusehen. Und jetzt schauen Sie mal nach oben.« Sie deutete auf das zugenagelte Fenster im ersten Stock, das nur noch eine schmale Öffnung genau in der Mitte aufwies. »Sein Müll bewirkt, dass Fremde genau dort auftauchen, wo er sie sehen kann.« Eddie nickte und musterte sie erstaunt.

Ned Faheys Haus war nicht leicht zu finden gewesen. An den ungeteerten Straßen standen keine Schilder, und sie hatten präzise, nahezu metergenaue Anweisungen des County-Sheriffs befolgen müssen, um zu dem tief im Wald versteckten Haus zu gelangen. Mercy bemerkte das feuerfeste Metalldach und die Sandsäcke, die anderthalb Meter hoch vor dem Haus gestapelt worden waren. Die heruntergekommen wirkende Hütte lag weit von allen Nachbarn entfernt, dafür jedoch in direkter Nähe einer natürlichen Quelle.

Was Mercy nur gutheißen konnte.

»Was sollen die Sandsäcke?«, murmelte Eddie. »Wir sind hier in einer Höhe von tausendzweihundert Metern.«

»Dabei geht es um Masse. So hält man Geschosse auf und verlangsamt die bösen Jungs. Außerdem sind Sandsäcke billig.«

»Also war er verrückt.«

»Er war gut vorbereitet.«

Vom Hof drang leichter Verwesungsgeruch an ihre Nase, und als sie die Verandastufen erklomm, wurde der Gestank immer intensiver. Er ist schon seit mehreren Tagen tot. Ein Deputy vom Deschutes County hielt ihr und Eddie mit versteinerter Miene ein Klemmbrett mit einer Liste entgegen, auf der sie sich eintragen sollten. Mercy beäugte den schlichten Ehering des Deputys. Da wäre jemand alles andere als begeistert, wenn er heute Abend mit Leichengeruch in der Kleidung nach Hause kam.

Eddie, der neben ihr stand, atmete schwer durch den Mund ein. »Nicht übergeben«, warnte sie ihn leise und streifte sich Einwegüberschuhe über die Gummistiefel.

Er schüttelte den Kopf, wirkte jedoch skeptisch. Sie mochte Eddie. Er war ein kluger Agent mit positiver Einstellung, allerdings auch ein Junge aus der Stadt, der hier draußen in der Provinz mit seiner Hipsterfrisur und der Nerdbrille umso mehr auffiel. Seine teuren Lederschuhe mit dickem Profil würden nach dem Schlamm in Ned Faheys Garten nie mehr dieselben sein.

Aber sie sahen gut aus.

Zumindest hatten sie bis vor Kurzem gut ausgesehen.

Im Haus verharrte sie und nahm die Eingangstür in Augenschein. Die Tür bestand aus Stahl und wies vier Scharniere und drei Bolzenschlösser auf, wobei die beiden zusätzlichen Bolzen oben und unten an der Tür angebracht waren.

Fahey hatte sich eine hervorragende Verteidigung aufgebaut und dabei alles richtig gemacht, dennoch war es jemandem gelungen, die Barrieren zu durchbrechen.

Das hätte überhaupt nicht möglich sein dürfen.

Mercy hörte Stimmen im oberen Stockwerk und ging auf sie zu. Zwei Mitarbeiter der Spurensicherung wiesen sie und Eddie durch den Flur zu einem Schlafzimmer im hinteren Teil des Hauses. Als Mercy das beständige Summen hörte, drehte sich ihr der Magen um; zwar hatte sie schon von diesem Geräusch gehört, es jedoch noch nie vernommen. Eddie fluchte leise, als sie Faheys Schlafzimmer betraten, und die Rechtsmedizinerin, die gerade die auf dem Bett liegende aufgeblähte Leiche untersuchte, blickte auf.

In Bezug auf die Ursache des Geräuschs hatte Mercy recht behalten. Der Raum vibrierte förmlich vom tiefen Summen der Fliegen, die sich um die Körperöffnungen des Toten ballten. Mercy vermied es, den aufgetriebenen Bauch genauer anzusehen, der beinahe die Knöpfe an der Kleidung sprengte. Das Gesicht bot hingegen den schlimmsten Anblick und war unter der schwarzen Fliegenmasse nicht mehr zu erkennen.

Die Rechtsmedizinerin nickte den Agenten zu, während Mercy sich und Eddie vorstellte. Mercy vermutete, dass die Frau ungefähr in ihrem Alter sein musste. Sie war so winzig und adrett, dass sich Mercy ungewöhnlich groß vorkam.

Dr. Natasha Lockhart nannte ihren Namen, zog sich die Handschuhe aus und legte sie auf die Leiche. »Meines Wissens war er dem FBI bekannt«, sagte sie und musterte die Agenten fragend.

»Er stand auf der Flugverbotsliste«, erwiderte Mercy. Die Liste gehörte zu den wenigen, die das FBI nutzte, um Personen zu überwachen, die des Terrorismus verdächtigt wurden. Ned Fahey hatte schon seit einigen Jahren darauf gestanden. Der Tote auf dem Bett war bereits mehrmals mit der Bundesregierung in Kontakt gekommen. Zudem umgab er sich bevorzugt mit Staatsverweigerern und Angehörigen rechter Milizen. Den Berichten, die Mercy auf der langen Fahrt nach Portland gelesen hatte, war zu entnehmen gewesen, dass Fahey zwar große Reden schwang, jedoch keine Taten folgen ließ. Er war mehrfach wegen Zerstörung von Bundeseigentum verhaftet worden, allerdings hatte es sich stets um kleinere Delikte gehandelt, und er war nie der Rädelsführer gewesen. Faheys Anklagen waren jedes Mal von ihm abgeperlt, als wäre er mit Teflon beschichtet.

»Tja, da muss wohl irgendjemand beschlossen haben, dass Mr Fahey nicht länger gebraucht wird«, meinte Dr. Lockhart. »Entweder hatte er einen sehr tiefen Schlaf, oder er hat einfach nicht gehört, wie der Mörder das Haus betreten und ihm eine Waffe an die Stirn gedrückt hat.«

»Ist das erwiesen?«, hakte Mercy nach.

»Ja. Trotz der Fliegen kann ich das Schießpulver rings um das Einschussloch auf seiner Haut erkennen. Ein schönes Loch als Eintrittswunde und ein ebenso schönes beim Austritt. Die Kugel ging einmal durch den Schädel. Da muss eine beachtliche Durchschlagskraft am Werk gewesen sein.« Dr. Lockhart grinste Eddie an, der leicht schwankend neben Mercy stand. »Die Fliegen ließen sich problemlos wegwischen, kamen aber sofort wieder.«

»Kaliber?«, fragte Eddie mit gepresster Stimme.

Dr. Lockhart zuckte mit den Achseln. »Groß. Keine winzige Zweiundzwanziger. Sie werden die Kugel bestimmt irgendwo finden, wo sie sich reingebohrt hat.«

Mercy trat vor, hockte sich neben das Bett, leuchtete mit ihrer Taschenlampe darunter und versuchte zu erkennen, ob die Kugel in den Boden eingedrungen war, doch der Platz unter dem Bett war voller Plastikbehälter. Was zu erwarten gewesen war.

Sie schaute sich im Raum um und bemerkte die Schwerlastkisten, die sich in jeder Ecke stapelten. Wie es in den Schränken aussah, wusste sie auch, ohne die Türen zu öffnen. Sie würden vom Boden bis zur Decke mit Lagerbehältern gefüllt sein, die ordentlich beschriftet und sortiert wären. Fahey hatte allein gelebt, aber Mercy wusste, dass sie genug Vorräte finden würden, um eine kleine Familie ein Jahrzehnt lang durchzubringen.

Fahey war kein Hamsterer; er war ein Prepper. Sein Leben drehte sich vor allem darum, auf TEOTWAWKI vorbereitet zu sein.

The End of the world as we know it – das Ende der Welt, wie wir sie kennen.

Und er war der dritte Prepper im Deschutes County, der innerhalb der letzten zwei Wochen in seinem eigenen Haus ermordet worden war.

»Haben Sie auch die ersten beiden Todesfälle untersucht, Dr. Lockhart?«, fragte sie.

»Sagen Sie ruhig Natasha«, erwiderte die Rechtsmedizinerin. »Sie meinen die anderen beiden Preppermorde? Beim ersten war ich am Tatort, beim zweiten ein Kollege. Und ich kann Ihnen versichern, dass der erste Tod nicht so schön und sauber war wie dieser hier. Der Mann hat um sein Leben gekämpft. Glauben Sie, es gibt eine Verbindung zwischen den Fällen?«

Mercy lächelte nur unverbindlich. »Genau das wollen wir herausfinden.«

»Mit dem ersten Todesfall hat Dr. Lockhart verdammt recht«, sagte eine neue Stimme.

Mercy und Eddie drehten sich zu einem großen, kantigen Mann mit Sheriffstern um, der sie beide musterte. Seine Miene wirkte verdutzt, als er Eddies dicken schwarzen Brillenrahmen beäugte. Die Einwohner des Deschutes County bekamen vermutlich nur selten hippe 1950er-Reminiszenzen zu sehen. Mercy stellte sie einander vor. Sheriff Ward Rhodes musste über sechzig sein. Die jahrzehntelange Sonneneinstrahlung hatte tiefe Falten und raue Stellen in seinem Gesicht hinterlassen, aber seine Augen sahen klar, wachsam und neugierig aus.

»Dieser Raum ist ein Traum im Vergleich zum Tatort des Biggs-Mords. Dort stießen wir auf ein Dutzend Einschusslöcher in den Wänden, und der alte Biggs hat sich mit einem Messer gewehrt.«

Mercy wusste, dass Jefferson Biggs fünfundsechzig Jahre alt gewesen war, und fragte sich, wieso der Sheriff, der in dieselbe Altersklasse fallen musste, ihn als alt bezeichnete.

Wahrscheinlich bezieht sich das eher auf Biggs’ abweisende Art als auf sein Alter.

»Keines der Häuser – dieses eingeschlossen – wies Hinweise auf gewaltsames Eindringen auf, richtig?«, erkundigte sich Eddie höflich.

Sheriff Rhodes nickte. »So ist es.« Er starrte Eddie irritiert an. »Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie wie James Dean aussehen? Nur mit Brille?«

»Das höre ich häufiger.«

Mercy biss sich auf die Unterlippe. Eddie tat so, als würde ihn der Vergleich überraschen, doch sie wusste, dass er sich darüber freute. »Aber wenn sich hier niemand mit Gewalt Zutritt verschafft hat und Ned Fahey tief und fest schlief«, warf sie ein, »muss der Täter gewusst haben, wie man ins Haus gelangt, oder er hat ebenfalls hier geschlafen.«

»Der Tote trägt einen Schlafanzug«, stimmte Dr. Lockhart zu. »Ich kann noch nichts zur genauen Todeszeit sagen. Die Putrefaktion ist sehr weit fortgeschritten. Nach den Labortests weiß ich mehr.«

»Wir haben das Haus untersucht«, sagte Sheriff Rhodes. »Wir konnten keine Anzeichen dafür entdecken, dass eine andere Person hier geschlafen hat oder eingebrochen ist. Es gibt noch ein zweites Schlafzimmer, doch das scheint schon seit Jahrzehnten niemand mehr benutzt zu haben. Auf dem Sofa unten liegen keine Kissen oder Decken, die darauf hindeuten würden, dass noch jemand hier gewesen ist.« Er hielt inne. »Die Haustür stand weit offen, als wir herkamen.«

»Gehe ich recht in der Annahme, dass Ned Fahey ein Mensch war, der seine Türen stets gut verriegelt hat?«, fragte Mercy halb im Spaß. Der kurze Weg durch das Haus hatte ihr bereits gezeigt, dass der Mann sehr großen Wert auf seine Sicherheit gelegt hatte. »Wer hat den Tod gemeldet?«

»Toby Cox. Er geht Ned hier manchmal zur Hand. Heute Morgen sollte er Ned beim Verlagern von Holz helfen. Er sagte, die Tür hätte offen gestanden, und als er die Situation erkannt hatte, rief er uns an. Ich habe ihn vor ein paar Stunden nach Hause geschickt. Er ist nicht ganz richtig im Kopf, und diese Sache hat ihn schwer erschüttert.«

»Kennen Sie die meisten Anwohner?«

Der Sheriff zuckte mit den Achseln. »Die meisten schon, aber bestimmt nicht alle. Ich kenne die Leute, die ich kenne«, erwiderte er nüchtern. »Dieses Haus steht weit außerhalb jeglicher Stadtgrenzen, daher rief Ned uns beim County an, wenn er ein Problem hatte.«

»Ein Problem? Mit wem hatte Ned denn Probleme?«, hakte Mercy nach. Sie kannte die Politik und die gesellschaftlichen Normen von Kleinstädten und ländlichen Gemeinden, da sie die ersten achtzehn Jahre ihres Lebens in einer Kleinstadt verbracht hatte. Die Leute versuchten ständig, die Nase in die Angelegenheiten anderer hineinzustecken. Heute lebte sie in einem großen, urbanen Wohnkomplex, in dem sie gerade mal die Namen zweier Nachbarn kannte. Die Vornamen, wohlgemerkt.

So gefiel ihr das.

»Jemand ist mal in einige von Neds Außengebäuden eingebrochen. Sein Quad und mehrere Benzinkanister wurden gestohlen. Er war deswegen ziemlich sauer. Wir konnten den Fall nie aufklären. Ansonsten rief er manchmal an und beschwerte sich über Leute, die auf seinem Grundstück jagten oder es unberechtigt betraten. Ihm gehören hier vier Hektar, und die Grundstücksgrenzen sind nicht gut markiert. Ned hat zwar einige Betreten verboten-Schilder aufgestellt, aber das reicht natürlich bei Weitem nicht aus. Früher hat er hin und wieder versucht, die Leute mit einer Schrotflinte zu verscheuchen. Aber nachdem das mehrmals passiert war, baten wir ihn, vorher uns anzurufen. Eine Familie, die beim Wandern war, hat er damit nämlich fast zu Tode erschreckt.«

»Keine Hunde?«

»Ich habe ihm geraten, sich ein paar zuzulegen, aber er fand, dass sie zu viel fressen.«

Mercy nickte. Weniger Mäuler zu füttern.

»Einkommen?«

»Sozialhilfe.« Sheriff Rhodes schürzte die Lippen.

Mercy verstand, was er meinte. Es war allgemein üblich, dass diese Antiregierungstypen zwar strikt dagegen waren, Steuern zu bezahlen oder Lizenzen zu erwerben, aber wehe, man wollte ihnen die Sozialhilfe entziehen.

»Fehlt irgendetwas?«, fragte Eddie. »Gibt es jemanden, der uns sagen könnte, ob etwas entwendet wurde?«

»Soweit ich weiß, war Toby Cox die einzige Person, die das Haus in den letzten zehn Jahren betreten hat. Wir können ihn fragen, aber ich muss Sie warnen: Er gehört nicht gerade zu der aufmerksamen Sorte.« Rhodes räusperte sich und verzog das Gesicht. »Ich kann das nicht besonders ernst nehmen, aber Toby hatte schreckliche Angst und faselte etwas von einem Höhlenmenschen, der Ned getötet hat.«

»Wie bitte?« Eddie starrte ihn verdutzt an. »Ein Höhlenmensch? Wie ein Neandertaler?«

Mercy sah den Sheriff nur ruhig an. In jeder Gemeinde gab es Gerüchte und Legenden, doch diese war ihr bisher unbekannt.

»Nein. Aus dem Gespräch mit Toby schloss ich, dass es sich eher um einen Bergbewohner handeln muss. Aber ich sagte ja schon, dass er schnell verwirrt ist. Der Junge ist nicht ganz richtig im Kopf, daher kann ich der Aussage keine große Bedeutung beimessen.«

»Hat er diesen Höhlenmenschen gesehen?«, wollte Mercy wissen.

»Nein. Ich hatte eher den Eindruck, dass Ned Toby die Geschichte erzählt hat, um ihm Angst einzujagen. Hat funktioniert, würde ich behaupten.«

»Verstehe.«

»Aber eine interessante Sache gibt es da noch«, fuhr der Sheriff fort. »Jemand ist draußen in einen Lagerraum eingebrochen. Folgen Sie mir.«

Mercy atmete die frische Luft tief ein, als sie dem Sheriff die Verandastufen hinunter folgte. Er führte sie durch den von Müll gesäumten Trichter und fünfzehn Meter die nicht asphaltierte Straße entlang, um dann auf einen Weg abzubiegen. Mercy stellte zufrieden fest, dass sie in ihren bunten Gummistiefeln noch immer trockene Füße hatte. Eddie hatte ihre Warnung, sich entsprechend anzuziehen, hingegen abgetan. Doch hier hatten sie es nicht wie in der Innenstadt von Portland mit Regen auf betonierten Bürgersteigen zu tun, sondern mit Regengüssen in den Cascades. Schlamm, dichtem Gestrüpp, wandernden Flüssen und noch mehr Schlamm. Sie schaute sich um und bemerkte, dass Eddie sich Regentropfen von der Stirn wischte und mit schiefem Grinsen auf seine mit Schlamm bedeckten Schuhe zeigte.

Tja.

Sie bückten sich unter einem gelben Polizeiabsperrband hindurch, das um einen kleinen Schuppen gezogen worden war. »Die Spurensicherung ist hier schon fertig«, teilte Sheriff Rhodes ihnen mit. »Aber passen Sie trotzdem auf, wohin Sie treten.«

Mercy betrachtete das Durcheinander aus sich überkreuzenden Stiefelabdrücken und konnte keine freie Stelle erkennen. Da der Sheriff einfach hindurchging, folgte sie ihm. Der Schuppen war etwa viereinhalb Meter breit und sechs Meter lang und hinter großen Rhododendronbüschen verborgen. Von außen erweckte er den Anschein, als könnte ein starker Wind das winzige Außengebäude dem Erdboden gleichmachen, aber als Mercy darin stand, erkannte sie, dass die Wände drastisch verstärkt worden waren und dass Sandsäcke auf dem Boden aus festgetretener Erde lagen.

»Die Kette an der Tür war durchtrennt worden. Genauer gesagt hatte man alle drei Ketten zerstört«, korrigierte der Sheriff sich. Er deutete auf ein großes Loch im Boden in der Nähe der Rückwand des Schuppens. Der Deckel einer uralten geöffneten Gefriertruhe ragte heraus.

Leichen?

Mercy spähte in die vergrabene Truhe, die jedoch leer war. Sie schnüffelte und nahm den pfefferminzigen Geruch eines Waffenfetts wahr, von dem sie wusste, dass einige Waffenenthusiasten darauf schworen, sowie einen Hauch von Schießpulver. Ned hatte ein Arsenal im Boden versteckt.

»Waffen«, erklärte sie mit ausdrucksloser Stimme. Auf Fahey waren drei Gewehre registriert. Aber er hätte sich nicht so viel Mühe gegeben, um diese hier zu verstecken. Die riesige Gefriertruhe bot mühelos Platz für mehrere Dutzend Waffen. Mercy fragte sich, wie Ned die Waffen vor Feuchtigkeit geschützt hatte. Was die Lagerung betraf, war dies hier alles andere als ideal.

»Da drin befand sich einer dieser kabellosen Verdunster«, erklärte Rhodes, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Aber irgendjemand scheint gewusst zu haben, wo er graben muss, um die Truhe zu finden.« Er zeigte auf die Haufen frisch ausgehobener Erde. »Ich wüsste zu gern, wie gut das Waffenlager versteckt war. Dies ist jedenfalls kein Ort, an dem ich mich auf die Suche nach Waffen gemacht hätte.«

»Wusste irgendjemand, wie viele Waffen er wirklich besaß?«, fragte Mercy.

Der Sheriff sah achselzuckend in die Gefriertruhe. »Verdammt viele, würde ich vermuten.«

»Sie sagten etwas von drei Ketten, die vor der Tür hingen?«, warf Eddie ein. »Für mich ist das ein eindeutiger Hinweis darauf, dass hier etwas Wertvolles versteckt wurde.« Er deutete auf eine schmale Stahlstange, die auf dem Boden lag. »Wenn ich drei Ketten zerstört habe, nur um dahinter einen leeren Schuppen vorzufinden, würde ich auch so lange den Boden ausheben, bis ich irgendwas finde.«

Demzufolge klafften auch mehrere kleinere Löcher gut verteilt im Schuppenboden.

»Er ist Prepper«, sagte Mercy. »Da rechnet man doch damit, dass er irgendwo ein Waffenlager hat.«

»Sie mussten ihn aber nicht im Bett ermorden, um an seine Waffen zu gelangen«, warf Rhodes ein.

»Sie?«, wiederholte Mercy und merkte auf.

Der Sheriff hob abwehrend die Hände. »Dafür gibt es keine Beweise. Ich schlussfolgere das allein aus der vielen Arbeit, die hier aufgewendet wurde, und der Anzahl von Fußabdrücken, die wir vor dem Schuppen gesichert haben. Die Forensiker vergleichen sie mit Faheys und Toby Cox’ Stiefeln, um die beiden auszuschließen, und werden uns danach sagen können, wie viele Personen noch hier gewesen sind.«

»Cox können wir nicht ausschließen«, sagte Eddie.

Sheriff Rhodes nickte, aber Mercy entging seine betrübte Miene nicht. Sie vermutete, dass er diesen Toby Cox mochte, der »nicht ganz richtig im Kopf« war.

Innerlich setzte sie Toby Cox ganz oben auf die Liste der Personen, die sie verhören wollte.

Zwei

Ich würde mir gern die anderen beiden Tatorte ansehen«, sagte Mercy zu Eddie, als sie in Richtung Eagle’s Nest fuhren.

Sie sah ihn aus dem Augenwinkel nicken, während er sich weiter auf eine Akte konzentrierte, die er auf dem Schoß liegen hatte.

»Sie befinden sich beide auf der anderen Seite von Eagle’s Nest«, erwiderte er. »Ich suche die Adresse des ersten gleich raus.«

Die beiden Agenten waren aus Portland direkt zu Ned Faheys Versteck gefahren, nachdem Mercys Büro mehrmals mit dem Supervisory Senior Resident Agent (SSRA) in Bend telefoniert hatte. Die anderen beiden Morde waren deutlich näher an der Stadt Eagle’s Nest verübt worden, dennoch lagen sie eine gute halbe Stunde vom Büro in Bend entfernt. Das Bend-Büro brauche Hilfe, hatte Mercys Supervisorin erklärt und die beiden Agenten vorübergehend dorthin ausgeliehen. Dort gab es nur fünf Agenten, einige Angestellte und niemanden, der auf Inlandsterrorismus spezialisiert war.

»Aufgrund der Vorgeschichte der Opfer könnte die Vielzahl der von allen drei Tatorten verschwundenen Waffen darauf hindeuten, dass jemand einen Terroranschlag im Inland plant.«

Die Worte ihrer Vorgesetzten gingen ihr noch immer durch den Kopf. Mehrere Dutzend Waffen waren allein an den ersten beiden Tatorten gestohlen worden, und auch Ned Fahey hatte ein großes illegales Arsenal auf seinem Grundstück vergraben.

Einen Anschlag plant. So konnte man es natürlich auch ausdrücken, dass sich möglicherweise eine Gruppe dafür ausstattete, ein Bundesgebäude anzugreifen – oder Schlimmeres vorhatte.

Die Regenwolken waren fortgeweht worden, als sie Ned Faheys Haus verließen und bergabwärts aus dem dichten Wald herausfuhren, und der jetzt blaue Himmel war jenseits der Baumwipfel zu erkennen. Beim Verlassen des Vorgebirges sah Mercy die weißen Berggipfel der Cascades im Rückspiegel und freute sich darüber, dass es gleich mehrere gleichzeitig waren. Als Kind hatte sie diesen Anblick als selbstverständlich erachtet, aber in Portland sah sie meist nur einen Gipfel, höchstens an sehr schönen Tagen mal zwei oder drei. In diesem Teil von Central Oregon, wo der Himmel meist blau war, ließen sich jedoch mehrere Gipfel erkennen.

Auch die Luft fühlte sich sauberer an.

Sie fuhr einen geraden Abschnitt des Highways entlang, der an beiden Seiten von hohen Kiefern gesäumt war.

»Hey. Die Bäume haben die Farbe verändert«, stellte Eddie fest, der aus dem Fenster schaute.

»Das ist schon so, seitdem wir die Cascade Range überquert haben. Dies sind Gelb-Kiefern, die etwas heller sind als die Bäume, die Sie von unserer Seite der Cascades kennen. Außerdem sind die Stämme auch röter.«

»Was sind das für struppige silbrige Büsche, die hier überall stehen?«

»Das ist Wüstenbeifuß.«

»Die Wälder kommen mir hier auch anders vor«, merkte Eddie an. »Zwar stehen hier ebenfalls lauter riesige grüne Bäume, doch das Unterholz ist bei Weitem nicht so dicht wie auf der Westseite. Außerdem gibt es hier jede Menge Felsen.«

»Die Kiefern werden bald spärlicher. Dann sehen Sie vor allem weites Farmland, Lavagestein und Büsche, je nachdem, welche Richtung Sie einschlagen.«

Mercy bemerkte, dass ihre Fingerknöchel weiß anliefen, weil sie das Lenkrad so fest umklammerte. Sie fuhr, ohne nachzudenken, und hielt instinktiv auf die Stadt zu, in der sie die ersten achtzehn Jahre ihres Lebens verbracht hatte.

»Bei der nächsten Kreuzung links abbiegen«, wies Eddie sie an.

Ich weiß.

»Ich bin in Eagle’s Nest aufgewachsen.«

Eddie hob ruckartig den Kopf, und sie spürte, wie sich sein Blick in ihre Schläfe bohrte. Aber sie sah weiter auf die Straße.

»Ich kann es nicht fassen, dass Ihnen diese bemerkenswerte Tatsache eben erst eingefallen ist«, erwiderte Eddie. »Wieso haben Sie das nicht früher erwähnt? Weiß der Boss davon?«

»Sie weiß Bescheid. Ich bin mit achtzehn von zu Hause weggegangen und war seitdem nicht mehr da. Familienprobleme, Sie verstehen?«

Er drehte sich auf dem Beifahrersitz zu ihr um. »Das hört sich doch nach einer guten Geschichte an, Special Agent Kilpatrick. Ich bin ganz Ohr.«

»Es gibt keine Geschichte.« Sie weigerte sich, ihn anzusehen.

»So ein Quatsch. Sie waren mit achtzehn das letzte Mal zu Hause? Wurden Sie geschlagen? Haben Sie einer Sekte angehört?«

Sie lachte kurz auf. »Weder noch.« Nicht so ganz.

»Was war es dann? Sie reden schon noch mit Ihrer Familie, oder? Schreiben sich E-Mails? Textnachrichten? Dass Sie von zu Hause weggegangen sind, bedeutet doch nur, dass Sie seitdem nicht mehr in der Stadt waren, richtig?« Er blickte durch die Windschutzscheibe auf die Bäume hinaus. »Ich habe hier draußen jedenfalls nichts gesehen, was mir eine vierstündige Fahrt wert wäre.«

Mercy presste die Lippen aufeinander und bereute es, dieses Gespräch angefangen zu haben. »Es gab seitdem keinerlei Kontakt. Absolut gar keinen.«

»Wie bitte? Haben Sie Geschwister?«

»Vier.«

»Vier? Und sie haben nie angerufen oder eine E-Mail geschrieben?«

Sie schüttelte den Kopf und brachte keinen Ton heraus.

»Was stimmt mit Ihrer Familie nicht? Meine Mom würde mich umbringen, wenn ich mich nicht wenigstens einmal im Monat melde.«

»Meine Familie ist anders.« Was für eine Untertreibung. »Könnten wir das bitte nicht jetzt besprechen?«

»Sie haben doch damit angefangen.«

»Das ist mir bewusst, und ich werde Ihnen später auch mehr erzählen.« Vielleicht. Sie bog um die letzte Kurve nach Eagle’s Nest und über die zweispurige Straße, die sie durch die Stadtmitte führen würde, wie sie genau wusste.

Dabei hielt sie sich an die vorgeschriebene Geschwindigkeitsbegrenzung von 40 km/h. Der Name Eagle’s Nest ließ vermuten, dass die Stadt auf einem Hügel lag und auf ein Tal herabblickte, doch das war gelogen. Eagle’s Nest lag auf Flachland, und zwar in knapp eintausend Metern Höhe, was allerdings auch für die vielen Hundert Hektar ringsherum galt. Sie fuhr an den Schulen vorbei und reckte den Hals, um mehr zu erkennen. Laut den verrosteten Schildern befanden sich im älteren Gebäude noch immer die Highschool und im größeren »neuen« die Klassenstufen vom Kindergarten bis zur achten Klasse. Allerdings stammte das »neue« Gebäude aus den Siebzigern und war schon vor Mercys Geburt errichtet worden. Hinter dem alten Schulgebäude sah sie die Laternen des Footballfelds und die alten Tribünen, während auf einer Spielfeldseite eine neue überdachte rote Tribüne gebaut worden war.

September. Dieses Wochenende müsste ein Footballspiel stattfinden.

»Sind Sie hier zur Schule gegangen?«, erkundigte sich Eddie.

»Ja.«

Die Straße machte eine scharfe Biegung. Zu ihrer Linken befand sich das noch immer geschlossene Sägewerk. Das Dach war noch weiter eingesackt, als sie es in Erinnerung hatte, und verwitterte Spanplatten verdeckten alle Fenster. Das vertraute Schild war verschwunden. Das Sägewerk war noch in ihrer Kindheit aufgegeben worden, doch davor hatte immer ein großes Schild mit einer Informationstafel gestanden. Während ihrer Teenagerzeit hatte die Stadt an der Tafel Ereignisse in ungleich großen Buchstaben angepriesen, während auf dem Schild sehr lange schlichtweg stand: WIR KOMMEN WIEDER.

Nun war nur noch der schartige, zerbrochene Metallpfosten übrig, und Mercy spürte einen leichten Stich in der Brust. Früher hatten es sich alle Einwohner zur Gewohnheit gemacht, auf der Tafel nachzusehen, um über die Geschehnisse in der Gemeinde im Bilde zu sein: Geburtstage von Senioren. Jahrmärkte. Kuchenbasare.

Heute posten sie so was vermutlich auf der Facebook-Seite der Stadt.

Alle hier hatten geschworen, dass das Sägewerk wieder öffnen würde. Wie oft hatte sie die Leute davon reden hören? Einmal hatte die Stadt sogar das Gelände ringsherum vom Müll befreit und die von dummen Kindern eingeschlagenen Fenster ersetzt. »Irgendjemand wird das Gebäude kaufen. Es muss nur der Richtige kommen.«

Die fehlende Informationstafel bedeutete, dass die Stadt den Glauben daran verloren hatte.

Das Sägewerk war ein Opfer der schlechten Wirtschaftslage, der Bundespolitik in Bezug auf das Fällen von Bäumen und verstärkter Naturschutzmaßnahmen. Inzwischen hätte es auch ein gutes Spukhaus für eine Halloweenparty abgegeben.

Mercy fuhr weiter. Auf einmal standen ein- und zweistöckige Häuser entlang der Straße. Sie überflog die Schilder davor. Einige waren neu, andere hatten sich nicht verändert. POLIZEIREVIER VON EAGLE’S NEST, RATHAUS VON EAGLE’S NEST, GROSSES KINO, POST, JOHN-DEERE-GESCHÄFT. Sie bemerkte, dass eine Kirche in ein Seniorenzentrum umgewandelt worden war. Das alte Norwood-Haus hieß nun »Sandy’s Bed & Breakfast«.

Eddie deutete auf einen winzigen Laden. »Hey, das sieht vielversprechend aus. Ich könnte einen Kaffee vertragen. Halten Sie mal an.«

Mercy bog auf einen schräg zur Straße angelegten Parkplatz ein und erinnerte sich daran, wie sie nach dem Umzug nach Portland das parallele Parken gelernt hatte. In Kleinstädten musste man diese Fähigkeit nicht beherrschen. Das Coffee Café befand sich in einem Gebäude, in dem sie als Teenager stundenlang in Büchern gestöbert hatte. Das Haus schien frisch renoviert zu sein, und das Illy-Schild im Fenster ließ vermuten, dass die Besitzer Wert auf guten Kaffee legten. Das Café glich einer kleinen bunten Blume inmitten des deprimierenden Graus der Straßen und alten Gebäude. Mercy schaute sich davor nach allen Seiten um. Einige Pick-up-Trucks fuhren vorbei, aber der Bürgersteig war leer.

Die Glocke über der Tür klingelte, als sie eintraten. Mercy zog den Reißverschluss ihrer Jacke auf und genoss die Wärme und den Kaffeeduft.

»Hi.« Ein Mädchen im Teenageralter kam durch eine Tür hinter dem Tresen. »Was darf’s sein?«

Sie sah niedlich und freundlich aus und trug einen kecken Pferdeschwanz. Auch wenn sie die beiden Agenten neugierig musterte, war sie zu höflich, um Fragen zu stellen. Mercy betrachtete die Speisekarte auf der Kreidetafel gleich hinter der Tür, während Eddie vortrat und etwas mit einem dreifachen Espresso bestellte. Das Mädchen machte sich daran, sein Getränk zuzubereiten, und Eddie warf Mercy einen Blick über die Schulter zu. »Das könnten Sie vor zwanzig Jahren sein«, meinte er leise und mit fragender Miene.

Oh, oh.

Mercy trat näher und nahm die Barista genauer in Augenschein. Das Mädchen hatte helleres Haar, doch die Augen und Gesichtsform passten perfekt. Ist das Pearls Tochter? Oder Owens? Sie bewunderte das kleine Schmuckstein-Nasenpiercing. Wer immer sie war, sie hatte offensichtlich eine rebellische Ader. Mercys Eltern hätten ihr das Piercing jedes Mal aufs Neue herausgerissen.

»Ich nehme einen Americano. Haben Sie auch Schlagsahne oder nur Kaffeesahne?«, fragte Mercy und trat näher. Die Barista sah ihr in die Augen, nickte enthusiastisch und fuhr damit fort, das beste Getränk aller Zeiten zuzubereiten.

Wer immer sie auch war, Mercy schien sie nicht zu erkennen.

Mercy atmete erleichtert auf.

»Leben Sie hier in der Stadt?«, erkundigte sich Eddie bei der Barista, wofür Mercy ihn innerlich verfluchte. Der Agent mochte Menschen und hörte sich nur zu gern ihre Geschichten an. Selbst in einer Schlange im Supermarkt plauderte er mit anderen.

Das Mädchen lächelte. »Gleich außerhalb der Stadt.«

»Sie arbeiten hier doch nicht ganz allein, oder?«

Als die Barista ihn alarmiert ansah, knuffte Mercy ihn gegen den Arm.

»Ich meinte … Ich bin kein Freak, sondern mache mir nur Sorgen um Ihre Sicherheit«, fügte Eddie verlegen hinzu.

»Ignorieren Sie ihn einfach.« Mercy schenkte dem Mädchen ein Lächeln, um sie zu beruhigen. »Er meint es nur gut und ist völlig harmlos.«

»Mein Vater ist hinten«, behauptete die Barista zaghaft. Der Sonnenschein war aus ihrem Gesicht gewichen, und sie beäugte Eddie misstrauisch.

»Das ist gut«, erklärte Eddie. »Ich wollte Sie wirklich nicht verunsichern.«

Die Barista reichte ihnen die Becher. Mercy nahm beide entgegen und bemerkte, dass das Mädchen auf die Wölbung unter Mercys Jacke schaute. »Sie sind Gesetzeshüter«, sagte die Barista und deutete mit dem Kopf auf die Waffe.

»Sind die Leute hier denn nicht bewaffnet?«, erkundigte sich Eddie leicht amüsiert.

»Sie tragen meist Revolver und keine Glocks.« Nun wirkte das Mädchen interessiert. »Sind Sie wegen der Männer hier, die vor Kurzem ermordet wurden? Ich habe gehört, dass man Ned Fahey heute früh tot aufgefunden hat.«

Es hatte sich anscheinend schon rumgesprochen.

»Kaylie? Ist alles okay?«, fragte ein großer Mann und trat hinter der Barista in den Türrahmen, den er mit seinen breiten Schultern ausfüllte.

Mercy blieb beinahe das Herz stehen, als sich ihre Blicke begegneten. Der Mann starrte sie schockiert an.

»Verdammt noch mal!«, murmelte er.

»Dad!«

»Entschuldige, Schatz.«

Er war groß und dunkelhaarig und hatte einen dichten Bart, der noch kein Grau aufwies. Mercy hatte ihn noch nie mit Bart gesehen, erkannte ihren Bruder aber trotzdem sofort. Sie sagte nichts und überließ es Levi, eine Entscheidung zu treffen. Er blickte von ihr zu seiner Tochter und wieder zurück zu Mercy, um sich dann Eddie zuzuwenden.

»Sind Sie von außerhalb und ermitteln wegen der Morde?«, fragte er Eddie. »Ich wusste gar nicht, dass man das FBI hinzugezogen hat. Seltsam.«

Mercy schluckte schwer. Ihr Bruder hatte sie ignoriert. Aber er wusste, dass sie vom FBI waren. Was bedeutete, dass er darüber informiert war, womit sie ihren Lebensunterhalt verdiente. Er hatte sie nicht vollständig aufgegeben.

»Wir kommen, wenn man unsere Hilfe anfordert«, antwortete Eddie unverbindlich.

»Ich wusste nicht, dass das jemand getan hat.« Levi sah Mercy an und ließ sich nicht länger anmerken, dass er sie erkannt hatte. »Der Kaffee geht heute aufs Haus.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber wir bezahlen lieber«, erklärte Eddie. Er zog etwas Bargeld aus der Tasche und warf Mercy einen fragenden Seitenblick zu. Was in aller Welt geht hier vor sich?

Sie konnte sich nicht bewegen. Oder etwas sagen. Ihre Finger schienen an den heißen Bechern in ihren Händen festzukleben.

»Schönen Tag noch«, sagte Kaylie automatisch und reichte Eddie das Wechselgeld.

Er warf es ins Trinkgeldglas. »Den wünsche ich Ihnen auch.« Dann nahm er Mercy seinen Becher aus der Hand und musterte sie weiterhin irritiert.

Mercy warf noch einen letzten Blick auf ihre Nichte und ihren Bruder. Levi drehte sich um und ging, ohne ihr weitere Aufmerksamkeit zu schenken. Sie folgte Eddie hinaus in die Kälte und zu ihrem Wagen. Dann umklammerte sie den warmen Becher mit beiden Händen und schaffte es nicht, den anderen Agenten anzusehen.

»Dieser Mann hat Sie eindeutig erkannt, aber Sie haben kein Wort gesagt«, stellte Eddie fest. »Und da die Barista, die genauso aussieht wie Sie, seine Tochter ist, gehe ich davon aus, dass er Ihr Bruder sein muss, oder?« Er wirkte ein wenig fassungslos.

Mercy nickte nur und nippte an ihrem Kaffee. Verdammt. Sie hatte die Schlagsahne vergessen.

»Wieso hat er seine Schwester nicht begrüßt? Allerdings haben Sie ja auch nichts zu ihm gesagt«, murmelte er. »Daher gehe ich mal davon aus, dass beide Seiten ein Problem haben, richtig? Wussten Sie, dass es sein Café ist?«

»Nein.«

Seufzend trank Eddie einen großen Schluck. »Tut mir leid, Mercy. Das geht mich alles nichts an.« Er hielt kurz inne. »Wussten Sie wenigstens, dass das Ihre Nichte ist?«

»Nein. Ich hatte so etwas vermutet, als Sie mich auf die Ähnlichkeit hingewiesen haben, aber ich wusste nicht, wessen Tochter sie ist.«

»Sie wussten aber, dass dieser Bruder Kinder hat?«

»Er hat eins.«

»Er trug keinen Ehering. War er verheiratet?«

»Nein. Als ich von hier wegging, wollte seine ehemalige Freundin nicht, dass er Kontakt zu ihrer einjährigen Tochter hat. Das ist heute offenbar anders.« Mercy stellte ihren Becher ab und ließ den Motor an. »Wir sollten zum anderen Tatort fahren, bevor es richtig dunkel wird.« Sie setzte zurück. Vor lauter Scham und auch etwas Wut schoss ihr das Blut in die Wangen. Ihre Familie hatte sich seit fünfzehn Jahren nicht bei ihr gemeldet.

Welche Überraschungen erwarteten sie in Eagle’s Nest noch?

Drei

Truman Daly fluchte leise.

Er war dem alten Ford-Pick-up gute anderthalb Kilometer über die holprige Landstraße gefolgt, und der Fahrer ignorierte das Blaulicht und die Sirene von Trumans Wagen geflissentlich. Nun musste er bald eine Entscheidung treffen, bevor der Ford in einen belebteren Teil der Stadt fuhr. Truman kannte den Fahrer und rechnete damit, ordentlich was zu hören zu bekommen, wenn er Anders Beebe endlich an den Straßenrand bekam. So, wie er es in seinen sechs Monaten als Polizeichef von Eagle’s Nest schon mehrfach erlebt hatte. Der alte Ford geriet mit einem Reifen auf den unbefestigten Seitenstreifen, und Anders riss das Lenkrad so weit herum, dass er bis in die Gegenfahrbahn ausscherte, bevor er wieder auf seiner Spur blieb.

Anders muss betrunken sein.

Truman hatte eine Entscheidung getroffen, beschleunigte und zog mit dem Tahoe des Departments auf die andere Spur, da er vorhatte, den Oldtimer an der hinteren rechten Stoßstange zu rammen und ins Schleudern zu bringen. Doch bevor Truman den Ford auch nur anvisieren konnte, wallte eine riesige Rauchwolke unter Anders’ Motorhaube auf, und der alte Mann fuhr von der Straße ab und ließ den Wagen ausrollen. Truman parkte hinter ihm und bedauerte es, dass sich sein Department keine Bodycam leisten konnte, mit der er die bevorstehende verrückte Unterhaltung hätte aufzeichnen können.

Mit einer Hand am Griff seiner Waffe ging er auf das Fahrzeug zu. Das Fenster wurde gerade heruntergekurbelt. »Anders? Ist alles in Ordnung?«, erkundigte er sich.

»Was zum Teufel haben Sie mit meinem Wagen gemacht?« Der alte Mann nuschelte stark, und Truman konnte den Biergeruch aus anderthalb Metern Entfernung riechen. »Wie beim Allmächtigen haben Sie das geschafft?«

»Ich habe überhaupt nichts mit Ihrem Wagen angestellt. Irgendetwas scheint mit Ihrem Motor nicht zu stimmen.«

»Und ob Sie das waren! Sie von der Polizei haben doch bestimmt schon ein schickes neues Gerät, mit dem Sie Bürger illegal anhalten können. Wie viele Steuergelder sind dafür draufgegangen?«

»Würden Sie bitte aus dem Wagen aussteigen?«, forderte Truman ihn auf. Er wusste, dass Anders im Allgemeinen harmlos war, hatte ihn jedoch noch nie betrunken erlebt und verhielt sich daher besonders wachsam.

»Ich bin nicht einverstanden!«, kreischte Anders. Truman trat nahe genug heran, um die leeren Bierdosen auf der Sitzbank des Fords sehen zu können.

»Wie viel haben Sie heute getrunken, Anders?«, fragte er ihn.

»Ich bin nicht einverstanden! Vorschriften und Statuten sind keine Gesetze, solange ich sie nicht anerkenne!«

Truman seufzte. Selbst betrunken hielt Anders an seinen Staatsverweigereransichten fest.

»Ihr Fahrzeug wird sich heute nicht mehr von der Stelle bewegen, Anders. Ich kann Sie mitnehmen und dafür sorgen, dass Sie jemanden anrufen, der es repariert.«

Die rot geränderten blassblauen Augen des alten Mannes zuckten wild umher. Die Falten in Anders’ Gesicht wirkten heute tiefer als sonst, und sein graues Haar ragte unter seinem Hut in alle Richtungen hervor. »Ich beabsichtige nicht, eine Verbindung mit Ihnen einzugehen«, erklärte er.

Truman musste sich zusammenreißen. Die Staatsverweigerer hatten eine ganze Litanei von verwirrenden pseudolegalen Begriffen, mit denen sie um sich warfen, wann immer sie einem Regierungsvertreter gegenüberstanden. Als Truman zum ersten Mal gehört hatte, dass man keine Verbindung mit ihm eingehen wollte, hätte er beinahe erwidert, dass er auch nicht auf eine feste Beziehung aus wäre. »Ich will auch keine Verbindung mit Ihnen eingehen, Anders, aber ich helfe Ihnen, zurück in die Stadt zu kommen. Wären Sie damit einverstanden?«

»I’m a Freeman on the land«, trällerte der Alte.

»Wir sind alle freie Menschen, Anders. Wieso steigen Sie nicht aus und wir sehen mal nach, was unter Ihrer Motorhaube los ist?« Zumindest schrie Anders ihn nicht mehr an, dafür schwankte er nun heftig auf seinem Sitz. Truman bezweifelte, dass er noch laufen konnte.

Vermutlich hatte Anders deshalb den Wagen genommen.

Die Tür des Fords ging mit einem lauten Quietschen auf, und Anders versuchte auszusteigen, taumelte stattdessen jedoch nach vorn und in Trumans Arme.

»Ich hab Sie.« Truman drehte den Kopf weg, um die Alkoholfahne und Körpergerüche nicht einatmen zu müssen. »Schaffen wir Sie erst mal zu meinem Wagen.« Er leitete den Mann zur hinteren Tür seines Tahoe und tastete ihn auf dem Weg dorthin geschickt nach Waffen ab.

»Ich will keine Verbindung mit Ihnen eingehen«, murmelte Anders, als Truman mit den Händen über seinen ausgeblichenen Jeansoverall fuhr.

»Dann wären wir ja schon zwei«, erwiderte Truman. Zwei Gewehre lagen im Waffenregal am Heckfenster des Fords, aber Anders hatte keine weitere Waffe bei sich. Truman legte ihm Handschellen an und kehrte zum Ford zurück. Er holte die Waffen heraus, kurbelte das Fenster wieder hoch, zog den Schlüssel aus dem Zündschloss und verriegelte den Wagen.

Als er zu seinem Wagen zurückkehrte, hing Anders schnarchend auf dem Rücksitz.

Umso besser. Staatsverweigerer fochten ihre Kämpfe lieber mit Worten aus. Ihre Aussagen klangen für Truman stets wie vollkommener Blödsinn, aber er wusste, dass sie felsenfest daran glaubten, durch diverse mündliche Erklärungen gewöhnlichen Anklagen entgehen zu können. Sie waren in der Lage, ihren juristischen Blödsinn stundenlang von sich zu geben, und die unablässigen Auseinandersetzungen waren ermüdend.

Daher war er sehr erleichtert, dass er auf dem Rückweg in die Stadt nur Anders’ Schnarchen hören musste.

* * *

Truman führte Anders durch das kleine Polizeirevier und brachte ihn gerade in einer der drei Arrestzellen unter, als Officer Royce Gibson den Kopf durch die Tür steckte und die Nase rümpfte.

»Himmel, was stinkt denn hier so?«

»Das ist nur der übliche Cocktail aus Alkohol und Körpergeruch«, antwortete Truman. Er verließ die Zelle und verriegelte die Tür.

»Hey, Anders«, meinte Royce. »Wann haben Sie das letzte Mal geduscht?«

Truman warf ihm einen tadelnden Blick zu, und der junge Officer besaß wenigstens den Anstand, geknickt zu wirken.

»Ich unterstehe nicht der Regierung und erkenne die US-Gesetze nicht an«, nuschelte Anders.

»In diesem Fall betrachten Sie die Zelle doch einfach als sichere Zuflucht, bis Sie wieder ohne Hilfe stehen können«, schlug Truman vor. Der ältere Mann nickte, legte sich auf die Pritsche und schlief sofort wieder ein.

»Keine Verbindung«, sagte Truman amüsiert.

»Ich habe nicht die geringste Ahnung, was er meint, wenn er das sagt«, gab Royce zu. »Daher ignoriere ich es einfach.«

»Er bildet sich ein, sich dann nicht unseren Gesetzen unterwerfen zu müssen. Das hat irgendetwas damit zu tun, dass es keine legale Vereinbarung zwischen ihm und uns gibt.« Truman schüttelte den Kopf. »Behalten Sie ihn im Auge. Ich mache Feierabend und fahre nach Hause.«

»Augenblick noch. Ich wollte Ihnen noch ausrichten, dass das FBI in Bend angerufen hat; sie haben zwei Agenten aus Portland zum … Biggs-Tatort geschickt und wollen, dass sie jemand herumführt, weil der Mord schon vor zwei Wochen verübt wurde … und weil die Tür abgeschlossen ist.«

Das Abendessen aus Steak und Backkartoffel, von dem Truman geträumt hatte, wurde unverhofft um eine Stunde verschoben. Vielleicht auch um zwei. Sein Magen knurrte protestierend. »Muss das heute Abend sein?«

»Soweit ich weiß, warten sie schon vor dem Haus.«

Truman nickte knapp und ging zur Tür, wobei er sich noch seinen Cowboyhut schnappte, den er beim Reinkommen mit Anders aufgehängt hatte, und aufsetzte. Er würde jeden genau im Auge behalten, der um Jefferson Biggs’ Haus herumschnüffelte.

* * *

Fünf Minuten später parkte Truman hinter einem anderen schwarzen Tahoe vor dem Tatort von vor zwei Wochen.

Zwei Personen stiegen aus dem anderen Fahrzeug aus, und er stutzte kurz, als er erkannte, dass eine davon eine Frau war.

Lebe ich schon zu lange in Eagle’s Nest? In seinem alten Job und in der Army hatte er mit vielen Frauen zusammengearbeitet. Doch nach gerade mal sechs Monaten in diesem abgelegenen Teil des Landes verwandelte er sich nach und nach in einen Redneck. Zu seinem Trupp gehörten keine weiblichen Officers, und er hatte gehört, dass sich dort auch noch nie eine Frau beworben hatte.

Der Mann trug eine Brille und einen dicken Wollmantel. Keinen Hut. Er kam auf Truman zu und streckte die Hand aus. »Special Agent Eddie Peterson. Wir wissen es sehr zu schätzen, dass Sie uns ins Haus lassen.« Sein Händedruck war kräftig, der Blickkontakt direkt.

Als die Frau vortrat, musste sich Truman zusammenreißen, um nicht die Hutkrempe anzutippen, da er merkte, dass sie ihm die Hand reichte. »Special Agent Mercy Kilpatrick.« Ihr Händedruck war weniger fest, doch ihre grünen Augen wirkten aufmerksam und intelligent. Truman hatte den Eindruck, sie würde ihn von innen und außen begutachten und mit einem einzigen langen Blick all seine Geheimnisse in Erfahrung bringen. Sie war ebenso groß wie ihr Partner, hatte sich allerdings schlauerweise einen Regenmantel mit Kapuze angezogen. Und Gummistiefel.

»Truman Daly. Ich bin der Polizeichef von Eagle’s Nest. Ein bisschen mehr Vorwarnzeit wäre beim nächsten Mal sehr nett.« Er konnte sich diesen leisen Tadel nicht verkneifen, denn sie nahmen seine Zeit in Anspruch, und er hatte Hunger.

»Das tut uns sehr leid«, sagte Special Agent Peterson. »Aber wir kamen gerade vom Fahey-Tatort und wollten uns die beiden vorherigen Mordschauplätze ansehen, solange der Eindruck noch frisch ist.«

Truman runzelte die Stirn. »Ich habe schon gehört, dass Ned Fahey ermordet wurde. Sie glauben also, es besteht eine Verbindung zwischen den Fällen?« Innerlich fluchte er darüber, dass Sheriff Rhodes vom Deschutes County alle Details über Faheys Tod für sich behalten hatte. Jetzt kam Truman wie ein uninformierter Idiot rüber. Zugegebenermaßen lag Faheys Grundstück im Zuständigkeitsbereich des Countys, aber Truman hatte den alten Mann als Ehrenbürger von Eagle’s Nest betrachtet, da er hin und wieder den John-Deere-Laden aufsuchte und mit den anderen Einheimischen plauderte, die sich dort an jedem Werktag morgens bei einer Tasse schlechtem Kaffee zum Tratschen trafen.

Special Agent Kilpatrick drehte sich um und nahm das Haus in Augenschein. »Es wäre möglich«, antwortete sie. Er konnte aufgrund ihrer Kapuze nicht erkennen, wie sie die Lippen bewegte, sondern sah gerade mal den Regen, der auf einigen herausgerutschten schwarzen Locken funkelte.

In den letzten Minuten des Tageslichts sahen das Haus und die Nebengebäude sehr einsam aus. Als würden sie auf die Rückkehr ihres Besitzers warten. Die Leere legte sich schwer auf Truman und drohte ihn unter Erinnerungen zu begraben. Jefferson Biggs würde nie wieder nach Hause kommen. Truman war erst vor Kurzem nach Eagle’s Nest gezogen, um Onkel Jefferson näher zu sein, und jetzt war er fort. Was hält mich noch hier? Truman hatte in den sechs Monaten nicht wirklich Wurzeln geschlagen.

»Ist der Strom im Haus noch an?«, erkundigte sich Kilpatrick. »Es sieht so dunkel aus.«

»Ja, ist er. Das Haus ist ans städtische Stromnetz angeschlossen, verfügt aber auch über einige Back-up-Systeme, falls die Versorgung ausfallen sollte«, erklärte Truman.

»Gut.« Ihre Kapuze wackelte, als sie nickte. »Waren Sie einer der Ersten vor Ort? Haben Sie den Tatort gesehen, bevor die Spurensicherung hier war?«

»Ich habe ihn gefunden«, antwortete Truman knapp. »Als er nicht zum verabredeten Kaffeetrinken aufgetaucht ist, habe ich mich selbst reingelassen.«

Kilpatrick drehte sich zu ihm um und musterte ihn neugierig. »Sie haben einen Schlüssel?«

Der durchdringende Blick ihrer grünen Augen war ihm nicht ganz geheuer. »Er war mein Onkel.«

Sie musterte ihn mitfühlend. »Mein Beileid. Wie schrecklich für Sie. Haben Sie sonst noch Familie in der Stadt?«

Truman spürte, wie sich die unsichtbaren Mauern um sein Herz wieder aufbauten. Das war seit Onkel Jeffersons Tod schon mehrfach passiert. »Nein, wir waren die einzigen beiden, die hier in Oregon lebten.«

»Und Sie haben die Ermittlungen nicht abgegeben?«, fragte Peterson.

»Dies ist eine Kleinstadt. Ich habe keinen ganzen Stall voller Ermittler zur Verfügung. Außerdem wollte ich jeden Schritt überwachen, um sicherzustellen, dass alles richtig läuft.«

Kilpatrick beäugte ihn einen Moment lang. Er hielt ihrem Blick stand. Sie konnte ihn tadeln, so viel sie wollte; dies war seine Stadt, und er hatte das letzte Wort.

»Dann sehen wir uns hier mal um«, meinte sie. »Gehen Sie bitte voraus und schildern uns, was Sie wie vorgefunden haben.«

Truman nickte steif und führte die beiden Außenstehenden um das Haus herum.

»Haben Sie schon irgendwelche Verdächtigen?«, wollte Peterson wissen, während sie im schwachen Licht um mehrere teichgroße Pfützen herumgingen.

»Nein. Ich habe Dutzende Fingerabdrücke nehmen lassen. Neunundneunzig Prozent davon stammten von meinem Onkel oder von mir. Für die anderen gab es keine Treffer.«

»Aber sein Arsenal wurde leer geräumt«, merkte Kilpatrick an.

»Ja. Bis auf die letzte Waffe.« Eine Woche zuvor hatte Truman herausgefunden, dass sein Onkel nur zwei Waffenregistrierungen besessen hatte, dabei wusste er, dass sich gut dreißig unterschiedliche Waffen in seinem Besitz befunden hatten.

Er blieb an der Tür stehen und holte die Schlüssel aus der Manteltasche. Seine Schlüssel zum Haus seines Onkels hingen an einem uralten Pabst Blue Ribbon-Schlüsselanhänger, den Truman als Teenager immer hatte haben wollen. Er ging die Schlüssel durch, steckte den richtigen ins Schloss und warf den Agenten einen Blick über die Schulter zu. »Sind Sie bereit?«

Vier

Mercy musste an Sheriff Rhodes’ Worte denken.

Er hatte den Ned-Fahey-Tatort als Traum im Vergleich zum Tatort des Biggs-Mords bezeichnet.

Was erwartet uns hier?

»Seit dem Tag, an dem ich ihn gefunden habe, wurde hier nichts verändert«, warnte Truman sie.

Mercy nickte bestätigend. »Wir sind bereit.« Truman hielt noch eine Sekunde inne, dann drückte er die Tür auf und trat ein.

»Überschuhe?«, fragte Eddie vor dem Überqueren der Türschwelle. Schon beim Gang durch den Garten hatten Mercy und er Handschuhe getragen.

»Wir haben jeden noch so kleinen Beweis vom Boden aufgesaugt. Der Tatort ist eigentlich freigegeben, aber ich weiß die Handschuhe zu schätzen.« Er schaltete das Licht ein, und zwei Lampen im Wohnzimmer gingen an.

»Der Tatort ist eigentlich freigegeben?«, hakte Mercy nach.

Wann immer die Sprache auf seinen Onkel kam, blitzte Schmerz in den Augen des Chiefs auf. »Jefferson hat mir alles hinterlassen. Da es nun mein Haus ist, werde ich hier erst alles aufräumen, wenn ich weiß, wer das getan hat.«

Mercy malte sich aus, wie sich in dem alten Haus Staub auf den Tatort herabsenkte und alles von Spinnweben überzogen wurde. Wie lange wird er warten?

Der Neffe trauerte ganz eindeutig noch.

Vielleicht sollten wir jemand anderen bitten, uns den Tatort zu zeigen.

Aber ein Blick in das entschlossene Gesicht des Chiefs, der sich im Haus umschaute, verriet ihr, dass er ihre beste Informationsquelle in Bezug auf Jefferson Biggs darstellte. Sie musste nur aufhören, sich Gedanken über seine Gefühle zu machen.

Im Haus roch es stark nach Pfeifentabak. Dieser Geruch war Mercy aus ihrer Kindheit noch sehr vertraut. Ihre Großmutter hatte die »stinkende Pfeife« ihres Großvaters nie gemocht und ihn zum Rauchen immer nach draußen geschickt, doch der Geruch hatte trotzdem an seiner Kleidung gehaftet.

Im kleinen Wohnzimmer standen ein altes Sofa und zwei Sessel, aber kein Fernseher, und an den Wänden hingen verblichene Drucke von Elchen. Der dunkelbraune Teppich war sehr fleckig und vor einem ziemlich verschlissenen bequemen Sessel fast vollständig abgenutzt. Nirgendwo waren Hinweise auf eine weibliche Handschrift zu erkennen.

Wenn das Opfer alles seinem Neffen überlassen hat, können wir wohl davon ausgehen, dass es keine Kinder gibt.

Sie beschloss, sich die Biggs-Akte noch einmal genauer anzusehen.

»Er wurde da vorn gefunden.« Truman ging durch einen schmalen Flur, und Mercy und Eddie folgten ihm.

Ein dunkler rötlich brauner Fleck zog sich im Zickzack über eine Wand und endete in einem deutlich erkennbaren Handabdruck. Ausgefranste Einschusslöcher zogen sich um einen Türrahmen in der Mitte des Flurs. Auch die Tür war mit Löchern durchsiebt. Truman drückte sie mit einem Finger auf, trat zurück und deutete in den dunklen Raum.

Mercy machte einen Schritt hinein und tastete blind nach einem Lichtschalter. Es handelte sich um ein kleines Badezimmer, dessen Boden mit dicken, verwirbelten Mustern aus getrocknetem Blut bedeckt war. An der hinteren Wand zeichneten sich weitere Einschusslöcher ab. Mehrere Kugeln schienen auch ins alte Linoleum eingedrungen zu sein.

Der Anblick war heftig.

»Er hat Zuflucht im Badezimmer gesucht?«, fragte Eddie, der hinter ihr stand.

»Ja. Nachdem er in seiner Küche von jemandem angegriffen worden war. Die Blutspur beginnt dort. Ich habe eines seiner Küchenmesser neben ihm auf dem Badezimmerboden gefunden. Man hat elf Mal auf ihn geschossen.« Die Stimme des Chiefs klang monoton. »Da sich auch Blut einer anderen Person am Messer befand, wissen wir, dass er seinen Angreifer verletzt hat.«

Mercy drehte sich zu ihm um. »Ihr Onkel war ein Kämpfer.«

»Ganz eindeutig. Er hat sich von niemandem etwas gefallen lassen. Wenn Sie mich fragen, war er stinksauer, dass ihn jemand umbringen wollte, und hat allein aus Wut zurückgeschlagen und nicht etwa, um sich zu verteidigen.«

Sie musste bei seiner Beschreibung grinsen, und die Anspannung des Chiefs schien ein wenig nachzulassen.

»Ich vermute, dass er jetzt im Himmel sitzt und verdammt stolz darauf ist, bis zum Ende gekämpft zu haben, sich aber auch darüber ärgert, dass es ihn trotzdem erwischt hat«, fügte Truman hinzu.

»Er scheint ein richtiges Original gewesen zu sein«, stellte Mercy fest.

»Sie werden bald herausfinden, dass es in dieser Gegend nur so von Originalen wimmelt. Ich hätte nie damit gerechnet, dass es in einer derart kleinen Gemeinde solch eine vielfältige Bevölkerung gibt.«

»Sehen wir uns die Küche an«, schlug Eddie vor. Sie liefen im Gänsemarsch durch den schmalen Flur zur Küche im hinteren Teil des Hauses.

Mercy bemerkte das schmutzige Geschirr im Spülbecken und einige Blutspritzer auf dem Boden und den Unterschränken. »Hat er das Messer aus dem Block auf der Arbeitsfläche gezogen?«

»Ja.«

Sie ging vorsichtig durch den Raum. »Hier wurden keine Einschusslöcher gefunden?«

»Nein«, antwortete Truman. »Nur im Bereich um das Badezimmer.«

»Gewaltsames Eindringen?«, fragte sie.

»Dafür gibt es keine Anzeichen.«

»Stammt das Blut hier von Ihrem Onkel oder von seinem Angreifer?«, erkundigte sich Eddie.

»Sowohl als auch.«

»Also brachte jemand in der Küche Ihren Onkel dazu, ein Messer zu schwingen. Das muss ein angeregtes Gespräch gewesen sein«, bemerkte Mercy.

»Angesichts des Endes vermute ich, dass es recht hitzig zuging«, meinte Truman trocken. Er wirkte nicht beleidigt, und Mercy war erfreut, dass dem Chief Scherze trotz der traurigen Situation nichts ausmachten. Mit Humor ließ sich vieles leichter bewältigen, weshalb auch viele Polizisten darauf zurückgriffen. Das hatte nichts mit mangelndem Respekt zu tun, vielmehr wollten die Ermittler ihr Herz bloß vor dem Schrecklichen schützen, das sie auf der dunklen Seite der Gesellschaft zu sehen bekamen.

»Warum interessiert sich das FBI auf einmal für den Mord an meinem Onkel?«, fragte Truman leise. »Wegen der verschwundenen Waffen, richtig? Ich weiß, dass Ned Fahey da draußen am Arsch der Welt förmlich in einer gut ausgestatteten Festung gehaust hat. Wurden seine Waffen ebenfalls gestohlen?«

Eddie sah Mercy in die Augen und zog kurz eine Schulter hoch.

»Ned Fahey ist schon häufiger wegen regierungsfeindlicher Proteste aufgefallen«, erklärte Mercy. »Diese Tatsache hat in Kombination mit der Menge an verschwundenen Waffen unsere Abteilung für Inlandsterrorismus aufhorchen lassen.«

»Ned war kein Terrorist«, widersprach Truman, dessen Augen zornig funkelten. »Er war ein eigensinniger alter Mann, der bei jedem Wetterumschwung höllische Knieschmerzen bekam. Aber er gehörte nicht zu den Leuten, die Bundesgebäude in die Luft jagen.«

»Wie lange leben Sie schon in Eagle’s Nest?«, erkundigte sich Mercy.

»Seit sechs Monaten.« Truman reckte das Kinn in die Luft. »Aber ich habe während der Highschool dreimal die Sommerferien hier in diesem Haus verbracht und weiß, wie diese Gemeinde tickt.«

Mercy blieb kurz das Herz stehen. Falls er sie erkannt hatte, ließ er sich das nicht anmerken. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass Jefferson Biggs’ Neffe in den Sommerferien hier gewesen war. Truman Daly schien einige Jahre älter zu sein als sie … Er war vermutlich eher im Alter eines ihrer Geschwister und hätte sie damals überhaupt nicht zur Kenntnis genommen.

»Als Sommerbesuch wären Sie trotzdem ein Außenseiter gewesen«, sagte sie. »Man hieß Sie in der Stadt willkommen, weihte Sie jedoch nicht in Geheimnisse ein. Sie bekamen nur zu sehen, was Sie auch sehen sollten.«

Er musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. »Wie kommen Sie darauf?« Sein Tonfall deutete an, dass sie seiner Meinung nach keine Ahnung hatte, wovon sie sprach.

Sie zuckte mit den Achseln. »Ich bin in einer Kleinstadt aufgewachsen und kenne die Mentalität dieser Menschen. Es braucht einige Jahrzehnte und sehr viele familiäre Wurzeln, bis man in den inneren Kreis aufgenommen wird.«

Etwas Seltsames zuckte kurz in seinem Gesicht auf, als hätte sie einen Nerv getroffen, und sie vermutete, dass der Polizei-Chief in den bisherigen sechs Monaten schon auf zahlreiche Barrieren gestoßen war statt auf die Akzeptanz, die er sich von den Einwohnern erhoffte.

»Irgendwann werden sie Ihnen vertrauen«, fügte sie ermutigend hinzu. »Es braucht einfach Zeit.«

»Mir ist die Großstadt deutlich lieber«, schaltete sich Eddie ein. »Wenn man den Blick stur auf den Bürgersteig richtet, kommen alle gut miteinander aus.«

Truman erwiderte nichts, und Mercy wusste, dass sie eine Tatsache angesprochen hatte, die er sich nicht eingestehen wollte. Allerdings sprach auch vieles für den Polizeichef. Er war direkt, hatte ein vertrauenswürdiges Gesicht und trug seinen Cowboyhut, als wäre er damit auf die Welt gekommen. Das waren drei Pluspunkte in Eagle’s Nest. Sie sah keinen Ehering, daher war er zweifellos sofort an die Spitze der Liste verfügbarer Junggesellen geschossen. Sein kurzes dunkles Haar und die braunen Augen machten ihn durchaus attraktiv. Die ledigen Frauen in dieser Stadt waren immer auf der Suche nach einem gut aussehenden Kerl mit einem festen Job.

»Von allen drei Tatorten sind sehr viele Waffen verschwunden«, kam Eddie auf Trumans eigentliche Frage zurück.

»Sie glauben also, da baut sich jemand ein Waffenlager auf?«, fragte der Chief.

»Das wissen wir nicht«, antwortete Mercy. »Wir sind hier, um den Grund dafür herauszufinden. Wurden diese Männer wegen ihrer Waffen ermordet? Oder hatte da nur jemand dreimal in Folge Glück?«

»Ich hätte gedacht, dass es mehr als verschwundene Waffen braucht, damit das FBI zusätzliche Agenten herschickt«, meinte Truman. »Die Agenten aus Bend hätten sich doch bestimmt auch um die Sache kümmern können. Was verschweigen Sie mir? Es geht um Aliens, nicht wahr? Sie sind die wahren Mulder und Scully.«

Mercy wünschte sich, dies wäre das erste Mal, dass sie diesen Witz zu hören bekam.

»Ich kann Ihnen versichern, dass wir ebenso wie Sie daran interessiert sind, den Mord an Ihrem Onkel aufzuklären«, sagte Eddie entschieden.

Truman warf ihm einen Blick zu, der Stahl schmelzen konnte.

»Da Sie wissen, dass jemand mit dem Messer Ihres Onkels verletzt wurde, gehe ich davon aus, dass in den Tagen nach dem Mord an Jefferson niemand mit einer Schnitt- oder Stichwunde gesehen wurde.« Mercy versuchte, den Polizeichef abzulenken, bevor er Eddie noch die Brille von der Nase riss, weil er ihn derart herablassend behandelte.

»Ich bin dem nachgegangen. Es ist niemand in der Notaufnahme aufgetaucht, und ich habe auch verlautbaren lassen, dass ich nach jemandem mit solchen Verletzungen suche.«

Mercy hatte während der Highschool mal einen Sommer lang an der Rezeption des Krankenhauses von Eagle’s Nest gearbeitet. Es hatte sieben Betten, und die Buchhaltung bestand aus handgeschriebenen Berichten, die in einem einzigen Aktenschrank Platz fanden. Sie hatte gewusst, wer in der Stadt jeden Monat fünf Dollar bezahlte, um eine Tausend-Dollar-Krankenhausrechnung abzustottern, und das waren ziemlich viele Leute gewesen.

»Ich würde mit einer Verletzung, die ich mir bei der Ermordung eines Menschen zugezogen habe, auch nicht in die Notaufnahme gehen«, kommentierte Eddie.

»Ich habe mich auch bei den Tierärzten erkundigt. Aber die meisten Menschen, die hier leben, können sich ganz gut selbst verarzten. Wenn man verletzt wird, ist professionelle Hilfe meist nur sehr weit entfernt zu finden.«

Mercy nickte. Als sie zehn war, hatte sie zugesehen, wie ihre Mutter eine tiefe Schnittwunde am Bein ihres Vaters genäht hatte. Dabei hatte er eine Flasche mit Alkohol umklammert und auf ein dickes Lederstück gebissen, das er nur hin und wieder aus dem Mund nahm, um einen Schluck aus der Flasche zu trinken. Er hatte keinen Arzt bezahlen wollen, wo seine Frau doch dazu in der Lage war, ihn wieder zusammenzuflicken. Ihre Mutter war als Hebamme und autodidaktische Sanitäterin sehr hoch angesehen gewesen.

»Was glauben Sie, wer das getan hat?« Sie sah dem Chief angespannt ins Gesicht.

Die Atmosphäre in der Küche veränderte sich leicht, und auch Eddie musterte den Polizei-Chief erwartungsvoll. Mercy fragte sich, ob der Neffe ihnen überhaupt eine direkte Antwort geben würde. Es war in seinem besten Interesse, ihnen alles zu erzählen, was er wusste oder vermutete, allerdings vertraute man Außenstehenden in Eagle’s Nest nicht. Zugegeben, Truman war ebenfalls ein Außenstehender, aber die Buchstaben »FBI« hätten genauso gut in Grellgelb auf dem Rücken ihrer dunklen Jacken stehen können.

Truman mahlte leicht mit dem Kiefer, und Mercy konnte seine Frustration förmlich sehen. »Ich weiß es nicht«, gab er leise zu. »Und ich kann Ihnen versichern, dass ich nächtelang wach lag und versucht habe, es herauszufinden. Ich habe mir jedes noch so kleine Stück Papier in diesem Haus angesehen und auch seine Bankkonten überprüft. Aber es gibt einfach kein Motiv. So ungern ich es zugebe, komme ich doch langsam zu dem Schluss, dass er sich mit einem Freund gestritten haben muss und die Sache eskaliert ist. Ich vermute, dass der Schütze das Waffenlager allein wegen des Werts der Waffen leer geräumt hat.«

Mercy hätte ihm nur zu gern geglaubt. Die in seiner Stimme mitschwingende Verzweiflung gab ihr zu verstehen, dass er wirklich nicht weiterwusste. Und seine Augen wirkten aufrichtig. Sie hatte in ihren sechs Jahren beim FBI schon sehr viele Lügner verhört. Einige schafften es, sie reinzulegen, andere nicht.

Vorerst würde sie davon ausgehen, dass er ihnen alles gesagt hatte.

»Kann man die Waffen zurückverfolgen?«, wollte Eddie wissen.

Truman verzog das Gesicht. »Er hat nur zwei registriert.«

Laut der Uhr über dem Herd war es beinahe 20 Uhr. Mercy und Eddie mussten noch in ihr Hotel einchecken. »Ich würde gern morgen bei Tageslicht noch einmal herkommen und mir das restliche Grundstück ansehen«, sagte sie zum Chief. »Außerdem sollten wir auch noch den dritten Tatort aufsuchen.«

»Hinterlassen Sie mir einfach eine Nachricht auf dem Polizeirevier, dann können wir uns dort treffen«, schlug Truman vor. Er wirkte langsam müde und ließ resigniert die Schultern hängen. Das Haus wirkte irgendwie ruhiger als zuvor.

»Danke.« Dieser Tatort und Trumans Anwesenheit hatten den Fall zu einer persönlichen Angelegenheit werden lassen. Mercy war jetzt fest entschlossen, den Mord an Jefferson Biggs aufzuklären, und zwar ebenso dem Neffen wie dem Opfer zuliebe.

Fünf

Bitte sehr, Chief.«