Metzgete in Zürich Nord - Stephan Pörtner - E-Book

Metzgete in Zürich Nord E-Book

Stephan Pörtner

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Beschreibung

Henry Kummer von der Kantonspolizei Zürich ermittelt in einem Mordfall. Auf seinem Weg durch das schöne und hässliche Zürich wird der knurrige Fahnder hineingezogen in ein mafiöses Geflecht aus Radrennsport und Doping. Stephan Pörtner spielt souverän das Krimi-Klavier: Es gibt ignorante Vorgesetzte, junge Kolleginnen, eine ungewöhnliche Mordwaffe, einen reichen Dopingarzt und eine scharfe, schöne Witwe. Das Ganze gewürzt mit der Zürich-Szenerie und einer guten Dosis Gesellschafts- und Sozialkritik. Kurz: alles ist drin

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Seitenzahl: 206

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Stephan Pörtner

Metzgete in Zürich Nord

Fortsetzungsroman

Die gesammelten Folgen

Erschienen im

Tagblatt der Stadt Zürich

von März-Juni 2006

Alle Rechte vorbehalten

© 2015 Edition Aisatore

Illustration: Alex Macartney

ISBN 978-3-033-00836-6

978-3-906247-08-3

www.stpoertner.ch

Inhalt

1. Es gibt Arbeit

2. Die Leiche im Wald

3. Saumetzgete

4. Der Besuch bei der alten Dame

5. Der Verdacht

6. Ein rüstiger Rentner

7. Ein stichhaltiger Beweis

8. Keine Spur von Sicherung

9. Ein Freund weiss Rat

10. Eine schillernde Figur

11. Sturm im Wasserglas

12. Zu gross und zu schwer

13. Ein perfekter Handel

14. Playboy Mansion Oerlikon

15. Die Käfersammlung des Dr. Frankhauser

16. Radlerlatein

17. Im Hallenbad

18. Ein Gümeler

19. Vertiefte Zusammenarbeit

20. Der gefallene Star

21. Ein Mann hat Durst

22. Der junge Rentner

23. Kummer blamiert

24. Der Giftschrank des Dr. Frankhauser

25. Die Witwe Gruber

26. Wie man Witwe wird

27. Ein schmuckes Zimmer

28. Dicke Luft in der Chefetage

29. Das alte Testament

30. Eine alte Quelle sprudelt frisch

31. Gspusizeugs

32. Strittmatter ist gefragt

33. Erzähl‘s nochmal, Flücki!

34. Schleimige Informationen

35. Strittmatter schlägt zu

36. Eine Akte lässt auf sich warten

37. Toni Portmann hat Schicht

38. Enge Verhältnisse

39. Ostereier und Belgischer Mix

40. Vergebene Liebesmüh

41. Verschwunden

42. Kummer kriegt die Krise

43. Der fallende Brunnenhof

44. Rettung in Not

45. Lenkerspuren

46. Ungelöste Fälle

47. Der Lack ist ab

48. Lob und Tadel

49. Gnadentrunk

50. Familie Flückiger

51. Schmerz aushalten

52. Beförderung

53. So eine Sau

54. Ein unerwarteter Wohltäter

55. Unterm Fenster

56. Boxen

57. Kummer kriminell

58. Sieht schlecht aus

59. Fertig lustig!

60. Blick zurück

61. Kummer schlägt zurück

62. Das neue Testament

63. Ein Fall wird beerdigt

64. Die Speiche

65. Schützenhilfe

66. Service

67. Noch eine Eroberung

68. Pech für Kummer

69. Der verlorene Sohn

70. Eine kurze Karriere

71. Frau Derungs

72. Eisernes Schweigen

73. Schwestern

74. Doch eine Sau

75. Brudermord

76. Das Ende

77. Gerechtigkeit?

78. Kurzer Prozess

79. Frühpensionierung

80. Unverhofftes Wiedersehen

Weitere Romane von Stephan Pörtner:

1. Es gibt Arbeit

Henry Kummer sass an seinem Schreibtisch und fuhr mit einer leeren Cola-Dose und einer Valser-PET-Flasche den Grand-Prix von Monaco nach. Cola lag nach 42 von 78 Runden vorn. Das Telefon schellte. Konzentriert verfolgte Kummer das gewagte Überholmanöver, zu dem die Valserflasche beim Yachthafen ansetzte. Es kam zum Crash, die beiden Getränkegebinde flogen in hohem Bogen vom Schreibtisch. Kummer nahm den Hörer ab. Durch die Leitung quakte eine unangenehme Stimme.

«Ja Chef!», sagte Kummer, obwohl der Anrufer alles andere als sein Chef war.

Er schaute zu seiner neuen Kollegin Caroline Strittmatter, die ihm gegenüber an ihrem Schreibtisch sass und konzentriert am Computer arbeitete.

Strittmatter war ihm Anfang Jahr zugeteilt worden. «Du wirst sie einarbeiten», hatte Polizeikommandant Hofstetter gesagt. «Von dir kann sie etwas lernen.»

Es war wohl eher so, dass sich die erfahrenen Kollegen nicht mit einer Anfängerin abplagen wollten. Kam dazu, dass viele nicht gerne mit einer Frau zusammenarbeiteten. Sei es aus Prinzip, weil sie fanden, Frauen hätten bei der Abteilung Kapitalverbrechen nichts verloren, sei es, weil sie Angst hatten, ihre rüden Umgangsformen und markigen Sprüche könnten ihnen zum Verhängnis werden. Man wusste ja nie. Heutzutage war schnell von sexueller Belästigung die Rede. Gift für die Karriere.

Als dann noch durchdrang, dass die Neue studiert hatte, bevor sie zur Polizei kam, galt sie endgültig als unvermittelbar.

So entsann man sich Henry Kummers. Dass der keine Karriere mehr machen würde, das wussten alle und der Polizeikommandant wusste, dass sich niemand darum riss, mit Kummer zusammenzuarbeiten. Er war zu eigenbrötlerisch und zu launisch. Die Lösung lag auf der Hand. Die neue Studierte und der alte Kauz. Sehr elegant. Und Kummer wurde ausnahmsweise vom Chef gelobt. Zu Recht, er war ein erfolgreicher Ermittler. Deshalb liess man ihn gewähren. Sonst wäre er schon lange nicht mehr bei der Kripo, denn die war so etwas wie die Elite der Polizei.

«Hürstholz», sagte Kummer laut.

Strittmatter sah ihn erstaunt an. Sie wusste wohl nicht, ob sie jetzt Gesundheit sagen musste.

«Weisst du, wo das Hürstholz ist?», fragte Kummer.

Sie schüttelte den Kopf.

«Stimmt, du bist ja nicht aus Zürich.»

Das war natürlich unfair. Die meisten Zürcher wussten nicht, wo das Hürstholz war. Kummer kannte das Wäldchen wie seinen Hosen­sack, er war an der Wehntalerstrasse aufgewachsen. Strittmatter hingegen stammte aus einem Kaff im Thurgau. Sie hatte während ihres Studiums in Zürich gewohnt und lebte jetzt in Dietikon.

Ihr Dialekt hatte die Jahre in der Fremde unbeschadet überstanden. Kummer gewöhnte sich nur langsam daran. Er musste aufpassen, dass er nicht lachte, wenn sie sich jeweils vorstellte. Das gequetschte Ostschweizer «a» liess den eleganten französischen Namen derb klingen. Sie nannte sich Carolin, nicht Caroline, wie die Bauchrednerpuppe. Immerhin. Und sie war tüchtig, die Carolin. Kummer sprach sie mit dem Nachnamen an. Du und Nachname. So hielt er es mit den meisten Kollegen. Nur die enger Vertrauten nannte er beim Vornamen.

«Dann wirst du es jetzt kennen lernen. Es gibt Arbeit», sagte Kummer. «Ein Toter liegt beim Schützenstand. Du fährst.»

2. Die Leiche im Wald

Kummer quetschte sich in Strittmatters winzigen, roten Nissan. Die Strassen waren wieder befahrbar, übers Wochenende hatte es so viel geschneit wie nie zuvor in Zürich.

«Siehst du, da steht es: Hürstholz.» Kummer zeigte auf das Schild an der Busstation.

«Jawoll», sagte Strittmatter und rollte die grünen Augen hinter der dunklen Sonnenbrille. Sie stellten den Wagen auf den kleinen Parkplatz. Es war ziemlich eng, neben dem Streifenwagen fiel Kummer ein schöner, schwarzer Jaguar auf. Nachdem Mona, seine Frau, gestorben war, hatte er den Opel Kapitän verkauft. Privat hatte er seit zwanzig Jahren kein Auto mehr. Aber so eine alte englische Luxus­karosse, die hätte ihm schon gefallen.

Der Krankenwagen hatte sich den Weg durch den rasch schmelzenden Schnee gebahnt. Am Schiessstand standen zwei Uniformierte, sie hatten den Rücken zum Bahndamm gewandt.

Auf der Waldlichtung war eine Gruppe Kinder mit zwei Betreuerinnen aufgetaucht. Die Kleinen trugen Skianzüge und sahen aus wie Trolle. Eines der Kinder schrie vergnügt lalülalü und zeigte auf das Krankenauto.

Diethelm von der Spurensicherung stapfte auf der Bahntrasse herum. Die zugedeckte Leiche lag hinter dem kleinen Schuppen, am Fuss des Bahndamms. Kummer kletterte den kurzen, steilen Abhang zu den Geleisen hinauf. Zum Glück trug er die guten Winterstiefel.

«Diethelm, was ist passiert?»

«Ein Scheissdreck. Mit dem ganzen Schnee hier ist es unmöglich, gescheite Schlüsse zu ziehen.»

«Wieso? Im Schnee sind doch die Spuren besonders deutlich», wandte Kummer ein. Es sah aus, als seien schon einige Leute über die Geleise gegangen, auch der Hang war ziemlich zertrampelt.

«Ja, aber sie nützen nichts, weil der Schnee schnell schmilzt an der Sonne. Es lässt sich schon nicht mehr sagen, wie alt die Spuren sind, die ganzen Sohlenprofile sind weg. Was meinst du, wie viele Leute sich den verschneiten Wald nicht entgehen lassen wollten, obwohl die Wege ja nicht gepfadet waren? Ich weiss nicht mal, von welcher Seite der Mann gekommen ist.»

«Ist er unter den Zug geraten?», fragte Kummer

«Nicht ganz. Er ist vor den Zug gelaufen und vom Aufprall dort hinunter geschleudert worden, darauf weisen die Blutspuren hin.»

«Wollte er Selbstmord begehen?»

«Woher soll ich das wissen? Der Mann wollte vielleicht einfach die Trasse überqueren und hat nicht aufgepasst. Natürlich ist es auch möglich, dass er gestossen wurde. Das müssen wir jetzt herausfinden. Aber ich wie gesagt, von mir kannst du nicht viel erwarten.»

«Weiss man schon, wer es ist?»

«Ja, die Brieftasche wurde dort unten gefunden. Der Mann heisst Otto Frankhauser.»

«Hat der Lokführer den Vorfall gemeldet?»

«Nein, er hat es gar nicht richtig realisiert. Erst bei Schichtende entdeckte er an der Lok einen Fleck, der nach Blut aussah. Er erinnerte sich, dass er auf der Strecke ein seltsames Geräusch gehört hatte. Er rief den Wildhüter an, weil er dachte, ihm sei ein Tier in den Zug gelaufen. Der hat dann die Leiche gefunden und die Kollegen alarmiert.»

Diethelm schaute zu den Beamten. Strittmatter stand etwas verloren beim Streifenwagen. Kummer stieg vorsichtig das Bord hinunter.

«Kummer, Kripo Zürich», stellte er sich vor.

«Tschümperlin, Quartierwache Affoltern. Das ist mein Kollege Gasser, er ist neu bei uns.» Der junge Polizist lächelte gequält und als er ein leises Grüezi murmelte, roch Kummer Erbrochenes.

«Er ist sich halt so Sachen noch nicht gewohnt», entschuldigte ihn Tschümperlin.

«So schlimm?», fragte Kummer.

3. Saumetzgete

Kummer ging mit Strittmatter zu der Leiche hinüber, atmete tief durch und hob die Plache. Wirklich kein schöner Anblick. Der Schädel war regelrecht zertrümmert, der Brustkorb eine einzige blutige Masse.

«Den hat‘s aber schön verschlirget», sagte Strittmatter ungerührt.

«Leg los, was ist dein erster Eindruck?», forderte Kummer die junge Kollegin auf.

Sie kniete sich neben die Leiche und musterte sie aufmerksam.

«Das Alter ist schwer zu schätzen in dem Zustand. Kein junger Mensch, die Haare sind silbergrau. Die Kleidung ist von guter Qualität, der Mantel sieht edel aus». Sie fasste ihn kurz an. «Fühlt sich an wie Kaschmir. Eleganter Anzug, gute Schuhe, wie heissen die schon wieder? Kandahar?»

«Genau.» Kummer betrachtete die Fellschuhe mit dem Reissverschluss.

«Er hat eine gesunde Bräune im Gesicht», fuhr Strittmatter fort. «Skiferien oder Solarium. Die Tatsache, dass er am Montagmorgen spazieren ging, könnte darauf hindeuten, dass er pensioniert war. Äussere Gewalteinwendung lässt sich nicht feststellen, aber auch nicht ausschliessen, bei diesen Verletzungen.»

«Tipptopp», lobte Kummer. «Du schaust genau hin, auch wenn es kein schöner Anblick ist, mit all dem Blut.»

«Ich habe als Kind meinem Vater beim Saumetzgen geholfen.»

«Ob das hier eine Sau war und ob sie gemetzget wurde, wissen wir noch nicht», lächelte Kummer.

«Hat‘s wohl ein bisschen zu eilig gehabt.» Strittmatter schüttelte den Kopf. «Warum allerdings sollte es ein Rentner, der im Wald spazieren geht, eilig haben?»

«Guter Punkt. Allerdings gibt es in Zürich Leute, die es prinzi­piell pressant haben.»

«Der Lokführer steht jetzt zur Verfügung», rief der ältere Streifenpolizist. «Sie haben mir gefunkt, dass er auf der Quartierwache wartet.»

«Gut, ich komme mit euch.» Kummer wandte sich an Stritt­matter. «Fahr du zurück ins Büro und bereite schon mal das Protokoll vor.»

Er wollte lieber mit dem Bus zurückfahren. Nicht nur, weil es bequemer war. Strittmatter, die sonst so ruhig war, wurde hektisch und fluchte fürchterlich, kaum dass sie am Steuer sass. Das machte ihn nervös. Ausserdem hörte sie zum Fahren Heavy Metal.

Die Kreiswache lag in einem alten Haus an der Wehntalerstrasse. Der Lokführer sass im Sitzungszimmer. Ein Mann von etwa dreissig Jahren. Kummer gab ihm die Hand und stellte sich vor.

«Also, was ist passiert?»

«Ich weiss es ehrlich gesagt nicht. Ich habe nur ein dumpfes Geräusch gehört. Weil ich weder einen Menschen noch ein Tier gesehen habe, dachte ich, ich hätte mich getäuscht.»

«Sie haben den Mann nicht einfach übersehen und gerade noch erwischt?», fragte Kummer.

«Nein», antwortete der Lokführer entschieden. «Ich habe doch die Trasse im Auge. An der Stelle muss man aufpassen. Da gehen immer wieder Leute über die Geleise. Aber da war niemand.»

«Sind Sie sicher?»

«Ganz sicher.»

Kummer wandte sich an die beiden Beamten von der Quartierwache. «Nehmt die Aussage auf und schickt mir eine Kopie.»

An der Glaubtenstrasse stieg er in den Zweiunddreissiger und fuhr bis an die Militär-/Langstrasse. Beim Aussteigen bot man ihm Rohypnol an, an der Ampel Kokain und dort, wo der Einunddreissiger hielt, hatte ein nervöser Mann mit Mini-Trottinett zwei Kunden gefunden. Kummer stieg in den Bus, die beiden Kunden fuhren mit bis zur Kaserne. Auf dem Gelände war nicht nur die Kantonspolizei beheimatet, sondern auch eine Heroinabgabestelle.

4. Der Besuch bei der alten Dame

Hat schon jemand die Angehörigen verständigt?», fragte Kummer, als er wieder in seinem Büro war.

«Nicht dass ich wüsste», antwortete Strittmatter.

«Dann will ich mich mal darum kümmern. Hast du die Adresse?»

Strittmatter schrieb sie ihm auf einen Zettel.

«Wo ist das?», fragte Kummer streng.

«Keine Ahnung», zuckte Strittmatter die Schultern. «Irgendwo am Zürichberg?»

«Fast, Strittmatter. An einem Ausläufer davon, am Milchbuck, hinter dem Bad Allenmoos. Zürichholz heisst es dort. Nicht Zürichberg.»

«Soll ich mitkommen?»

Kummer schüttelte den Kopf. «Nicht nötig. Es ist ja eine Routineangelegenheit. Ich geh nur mal die frohe Botschaft überbringen. Kommst du mit dem Protokoll vorwärts?»

Der Gedanke, mit ihr durch den Feierabendverkehr zu fahren, liess Kummer erschauern. Er wusste, dass sie nicht gerne Tram fuhr, und extra einen Dienstwagen anzufordern, hatte auch keinen Sinn um diese Zeit.

«Nein, ich muss noch auf die Berichte von der Gerichtsmedizin und der Spurensicherung warten. Ich habe nichts zu tun im Moment.»

«Dann mach heute früher Feierabend», schlug Kummer vor.

«Das ist aber nett, Chef», antwortete Strittmatter.

Kummer studierte Strittmatters rundes Gesicht. Sie hatte ein markantes, energisches Kinn. Es kam ihm vor, als würde sie sich über ihn lustig machen. Aber sicher war er sich nicht. Strittmatter lächelte jeweils nur rasch und stets leicht eckig. Ihre grünen Augen leuchteten zwar, aber sie verrieten ihre Emotionen nicht. Vielleicht lag das daran, dass sie sich ungeschickt schminkte, wie Kummer fand. Allfälligen Spott aus ihrem Tonfall herauszuhören, war ebenfalls schwierig - bei dem Dialekt.

«Schon gut», brummte Kummer und verliess das Büro.

Er stieg an der Kaserne in den Vierzehner und fuhr bis zum Milchbuck. Von dort aus ging er zu Fuss weiter. So ganz genau wusste er auch nicht, wo sich das Haus von Dr. Frankhauser befand. In diese Gegend kam man nur, wenn man hier wohnte oder jemanden besuchte. Es war ein ruhiges Quartier. Ein paar grössere Wohnsiedlungen, ein riesiges, altes Schulhaus, eine kleine Kirche, dann ein paar schmucke Doppelhäuser und dazwischen ab und zu eine alte Villa, umgeben von einem einfachen Holzzaun.

Kummer passierte eine moderne Siedlung, die aussah, als hätte sie ein Zuckerbäcker entworfen. Kummer wäre fast an der gesuchten Adresse vorbeigegangen. Von aussen sah man nur die dichte Hecke, die das Anwesen umgab. Als wollte sich das Haus verstecken. Der Zugang zum Grundstück wurde von einem schmiedeisernen Tor verwehrt. Es war verschlossen. An der rechten Säule war ein Klingelknopf angebracht, darunter eine numerische Tastatur. Offenbar liess sich das Tor mit einem Code öffnen. Kummer schellte und lächelte freundlich in das ebenfalls in den Betonpfosten eingelassene Fischauge.

Nichts geschah. Kummer läutete noch einmal. Er erwartete ein Summen oder eine Stimme durch die Gegensprechanlage. Darum erschrak er ein wenig, als plötzlich eine alte Frau auf der anderen Seite des Tores stand und ihn kritisch musterte.

«Der Herr Doktor ist nicht da», sagte sie.

5. Der Verdacht

Mein Name ist Kummer. Kriminalpolizei Zürich. Dr. Frank­hauser ist etwas zugestossen. Darf ich einen Moment hereinkommen?»

«Haben Sie einen Ausweis?»

Kummer kramte seinen Dienstausweis hervor und reichte ihn durch das Gittertor. Die alte Frau sah sich das Dokument genau an. Dabei kniff sie weder die Augen zusammen, noch setzte sie eine Brille auf.

«Wägemine», sie öffnete das Tor und Kummer folgte ihr ins Haus.

Sie führte ihn in ein Vestibül, in dem zwei gepolsterte Lehnstühle an einem kleinen, antiken Tisch standen. Das Vestibül war gewissermassen eine Pufferzone, in der man Leute empfangen konnte, ohne sie ganz ins Haus zu lassen. Die alte Frau bat ihn weder die Jacke abzulegen noch sich zu setzen.

«Sie sind Frau Frankhauser?»

Die alte Frau nickte

«Ihr Mann…»

«Mein Bruder», unterbrach sie ihn.

«Dr. Otto Frankhauser ist Ihr Bruder?» Kummer staunte. Mit ihrem Haarknoten, ihrem blauen Rock und dem grauen Wolljäckchen sah Frau Frankhauser aus wie eine Lehrerin in einem alten Film. Sie passte gar nicht zu der gut gekleideten Leiche.

«Ja, er ist mein Bruder. Er ist nicht verheiratet. Ich wohne bei ihm. Ich mache ihm den Haushalt. Es ist für uns beide das Beste.»

Kummer fragte sich, was sie damit meinte. Sein Blick fiel auf eine grosse Bronzeplakette in einem blauen Stofffutteral. Sie lag in einer Vitrine. Dahinter stand ein Foto von einem kernigen Mann mit silbergrauem Haar, der einem ehemaligen Bundesrat die Hand schüttelte. Die beiden Männer hielten die in der Vitrine ausgestellte Plakette in die Kamera.

«Ihr Bruder?»

«Natürlich. Wegen dem Bundesrat steht das Bild nicht da», antwortete Frau Frankhauser ungeduldig.

«Das kann ich mir vorstellen», sagte Kummer, dem Dr. Frankhauser irgendwie bekannt vorkam.

«Ihr Bruder ist tot», kam er schliesslich zur Sache.

«Oha», sagte die Schwester. Mehr sagte sie nicht.

«Er hatte einen Unfall. Er ist im Hürstholz über die Geleise gelaufen und überfahren worden.»

«Chabis», kam es scharf von der alten Frau.

«Wie bitte?»

«Das ist Chabis.»

«Leider nicht, Frau Frankhauser. So ist es gewesen.»

«Der Otto läuft nicht über die Bahngeleise. Wie käme er dazu?»

«Vielleicht hatte er es eilig?»

«Der geht doch so oft dort spazieren. Aber er läuft sicher nicht über die Geleise. Warum sollte er es plötzlich eilig haben?»

«Vielleicht hat er auf der anderen Seite jemanden gesehen?»

«Dann wäre der andere zu ihm gekommen. Mein Bruder ist den Leuten nicht nachgerannt. Wo genau ist es passiert?»

«Beim Schiessstand. Ihr Bruder wollte die Geleise überqueren und hat den Zug nicht gesehen.»

«Hören Sie doch auf. Er war doch nicht blind.»

«Sie kennen die Stelle?»

«Ja sicher, wir sind in Oerlikon aufgewachsen. Ich gehe auch ab und zu dort spazieren. Aber auf Bahngeleisen klettere ich schon lange nicht mehr herum. Und der Otto auch nicht.»

Kummer musterte die alte Frau. Sie schien sich mehr über seine Schilderung des Unfalls als über den Tod ihres Bruders auf­zuregen.

«Meinen Sie, es könnte etwas anderes dahinter stecken? Meinen Sie, er wurde umgebracht?»

«Ja, sicher», sagte sie.

«Warum sollte man ihn umbringen?»

«Sie sind Polizist. Es ist Ihre Aufgabe, das herauszufinden, Herr Kummer.»

«Dann will ich das mal tun», brummte Kummer und verabschiedete sich.

6. Ein rüstiger Rentner

Kummer betrat sein Büro. In dem Moment läutete das Telefon. Strittmatter war noch unterwegs zum Getränkeautomaten. Sie waren sich auf dem Gang begegnet und sie hatte sich anerboten, ihm einen Kaffee mitzubringen.

Kummer nahm den Hörer ab und versuchte gleichzeitig, seine gefütterte Lederjacke auszuziehen. Es ging nicht. Typisch Montagmorgen.

«Lugetz! Leuthold, was gibt‘s?», fragte er und wand sich wieder in seine Jacke. Der Gerichtsmediziner meldete sich nur selten bei ihm.

«Es geht um den Mann vom Bahnübergang, den von letzter Woche. Am besten, du kommst vorbei und schaust es dir an.»

«Ist gut, ich bin gleich bei dir.»

Kummer machte sich auf den Weg zur Gerichtsmedizin, ohne auf Strittmatter zu warten. Sie kam kurz darauf mit den beiden Kaffees ins Büro. Nach zehn Minuten warf sie drei Würfelzucker in den Becher von Kummer. Normalerweise nahm er einen halben. Wegen dem Gewicht.

«Tut mir leid, dass ich mich erst jetzt melde. Wir hatten viel zu tun. Mit dem da eile es nicht, hiess es, darum war er bis gestern im Kühlschrank.» Leuthold hustete und hielt sich die Hand vor den Mund. Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand waren gelb vom Nikotin.

Er führte Kummer in den Obduktionsraum. Dr. Otto Frank­hauser lag auf dem mittleren Tisch.

Man hatte die Leiche wieder zurecht gemacht. Die Haut schimmerte gelblich-braun. Der Oberkörper war muskulös und wirkte seltsam jugendlich. Die rechte Seite war allerdings schwer lädiert. Sie hatte wieder zusammengeflickt werden müssen. Auch das kantige Gesicht war hergerichtet worden. Der Doktor glich jetzt wieder einigermassen dem Mann auf dem Foto mit dem Bundesrat.

«Was glaubst du, wie alt er war?», fragte Leuthold.

Kummer hatte sich die Personalien des Verstorbenen noch gar nicht angeschaut. Auf alle Fälle musste der Doktor einiges jünger gewesen sein als seine Schwester.

«Na ja, Ende fünfzig würde ich sagen. Hat sich gut gehalten», Kummer strich sich unwillkürlich über den Bauch, der in den Wintermonaten wieder angewachsen war. Er hatte das Training vernachlässigt. Ging vielleicht noch einmal die Woche in den Boxkeller. Oder eher weniger. Machte nur ein bisschen Technik. Er müsste wieder einmal Kondition bolzen. Wieder regelmässig joggen. Weniger Bier trinken und weniger im Schnellimbiss zu Abend essen.

«Einundsiebzig», sagte Leuthold.

«Wie bitte?», fragte Kummer, der einen Moment lang gar nicht wusste, wovon Leuthold sprach.

«Der Mann war einundsiebzig Jahre alt.»

«Tamisiech», fluchte Kummer anerkennend. «Der muss ja viel im Fitness-Studio gewesen sein.»

Leuthold hustete.

«Erstens das und zweitens hat er nachgeholfen. Schau!»

Der Gerichtsmediziner leuchtete mit einem Laser-Pointer hinter die Ohren der Leiche. «Verschiedene Liftings, auch an den Hüften, Einsätze im Hintern, Brusthaare weggelasert, das ganze Programm. Sogar die Silbermähne ist gefärbt.»

«Und das wollest du mir zeigen?»

Leuthold schüttelte den Kopf.

«Nein. Da ist noch etwas. Ich weiss nicht, was ich davon halten soll.» Er steuerte das rote Licht auf die linke Brust des Toten. Auf dem breiten, flachen Muskel, knapp unter der Brustwarze umkreiste er einen kleinen Punkt.

«Ich habe es zuerst für eine Macula oder einen Leberfleck gehalten. Aber es könnte ein Einstich sein.»

7. Ein stichhaltiger Beweis

Was heisst hier könnte?» Kummer runzelte die Stirn. Normalerweise war sich Leuthold seiner Sache sicher. Es gab kein Vielleicht. Das war der Unterschied zwischen einem Ermittler und einem Gerichtsmediziner. Der Mediziner konnte sich auf eindeutige Fakten stützen. Das Wie eines Todesfalls war einfacher festzustellen als das Warum. Normalerweise.

«Es heisst, dass ich mir nicht sicher bin. Der Zug hat den Mann an der Brust erwischt. Der Thorax war ein Trümmerhaufen. Es hat mich Stunden gekostet, ihn wieder herzurichten. Die Rippen waren regelrecht zersplittert und eine hat das Herz verletzt.»

Leuthold kratzte sich am Kopf. «Darum ist es nicht mehr möglich festzustellen, ob dieses kleine Loch über dem Herzen, das da nicht hingehört, ein Einstich ist.»

Nun kratzte sich auch Kummer am Kopf.

«Was ist denn nun die Todesursache?»

«Innere Blutungen. Höchstwahrscheinlich verursacht durch das schwere Trauma beim Zusammenstoss mit dem Zug.» Leuthold seufzte. «Rein theoretisch könnte es aber auch ein Stich ins Herz gewesen sein. Allerdings müsste der kurz vor dem Aufprall erfolgt sein.»

«Du meinst, er wurde erstochen und dann vor den Zug gestossen?»

«Es ist theoretisch möglich.»

«Aber eben nur theoretisch?»

«Genau. Es gibt keinen stichhaltigen Beweis für diese Hypo­these.»

Kummer schaute Leuthold an. Er wusste nicht, ob der jetzt Witze machte oder einfach seine Worte unbedacht wählte. Leutholds Miene war so wenig lesbar wie die handgeschriebenen Berichte, die er verfasste, wenn es schnell gehen musste.

«Und jetzt weisst du nicht, ob du einen gewaltsamen Tod ausschliessen kannst?»

«So ist es. Ich will keine sinnlosen Ermittlungen verursachen. Das sieht der Polizeikommandant nicht gern. Das Personal ist knapp, wie du weisst.»

Kummer gab einen Knurrlaut von sich.

«Nehmen wir mal an, es war ein Stich», überlegte er, «was käme dann als Tatwaffe in Frage?»

«Etwas sehr Dünnes, sehr Spitzes.»

«Eine Ahle?»

«Eine dünne Ahle vielleicht.»

«Eine Stricknadel?»

«So etwas in der Art. Aber äusserst spitz. Die Wunde ist sehr sauber. Ich hätte sie fast übersehen.»

«Seltsame Sache.»

«Ich wollte es dir nur gesagt haben.»

«Bis wann musst du entscheiden, was du in deinen Bericht schreibst?»

«Das kommt darauf an, ob die Angehörigen den Leichnam bald beerdigen wollen.»

«Ich vermute mal, die haben es nicht eilig.»

«Ausserdem muss ich sehen, wieviel Kundschaft sonst noch hereinkommt. Der Platz ist beschränkt.»

«Warte noch ab», sagte Kummer. «Ich schau mir die Sache einmal an. Vielleicht war es wirklich kein Unfall.»

«Eben», sagte Leuthold. «Wir haben ja schon die eigenartigsten Geschichten erlebt.» Er begleitet Kummer aus dem Gebäude und steckte sich draussen eine Zigarette an.

Kummer ging zurück zur Kripo. Er sah den Becher mit dem kalten Kaffee auf seinem Schreibtisch stehen und leerte ihn in den Schüttstein.

«Schade», seufzte Strittmatter. Kummer schaute sie fragend an.

«Um den Kaffee.»

«Ach so.» Kummer erklärte ihr kurz, was Leuthold entdeckt hatte.

«Das heisst, wir ermitteln jetzt wegen Mord?»

«Noch nicht, ich muss erst mal noch mit Diethelm sprechen. Willst du mitkommen?»

«Es ist mir eine Ehre», sagte Strittmatter und streckte Kummer die Zunge heraus, als er ihr den Rücken zudrehte.

8. Keine Spur von Sicherung

Kummer klopfte an die Tür zu Diethelms Büro. Weil er keine Antwort erhielt, öffnete er sie vorsichtig. Diethelm sass an seinem Computer. Er schaute auf und zog sich zwei Stöpsel aus den Ohren. Kummer und Strittmatter traten ein.

«Diethelm, das ist unsere Kollegin Strittmatter. Sie arbeitet seit Januar mit mir zusammen.»

«So kann man es auch nennen», sagte Strittmatter. «Wir haben uns schon getroffen, Sie haben an der Polizeischule einen Vortrag gehalten. Der ist mir geblieben.»

Diethelm kam hinter seinem Pult hervor und reichte ihr die Hand.

«Richtig, ich erinnere mich. Sie waren die einzige, die Fragen gestellt hat. Willkommen bei der Kripo, ich bin der Ernst.»

«Carolin. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit.»

Die beiden schüttelten die Hände und Kummer den Kopf. Diethelm war nicht gerade für sein freundliches Wesen bekannt.

«Es geht um den Toten vom Hürstholz. Der Lokführer sagt, der Mann sei auf keinen Fall über die Geleise gegangen. Er muss irgendwie vom Schiessstand her in den Zug gelaufen sein. Kannst du das bestätigen?»

«Zumindest nicht widerlegen. Fussspuren fanden wir auf beiden Seiten der Geleise. Die können aber auch von anderen Leuten sein. Von den Sanitätern oder Spaziergängern. Als wir kamen, war da schon alles zertrampelt.»

«Hatte er Einstichlöcher in den Kleidern?»

«Einstichlöcher?»

«Ja, Einstichlöcher über der linken Brust. Oder irgendwelche Spuren, die auf einen Stich hindeuten?»