Mi Amor - Wienke Ursula Schulenburg - E-Book

Mi Amor E-Book

Wienke Ursula Schulenburg

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Beschreibung

Mi Amor - Winter im Frühling des Lebens, ist die Geschichte eines kleinen Mädchens, das im Frühling seines jungen Lebens den Winter erfährt. Die Kälte und Hartherzigkeit einer Welt, in der es schutzlos der Willkür, Brutalität und Perversion seines Vaters ausgeliefert ist. Ein Buch, das erschüttert und tief berührt und gleichzeitig Kraft gibt und Hoffnung macht. Es nimmt den Leser an die Hand und führt ihn durch die Abgründe menschlichen Verhaltens. Es erklärt psychologische Zusammenhänge und beschreibt den unerschütterlichen Glauben dieses kleinen Menschen, der an die Kraft in sich und das Gute im Leben glaubt und Wege sucht und findet, sich nicht in den Abgründen der täglich erlebten Perversion und Gewalt zu verlieren.

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Seitenzahl: 229

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Widmung

Dieses Buch ist all den Kinderseelen gewidmet, die draußen, überall in der Welt, tapfer um ihr Leben kämpfen. Ihnen, die mit dem Mut der Verzweifelten für ihr seelisches und oft auch körperliches Überleben streiten müssen. Tag für Tag. Nacht für Nacht.

Die sich Mutterseelenalleine fühlen und doch tief in ihrem kleinen, vor Liebe überquellenden Herzen wissen, dass sie nicht verloren sind, dass es Hoffnung gibt und dass sie das Paradies in sich tragen, in das sie ihre Welt und ihr Leben verwandeln wollen.

Und es ist gewidmet der großen Liebe meines Lebens, der Seele, die ich nicht aufhöre kennen zu lernen und die mich jeden Tag aufs Neue mit ihrer stillen Schönheit und Stärke tief berührt und mit Liebe und Glück füllt.

Du, inneres Kind, bist eine Göttin in einem kleinen, zerbrechlichen Körper, stark und sensibel zugleich. Du bist so voller Liebe, dass es mein Herz aufblühen lässt, wenn ich Dich sehe. Du bist das Licht meines Lebens, das Schönste und Beste, was mir je begegnet ist. In Deiner Nähe fühle ich das größte Glück und die tiefste Zufriedenheit. Bei Dir weiß ich, dass ich alles schaffen kann, dass alles möglich ist. Und der Tod nicht das Ende unserer Verbindung ist.

Mit Dir zusammen bin ich der glücklichste Mensch der Welt und es ist meine schönste Aufgabe, Dir die Hand reichen zu dürfen und zu helfen, Deine Lebensmission zu erfüllen.

Geliebte Seele, geliebtes Kind, das in mir wohnt und das Leben so unendlich liebt…

Vorwort

Lieber Leser, liebe Leserin,

Dieses Buch beschreibt in schockierenden, zu Herzen gehenden Geschichten das Leben eines kleinen Mädchens, das auf grausame Weise missbraucht wird und um sein Leben kämpft.

Die Geschichten haben das Ziel, wachzurütteln und das aufzuzeigen und auszusprechen, was Kinder, die missbraucht werden, wirklich durchmachen. Das Aufgeschriebene soll zeigen, was sonst gut vor den Blicken anderer geschützt hinter zugezogenen Gardinen und unter dem Deckmantel des behüteten Familienlebens stattfindet.

Das Buch will nicht provozieren, obwohl sich so manch einer sicher provoziert fühlen wird, es will nicht schockieren um des Schockierens Willen, es möchte lediglich ein Sprachrohr für all die gequälten Seelen sein, die gefangen in sich ihre Sprache verloren.

Vergessen wir nicht, dass beim Kindesmissbrauch und sexueller Gewalt zwei Welten, die gegensätzlicher nicht sein könnten, aufeinander prallen: Die kindlich offene, unberührte, reine Gefühls- und Seelenwelt und die Welt der Negativität, der fehl gerichteten, zerstörerischen Aggression, der Perversion.

Dieser Kontrast soll in diesem Buch aufgezeigt werden, der sich durch alle Bereiche des Lebens zieht, weshalb auch zuweilen eine ordinäre, vulgäre Sprache nicht zu umgehen ist, ist sie doch die Ausdrucksweise des Täters, der keine Rücksicht auf die Gefühle des Kindes nimmt und seine Zerstörung wissentlich in Kauf nimmt, ja, vielleicht sogar beabsichtigt.

Bitte denken Sie daran, dass Sie als Leser jederzeit empört, angewidert oder verletzt das Buch zur Seite legen können. Ein Opfer kann dies aber nicht tun. Einfach deshalb nicht, weil es keine Geschichte ist, die es da liest, sondern sein Leben, in dem es als Kind und abhängiger Mensch gefangen ist und nicht einfach ausbrechen kann.

Ich hoffe, dass sich so mancher selbst gelittener Mensch bestärkt durch dieses Buch ermutigt fühlt, für sich zu kämpfen, zu seiner Wahrheit, so grausam und unerträglich diese auch sein mag, zu stehen und den Mut findet, die Mauern seiner seelischen Isolation zu durchbrechen und das Trauma für sich zu überwinden.

Das, was einem als Unrecht widerfuhr, muss nicht in einem verborgen bleiben und einen von innen heraus schwächen und vergiften. Es gibt verschiedene Wege, dieses „Gift“ und diese negative Energie aus sich heraus zu bekommen, sei es mittels einer Therapie oder indem man selbst im Anschluss einen Heilberuf wählt und anderen Menschen hilft. Man kann sich zu dem Erlebten in Vorträgen und Workshops äußern, die man vielleicht sogar selbst leitet und ins Leben ruft. Und nicht zuletzt über Publikationen und Öffentlichkeitsarbeit.

Das Geschehene lebt so lange in einem weiter, wenn auch unterdrückt und vielleicht sogar verdrängt, bis man den Mut findet und sich durchringt, für sein Recht einzutreten und die Grenzen zu setzen, die zuvor überschritten wurden.

Mag dies auch oft ein langer Weg sein, so ist es doch einer, der sich lohnt, steht doch am Ende die Freiheit. Erst dann finden die meisten Betroffenen zu wahrem Frieden in sich und können das Leben, die Menschen und nicht zuletzt sich selbst so lieben, wie sie es sich aus tiefstem Herzen wünschen und wie es unser aller Geburtsrecht ist.

Triggerwarnung:

Das Buch enthält Erfahrungsberichte über sexuelle Gewalterfahrungen eines Kindes.

Bitte seien Sie achtsam mit sich beim Lesen, legen Sie das Buch ggf. zur Seite und holen sich entsprechende professionelle Hilfe.

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Vorwort

Die Perlenprinzessin

Die weiße Serviette

Mein lieber Leser…

Max und Moriz

Mehr Jahre als Finger an den Händen

Das innere Kind

Der Möbelhauskatalog

Blinde Augen, taube Ohren

Omas Nusskuchen und das süße Gift…

Das Fieberthermometer

Die Puppe Annika

1. Das sonderbare Spiel

Angst vor Menschen

Patience

Topfschlagen

Der Pieschpieper

Es war einer dieser Abende I

Es war einer dieser Abende II

Ein Samstagvormittag

Biografie

Persönliches der Autorin

1. Die Perlenprinzessin

Es regnete in Strömen an diesem Donnerstag im November, als Carlotta traurig und ein wenig missmutig in ihren gelben Gummistiefeln, die ihr aufgrund der zu kurzen Socken immer Blasen an den Waden rieben, durch den Regen von der Schule nach Hause stapfte. Der Ranzen wog sichtbar schwer auf ihren Schultern und ließ sie gebückt gehen, als trüge sie schon die Last eines ganzen gelebten Lebens mit sich herum. Einer Greisin gleich, obwohl sie doch erst am Anfang ihres Lebens stand.

Sie hatte sich die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, damit ihre Haare nicht nass wurden und sie sich nicht erkälten würde. Wieder und wieder schimpfte ihre Mutter, wenn sie mit pitschnassen Haaren zu Hause angekommen war und alles trocken geföhnt werden musste und sie einen Rüffel und Schokoladenverbot für den Rest des Tages bekam.

Am Rand der Kapuze ihres kleinen Regenmäntelchens hingen die Tropfen und ab und zu, wenn sie den Kopf ein wenig anhob, löste sich einer und tropfte ihr ins Gesicht und lief ihre zarten, blassen Wangen hinab. Und wenn das Wasser nicht so süß geschmeckt hätte, man hätte meinen können, es sei eine Träne, die langsam an ihrem Gesicht herunter lief und von dem versteckten Schmerz ihrer Seele berichtete. Eine Traurigkeit, die sich schon so tief in ihr sensibles Herz gefressen hatte, dass es ganzer Meere an Tränen bedurft hätte, um ihr Ausdruck zu verleihen.

Eigentlich liebte sie den Regen, die vielen Pfützen, um die sie herum balancieren konnte, die dicken Tropfen, die lustig hoch spritzten und die warme Tasse Kakao, die ihr ihre Mutter bereitete, wenn sie durchgefroren nach dem Spielen zu Hause ankam und sich aufwärmte. Doch heute war sie bedrückt und konnte ihr kleines Herz nicht öffnen, nicht für den Regen, nicht für die Pfützen und nicht für sich selbst. Sie war unendlich traurig und wer sie sah, diese kleine, verlorene Gestalt, die wie entwurzelt durch ihr Leben lief, dem zog es unwillkürlich das Herz zusammen.

Doch schien keiner sie in ihrer Traurigkeit und Einsamkeit wahrzunehmen oder sehen zu wollen. Und so war es vielleicht einzig und allein der liebe Gott, der durch den Vorhang aus Regen zur Erde hernieder sah und dort seinen kleinen Schützling entdeckte, der noch lange nicht am Ende seiner Qualen angekommen war und noch einen weiten Weg würde gehen müssen, bevor er in die Freiheit und Selbstbestimmung würde entlassen werden.

So war es vielleicht ein Zufall oder nicht, dass eine alte Frau kurz zuvor an diesem Novembertag ihr verknittertes Taschentuch aus der Manteltasche gezogen hatte, um sich zu schnäuzen und dabei eine Münze mit aus der Tasche zog, die platschend in eine der vielen Pfützen fiel, was im allgemeinen Regenprasseln allerdings unterging.

Da lag sie nun, die kleine, golden scheinende Münze, nach der sich nur der bückt, der in ihr einen Wert erkennt und es in Kauf nimmt, sich dafür die Finger schmutzig zu machen und wartete auf ihren neuen Besitzer, der auch schon in Form der kleinen Carlotta heran gestapft kam.

„Eine kleine Münze!“, rief Carlotta leise, als sie das Geldstück vor sich liegen sah, was sie sicherlich übersehen hätte, wenn sie aufrecht gelaufen wäre, „eine Münze!“

Sie bückte sich, fischte sie aus der Pfütze heraus und trocknete diese liebevoll mit dem Ärmel ihres Pullovers, den sie aus ihrer Regenjacke hervor zerrte. Plötzlich war der graue Novembertag ein klein wenig freundlicher und das trübe Einerlei in ihrem Herzen weniger und sie begann zu überlegen, was sie sich Schönes von diesem Stück Geld würde kaufen können. Ein paar Süßigkeiten beim Kaufmann, oder ein paar Bilder zum Einkleben in ihr Album? Oder sollte sie es sparen, wie es ihr ihre Mutter immer wieder geraten hatte, um sich irgendwann etwas ganz Großes zu leisten?

Nein, beschloss sie, nein, ich werde mir jetzt etwas kaufen, etwas Wunderschönes, etwas, was nur mir gehört und ganz, ganz lange hält und mein Geheimnis sein wird! Nur was?

So lief sie weiter und dachte nach, als sie plötzlich vor einem der Geschäfte einen dieser kleinen Automaten sah, wo man für etwas Geld Kaugummi bekam, einen Flummi oder ein anderes kleines Spielzeug. Sie blieb stehen und wandte sich dem Automaten zu, der sich direkt auf ihrer Augenhöhe befand. Und ganz außen an dem kleinen Fenster, das einen Einblick in die Schatzkammer des Automaten gewährte, entdeckte sie etwas, was ihr kleines Herz schneller schlagen ließ: Ein Prinzessinnenring mit einer zart Perlmutt scheinenden Perle!

Fasziniert konnte sie den Blick nicht abwenden, liebte sie doch das verzaubernde Schillern der Perlen, die, je nachdem wie man sie drehte, ihre Farbe ein wenig veränderten und so geheimnisvoll waren. Und wuchsen sie nicht, wie man ihr erzählt hatte, in einer Muschel irgendwo in den Weiten der Meere heran und waren etwas so Seltenes und Wertvolles, dass das Meer nur wenige der Muscheln mit diesem Geschenk glücklich machte?

Sie dachte an die kleinen Meerjungfrauen aus dem dicken Märchenbuch, das sie so sehr liebte, die sich mit diesen Perlen schmückten. Und die Perlen, so besagte es die Geschichte, waren die Tränen all der Frauen, die ihre Männer und ihre Liebe an das Meer verloren hatten und diese Tränen wurden nun als Perlen im Inneren der Muscheln wie in einem Schatzkästchen gehütet.

Sie konnte ihren Blick nicht mehr von diesem Ring abwenden, der dort mitten zwischen dem anderen Spielzeug im Automaten geduldig auf seine neue Trägerin wartet.

„Und wenn nun ein Flummi statt diesem Ring heraus kommt?“, fragte sie sich plötzlich erschrocken, „was, wenn ich etwas ganz anderes bekomme und nicht diesen Ring?“

Wie sie es auch drehte und wendete, sie konnte keine Lösung finden. Die Verkäuferin konnte sie nicht fragen, die war immer so schlecht gelaunt, das wusste sie schon. Den Automaten schütteln, so dass der Ring bis nach unten fiel, funktionierte auch nicht, das hatte ihr Freund, der Benjamin, einmal gemacht, als er unbedingt den gelben Flummi haben wollte und dem dabei fast der Automat umgefallen wäre. Sie seufzte ein wenig und dann, wie aus einem inneren Impuls, steckte sie plötzlich die kleine Münze in den Schlitz, schloss die Augen, drehte an dem Knopf und… sie vermochte vor Aufregung und Anspannung ihre Augen nicht zu öffnen. Vorsichtig tasteten ihre Finger nach der Klappe, hinter der das Geschenk liegen würde. Hatte es nicht leise „klick“ gemacht? Ein Flummi würde doch nicht so ein Geräusch machen, oder doch?

Sie hob die kleine Klappe an, griff hinein und, tatsächlich, es war ein Ring! Sie konnte ihr Glück kaum fassen und traute sich endlich, ihre Augen zu öffnen und siehe da, es war auch noch ein Perlenring, einer wie der, der am Plastikfenster des Automaten gelegen hatte! Sie wollte gerade nachschauen, ob es auch wirklich „ihr“ Ring war, als sie schon ungeduldig zur Seite geschoben wurde.

„He da, mach Platz, hier wollen auch noch andere an den Automaten!“, hörte sie die ruppige Stimme eines älteren Jungen. Unsanft wurde sie zur Seite geschoben und stand nun wieder mitten im strömenden Regen, allerdings mit dem schönsten und kostbarsten Ring der Welt!

Glücklich hüpfte sie durch die Pfützen, so dass es um sie herum nur so spritzte und so mancher eine kleine Pfützendusche von ihr bekam und sich griesgrämig nach ihr umdrehte. Doch ihr war es egal. Glücklich lief sie nach Hause, wo bereits ungeduldig ihre Mutter auf sie wartete.

„Kind, wo hast du so lange gesteckt?“, waren die ersten Worte, die ihr aus der geöffneten Tür entgegen kamen und dahinter das sorgenvolle Gesicht ihrer Mutter, die jetzt noch sorgenvoller als sonst aussah und ihre Stirn in Falten legte, wie diese Hunde, die mit ihren Falten aussahen, als wären sie verschrumpelte, alte Äpfel. „Sieh dich an, ganz nass bist du geworden. Habe ich dir nicht gesagt, du sollst dir die Kapuze aufsetzen wenn es regnet?“

Ach ja, die Kapuze, die war bei all ihrer Freude in den Nacken gerutscht und ihr Haar war ganz nass geworden. Sie liebte doch den Regen in ihrem Gesicht.

„Komm ins Bad, dass ich dir die Haare trocknen kann, du holst dir ja noch den Tod!“

Brav trottete Carlotta ihr hinterher und setzte sich auf den Hocker im Bad vor den Spiegel.

Versonnen drehte sie an dem Ring an ihrem Finger, während ihre Mutter den Fön holte. Ein echter Meerjungfrauenring!

„Was hast du denn da?“, fragte ihre Mutter, als sie den Ring an dem Finger ihrer Tochter bemerkte. „Sag bloß, du hast für so einen Tand wieder Geld ausgegeben!“

„Ich habe das Geld gefunden, ehrlich Mutti, es lag auf der Straße!“

„Auf der Straße? So so…“

„Doch, es lag wirklich auf der Straße!“

„Du weißt, ich mag es nicht, wenn du solche Dinge trägst, Carlotta, das habe ich dir doch schon so oft erklärt. Du bist ein kleines Mädchen und ich möchte nicht, dass du dich wie eine Frau heraus putzt, das weißt du doch!“

Die Stimme ihrer Mutter klang irgendwie müde und doch streng und es lag etwas in ihr, was Carlotta einen Schauder über den Rücken fahren ließ. Es bedurfte keiner weiteren erklärenden und mahnenden Worte ihrer Mutter, denn die Kälte in der Stimme ihrer Mutter war bereits in ihr kleines Herz gekrochen und hatte sie an den Winter ihres Inneren erinnert, jene Kälte, die viel zu früh dort Einzug gehalten und den blühenden Garten ihrer Seele in klirrenden Frost hatte erstarren und erfrieren lassen.

Stumm zog sie den Ring von ihrem Finger und steckte ihn wortlos in die Tasche.

„So ist es gut, meine kleine Maus“, sagte die Mutter mit tonloser Stimmen, „so ist es gut.“

In aller Eile flocht die Mutter ihr das Haar, das Carlotta immer in einem artigen Zopf trug, denn offene Haare, die ihr beim Spielen wild ins Gesicht flogen, billigte ihre Mutter nicht. Und jedes Mal, wenn die Strähnen sich doch irgendwie gelöst hatten, rief sie Carlotta zu sich, um die kleine Mähne zu bändigen. Vielleicht agierte ihre Mutter etwas zu hart, vielleicht etwas zu streng und doch wusste Carlotta, dass es eben nicht anders ging und irgendein Geheimnis und böser Fluch mit ihren offen wehenden Haaren verbunden war. Etwas, das so furchtbar war, dass sie es nicht zu denken, geschweige denn zu fühlen wagte.

Carlotta saß in ihrem Zimmer und spielte, so wie sie es immer tat, wenn sie nach dem Abendbrot im Pyjama noch eine Weile aufbleiben durfte. Draußen war es dunkel und nur ein paar kleine Lichter erhellten ihr Zimmer. Bald würde Weihnachten sein. Sie liebte dieses kuschelige Gefühl in ihrem Zimmer und es kam ihr vor, als schwimme sie in einem Meer, wie ihre kleinen Seejungfrauen, die durch die unendlichen Ozeane schwammen und die Tränen der verlassenen Frauen am Strand einsammelten, um sie in den Muscheln zu verwahren.

Sie hatte sich ihr Badehandtuch über den Kopf und die Arme gelegt und lief in ihrem Zimmer hin und her und ruderte mit den Armen als wären es große Flossen, mit denen sie durch das Wasser schwebte. Sie hatte ihr Haar geöffnet, Mutti würde es ihr vor dem Schlafengehen wieder für die Nacht flechten, damit es nicht so verwirre und verklette, wie sie sagte. Sie liebte ihr feines, seidiges Haar, das fast golden glänzte, wie das der kleinen Weihnachtsengel am Christbaum.

Leise summte sie vor sich hin, ein Lied, das nur sie kannte und schwamm mit ihren Freundinnen, den kleinen Meerjungfrauen und Nixen um die Wette, um Neptun, ihrem Vater, von den gefundenen Schätzen zu berichten. Und heute hatte sie wahrlich von einem Schatz zu berichten, den sie stolz an ihrem Finger trug und der schöner war als alle Perlen, die er je zu Gesicht bekommen hatte!

So war sie ganz versunken in ihrem Spiel und hörte nicht, wie sich leisen Schrittes jemand ihrem Zimmer genähert und die Tür geöffnet hatte.

„Ah, da bist du ja, meine kleine Prinzessin!“, hörte sie wie aus dem Nichts die Stimme ihres Vaters. Erschrocken hielt sie inne. „Und wie du dich heraus geputzt hast, komm her, lass dich anschauen!“

Plötzlich war es wieder Winter in ihr, das Meer gefror und sie war unfähig, sich zu bewegen.

„Tanz doch ein wenig für mich, kleine Prinzessin, das bist du doch, oder? Tanz für mich, kleine Nymphe!“

Ihr kleines Herz konnte sich gar nicht so schnell verschließen, als dass nichts von der Kälte dieses Menschen hätte eindringen können. Und wie ihre kleine Aufziehmaus, die so lustige Kreise zog, wenn man sie an dem kleinen Bändchen aufgezogen hatte, so tanzte sie jetzt kleine Kreise und drehte sich um sich selbst.

„So ist es recht, meine Kleine“, hörte sie die Stimme des Mannes, der doch ihr Vater war, „und nun summ doch wieder dein schönes Lied.“

Doch sie konnte den Mund nicht öffnen.

„Da sieh mal einer an. Zeig her, meine kleine Prinzessin, was hast du denn da an dem Finger? Meine kleine Prinzessin wird langsam zu einer großen Prinzessin, was? Lass sehen!“

Er griff nach ihrer Hand und musterte sie von oben bis unten, nachdem er sich vor sie hingekniet hatte.

Sie sah ihn aus ihren großen, runden Augen an, Augen, die so kindlich gar nicht waren, hatten sie doch schon Dinge gesehen, die Kinderaugen nie hätten sehen dürfen, um nicht ihre Unbekümmertheit zu verlieren.

Er liebte das Ernsthafte an ihr und oft fragte er sich, wie eine so kleine Persönlichkeit wie sie schon so reif und erwachsenen sein konnte. Erwachsener als so mancher Erwachsener. Er drückte ihr einen dicken Kuss auf den Mund, einen von der Sorte, den sie so hasste, weil er feucht und glitschig war und so ekelhaft roch.

„Komm her, meine Süße, setz dich auf Papas Bein. Ja, so ist es recht und jetzt zeig mir doch noch mal deinen Ring. Hm, der ist wirklich schön, weiß denn Mama auch davon? Nein, weiß sie nicht? Doch? Ist es dein Geheimnis, was? Siehst du, und jetzt ist es auch meins, jetzt haben wir noch ein Geheimnis mehr. Weißt du, meine kleine Prinzessin“, fuhr er fort und seine Stimme wurde so komisch, dass ihr noch mehr Angst und Bange wurde, „weißt du, du hast auch eine kleine Perle, die versteckt in einer Muschel lebt, da unten, du weißt schon und wenn du willst, dann zeige ich dir, wo sie wohnt, das wäre doch schön, oder?“

Vaters Worte verwirrten und ängstigten Carlotta. Sie verstand nicht ihren Sinn, wohl aber ihre Botschaft und Folge, die sich immer und immer wiederholte: Das Grauen würde sie wieder weinen lassen. So weinen, wie all die Frauen am Strand, die ihre Liebe an das Meer verloren hatten und die in ihrer Untröstlichkeit bittere Tränen weinten. Tränen, die das Meer hinfort spülte, wo sie zu Perlen werden würden. Und dann, ja dann kämen die Meerjungfrauen, dachte sie noch, während sie nur noch wie im Traum die Hand ihres Vaters an ihrem Körper spürte.

Es würde so sein wie in dem dicken Buch mit den schönen Geschichten, dann kämen all die Nixen und Meerjungfrauen, die die Tränen und Perlen der Meere finden würden, sie aufsammeln und sie sicher bewahren, bis sie irgendwann erlöst werden würden von ihrem Schicksal, eine Perle zu sein. Eine Perle, die in ihrer Schönheit und schillernden Silbrigkeit von einer Seele berichtet, die in ihrer traurigsten Stunde ihren Glanz verlor, an den die kleine Perle nur noch erinnern kann.

So versucht jeder von uns auf seine Art seinem ganz persönlichen Grauen für eine Zeit zu entkommen und sei es auch nur mit Hilfe der Welt der Phantasie, die uns gnädig aufnimmt und uns Asyl gewährt, wenn wir es in unserem Leben nicht mehr aushalten.

Hoffen wir, dass Carlotta eines Tages die Kraft finden wird, die Scheinwelt zu verlassen und ihre Augen und ihr Herz zu öffnen für die Realität und Wahrheit, so schmerzlich diese auch sein mag.

Denn der Weg in die Freiheit führt durch den Schmerz hindurch, nicht an ihm vorbei.

Die inneren Wunden wollen gesehen und angenommen werden, bevor sie heilen können.

Und das Erlebte will nicht verdrängt und vergessen, sondern akzeptiert und integriert werden, um in Frieden Teil der Vergangenheit werden zu können und den Weg in die Zukunft frei zu machen.

2. Die weiße Serviette

Wenn dich von deinem Peiniger, Täter und Vergewaltiger nicht mehr als ein Sitzplatz trennt…

Wenn du sein Geschmatze bei Tisch ertragen musst und den Anblick seiner menschenfressenden Zähne, die er in ein saftig blutiges Steak gräbt, während er den rötlichen Saft des Fleisches mit einem schlürfenden Geräusch aufsaugt, als wäre es der Lebenssaft und ein Gemisch aus Blut, Urin und Angstschweiß, den er doch so sehr liebt, wenn er inbrünstig an deinem blutig gebissenen Geschlechtsteil saugt…

Wenn du seine leicht verdrehten Augen dabei siehst und seinen schielenden Blick auf dich und du voller Schrecken erkennen musst, wie hässlich diese Grimasse bei Tageslicht ist, ohne sich in der Dunkelheit verstecken zu können und er dir mit diesem sagen will: „So und nicht anders werde ich es nachher mit dir machen, mein kleines Täubchen“…

Wenn du den ahnenden und gleichzeitig nicht wissen wollenden gesenkten Blick deiner Mutter siehst, die dir gegenübersitzend alles mitbekommt und alles vermeintlich großzügig übersieht und ihr zurufen möchtest: „Bitte, hilf mir doch! Sag doch was! Tue doch was!“, und nicht kannst, weil sie es nicht wissen will…

Wenn alle Anwesenden wissen, was hier vor sich geht und spüren, was in der Luft liegt und doch so tun, als gäbe es nur das saftige Steak oder wahlweise den Sonntagsbraten, der vielleicht ein klein wenig zu durch oder doch vielleicht ein klein wenig zu zäh ist…

Dann hast du zwei Optionen:

Entweder du tust es ihnen gleich und lebst in zwei Welten, Schizophrenen-gleich. Da gibt es die Welt deiner Gefühle, die unerträglich sind und dort die Welt des oberflächlichen Gleichmuts und der unbesorgten Heiterkeit.

Oder aber du machst diese Schizophrenie nicht mit und entscheidest dich für das, was real ist: Die Welt deiner Gefühle. Nur dann bist du auf verlorenem Posten alleine in einem Ozean an Verlassenheit, Grauen und Einsamkeit, denn kaum einer wird sich für dich interessieren und sich dir zuwenden.

Du stehst vor der Entscheidung, jeden Tag aufs Neue, ob du diesen verlorenen Posten an der Grenze deiner Welt aufrecht erhalten möchtest und sehenden Auges das Grauen ertragen, als Hüterin der Pforte zur Hölle, als Wächterin der Unterwelt, als Wächterin der Wahrheit deiner geschundenen Seele. Oder ob du dich dem Vergessen hingibst, dem süßen Vergessen und Verdrängen, das dich hinfort trägt in eine Welt, in der es keine Folter, keine Qual, keinen Missbrauch gibt, sondern nur das saftige Steak am Mittagstisch und eine schrecklich nette Familie, die gemütlich beisammen hockt.

So erging es Carlotta an diesem Sonntagmittag an dem weiß gedeckten Tisch mit glatt gebügeltem Tischtuch und gestärkten Servietten und einem wunderbaren Braten, für den Mutti den ganzen Vormittag in der Küche gestanden hatte und der jetzt verdammt noch mal gewürdigt werden sollte. Carlotta gab sich alle Mühe, das Fleisch in kleine Stücke zu schneiden, so, wie ihre Mutter es ihr gezeigt hatte, um es nicht so endlos lang kauen zu müssen, denn irgendwie war es doch wieder etwas zäh geworden. Und doch wollte es ihr nicht gelingen, eine gute Miene aufzusetzen, war doch das Spiel, was hier gespielt wurde, ein ganz anderes, ein böses, eines, das sie bedrohte, sie in Angst und Panik versetzte und dem sie nicht zu entrinnen wusste.

„Sitz gerade, Carlotta!“, hörte sie die mahnende Stimme ihrer Mutter, „und lehn dich nicht so mit den Ellenbogen auf den Tisch!“

„Ja wirklich“, pflichtete Carlottas Vater seiner Frau mit leicht ironischem Unterton bei, obwohl er doch selbst mehr fraß als dass er aß und saß über seinem Teller wie ein Schwein vor dem Trog. Aber heute war ja Sonntag und da wollte er nicht auch noch unnötig seine Frau reizen und wenn es Pluspunkte zu gewinnen gab, dann man ran! Und hatte er nicht noch neulich sich von ihr sagen lassen müssen, dass er ihr hinsichtlich der Erziehung ihrer Tochter immer in den Rücken falle?

„Mutti hat da ganz Recht! Ich finde auch, du solltest es endlich einmal lernen, ordentlich bei Tisch zu sitzen und eine gepflegte Konversation mit deinen Eltern zu führen, anstatt ewig vor dich hin zu muffeln…“

Carlotta verspürte plötzlich eine so starke Angst, dass sie das Gefühl hatte, augenblicklich auf Klo zu müssen, damit nicht hier und jetzt ein Malheur passierte. Sie zitterte so sehr, dass das Silberbesteck auf dem Porzellanteller leise klirrte. Flehentlich blickte sie zu ihrer Mutter. Diese aber stocherte hochinteressiert auf ihrem Teller herum und kaute, als ginge es darum, eine Meisterschaft zu gewinnen. Nein, diesmal würde sie sich nicht von ihrer Tochter und deren mitleiderregendem Blick einfangen lassen, wenn ihr Mann schon einmal zu ihr stand, dann sollte sie das ausnutzen und hieß es nicht eh in all ihren Erziehungsbüchern, dass das Elternpaar geschlossen gegenüber dem Kind auftreten sollte, als eine Front gewissermaßen, um die Schwierigkeiten im Alltag zu meistern?

„Hör deinem Vater nur gut zu!“, sagte sie mit dieser wichtigtuerischen Erzieherinnenstimme und schaute Carlotta mit leeren Augen an, in denen Carlotta ihre Mutter nicht wieder finden konnte, so kalt, abweisend und fremd waren sie.

Carlotta kam es so vor, als stünde sie direkt vor einem Abgrund und noch ein Schritt weiter und sie würde hinab stürzen und fallen, immer tiefer ins Bodenlose. Und als sie noch einen letzten, unsicheren Blick zu ihrem Vater warf, der sie unverhohlen angrinste und ihr durch sein ekelhaftes Grinsen seine Macht, seine uneingeschränkte Macht über sie und ihre Mutter demonstrierte, da tat sie diesen unheilvollen inneren Schritt und stürzte ins Bodenlose. Denn wo um alles in der Welt hätte sie sich noch festhalten sollen? An ihrer Mutter? An dem Monster von ihrem Vater?

Ihr Schutzengel war so fern, ihre kleine Welt zerstört. Stattdessen sah sie sich den Menschen, ihren Eltern ausgeliefert, die sie eigentlich hätten lieben sollen, sie aber tatsächlich Stück für Stück seelisch umbrachten und bei diesem Seelenmord zusahen, ohne mit der Wimper zu zucken.

Sie blickte auf ihren halbvollen Teller und bemühte sich, gerade zu sitzen und schaute doch mehr in sich hinein als auf das, was vor ihr lag. So etwas wie Trotz machte sich in ihr breit, ein Anflug von Wut und Hass, den sie aber nicht zeigen konnte, weil es nur noch mehr Härte und Brutalität gegenüber ihrer Person bedeutet hätte. Sie spürte ihren unabdingbaren Willen, hier und heute nicht aufzugeben, nicht zu sterben, seelisch zu verrecken, sondern einfach nein zu sagen, nein, und nochmals nein!