Michael Jordan. Die Biografie - Roland Lazenby - E-Book

Michael Jordan. Die Biografie E-Book

Roland Lazenby

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Beschreibung

Basierend auf zahlreichen Interviews mit Trainern, Freunden, Teamkollegen, Familienmitgliedern und nicht zuletzt mit Jordan selbst, legt Bestsellerautor Roland Lazenby die erste umfassende Biografie des vielleicht allergrößten Helden der Sportgeschichte vor, zumindest des größten Basketballspielers aller Zeiten. Von Jordans triumphalen Erfolgen auf dem Spielfeld bis hin zu den persönlichen Herausforderungen, denen sich der Star stellen musste, bietet dieses Buch einen einzigartigen Einblick in das Leben und die Karriere des Spielers, des Menschen, der Ikone. Ein Muss nicht nur für Basketballfans!

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Seitenzahl: 1236

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Dem Andenken an Tony Travis, Roy Stanley Miller, Lacy Banks, L. J. Beaty und Ed McPherson gewidmet, Brüder allesamt.

          

Inhalt

Prolog

Teil I: Cape Fear

1Holly Shelter

2Blutiges Wilmington

Teil II: Die frühen Tage

3Der Einfluss

4Der Wettkämpfer

5Der Diamant

Teil III: Auftauchen

6Der Einschnitt

7Nummer 23

8Die Transformation

9Fünf Sterne

10Der Michael

Teil IV: True Blue

11Der Freshman

12Etwas Neues

13Systemfehler

Teil V: Rookie

14Gold Rush

15Black Power

16Der erste Eindruck

Teil VI: Lehrjahre

17Der junge Gefangene

18Der Fuß

19Angriff!

Teil VII: Der Zyniker

20That’s Entertainment

21Jordan-Rules

22Flying high and dry

23The drive-by-wedding

24Transition

25Der Gott des Basketballs

Teil VIII: Etwas dazugewonnen

26Die Triangle-Offensive

27Das Spiel

28Alles, was glänzt

Teil IX: Far and away

29Lexus

30Der diamantene Traum

31Come again

32Trainingscamp

Teil X: Fury

33Karneval

34Die Abrechnung

35Firing up the bus

Teil XI: Das Leben danach

36Limbo

37Der Wizard

38Carolina

 

Epilog

Dank

      

Prolog

Die Pupillen des Verteidigers weiten sich, und das sollten sie auch. Nur einen Wimpernschlag später wird er mit einem Move der außerirdischen Art konfrontiert, einer Bewegung, die die Menschheit dazu gebracht haben muss, die Zeitlupentechnik zu erfinden. Damit sie erkennen können, was geschieht, wenn gewisse Bewegungen das Vermögen des menschlichen Verstandes sprengen.

Die Situation ist dem Verteidiger auf schmerzliche Weise vertraut. Etwas in der Offensivstruktur seines Teams ist am anderen Ende des Courts mal wieder kollabiert und hat einen Fastbreak ausgelöst. Sofortiger Rückzug in die Defense. Der Verteidiger sprintet nach hinten, doch als er sich kurz umdreht, sieht er bereits dieses Etwas mit erheblicher Geschwindigkeit auf sich zuschießen. Die dunkle Gestalt in Rot hat den Ball, dribbelt rasend mitten durch das Chaos auf dem Court.

Jetzt wechselt der Mann in Rot den Ball von rechts nach links, hält ihn nun mit zwei Händen knapp über seiner linken Hüfte. Und genau in diesem Moment fällt ihm die Zunge aus dem Gesicht.

Für gewöhnlich ist Michael Jordans Zunge im Spiel allenfalls leicht zwischen den Zähnen zu sehen. Aber in diesem Moment hängt sie auf geradezu groteske Weise aus seinem Mund heraus; er sieht aus wie eine fiese Puppe, die den Gegenspieler stumm verhöhnt.

Der Gesichtsausdruck des Mannes in Rot hat etwas Lüsternes, Obszönes, vor allem jedoch etwas Herablassendes an sich. Als ob der gleich folgende Dunk nicht schon Demütigung genug wäre. Um ihren Gegnern Furcht einzuflößen, schnitten Krieger zu allen Zeiten solcherlei Grimassen. Vielleicht ist das auch hier der Fall, vielleicht ist es aber auch schlichtweg so, wie er es gesagt hat.

Die heraushängende Zunge, so Jordan, sei ein spezieller Ausdruck der Konzentration, den er von seinem Vater übernommen habe. Wie auch immer. Der 22-jährige Michael Jordan streckt seinem Gegenspieler die Zunge auf eine Weise heraus, als wäre er Shiva höchstselbst, jener uralte Hindugott des Todes und der Zerstörung – mit dem (in diesem Fall) unwiderstehlichen Zug zum Korb.

Genauso schnell wie sie herausgeschossen ist, verschwindet die Zunge jetzt wieder, und der heranrollende Jordan hebt den Ball über seine linke Schulter, dreht ihn dann mit beiden Händen vor seinem Gesicht und verlässt in diesem Augenblick, kurz vor der Freiwurflinie, den Boden.

Die Defense bricht in sich zusammen, und dieser schmächtige Körper schwebt in der Luft gleichsam durch sie hindurch. Jordan wechselt den Ball in seine riesige rechte Hand und zieht unaufhaltsam gen Korb. Sein Arm erinnert in diesem Moment an eine Kobra in Angriffsposition, unmittelbar zum tödlichen Schlag bereit.

Während er in aller Ruhe das Ziel fokussiert, scheint die Zeit stillzustehen. Und als der Ball seine Hand verlässt, löst das die Aktion begleitende Geräusch bei den Zuschauern einen pawlowschen Reflex aus: Sie verfallen in extreme Anspannung, wie Löwen in freier Wildbahn Sekundenbruchteile vor dem Reißen einer Antilope.

Die Offensivaktion hat vom Abheben bis zur Landung eine nahezu perfekte Parabel beschrieben. In den kommenden Jahren werden Physikprofessoren und sogar ein Oberst der Luftwaffe sich bemühen, Antwort auf die Frage zu finden, die die Sportwelt beschäftigt: Kann Michael Jordan fliegen? Sie alle werden seine Hangtime messen und erklären, dass sein Flug an sich eine Illusion ist, die durch den Schwung ermöglicht wird, den er aufgrund seiner Geschwindigkeit beim Abheben erhält. Und je mehr sie von außergewöhnlichen Oberschenkel- und Wadenmuskeln und schnell zuckenden Fasern sprechen, von seinem besonderen „Gleichgewichtszentrum“, desto mehr klingen sie wie Männer, die einfach Dinge aus der Luft greifen.

Jordans Weg von der Freiwurflinie zum Brett hat keine Sekunde gedauert.

Ja, auch Elgin Baylor und Julius Erving1 waren zu außergewöhnlichen Leistungen fähig. Aber das war lange bevor die Videotechnik es den Zuschauern ermöglichte, ihre Kunststücke immer und immer wieder zu bewundern. Air Jordan war vollkommen anders: ein Phänomen seiner Zeit, eine Abkehr von einer Vergangenheit, die sich immun gegen den Fortschritt wähnte.

Von den Millionen, die dieses Spiel gespielt hatten, hob er sich buchstäblich ab: Er war der erste Basketballer, der fliegen konnte.

Als der Jungprofi Jordan ein Video von sich selbst ansah, sagte er: „Ob ich geflogen bin? Es sah danach aus. Zumindest für eine kurze Zeit.“

Michael Jordans faszinierende Spielerkarriere ließ Fans, Medien, seine ehemaligen Trainer und Mannschaftskameraden selbst Jahre nach seinem letzten Spiel mit dem Wunsch zurück, zu begreifen, was eigentlich geschehen war. Auch ihn selbst. „Manchmal frage ich mich, wie es sein wird, wenn ich auf all das zurückblicke“, sagte Jordan einmal. „Ob mir das alles dann überhaupt noch real erscheinen wird?“

Ja, ist das alles wirklich passiert?

Im fortgeschritteneren Alter ist der dicker gewordene Jordan im Internet häufiger zur Zielscheibe von Spott und Anfeindungen geworden. Gründe dafür: seine Fehlentscheidungen als Führungskraft, seine persönlichen Unzulänglichkeiten. Doch alle Makel können das strahlende Licht nicht trüben, das er als Spieler entfachte. Als er einfach überirdisch war.

Dabei war er anfangs einfach Mike Jordan, einer von vielen Jugendlichen mit ungewisser Zukunft aus North Carolina. Dieser Mike wollte nach der Highschool eigentlich eine Ausbildung bei der US Air Force machen, bis er sich Anfang der 1980er-Jahre auf magische Weise in Michael, den Erzengel der Körbe, verwandelte. Bald stand er für den unaufhaltsamen Aufstieg des Nike-Imperiums, das ihn zu seinem jungen Kaiser krönte – eine Rolle, die ihn befreite, ihn aber auch in Ketten legte. Jordan wurde zum Synonym für Können: Niemand, so schien es, konnte etwas so gut wie Michael Jordan, in diesem Fall Basketball spielen.

„Sein Können“, sagt der Chicagoer Sportjournalist Lacy Banks, „wurde nur von seinem Selbstvertrauen übertroffen.“ Der Profibasketball hatte immer mit seinem Image zu kämpfen: erwachsene Männer, die in Unterwäsche herumliefen. Nun brachte Jordan mit seiner Flugshow Coolness in den Sport. Damit zog er ein weltweites Publikum in seinen Bann, und das zu einem Zeitpunkt, als das US-amerikanische Fernsehen auf dem Höhepunkt seiner Verbreitung stand. Für eine ganze Generation wurde Jordans legendärer „Be like Mike“-Werbespot für die Getränkemarke Gatorade aus dem Jahr 1991 regelrecht zum Mantra: „Manchmal träume ich davon, er zu sein. Verstehst du, ich träume, zu sein … wie Mike. Wenn ich nur wie Mike sein könnte!“

Die Verbindung von Kultur und Medien hatte ihn in diese beispiellose Rolle als aufstrebende Gottheit eines globalen Sport- und Merchandising-Imperiums katapultiert. Der Autor Art Chansky, der Jordan in dessen Zeit an der University of North Carolina begleitet hatte, erinnert sich, wie er ihn später einmal in Chicago besuchte. „Ich war einfach nur erstaunt, welche Wirkung Jordan auf die Leute hatte, als er im alten Chicago Stadium den Gang zwischen den Sitzen an der Grundlinie hinter dem Korb entlanglief, um auf das Parkett zu gelangen. Das saßen erwachsene Männer und Frauen. Haben Sie eine Ahnung, wie viel die verdienen mussten, um sich diese Plätze leisten zu können? Und nur damit sie in der Nähe von Jordan sein konnten? Ich beobachtete ihre Gesichter, wie sie ihre Hälse verrenkten. Es war, als würden sie auf den Messias höchstpersönlich warten.“

Ein Messias, in der Tat. Die Verehrung nahm im Laufe der Spielzeiten solch ungeheure Ausmaße an, dass Tim Hallam, der langjährige Pressechef der Bulls, sich dazu verstieg, Jordan als Gottheit zu bezeichnen. „Haben Sie Jesus heute schon gesehen?“, soll er seine Assistenten gefragt haben.

Jordans Entwicklung wurde von äußerst glücklichen Umständen begleitet. Ralph Sampson, der gegen Jordan antrat, als beide um den Titel des US-College-Spielers des Jahres kämpften, verfolgte in den folgenden Jahrzehnten kontinuierlich den Aufstieg seines Gegners. Sampson räumte ein, dass Jordan zweifellos herausragende körperliche Voraussetzungen und eine beispiellose Arbeitsmoral besessen habe, man dürfe aber auch nicht das Glück ignorieren, dass Jordan beschieden gewesen sei. Er habe die besten Trainer und eine perfekte Mannschaft um sich gehabt.

„Er hat an seinem Spiel gearbeitet, und wenn er in etwas nicht gut war, brachte er die Motivation mit, der Beste darin zu werden“, sagte Sampson 2012 in einem Interview am Vorabend seiner Aufnahme in die Hall of Fame. „Aber er war auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort, mit dem richtigen Team, den richtigen Trainern, die sein Talent und seine Fähigkeiten erkannten. Es gelang, ein funktionierendes Team um ihn herum zusammenzustellen. Für mich ist es eine Kombination aus allem, die seinen Aufstieg begünstigte.“

Niemand war sich des außergewöhnlichen Zusammentreffens von Ereignissen, die sein Leben bestimmten, mehr bewusst als Jordan selbst. „Timing ist alles“, sagte er kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag.

Doch Timing und Glück waren nur ein Teil des Geheimnisses. Der junge Sportpsychologe George Mumford war wie gebannt, als er Jordan erstmals beim Training beobachtete. Er hatte gerade bei den Chicago Bulls angefangen und hegte den Verdacht, dass deren Star vielleicht manisch-depressiv oder bipolar war oder sogar beides sein könnte. „Jordan agierte immer so enthusiastisch, immer mit einer Hyperenergie. Ich dachte, das kann er nicht durchhalten.“

Ein Kennzeichen bei Manisch-Depressiven ist, dass sich bei ihnen Phasen höchster Hochs mit solchen tiefster Tiefs abwechseln. Mumford hielt Ausschau nach ersten Anzeichen von Depressionen bei dem Star. Doch er musste erkennen, dass die Kombination aus Begeisterung und Leistungswille schlicht Jordans Normalzustand war. Mumford hatte selbst an der University of Massachusetts Basketball gespielt, mit Julius Erving zusammengewohnt und hatte Erfahrung im Umgang mit Spitzensportlern. Jordan war eindeutig anders.

Die Zone der Maximalbelastung, in die andere Athleten nur mit Mühe vorstoßen, erreichte Jordan regelmäßig. „Je öfter man diese Momente in der Zone hat, desto häufiger will man sie haben. Die meisten Menschen können das nicht durchhalten. Jordans Fähigkeit, in diesen Zustand zu kommen, seine Fähigkeit, sich zu konzentrieren, seine Fähigkeit, sich bedingungslos einzubringen, war geradezu übermenschlich. Er wirkte wie von einem anderen Stern.“

Und in den Spielen? „War er das Auge des Hurrikans“, sagt Mumford. „Je hektischer es wurde, desto ruhiger wurde er.“

Jordan verbrachte einen Großteil seiner frühen Karriere damit, diese spezifische Gabe zu nutzen und in einem Teamformat einzusetzen, denn er wollte vor allem eins: gewinnen. Seine Flugshows garantierten ihm die Aufmerksamkeit des Publikums, aber es liebte ihn nicht zuletzt wegen seiner überragenden Wettkampfstärke, seines unermüdlichen Einsatzes und seiner Energie, die jeden auf eine Probe stellte. Er testete seine Mitmenschen auf ihre Loyalität, er testete seine Trainer, er testete seine Mannschaftskameraden, um herauszufinden, ob ihre Herzen und ihr Kopf stark genug waren, mit ihm das Parkett zu teilen. Und je mehr Erfahrung er sammelte, desto mehr testete er. Ihm eilte der Ruf voraus, bei diesen Tests gnadenlos vorzugehen. James Worthy, sein Freund und Teamkollege aus North Carolina, bezeichnete ihn einmal als Tyrannen.

Da würde Jordan nicht widersprechen. „Ich kann hart sein“, räumte er im Jahr 1998 ein.

Am häufigsten jedoch testete Michael Jordan sich selbst. Es scheint, als hätte er dieses Geheimnis schon in der Frühzeit seiner Karriere entdeckt: Je mehr Druck er sich selbst auferlegte, desto besser konnte er sich der jeweiligen Situation stellen.

Tex Winter, langjähriger Assistenztrainer der Chicago Bulls, der länger als jeder andere Trainer mit Jordan zusammengearbeitet hat, sagt, dass er in sechs Jahrzehnten Basketball nie eine kompliziertere Person kennengelernt habe. „Was seine Persönlichkeit angeht, ist er ein wahres Studienobjekt. Ich schätze, ich habe nicht die Intelligenz, um alle Facetten zu erfassen, die Michael ausmachen, die ihn zu dem machen, was er ist. Ich glaube, ich kann ihn ziemlich gut analysieren. Aber in vielerlei Hinsicht bleibt er ein Mysterium. Vielleicht sogar für sich selbst.“

Eine Bestätigung dafür ist Jordans krasse Dankesrede von 2009 anlässlich seiner Aufnahme in die Basketball Hall of Fame. In dieser Rede kritisierte er etliche Wegbegleiter seiner Karriere, darunter den Trainer der University of North Carolina, Dean Smith. Ehemalige Kollegen, Journalisten und Fans zeigten sich überrascht und bestürzt. War das der Jordan der früheren Jahre, der immer so ein perfektes Image hatte?

Sie dachten, sie würden ihn kennen. Aber das taten sie nicht.

1Elgin Baylor (1934–2021) spielte zwischen 1958 und 1971 für die Minneapolis Lakers, die ab 1960 zu den Los Angeles Lakers wurden. Baylor zählte zu den Superstars seiner Zeit und war – wie MJ in seiner Zeit bei den Washington Wizards – ein Small Forward. Dieselbe Position nahm auch Julius Erving (geb. 1950) ein, den sie „Dr. J“ nannten. Erving, der jahrelang für die Philadelphia 76ers auf Korbjagd ging, war der erste Spieler, von dem man sagte, er sei zum Korb „geflogen“. Eine Kunst, die Michael Jordan später auf ein neues Level heben sollte.

Teil I

Cape Fear

   1   

Holly Shelter

Der „Gott des Basketballs“, wie ihn die Fans in aller Welt später nennen sollten, kam mit einer blutigen Nase zur Welt. Ausgerechnet in Brooklyn, an einem kühlen Februarsonntag im Jahr 1963, im zehnstöckigen Cumberland Hospital. Die Trainerlegende Howard Garfinkel wies darauf hin, dass dieses Krankenhaus auch der Geburtsort der Basketballbrüder Albert und Bernard King2 gewesen ist.

Die besondere Aura dieses Anfangs in Brooklyn führt zu einem ganz anderen Ort und zu einer viel früheren Zeit, in der die Kraft von Jordans außergewöhnlichem Leben ihren ersten großen Anschub erhielt: Kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert erblickte Jordans Urgroßvater in der Küstenebene von North Carolina das Licht der Welt. In jenen Tagen schien der Tod allgegenwärtig. Der Todesgeruch schlängelte sich stromaufwärts und vermischte sich mit der brackigen Luft. Das Geschrei der Möwen erinnerte an eine Banshee3. In den Barackensiedlungen betrachtete niemand das Überleben als etwas Selbstverständliches. Dort, in einer Schrotflintenhütte4, beginnt die Geschichte von Michael Jordans Leben, am Ufer eines Gewässers, das durch Kiefernwälder und Sümpfe mäandert und in das der Mondschein wie Kerzenwachs tropft, wo graue Moosbüschel von den Bäumen herabhängen.

Es ist das Jahr 1891, 26 Sommer sind seit den Gewaltexzessen und Wirren des Amerikanischen Bürgerkriegs vergangen. Der Ort ist ein kleiner Weiler namens Holly Shelter in Pender County, etwa dreißig Meilen nordwestlich von Wilmington, vierzig Meilen, wenn man mit dem Floß den gewundenen Northeast Cape Fear River hinunterfährt, wie es Jordans Vorfahren oft tun. Holly Shelter heißt der Ort, weil Soldaten in den kalten Winternächten des Revolutionskriegs dort unter Stechpalmen (englisch holly) Zuflucht (englisch shelter) gesucht haben sollen. Die Sümpfe in dieser Gegend boten so manchen Flüchtlingen in Zeiten der Sklaverei Schutz. Eine der riesigen Plantagen in der Region gehörte angeblich einem weißen Prediger aus Georgia namens Jordan. Nach der Befreiung von der Sklaverei zog es viele Schwarze nach Holly Shelter. „Sie besiedelten den Sumpf“, sagt Walter Bannerman, ein entfernter Verwandter Jordans. „Holly Shelter war nichts als ein Sumpf.“

Und der Name des Ortes, in dem es nach mehreren verheerenden Küstenstürmen kaum noch Schutz gab, wurde ad absurdum geführt. Die Kirchenbücher verzeichnen für die Schrotflintenhütten eine schwindelerregende Anzahl an Totgeburten und Todesfällen von Säuglingen in jenen schwülen Tagen Ende Juni 1891, als der kleine Junge zur Welt kam. Es waren so viele, dass die Familien oft tagelang, ja wochenlang warteten, ehe sie ihren Neugeborenen Namen gaben. Dieser kleine Junge jedoch war äußerst lebendig, was sich in einem Geschrei äußerte, das seine Mutter immer wieder wachrüttelte – so wie viele Jahre später sein satter Basso profundo seinen zappeligen sechsjährigen Urenkel Michael dazu brachte, sich zu konzentrieren und sich zu benehmen.

Die Jim-Crow-Ära und ihre weiße Gewaltherrschaft5 hatte North Carolina fest im Griff und prägte das Land noch lange nach der Abschaffung der Sklaverei 1865. In dieser Welt des alltäglichen Rassismus führte der Urgroßvater von Michael Jordan ein Leben in bitterer Armut. Der Tod entriss ihm seine Liebsten ohne Unterschied: Freunde, Cousinen und Cousins, Säuglinge, kleine Mädchen und kräftige junge Männer, er nahm die Menschen in diesen Küstengemeinden reihenweise mit sich, allzu oft in der Blüte ihres Lebens.

Doch all diese Erfahrungen hatte der kleine Junge noch vor sich. Am Tag seiner Geburt im Juni 1891 befand sich seine 21-jährige Mutter, Charlotte Hand, in einer schwierigen Lage. Sie war nicht mit seinem Vater, einem Mann namens Dick Jordan, verheiratet. Das Konzept der Ehe war in dieser Barackensiedlung fremd, denn das Gesetz des Staates North Carolina hatte die Heirat von Sklaven lange Zeit verboten, und auch die meisten anderen Rechte waren den Schwarzen verwehrt. Die Gesetze waren brutal, zum Beispiel konnten Sklavenhalter aufrührerische Sklaven ohne Weiteres mit Kastration bestrafen.

In diesen Zeiten war das Einzige, worauf sich Dawson Hand verlassen konnte, die Liebe seiner Mutter. Er würde ihr einziges Kind bleiben, ihre Zuneigung zueinander war innig. Nach der Geburt des Jungen suchte Charlotte Zuflucht bei den Familien ihrer Brüder. In den ersten zwei Jahrzehnten seines Lebens wurde ihr Sohn in offiziellen Dokumenten meist als Dawson Hand geführt. Doch so willkommen Mutter und Sohn bei der Familie auch waren, es dauerte nicht lange, bis der kleine Junge alt genug war, um den krassen Gegensatz zu bemerken: Die Hands waren so hellhäutig, dass zahlreiche Mitglieder der Familie als Weiße oder Inder hätten durchgehen können, die Jordans dagegen zeichneten sich durch eine dunkle Hautfarbe aus. Von allen Geschwistern, Cousinen und Cousins der Hands war, wie sich Familienmitglieder noch Jahre später erinnern würden, nur einer dunkelhäutig gewesen.

Die weißen Hands in Pender County waren eine bekannte Sklavenhalterfamilie, und ihre schwarzen Nachkommen erzählten lange von der Zeit, in der ein weißer Hand-Mann endlich die unausgesprochene Wahrheit zugegeben hatte – dass sein Bruder einer der dunklen Hand-Männer gewesen sei. Das erklärt vielleicht, warum der Junge irgendwann in seinen Teenagerjahren den Namen seines Vaters annahm und in den offiziellen Aufzeichnungen als Dawson Jordan geführt wurde.

Dawson Jordan wuchs zu einem jungen Mann heran, der auf den ersten Blick wenig mit der Erscheinung seines Urenkels gemein hatte. Dawson war eher klein – um die 1,65 Meter – und stämmig. Und er zog ein Bein nach.

Aber wie sein Urenkel verfügte Dawson Jordan über enorme Kräfte, war furchtlos und zäh. Er ließ sich nicht unterkriegen, blieb ungebrochen und unbesiegt, und das angesichts von Gegnern, wie man sie sich heute nicht einmal mehr ansatzweise vorstellen kann.

Bei einer so außergewöhnlichen Vita lässt sich leicht jener Faktor übersehen, der Michael Jordans Charakter vielleicht mehr geprägt hat als jeder andere: In den entscheidenden Jahren lebte er mit vier Generationen von Jordan-Männern zusammen – eine bemerkenswerte Tatsache, wenn man bedenkt, wie bedroht das Leben afroamerikanischer Männer lange Zeit war.

Sein Urgroßvater, „Dasson“, wie er oft genannt wurde, war eine Autoritätsperson im Leben des jungen Michael Jordan. Die gesamte Familie lebte fast ein Jahrzehnt lang in der Farmergemeinde Teachey zusammen, in North Carolina. Selbst im Zeitalter des Automobils und vierspuriger Autobahnen bestand Dawson Jordan darauf, dass sein Transportmittel das Maultier blieb, das er stolz vor seinen Ochsenkarren spannte. Noch im hohen Alter umwickelte er eigenhändig die Hufe seines Maultiers und fettete sorgfältig die Achse, um sich auf seinen nächtlichen Mondscheinfahrten lautlos fortzubewegen. Tagsüber sprangen seine Urenkel auf den Karren, um in die Stadt mitzufahren. Michael und seine älteren Brüder ärgerten gern die Schweine, die der Urgroßvater hielt, bis er im Jahr 1977 starb, nur wenige Tage nachdem Michael vierzehn Jahre alt geworden war.

Die Jordan-Jungs ahnten nicht, dass das Maultier und die Schweine und andere Erinnerungen an den Urgroßvater die Trophäen eines gut gelebten Lebens waren. Wie Michael Jahre später einmal sagte, war Dawson Jordan nicht der Typ, der gern über die Vergangenheit sprach oder darüber, welche Bedeutung seine Tiere für ihn hatten. Aber bereits die beiläufige Erwähnung von Dawson Jordans Namen konnte seinem berühmten Urenkel noch viele Jahre später Tränen in die Augen treiben.

„Er war tough“, sagte er über den alten Mann. „Ja, wirklich, das war er.“

Der Fluss

In der Morgenluft am Northeast Cape Fear River in Holly Shelter taucht man in Dawson Jordans Welt ein. Heute ist dort ein Natur- und Wildschutzgebiet, aber das Licht war damals wie heute hart und blendete, wenn es auf dem Wasser tanzte und glitzerte, allenfalls getrübt durch den Morgennebel. Um sich von dem blendenden Licht zu erholen, musste man ins Landesinnere vordringen, in die Wälder und Sümpfe, in die Einsamkeit der Schatten, die die einst dichten Bestände der Sumpfkiefer warfen.

Dawson Jordan verbrachte seine Jugend dort, er arbeitete in den Teergruben, natürlichen Asphaltvorkommen im Wald, fällte Bäume und flößte sie den Cape Fear River hinunter zu den Schiffswerften in Wilmington.

Eine Arbeit für Feiglinge war das nicht.

Kurz nach der Jahrhundertwende, als die letzten großen Sumpfkiefern gefällt waren und sich mit dem Aufkommen der Autoindustrie das Leben am Fluss für immer veränderte, wuchs Dawson Jordan zum Mann heran. Der alte Fluss und die verlässlichen Wälder waren die bestimmenden Elemente seines jungen Lebens gewesen. Dawson wusste, wie man Wild jagt, wie man es zerlegt und es zubereitet. Jahre später, als alter Mann, wurde er von den Hunting Lodges in der Region als Koch für Wildgerichte angestellt.

Sein Arbeitsleben begann im Alter von neun Jahren, als er die Volkszähler davon überzeugte, dass er mit seinen „elf“ Jahren alt genug war, um auf die Felder zu gehen. Er konnte lesen und schreiben, da er die örtliche einzügige Schule für Schwarze besucht hatte, wobei das viermonatige Schuljahr häufig unterbrochen wurde, weil die Kinder auf den Feldern oder in den nahe gelegenen Sägewerken arbeiten gingen. „Meine Eltern erzählten mir immer, wie hart es war, in diesem Werk Schindeln herzustellen“, erinnerte sich Maurice Eugene Jordan, ein entfernter Verwandter, der in Pender County lebte und Landwirtschaft betrieb. Die Schüler mussten ihr Feuerholz selbst schlagen, um den Ofen im Schulhaus zu befeuern, wie er auch in den besser ausgestatteten Schulen der weißen Kinder üblich war.

In den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts gab es noch keinen Strom, kaum fließendes Wasser oder Sanitäranlagen und nur wenige befestigte Straßen. Eine Mittelschicht gab es nicht, nahezu jeder, ob schwarz oder weiß, stand im Dienst eines der wenigen Landbesitzer oder verdingte sich in der Subsistenzlandwirtschaft, ob als Sharecropper6, Pächter oder Arbeiter.

Eine Erhebung des Landwirtschaftsministeriums von North Carolina aus dem Jahr 1922, bei der über tausend Menschen befragt wurden, ergab, dass die Sharecropper in diesem Bundesstaat nicht mehr als dreißig Cent am Tag verdienten, mitunter sogar weit weniger. Insgesamt gab es etwa 45 000 Farmerfamilien ohne Land, die in Ein- und Zweizimmerhütten mit rissigen Wänden und undichten Decken, die sie notdürftig mit Zeitungspapier abdeckten, ohne Sanitäranlagen hausten. Gerade mal ein Drittel der Hütten verfügte über ein Plumpsklo.

Die katastrophalen hygienischen Bedingungen erklären die hohe Krankheits- und Kindersterblichkeitsrate unter den Landarbeitern.

Charlotte Hand und ihr Sohn Dawson schlugen sich mithilfe der Hands durch, die ihm das Flößen beibrachten. Bereits in jungen Jahren soll er dabei sehr viel Geschick gezeigt haben. Es war nicht einfach, diese riesigen Flöße auf dem tückischen Fluss zu bewegen. Es erforderte viel Kraft, eine Kette von drei Flößen durch die zahlreichen Biegungen des Flusses zu manövrieren. Doch so anstrengend diese Arbeit auch war, Dawson genoss das Leben auf dem Fluss, der zu jener Zeit der wichtigste Handelsweg war.

Der Northeast Cape Fear ist ein Gezeitenfluss, was eine zusätzliche Herausforderung darstellte. Nur bei Flut konnte man flößen. Bei Niedrigwasser musste man die Flöße an einem Baum festbinden und auf das nächste Hochwasser warten.

Es war eine überaus gefährliche Arbeit, die seit der Kolonialzeit nicht zuletzt von freigelassenen Sklaven verrichtet wurde. Die Flößer gehörten der untersten sozialen Schicht an, oft verdienten sie nur ein paar Cents am Tag, nicht mehr als die ärmsten der Pächter. Dennoch schien Dawson Jordan die Freiheit bei der Arbeit auf dem Fluss zu genießen. Sie bot regelmäßig Gelegenheit, in die Hafenstadt Wilmington zu fahren, mit ihrem geschäftigen Treiben, Seeleuten aus aller Welt, zahlreichen Bars und Bordellen. In den Volkszählungsaufzeichnungen wird Dawson als „auf eigene Rechnung“ Arbeitender und nicht als Angestellter geführt.

Man stellt sich gern vor, wie er vor einem Jahrhundert in klaren Nächten am Ufer saß und zu den Sternen hinaufschaute, um in Gedanken der Welt zu entfliehen. Für den Urgroßvater von Michael Jordan war das vermutlich das Beste, was er machen konnte.

Jahrzehnte später würde sein Urenkel bekennen, dass die Momente auf dem Basketballplatz sein einziger Zufluchtsort waren, die einzige Zeit des wahren Friedens, seine einzige Fluchtoption aus einer Welt, die für ihn zutiefst beunruhigend und weitaus frustrierender war, als seine Millionen Fans sich das vorstellen konnten. Die beiden Jordans hatten über ein Jahrhundert hinweg auf sehr unterschiedliche Weise viel gemeinsam, obwohl ihre Plätze in der Welt so verschieden waren. An vielen seiner brutal schwierigen Tage hätte Dawson Jordan sicherlich gerne vom süßen Lebensstil seines Urenkels gekostet.

Clementine

Im Gegensatz zu Michael, der die kultiviertesten und attraktivsten Frauen des Planeten haben konnte, lebte der kleine, verkrüppelte Dawson mit seiner Mutter in einer winzigen, abgeschiedenen Gemeinde. Die gefährliche Arbeit in den Wäldern und auf dem Fluss bestimmte sein Leben. Er bekam eine Ahnung davon, wie eine Romanze sein könnte, als seine Mutter die Liebe zu einem Farmpächter in Holly fand. Isac Keilon war zwanzig Jahre älter als sie und schon weit über sechzig, als sie im Mai 1913 heirateten. Ihr Glück muss Dawsons Gedanken über seine eigenen Perspektiven beflügelt haben.

Über alle Widrigkeiten hinweg, die ihm zu schaffen machten, fand er Gefallen an einem Mädchen namens Clementine Burns. Das Lied Oh My Darling, Clementine, das 1884 erstmals große Popularität erlangte, hatte möglicherweise zu ihrer Namensgebung beigetragen. Sie war ein Jahr älter als Dawson und lebte mit ihren Eltern und sieben jüngeren Geschwistern in Holly Shelter. In mancherlei Hinsicht waren ihre Aussichten ebenso bescheiden wie seine. Dennoch verliebte sich Dawson.

Ende Januar 1914 gaben sie sich das Eheversprechen und begannen ihr gemeinsames Leben. Etwa acht Monate später teilte „Clemmer“, wie sie genannt wurde, Dawson mit, dass sie schwanger war, und im April 1915 brachte sie in ihrer kleinen Hütte einen kräftigen, gesunden Jungen zur Welt. Sie nannten ihn William Edward Jordan. Und alles deutete darauf hin, dass dieses Ereignis für den frischgebackenen Vater ein großes Glück bedeutete.

Wenn dieses Glück nur von Dauer gewesen wäre.

Die ersten Anzeichen von Problemen traten kurz nach der Geburt auf: nächtliche Schweißausbrüche und Beschwerden beim Wasserlassen. Dann begann Clemmer, Blut zu husten. Das auffälligste Symptom waren die Knötchen an Knochen und Sehnen.

„Das war die Krankheit der Schwarzen: Tuberkulose“, erinnert sich Maurice Eugene Jordan. „Damals konnte man nicht allzu viel dagegen tun.“

Die über die Luft übertragene Krankheit war hoch ansteckend. North Carolina war einer der ersten Südstaaten mit einem Sanatorium für Schwarze. Aber die 1899 privat finanzierte Einrichtung verfügte lediglich über ein Dutzend Betten, und die Kosten waren exorbitant hoch. Die einzige Möglichkeit für die Familien bestand darin, ein Zelt oder eine provisorische Bretterbude im Hof vor ihrem Haus aufzustellen, was es den Angehörigen ermöglichte, ihre letzten Tage in der Nähe der Familie zu verbringen, in der Hoffnung, die Tuberkulose nicht zu verbreiten. Das Sterben der Angehörigen konnte sich über quälende Monate oder gar Jahre hinziehen. Clemmer Jordan suchte im Frühstadium der Krankheit einen Arzt auf, starb aber an einem Aprilmorgen im Jahr 1916, nicht lange nach dem ersten Geburtstag ihres Sohnes.

In jener Zeit war es nicht ungewöhnlich, dass ein junger Witwer seine Kinder sich selbst überließ bzw. der Familie der Frau. In der Hafenstadt Wilmington hätte er als Koch auf einem der vielen Schiffe anheuern können. Aber die einfache Wahrheit, die aus den öffentlichen Aufzeichnungen über sein Leben hervorgeht, war, dass er seine Familie sehr liebte. Davon zeugten seine Taten. Und seine Entschlossenheit, eine Familie zu gründen, war die erste große Kraftquelle in jener Geschichte, aus der Michael Jordan hervorgehen sollte.

Einige Monate nach Clemmers Tod erlitt Dawson einen weiteren Schicksalsschlag, als er erfuhr, dass seine Mutter, noch nicht fünfzig Jahre alt, an einem unheilbaren Nierenleiden litt. Der Tod kam früh und oft in der Küstenebene, aber in den Jahren 1917 und 1918 verdoppelte, verdreifachte und vervierfachte sich die Sterblichkeitsrate in Pender County, wo die Spanischen Grippe geradezu wütete. Dawson musste mit ansehen, wie zahlreiche Mitglieder der Familie Hand aus dem Leben schieden. Zwischen September und November 1917 forderte die Epidemie binnen neunzig Tagen mehr als 13 000 Todesopfer in North Carolina.

Der Krankheitszustand von Dawsons Mutter machte es erforderlich, dass sie aus dem Haus von Isac Keilon zurück zu ihrem Sohn zog. Als sich ihr Ende näherte und sie Dawson nicht mehr bei der Betreuung seines kleinen Sohnes helfen konnte, nahm er eine junge Frau namens Ethel Lane als Untermieterin auf, die eine kleine Tochter hatte und sich sowohl um die Kinder als auch um Charlotte kümmerte. Kurze Zeit später starb Isac Keilon unerwartet. Sie beerdigten ihn, und drei Monate später erlag Dawsons Mutter ihrem Nierenleiden.

Dawson begrub Charlotte Hand Keilon an der Bannerman’s Bridge Road in Holly, an den Ufern des Flusses. Der Junge, der sich immer eine Familie gewünscht hatte, war nun ganz allein mit seinem kleinen Kind. Vater und Sohn verbrachten den Rest ihres Lebens zusammen, lebten und arbeiteten in den kleinen Küstengemeinden der Region und trotzten gemeinsam der Armut.

Materielle Güter erwarben sie im Leben keine. Aber dennoch vermachten sie der nächsten Generation viel. Sie taten das gegen alle Widerstände und obwohl im Dunst von Cape Fear ein weiteres schweres Erbe lauerte, etwas Heimtückisches und sogar Surreales.

2Bernard King (geb. 1956) spielte von 1977 bis 1993 in der NBA und ist Mitglied der Hall of Fame. Sein drei Jahre jüngerer Bruder Albert war zwischen 1981 und 1991 ebenfalls in der NBA aktiv.

3Die Banshee ist eine Geisterfrau in der irisch-keltischen Mythologie, die den baldigen Tod ankündigt.

4Als Schrotflintenhütten (im Englischen shotgun shacks oder shotgun houses) werden lang gezogene, schmale, eingeschossige Häuser bezeichnet, die in den USA ab Beginn des 19. Jahrhunderts errichtet wurden und vor allem ärmeren Bevölkerungsschichten als Bleibe dienten. Die Häuser haben keinen Flur, ihre zwei bis fünf Zimmer gehen ineinander über.

5„Jim Crow“ (dt. „Jim Krähe“) war in den USA des 19. Jahrhunderts die rassistische Bezeichnung für Afroamerikaner. Die Jim-Crow-Gesetze waren eine Reihe von Gesetzen, die von weißen Südstaatlern erlassen wurden und die zwischen der Abschaffung der Sklaverei 1865 und der Mitte der 1960er-Jahre galten. Kraft dieser Gesetze hatten Schwarze keine Rechte – weder wirtschaftlich noch politisch.

6Sharecropper sind Pächter, die von den Erträgen auf den von ihnen bewirtschafteten Flächen einen Teil an den Landbesitzer abgeben müssen.

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Blutiges Wilmington

Der Weg zurück in die Vergangenheit ist einer, den Michael Jordan oft gegangen ist, zurück an die Küste von Cape Fear. Wenn man von Chapel Hill aus auf der Interstate 40 gen Osten fährt, geht das fruchtbare Piedmont in die Küstenebene mit ihren Kiefernwäldern und verfallenen Tabakscheunen über. Schon bald weisen Schilder auf die ländlichen Gemeinden Teachey und Wallace, Burgaw und Holly hin, wo Jordan einst für Furore sorgte. Heute durchziehen kilometerlange Straßen die Gegend, flankiert von zahllosen Tankstellen und Restaurantketten, nur noch wenig erinnert an Carolinas Vergangenheit. Nirgends, so scheint es, lässt sich heute noch ein Hinweis auf die Bewegung der Demokratischen Partei für die Vorherrschaft der Weißen finden, die in Dawson Jordans frühen Jahren allgegenwärtig gewesen war. Jene Wunden, die mit den Ereignissen im alten Wilmington verbunden waren, sollten jedoch auf seltsame, durchaus ironische Weise später im Leben von Michael Jordan noch einmal aufbrechen.

In den 1890er-Jahren war es den Dixiekraten7 in weiten Teilen von North Carolina gelungen, die politische Kontrolle durch die Weißen wiederherzustellen. Wilmington und die Küstenebene mit ihren über 120 000 registrierten schwarzen Wählern widerstanden zunächst. Der Ort war auf dem Weg, ein Pendant zu Atlanta zu werden, mit einer aufstrebenden schwarzen Oberschicht, zwei schwarzen Zeitungen, einem schwarzen Bürgermeister, einer durchmischten Polizei und einer Reihe von Unternehmen unter schwarzer Leitung. Die Antwort der Weißen in Wilmington darauf folgte am 11. November 1898 mit einem Aufstand, bei dem sie, angestachelt durch die politische Rhetorik der Demokraten, auf die Straße gingen und die Redaktionsräume einer von Schwarzen geführten Zeitung niederbrannten. Es kam zu Schießereien, und bewaffnete Weiße, die sogenannten Rothemden, zogen durch die Straßen. Das örtliche Leichenschauhaus meldete am nächsten Tag vierzehn Tote, darunter dreizehn Schwarze – andere Quellen sprechen sogar von bis zu neunzig Todesopfern. Als sich die Gewalt ausbreitete, flohen viele der schwarzen Familien in die nahe gelegenen Sümpfe, aber auch dort waren sie vor lynchenden Rothemden nicht sicher. Der Aufstand erwies sich als minutiös geplant. Am Tag darauf wurde die schwarze Oberschicht – Geistliche, Unternehmer, Politiker – zum Bahnhof eskortiert und für immer aus der Stadt vertrieben.

Die Vorherrschaft der Weißen entwickelte sich zur Doktrin der kommenden Jahrzehnte. Charles Aycock, der im Jahr 1900 zum Gouverneur gewählt wurde, legte eine legislative Agenda fest, die die gewalttätige Botschaft des Aufstands aufgriff: „Im Süden wird es für keine der beiden Rassen einen Fortschritt geben, solange der Neger nicht dauerhaft aus dem politischen Prozess ausgeschlossen ist.“ Die Wählerregistrierung wurde an einen Alphabetisierungstest geknüpft, wodurch die Zahl der schwarzen Männer in den Wählerlisten von North Carolina auf weniger als 6 000 sank. Vor dem Aufstand waren es wie gesagt noch über 120 000 gewesen.

Unrecht und Gewalt wurden seitens staatlicher Strafverfolgungsbehörden stillschweigend gebilligt. In den 1940er- und 1950er-Jahren waren in ganz Duplin County, wo Jordans Familie lebte, gerade einmal zwei schwarze Wähler registriert.

Raphael Carlton, der Sohn eines Landpächters, arbeitete als junger Mann in Duplin. Da sein Vater Wert auf die Schulausbildung des Juniors gelegt hatte, konnte Carlton die nahe gelegene Shaw University besuchen. In den 1940er-Jahren machte er seinen Abschluss und kehrte als engagierter schwarzer Pädagoge nach Hause zurück. Er erinnert sich an eine Sitzung der schwarzen Lehrerschaft auf dem Höhepunkt der Rassentrennung, bei der sich der weiße Superintendent des örtlichen Schulsystems zu Wort meldete: „Ihr Nigger solltet euch besser mal zusammenreißen.“

„Heute versteht man kaum mehr, wie wir uns damals so sehr haben einschüchtern lassen“, sagt Carlton. „Aber die Einschüchterung war umfassend. Du hast dich nicht getraut, dich aufzulehnen.“

Das Mindset ändern

1937 wurde John McLendon als Basketballtrainer an das North Carolina College for Negroes (die spätere North Carolina Central University) in Durham berufen. Das mangelnde Selbstbewusstsein seiner jungen Spieler irritierte ihn. „Meine größte Herausforderung als Trainer“, so McLendon, „war es, meine Spieler davon zu überzeugen, dass sie keine minderwertigen Sportler waren.“

McLendons Tätigkeit in North Carolina war das Ergebnis einer Bewegung, die 1891 begonnen hatte. Nur fünf Monate nach der Geburt von Michael Jordans Urgroßvater hatte James Naismith in einer Turnhalle in Springfield, Massachusetts, mit einem Pfirsichkorb die Ära des Basketballs begründet. Jahrzehnte später wechselte Naismith an die Pädagogische Fakultät der University of Kansas, wo er die Universitätsmannschaft trainierte, ehe er sie an Phog Allen übergab, der später als „Vater“ des Basketballtrainings in die Geschichte eingehen sollte.

John McLendon kam Anfang der 1930er-Jahre als einer der ersten schwarzen Studenten der Universität nach Kansas, wurde aber daran gehindert, in der Basketballmannschaft mitzuspielen oder das Schwimmbad der Hochschule zu nutzen. Die Situation wäre für den schwarzen Studenten noch viel schlimmer gewesen, wenn Naismith ihn nicht aufgesucht und motiviert hätte, eine örtliche Highschoolmannschaft zu coachen. Nachdem McLendon 1936 seinen Bachelorabschluss gemacht hatte, verhalf ihm Naismith zu einem Stipendium für ein Masterstudium an der University of Iowa. Nach einem Jahr schloss McLendon dieses Studium ab und übernahm eine Stelle als Trainer am kleinen North Carolina College, wo er das erste Programm für Sportunterricht aus der Taufe hob, in dem Generationen von schwarzen Sportlehrern und Trainern North Carolinas ausgebildet werden sollten. Aus diesem Programm ging unter anderem auch Clifton „Pop“ Herring hervor, Jordans Trainer an der Highschool.

Die ersten schwarzen Collegeteams arbeiteten in dem gefährlich aufgeheizten Klima der Rassentrennung mit sehr geringem Budget. Sie erzielten Erfolge trotz vielerlei Einschränkungen, die das Reisen fast unmöglich machten – öffentliche Toiletten, Trinkwasserspender, Restaurants und Hotels, nichts davon durften sie nutzen. „Ein einfacher Trip von einer Schule zur anderen war wie der Weg durch ein Minenfeld“, sagt McLendon.

In den folgenden Jahren stellte McLendon derart erfolgreiche Teams zusammen, dass sich die Verantwortlichen der nahe gelegenen Duke University veranlasst sahen, den jungen Trainer einzuladen, bei einem bevorstehenden Spiel auf der Bank der Blue Devils8 Platz zu nehmen. Einzige Bedingung: McLendon müsse eine weiße Jacke tragen, damit er für die Zuschauer wie ein Steward aussehe. McLendon lehnte höflich ab.

Der Trainer hatte sich geschworen, weder sich noch seine Spieler jemals in eine Situation zu bringen, in der sie respektlos behandelt oder gedemütigt werden könnten. „Man wollte nicht in eine Situation geraten, in der die eigene Würde vor den Augen der Mannschaft zerstört wird“, erklärt er. Der Respekt seiner Spieler war entscheidend, um sie davon überzeugen zu können, dass sie genauso gut und genauso viel wert waren wie die Weißen.

Ein Durchbruch gelang während des Zweiten Weltkriegs, als das Militär die medizinische Fakultät der Duke University nutzte, um Ärzte für den Krieg auszubilden, unter denen sich einige erstklassige Basketballspieler fanden. Die Spiele des rein weißen Teams der medizinischen Fakultät wurden täglich in den Zeitungen von Durham angekündigt, das ungeschlagene Team von McLendon hingegen erhielt keine Presse. Alex Rivera, McLendons Teammanager, war darüber verärgert und arrangierte ein Spiel zwischen den beiden Mannschaften. Da der Ku-Klux-Klan das verhindern wollte, stimmte der Duke-Trainer einem geheimen Spiel an einem Sonntagmorgen zu, zu dem weder Fans noch Medien zugelassen waren. Als McLendons Team zur Halbzeit doppelt so viele Punkte wie der Gegner erzielt hatte, gingen die weißen Spieler zu McLendon und schlugen vor, die beiden Teams zu mischen und weiterzuspielen. Es war McLendons erster großer Sieg gegen den Rassismus. Ein Sieg, der seinen Spielern die Augen öffnete.

Noch lange nach seinem Weggang wirkte McLendons Einfluss in North Carolina nach, zunächst hinsichtlich der Bedeutung des Basketballs in den schwarzen Gemeinden des Bundesstaates, dann aber auch auf College-Ebene. McLendon war ein äußerst innovativer Trainer, der deshalb vom Schuhhersteller Converse eingeladen wurde, an dessen Trainerlehrgängen teilzunehmen. Bei einer von McLendons Präsentationen wurde ein junger Assistenztrainer der Air Force Academy namens Dean Smith für die berühmte Four-Corner-Spread-Offense entdeckt.9

McLendon und sein Freund Clarence „Big House“ Gaines von der Winston-Salem State University galten als Größen im Trainergeschäft. Aber damals konnte keiner der beiden Coaches ahnen, dass ihr Sport auch dazu beitragen würde, die Rassenschranken im Staat zu überwinden. Niemals hätten sich die zwei Trainer vorstellen können, dass zu ihren Lebzeiten sowohl Schwarze als auch Weiße in North Carolina einen schwarzen Spieler so lieben würden wie Michael Jordan. Geschweige denn, dass sie eines Tages selbst in die nach James Naismith benannte Basketball Hall of Fame aufgenommen würden.

Der Mais

Im Laufe seines langen Lebens machte Dawson Jordan keine jener positiven Erfahrungen, die das Leben seines Urenkels später prägen sollten. Als Dawson Jordan 28 Jahre alt wurde, verschwand die Holzflößerei, und die Trucks übernahmen das Transportgeschäft. Dawson Jordan war gezwungen, den Beruf zu wechseln. Er arbeitete weiterhin in den örtlichen Holzwerken und bewirtschaftete als Sharecropperein Stück gepachtetes Land, so wie es die Mehrheit der Südstaatenbevölkerung tat. Damit gehörte er in der damaligen Zeit zur untersten Stufe der Gesellschaft. Um von einem Stück gepachteten Lands leben zu können, war der Besitz eines Maultiers unerlässlich. „Als ich ein Kind war“, sagte Dawsons Cousin, William Henry Jordan, „kostete ein Maultier mehr als ein Auto, weil man mit einem Maultier seinen Lebensunterhalt verdienen musste.“

Die Sharecropper kauften die Maultiere von örtlichen Händlern. Maurice Eugene Jordan erinnert sich: „Man konnte ein Maultier von vom Viehhändler bekommen, aber wenn man ein schlechtes Jahr hatte, holte er sich das Maultier zurück. Der Saatgut- und Düngemittelhändler, von dem man sich etwas geliehen hatte, tat dasselbe. Wenn man eine schlechte Ernte erwischte, konnte es ein oder zwei Jahre dauern, bis man sich davon erholte.“

„Du hattest keine Wahl“, so William Henry Jordan. „Es gab nichts anderes.“

Für Männer wie Dawson Jordan und seinen Sohn gab es kein Entrinnen aus diesen Verhältnissen, sie schafften es so gerade eben, sich zu ernähren. Manchmal halfen sie zusätzlich frühmorgens in einem nahe gelegenen Milchviehbetrieb beim Melken und trieben die Kühe danach auf die Weide. In schlechten Zeiten mussten die Bauern in die Teilpacht wechseln. „Da stelltest du dann deine Arbeitskraft zur Verfügung“, erklärt William Henry Jordan, „der Farmer das Maultier, das Saatgut und den Dünger. Am Ende der Saison bekamst du ein Drittel bis die Hälfte von dem, was übrig war. Oft blieb gar nichts übrig.“

Deshalb suchten viele Bauern nach alternativen Einnahmequellen, zum Beispiel durch „Moonshining“10: Farmer an der Küste, schwarze wie weiße, brannten schon seit der Kolonialzeit ihren eigenen Maisschnaps. Sie hatten schlicht kein Geld, um Schnaps zu kaufen, daher stellten sie ihn kurzerhand selbst her. „Es gab nichts anderes als Maisschnaps“, erklärt Maurice Eugene Jordan, „und es gab jede Menge Schwarzbrennereien, am Fluss, in den Wäldern, in den Sümpfen, wo immer es sauberes Wasser gab.“

Dawson Jordan war kein Schwarzbrenner, aber er hatte einen gewissen Ruf im illegalen Handel von Pender County. Nicht unwahrscheinlich, dass er als Flößer mit dem Geschäft in Berührung gekommen war: „Diese Flöße waren voller Whiskey“, sagt Maurice Jordan mit einem Lachen. „Was sie transportierten, darüber sprach niemand.“

Man trank Maisschnaps gegen das Elend, er lockerte die Stimmung in langen Nächten und machte die konservativen Farmer für das ein oder andere kleine Glücksspiel empfänglich. Die hart arbeitenden Männer von Pender County spielten jedoch allenfalls um ein paar Pennys, nicht zu vergleichen mit den riesigen Summen, die Michael Jahrzehnte später verdienen würde. „Niemand hatte etwas zum Verzocken übrig“, sagt Maurice Eugene Jordan.

Jordans Motto war: Arbeite hart und belohne dich mit dem, was möglich ist. In dieser Hinsicht war Dawson Jordan der erste in einer Reihe von männlichen Vertretern der Familie Jordan. Er verstand es, Spaß zu haben, manchmal auch am Rande der Legalität. Gut gehen ließ er es sich mit einem bisschen Alkohol, einem bisschen Rauchware und gelegentlich auch einem bisschen Action inmitten einer ruhigen Nacht in Carolina.

7Der Ausdruck geht zurück auf eine ehemalige US-Partei, die sich 1948 unter dem Namen States’ Rights Democratic Party gründete und sich noch im selben Jahr auflöste. Ihre als Dixiecrats bekannten Mitglieder waren erzkonservativ, sie befürworteten die Rassentrennung.

8Spitzname des Basketballteams der Duke University.

9Die Four-Corner-Spread-Offense – manchmal auch einfach nur als Four-Corners-Offense bezeichnet– ist eine von Dean Smith entwickelte Taktik, bei der sich vier Spieler auf die Ecken der gegnerischen Spielhälfte verteilen, der fünfte verbleibt in der Mitte. So zieht man die Defense des Gegners weit auseinander und kann Zeit von der Uhr nehmen.

10„Moonshining“ steht umgangssprachlich für Schwarzbrennerei.

Teil II

Die frühen Tage

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Der Einfluss

Mag auch sein Urgroßvater Dawson Jordan das Feuer in Michaels Leben entzündet haben, so war es doch Michaels Mutter Deloris Peoples, die die Flammen erst so richtig zum Lodern brachte. Deloris wurde im September 1941 in einer relativ wohlhabenden Familie in Rocky Point, North Carolina, geboren. Ihr Vater, Edward Peoples, war ein distanzierter, manche würden sagen humorloser Mann, bekannt für seinen Ehrgeiz und sein bedingungsloses Arbeitsethos. Unter den vielen frustrierten und mittellosen schwarzen Farmern – einer Generation von Männern, die ihr Leben in Overalls verbrachten und mit einem Wirtschaftssystem konfrontiert waren, das ihr Scheitern beinahe garantierte – war Edward Peoples‘ seltener Erfolg beschieden gewesen.

„Ich kannte ihren Vater“, erinnert sich Maurice Eugene Jordan. „Der alte Edward Peoples war kein Sharecropper. Er hatte seine eigene Farm.“

Da ihm der Zugang zur Politik verwehrt war, gehörte Edward Peoples zu einer Reihe von Schwarzen in North Carolina, die sich stattdessen auf den wirtschaftlichen Aufstieg konzentrierten. Im nahe gelegenen Durham florierte eine „Black Wall Street“ unter der Führung von John Merrick, Gründer mehrerer Versicherungsgesellschaften und Banken. Edward Peoples’ bescheidener Erfolg reichte nicht an diese Größenordnungen heran, aber die Aufzeichnungen belegen, dass er sich unermüdlich aufs Geldverdienen konzentrierte. Neben seiner landwirtschaftlichen Tätigkeit arbeitete Deloris’ Vater auch für die Casey Lumber Company, ein holzverarbeitendes Unternehmen in Rocky Point, seine Frau Inez war als Hausangestellte tätig. Die Peoples waren zwar nicht wohlhabend, aber auch keineswegs arm. Sie hatten sich zielstrebig über jene Gefahren und Fallstricke hinweggearbeitet, die so viele Farmer, ob weiß oder schwarz, in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts herausforderten. Wie die Jordans hatten auch die Peoples in dieser von Krankheit und Tod geprägten Zeit viel Leid erfahren. Dennoch wurden sie zu Landbesitzern, die die Freiheit besaßen, Landwirtschaft auf eigene Rechnung zu betreiben. Obwohl die Peoples wenig bekannt sind und in der Geschichte der Jordans nur selten Erwähnung finden, besteht kein Zweifel daran, dass ihr Antrieb und ihre Arbeitsmoral einen Einfluss darauf gehabt haben dürften, wie Michaels Mutter ihr eigenes Leben und das ihres berühmten Sohnes gestaltete. Das Märchen der Familie Jordan ist oft, aber in vielen wesentlichen Aspekten falsch erzählt worden, was in gewisser Weise sogar verständlich ist. Denn wann immer Familien im Rampenlicht zu großem Ruhm und Reichtum gelangt sind, haben sie schnell Mythen errichtet. Oft geschah das aus Selbsterhaltungstrieb, um Familienmitglieder vor der alles verschlingenden Medienmaschine zu schützen.

Als ihr Sohn in den 1980er-Jahren berühmt wurde, musste Deloris Jordan ihre Familie vor vielen Situationen bewahren. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sie ein Narrativ zu entwerfen begann, das viele harte Fakten ausließ oder zumindest beschönigte. Zunächst tat sie das in diversen Interviews, später in ihrem Buch Family First, in dem sie Eltern Ratschläge gab, wie sie ihre Kinder so erziehen könnten, dass sie „wie Mike“ werden. Dieser Bestseller ermöglichte es Deloris Jordan schließlich, die ganze Welt zu bereisen und sich öffentlich für die Belange der Institution Familie einzusetzen.

Die tatsächliche Geschichte von Deloris Jordan ist viel stärker als jede Fiktion, denn sie offenbart ihren Charakter und ihre Fähigkeit, die eigene Familie durch tiefste Täler zu steuern. Es steht außer Frage, dass die zahlreichen Hindernisse, die sich Deloris in den Weg stellten, ihre Bemühungen befeuerten, eine Familie zu gründen. Insofern war sie es, die den eigentlichen Treibstoff für „Air Jordan“ lieferte.

Rocky Point

Passenderweise begegneten sich die Familien, die Michael Jordans Genpool bilden sollten, zum ersten Mal auf dem Parkett einer engen Turnhalle voller jubelnder Schüler. Nach vagen Erinnerungen von Gemeinde- und Familienmitgliedern spielten James und sein jüngerer Bruder Gene Jordan Basketball für die Charity High. Die Brüder von Deloris, Edward und Eugene Peoples, spielten für die Rocky Point Training School in Pender County. Die beiden Schulen pflegten damals eine Rivalität, und die Menschen in der Gemeinde erinnern sich, dass die Peoples-Jungs gute Spieler waren.

Sie erinnern sich auch an die Liebe der Schüler und Lehrenden zur Rocky Point. Die 1917 eröffnete Schule war eine von 5 000 Schulen, Geschäften und Lehrerwohnungen, die für Afroamerikaner in Gemeinden im ganzen Land errichtet worden waren, und zwar mit Geldern aus dem Rosenwald-Fonds, einer Stiftung von Julius Rosenwald, Inhaber von Sears, Roebuck & Company.11 Die Ausstattung der Schulen war nicht immer die beste: gebrauchte Möbel und Bücher, oft mit herausgerissenen Seiten, die von den weißen Schulen des Bezirks weitergereicht worden waren. „Wir bekamen, was sie abgenutzt hatten“, erinnert sich William Henry Jordan, ein Verwandter der Familie. Aber in einer Zeit, in der die Bildung der Schwarzen für die örtlichen Schulbehörden bestenfalls ein nachrangiger Gedanke war, bereiteten die engagierten Lehrer der Schule ihre Schüler auf jegliche Art von Herausforderung vor. Das machte Rocky Point – bis zur Integration in den späten 1960er-Jahren – für die afroamerikanische Bevölkerung von Pender County bedeutend.

Die Basketballspiele wurden nach Unterrichtsende in der Aula der Schule ausgetragen und dauerten in der Regel bis in den frühen Abend hinein. Deloris hatte Reportern ursprünglich immer erzählt, dass der Wettkampf, der James und sie zusammenbrachte, 1956 stattgefunden habe, als sie fünfzehn Jahre alt war. In Family First korrigierte sie diesen Irrtum jedoch und erklärte, dass sie ihren Mann tatsächlich bereits im Anschluss an ein Spiel im Jahr 1954 kennengelernt hatte.

Damals war sie gerade mal dreizehn Jahre alt gewesen und hatte sich riesig darüber gefreut, Teil des Spirits von Rocky Point zu sein. Sie war keck und lebhaft, aber auch ein braves Mädchen. Sie betete oft und besuchte mit ihrer Familie regelmäßig die Kirche.

„Sie war eine gute Schülerin, als ich sie unterrichtete“, erinnert sich Mary Faison, eine ehemalige Lehrerin auf der Rocky Point.

Bis heute ist nicht klar, ob James an dem besagten Abend in der Mannschaft von Charity spielte. Er war siebzehn und in der Oberstufe, und er war mit einem Auto da, was Rückschlüsse auf die sich verbessernde finanzielle Situation der Jordans einerseits sowie auf seine große Begabung als Mechaniker andererseits zulässt.

Wie in so vielen Teenagerliebesgeschichten war er ihr aufgefallen, ehe er sie wahrgenommen hatte. James hatte rehbraune Augen und hohe Wangenknochen, aber das war es nicht, was Deloris’ Aufmerksamkeit erregte. „Mich hat seine Persönlichkeit angezogen“, sagt sie. „Äußerlich sah er nicht besser aus als einige der anderen Jungs. Aber er war aufgeschlossen, hatte einen guten Sinn für Humor und war ein fürsorglicher, freundlicher Mensch.“

Deloris und einige ihrer Cousinen sprangen auf den Rücksitz seines Autos, um sich nach dem Spiel nach Hause fahren zu lassen. Als es so aussah, als würde er direkt an ihrem Haus vorbeifahren, sagte sie ihm, er solle anhalten.

„Oh, ich wusste nicht, dass ich noch jemanden hier drin habe“, sagte er. „Du bist ziemlich hübsch.“

„Und du bist ziemlich frech“, soll sie erwidert haben.

„Könnte sein. Aber eines Tages werde ich dich heiraten“, antwortete er ihrer Erinnerung nach.

„Ich wusste, dass er mit einer anderen ausgegangen ist“, sagt sie später. „Deswegen habe ich mich von ihm ferngehalten.“

Deloris rannte in ihr Haus und schlug die Tür hinter sich zu, so wie es dreizehnjährige Mädchen nun mal machen.

In der kleinen Gemeinde war sicherlich auch bis zu James Jordan vorgedrungen, dass Edward Peoples sein eigenes Land bewirtschaftete. Und James musste ebenso aufgefallen sein, dass das Haus des Mädchens größer war als die meisten anderen. Es war ein zweistöckiges, von der Straße zurückgesetztes Fachwerkhaus. „Im Hof gab es viele große Schattenbäume“, erinnert sich Maurice Eugene Jordan.

„Viele Schwarze waren damals lediglich Landarbeiter“, sagt er und ergänzt, dass der fleißige Edward Peoples sein eigenes Land das ganze Jahr über bewirtschaftete, während er parallel dazu für die Casey Lumber Company arbeitete. Neben diesen Tätigkeiten investierte Edward, wie viele seine Nachbarn auch, Zeit und Geld in einen weiteren Erwerbszweig: Edward Peoples war Schwarzbrenner. Angeblich soll er sogar eng mit David Jordan befreundet gewesen sein, einem der vielen Schnapsbrennercousins von Dawson Jordan. „Sie hatten eine ganze Reihe von Destillierapparaten“, berichtet Maurice Eugene Jordan. „Die von den Revenooers12 gefunden und zerstört wurden. Aber sie fingen einfach sofort wieder an. Das Wichtigste war, sich nicht erwischen zu lassen.“

Es sollte nicht lange dauern, bis James auf Edward Peoples zuging, wegen eines Dates mit „Lois“, wie er sie nannte. Peoples, ein hart arbeitender, nüchterner Mann, hielt nicht viel von der Idee. Sie sei dafür zu jung, sagte er. Doch die junge Liebe – vom jungen Ehrgeiz ganz zu schweigen – hatte immer schon ihren eigenen Kopf. Schon bald trafen sich die beiden, gegen den Wunsch der Eltern. „Wir verliebten uns schnell ineinander und gingen die nächsten drei Jahre miteinander aus“, erinnert sich Deloris.

Auch als James 1955 die Schule beendete und in die Air Force eintrat, was Vater und Großvater sehr stolz machte, verlor die Beziehung kaum an Fahrt. James wurde in Texas ausgebildet, während Deloris von ihrer Familie nach Alabama geschickt wurde, wo sie bei einem Onkel lebte und eine zweijährige Ausbildung zur Kosmetikerin absolvierte. Sie sagte, der Umzug sei ein Versuch gewesen, die Angelegenheit mit dem jungen Flieger zu entschleunigen, tatsächlich aber hatte die Beziehung bereits Hochgeschwindigkeit erreicht. Anfang 1957 war Deloris fünfzehn Jahre alt und schwanger – was sie in ihren Memoiren verschwieg – und musste mit den Folgen des Zorns ihrer Familie fertig werden. Die plötzliche Einschulung in Alabama schien eine typische Lösung in einer Zeit zu sein, in der schwangere Teenager oft weggeschickt wurden, um ihr Kind fernab von zu Hause zu bekommen.

Im April waren James und Deloris wieder in Pender County und gingen gemeinsam ins Kino, angeblich, um ihre Situation zu klären. Die Lösung sah so aus, dass er ihr nach der Vorstellung in seinem Auto einen Heiratsantrag machte. Nachdem James einmal etwas Richtiges getan hatte, teilte sie ihren Eltern mit, dass sie nicht nach Alabama zurückkehren werde, eine weitere Entscheidung, die alles andere als gut ankam. Jahre später räumte Deloris gegenüber einem Reporter ein, dass ihre Mutter damals darauf hätte bestehen sollen, dass sie wieder zur Schule geht. „Meine Mutter hätte mich sofort wieder in den Zug setzen sollen.“

Stattdessen zog sie in das überfüllte Haus ihres Verlobten in Teachey, wo der mittlerweile 66-jährige Dawson Jordan weiterhin das Sagen hatte. Dort schloss die schwangere Teenagerin bald eine dauerhafte Freundschaft mit Rosabell Jordan, die gerade vierzig geworden war. James’ Mutter, eine fromme und weltgewandte Frau, liebte Kinder und lud an Feiertagen und Wochenenden gerne Verwandte und Freunde in das kleine Haus ein. Deloris nannte sie „Miss Bell“, und in einer Zeit, in der das Verhältnis zu ihren eigenen Eltern so angespannt war, fand Deloris in ihr eine weise und fürsorgliche ältere Seele. Die Freundschaft zwischen den beiden Frauen entwickelte sich zu einer engen Familienbande, die den späteren Erfolg von Michael Jordan mitprägen sollte.

Schon bald, im September, feierten James und Deloris die Geburt ihres ersten Kindes, James Ronald. Die Mutter, gerade sechzehn geworden, hielt ihr Baby im Arm und wird sich gefragt haben, was die Welt für ihren Sohn bereithalten würde. Mit der Zeit wuchs der Säugling zu einem fleißigen jungen Mann heran, wie es ihr eigener Vater gewesen war. „Ronnie“, wie sie ihn nannten, hatte in der Highschool zwei Jobs – tagsüber fuhr er Schulbus, abends leitete er ein Restaurant –, während er beim Junior ROTC13 Auszeichnungen erhielt und seine Eltern stolz machte. Dieser erste Sohn hatte offenbar von Dawson Jordans gebieterischer Präsenz im Haushalt profitiert. Er machte eine glänzende Karriere als Master Sergeant in der US Army mit mehreren Kampfeinsätzen.

Deloris kam mit dem Neugeborenen in den bereits überfüllten Haushalt der Jordans hinein. James war zu einem Stützpunkt in Tidewater, Virginia, versetzt worden, etwas mehr als zwei Stunden entfernt, und kam am Wochenende nach Hause, um seinen kleinen Sohn zu sehen. Später wird Deloris zugeben, dass sich bei ihr zu dieser Zeit erste Zweifel und Selbstvorwürfe bezüglich der Wende in ihrem Leben einstellten. Sie sehnte sich danach, ihre eigene Familie öfter zu sehen, aber die war in Rocky Point, fast eine halbe Stunde entfernt. Sie behielt ihre Hoffnung, und ihre neue Schwiegermutter unterstützte sie dabei, positiv zu bleiben. James trug ebenfalls seinen Teil dazu bei. Aufgrund seiner Erfahrungen beim Militär war er nun fest entschlossen, eine Familie zu ernähren und seinen Kindern ein Leben in der Mittelschicht zu ermöglichen.

Erst Brooklyn, dann Teachey

Die junge Familie von James Jordan nahm 1959 ihr zweites Kind auf: Deloris. In den ersten Lebensjahren trug das Mädchen den Vornamen Delores, als Erwachsene entschied sie sich für Deloris. Die Familie nannte sie anfangs einfach „Sis“14. Im selben Jahr verließ James die Air Force und kehrte nach Teachey zurück, wo er eine Stelle in einer örtlichen Textilfabrik annahm. Vorerst lebte die junge Familie bei seinen Eltern, bis sie ein kleines Haus auf der anderen Seite der Calico Bay Road zwischen Dawson, Medward und Rosabell bauen konnten.

Es war praktisch, Großeltern in der Nähe zu haben, denn Deloris Jordan brachte bis zu ihrem 23. Lebensjahr fünf Kinder zur Welt. In den ersten Jahren lag die Hauptlast der Kindererziehung bei Rosabell Jordan, die nichts lieber tat, als jedes neugeborene Enkelkind mit Liebe zu überschütten. So stark die Bande der Großfamilie Jordan auch waren, Deloris’ Zeit in Alabama und James’ Einsatz bei der Air Force hatten ihnen die Augen für die Welt jenseits von North Carolina geöffnet. Und so kam es, dass sie bereits beim Bau ihres Hauses, das auf der Calico Bay Road gegenüber dem Haus seiner Eltern entstand, feststellten, dass sie tief in ihrem Inneren mehr wollten als das, was ihnen die kleinen Farmergemeinden Teachey und Wallace zu bieten hatten.

In dieser Hinsicht unterschieden sie sich nicht von Millionen anderer Menschen ihrer Generation. Insbesondere Afroamerikaner sogen die ersten Boten einer neuen Luft ein, nachdem sie so lange fast zu ersticken gedroht hatten. Die Leibeigenschaftssysteme des Sharecropping und der Pachtlandwirtschaft begannen, infolge der Weltwirtschaftskrise und des Zweiten Weltkriegs regelrecht abzusterben. Das beschleunigte vor allem im Norden der USA die Abwanderung von Millionen Schwarzer vom Land in die Städte. Sie alle waren auf der Suche nach einer neuen wirtschaftlichen Existenz.

Der Marsch in die Freiheit nahm am 1. Februar 1960 Fahrt auf, als vier schwarze Studenten der North Carolina Agricultural and Technical State University in eine Woolworth-Filiale in Greensboro gingen, ein paar Sachen kauften, sich dann an die Mittagstischtheke setzten und Kaffee bestellten. Ihre schlichte Tat sollte in ganz North Carolina Aufsehen erregen. Denn die Filialleitung ignorierte die Studenten, und so saßen sie bis zur Schließung des Geschäfts schweigend da. Am nächsten Morgen kehrten die A&T-Studenten mit fünf Freunden zurück und versuchten erneut, sich am Mittagstresen bedienen zu lassen. Da die Geschäftsleitung wiederum keine Reaktion zeigte, begannen die Studenten mit einem, wie sie es nannten, „Sit-in“, einer stillen, gewaltfreien Demonstration. Schon bald tauchten weiße Jugendliche auf, die sie verspotteten und mit Zigarettenkippen bewarfen. Ähnliche Proteste gab es auch in Winston-Salem, Durham, Charlotte, Raleigh und High Point. Dann breiteten sich die Proteste innerhalb von etwa zwei Wochen auf fünfzehn Städte und viele weitere Woolworth-Filialen im ganzen Land aus. Woolworth, eine landesweite Warenhauskette, lenkte bald ein und begann damit, schwarze Kunden an ihren Mittagstheken zu bedienen. Das Unternehmen war offensichtlich nicht gewillt, den Rassismus im Rampenlicht der Öffentlichkeit und vor den Fernsehkameras fortzusetzen.

Die sich entfaltende Bürgerrechtsbewegung war nur ein Teil des enormen kulturellen Umbruchs, der das Land erfasste. Mit dieser Veränderung gingen neue Versprechen für das Leben einher, und James und Deloris konnten gar nicht anders, als diese Erwartung zu teilen. Es war eine aufregende, gleichermaßen verwirrende und immer noch recht gefährliche Zeit.

Anfang 1962 brachte Deloris Larry, den zweiten Sohn des Paares, zur Welt. Zwei Monate später erfuhr sie, dass ein weiteres Kind unterwegs war. Kurz darauf schnappten sich die 21-jährige Deloris und ihr Mann den kleinen Larry und zogen nach Brooklyn, New York, wo sie fast zwei Jahre lang lebten, während James mithilfe des „GI Bill“15 eine Berufsschule besuchte, um den Bau, die Reparatur und die Wartung von hydraulischen Geräten zu erlernen, eine logische Fortsetzung seiner Ausbildung bei der Air Force. Der Umzug machte es erforderlich, dass sie ihre beiden ältesten Kinder, die beide noch keine fünf Jahre alt waren, für fast zwei Jahre in der Obhut der Jordan-Großeltern ließen. Später einmal sagte Deloris Jordan, dass sie und James im Grunde zwei Familien hatten: die älteren Kinder, die zurückblieben, und die jüngeren Kinder. Was zu einer nicht unerheblichen Kluft in ihrer Familie führen sollte.

In die Vorfreude auf den Familienzuwachs mischte sich allerdings auch großer Kummer. Die Jordans waren gerade mal ein paar Wochen in New York, als Deloris die Nachricht erhielt, dass ihre Mutter Inez plötzlich verstorben war. Der Schock über den Verlust und die daraufhin einsetzende Trauer erschütterten Deloris und gefährdeten ihr ungeborenes Baby. Ihr Arzt verordnete ihr eine Woche Bettruhe.

„Die Beinahe-Fehlgeburt war sehr schlimm“, erinnerte sich James Jordan Jahre später.

Die Beziehungen zwischen Deloris und ihrer Mutter hatten sich seit der schwierigen Zeit ihrer frühen Schwangerschaft und ihrer Heirat verbessert, aber wie so oft nach dem plötzlichen, frühen Tod eines geliebten Menschen blieben ungelöste Probleme bestehen. Deloris’ Trauer wurde durch ihre risikobehaftete Schwangerschaft und ihre Situation – weit weg von zu Hause in einer überfüllten, fremden Stadt – noch verstärkt. Die Entbindung von Michael Jordan war an jenem Sonntag, dem 17. Februar 1963, eine besonders hektische Angelegenheit. Bei Deloris hatten die Wehen etwas früher eingesetzt, und so landete sie im Cumberland Hospital in Brooklyn, obwohl ihr Arzt in Manhattan ansässig war. Ehe die Krankenhausmitarbeiter Deloris auf die Trage der Notaufnahme legen konnten, kam das große, stämmige männliche Kind zur Welt, dessen Atemwege mit Schleim verstopft waren und das nach Luft rang.

„Als Michael geboren wurde, dachten wir, dass etwas mit ihm nicht in Ordnung sei“, verriet James Jordan Jahre später in einem Interview mit der Chicago Tribune. „Er wurde mit Nasenbluten geboren. Nach Deloris’ Entlassung behielt das Krankenhaus ihn drei Tage lang da. Bis er fünf Jahre alt war, hatte er ohne Grund Nasenbluten. Dann hörte es einfach auf.“

„Nach Michaels Geburt behielten die Ärzte ihn ein paar Tage im Krankenhaus, um sicherzugehen, dass seine Lunge frei von Schleim war“, erinnert sich seine Mutter.