Midnight Thief – Das Versprechen der Heilerin - Andreas Dutter - E-Book
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Midnight Thief – Das Versprechen der Heilerin E-Book

Andreas Dutter

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Beschreibung

Die Stadt der Liebe hat dunkle Schatten ... Fesselnde Romantasy zweier Underdogs für LeserInnen von »Sister of the Stars« und »Crescent City« An ihrem 19. Geburtstag beschließt Jane, sich endlich über die drei heiligen Regeln ihrer Mutter hinwegzusetzen. Zwar hat sie als Einzige in ihrer Familie keine magischen Kräfte, aber Jane will sich nicht länger einsperren lassen. Anstatt gehorsam ihre Medizin zu trinken und immer schön zu Hause zu bleiben, bricht sie aus und gerät prompt in die Fänge einer verfeindeten Familie. Ausgerechnet dort trifft sie auf den geheimnisvollen und gut aussehenden Archie. Gemeinsam fliehen sie, doch das gefährliche Spiel um ihr Schicksal in den düsteren Gassen und Katakomben von Paris hat erst begonnen ... »Sehr aufregend und mit der gehörigen Portion Liebesgeschichte mit dem Bad-Boy-Touch. Gut lesbar«  ((Leserstimme auf Netgalley)) »Insgesamt ein packendes Abenteuer mit Sogwirkung und einem aufregenden Gefühlscocktail.«  ((Leserstimme auf Netgalley))

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© Piper Verlag GmbH, München 2022

Redaktion: Diana Steigerwald

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Andreas Dutter

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Hinweis

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

Danksagung

Triggerwarnung (Achtung, Spoiler)

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Am Ende des Buchs findet ihr eine Triggerwarnung. Lest sie euch durch, falls es Themen gibt, die ihr vermeiden möchtet. Denkt immer daran: Ängste sind keine Schwächen. Es ist eher ein Zeichen von Stärke, die eigenen Grenzen zu kennen.

Für meine Familie

Kapitel 1

Keine Ahnung, wann ich das letzte Mal in meinem Leben so viele Regeln auf einmal gebrochen hatte. Zwei an der Zahl. Das schlechte Gewissen wegzutanzen, gelang mir nicht. Meine Hüften schwang ich aber trotzdem zum sanften Rhythmus meines Lieblingssongs, und mein Herz schlug im Takt mit. Da meine Musik offensichtlich nicht in den angesagten Club passte, genoss ich jede einzelne Sekunde davon.

Gedanklich sah ich noch den DJ vor mir, wie er Ella genervt musterte und sagte, dass er Saving the Train von Alexz Johnson nur aufgrund vielfacher Nachfragen spielte. Dass es sich nur um das vielfache penetrante Nachfragen meiner besten Freundin gehandelt hatte, brauchte ja niemand zu wissen. Ella hatte nicht lockergelassen, und das nur für mich.

Meine Haare kitzelten im Nacken, als ich die Hände hob und durch sie hindurchwuschelte. Mit fließenden Bewegungen kostete ich meine vier Minuten in vollen Zügen aus. Dabei wirkte ich vermutlich ein wenig schräg, aber wann tat ich das nicht? Heute, an diesem besonderen Tag, kümmerte es mich noch weniger. Seit wenigen Stunden hatte ich nämlich Geburtstag, und den ließ ich mir nicht vermiesen. Auch wenn mich das komische Ziehen in meiner Bauchgegend daran hinderte, mich völlig gehen zu lassen.

Um mich auf den Gesang konzentrieren zu können, schloss ich die Augen. Alles war in Schwarz gehüllt. Finsternis zog mich immer schon magisch an.

Jemand stieß gegen meinen Rücken und brachte mich aus dem Flow. Heißer Atem und ein »Pardon« drangen an mein Ohr. Leicht betäubt vom Bier störte ich mich nicht daran und tänzelte weiter von links nach rechts. Selbst die Beleuchtung im Club, die heißer als die Sommersonne auf mir brannte, ignorierte ich. Ich legte meinen Kopf in den Nacken und öffnete die Augen einen Spaltbreit. Bunte Lichter, die im Takt der Musik blinkten, drangen zurück in meine Realität. Zusammen mit ihnen auch die Gedanken an meine Mutter, die mit in die Hüften gestemmten Händen Vorwürfe abspulen würde, erführe sie von der heutigen Nacht und dass ich mich außerhalb der Pariser Innenstadt befand.

»Als Sanitatem und vor allem als meine Tochter …«, würde sie ihren Vortrag beginnen und mir erklären, diese Regeln dienten nur meinem Schutz.

Das Lied endete, meine Mutter, die es hasste, von mir provokativ Mom und nicht Maman genannt zu werden, verpuffte aus meinem Kopf. Ich sah mich um. Sich im M’Acqulaudelle zurechtzufinden, bedurfte keines großen Orientierungssinns. Es handelte sich um einen superelitären, winzigen Kellerclub, in dem Ella wochenlang im Vorhinein reserviert hatte. Ich schlängelte mich durch die feiernden Menschen und Duftwolken, die sich aus Schweiß, stechendem Parfüm sowie Alkoholfahnen zusammengesetzt hatten, bis ich bei Ella und Élian angekommen war. Sie unterhielten sich, die Köpfe verschwörerisch aneinandergeschmiegt.

Der alte Autositz, auf den ich mich neben Élian fallen ließ, war so hart, dass ich Angst hatte, mir mein Steißbein geprellt zu haben. Die anderen Bus-, Zug- oder Flugzeugsitze schienen nicht bequemer zu sein. Vermutlich hatte sich irgendjemand gedacht, Gemütlichkeit wäre nicht so wichtig wie eine moderne Ausstattung. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich eine junge Frau, die sich neben mir den Rücken rieb.

Beeindruckend, wie viele Feierwütige sich hier tummelten. Das fiel mir dank des neuen Songs auf, der mehr Potenzial zum Shaken bot und die Tanzfläche, die aus glitzernden Steinplatten bestand, wieder füllte. Ein sich gleichmäßig bewegendes Meer aus Armen breitete sich vor mir aus. An jedem Handgelenk hing ein Knickband in Neonfarbe. Pinke und orange Kreise mit gelben Tupfern malten geschwungene Linien in die Luft.

Der DJ feuerte die Massen an und stand in einem halben Oldtimer Cabrio in der Ecke, wo sein Pult und all sein Equipment platziert war. Er hob den Kopfhörer hoch und hielt sich eine Seite an ein Ohr.

Eigentlich alles normal. Doch seit drei Stunden fühlte ich mich komisch. Als wäre um Mitternacht mein neunzehnter Geburtstag wie ein Sturm gekommen, der mich erfasst, durchgewirbelt und wieder ausgespuckt hatte.

»Was überlegst du wieder, Jane?« Élian übertönte mehr schlecht als recht die Musik. Jedes zweite Wort ging beinahe in dem Kings-&-Queens-Remix von Ava Max unter.

»Ich glaube, mein Bier ist alt. Mein Magen sticht, aber so richtig.« Ich hoffte, es lag daran.

»Vielleicht stirbst du?«

Ich warf Élian einen skeptischen Blick zu.

»Jane stirbt?« Ella schnappte Élians letzte Wörter auf und beugte sich über ihn, um mehr zu verstehen. Da sie um ein Vielfaches größer als Élian war, legte sich ihre schwarze Lockenmähne auf seine hellblonden Haare mit den gelben Spitzen.

»Ich bin vergiftet worden. Nichts weiter.« Gleich danach setzte ich die Bierflasche an meine Lippen an. Nein. Der Inhalt war nicht abgelaufen. Schmeckte normal.

»Ach, wenn es sonst nichts ist.« Ella zog ihr bauchfreies Regenbogentop ein wenig runter, setzte sich seitlich von Élian und schnappte sich ihre Flasche. »Haben wir auf Janes Geburtstag getrunken?« An ihrer darauffolgenden Lippenbewegung erkannte ich, dass sie das aktuelle Lied mitsang. Wie sie diese Trendsongs liebte.

Élian hob seine Finger und zählte nach. »Schon sechsmal oder so.«

»Bist du sicher, Élian? Ich bezahle auch.«

»Schön, dass Geld für dich keine Rolle spielt.« Beim Zurücklehnen beschloss ich, mich dem Wirrwarr aus Musik, Gelächter und Gesprächen hinzugeben. Ellas und Élians Diskussion verlor sich vollkommen in dieser Melodie.

Die verspiegelte Decke über mir zeigte mich komplett in Schwarz gekleidet, nur der neonpinke Sport-BH lugte durch die ausgeschnittenen Ärmel meines übergroßen Shirts hervor. Élian schaute auch hoch. Er winkte mir. Ich nickte ihm zu. Ella zog ihr Handy aus dem Ausschnitt wie eine Waffe. Sie sah sich um. Keiner in Sicht. Sie machte ein Foto von uns über die Spiegeldecke und verstaute es wieder zwischen ihren Brüsten.

Somit hatte ich noch eine Regel gebrochen. Denn zu fotografieren, verboten die Besitzer strengstens. Vermutlich damit die Neugierde der Leute anstieg. Und um zu verheimlichen, wie heruntergekommen der Club war. Ein Besuch von einem amerikanischen Megastar reichte offensichtlich, um die Gäste dennoch anzulocken. Okay, schuldig. Ich hatte ja als Erste vorgeschlagen herzukommen. Jetzt saß ich auf einem harten Autositz und hatte eine Magenverstimmung. Ganz zu schweigen von dem grausamen Tod durch die Hände meiner Mom, den ich erleiden würde, sobald ich zu Hause war. Steißbeinprellung inklusive.

»Unvorstellbar, oder? Wir sind im selben Raum, in dem Justin D. Webber gewesen ist.« Élian sah jemandem hinterher. Suchte er nach einem Promi? Mit der Cocktailkarte wedelte er sich Luft unter seinen weißen Hoodie.

Um mich nicht nach vorne beugen zu müssen, zog ich Élian amüsiert zu mir. »Na? Heiß, nicht wahr?«

»Weiß nicht, was du meinst.«

»Wir haben dir gesagt, es wird dir mit dem Kapuzenpulli zu warm sein«, schaltete sich Ella ein, die alles mit angehört hatte und keine Gelegenheit ausließ, um einem ein »Ich hab’s dir doch gesagt« reinzudrücken

»Ja, Mamans. Wer schön sein will, muss leiden.«

»Was wäre an einem weißen T-Shirt weniger …« Ein Magenkrampf unterbrach mich. Mein »Aua« verlor sich in einem Dance-Remix von Toxic.

Sofort schlang ich die Hände um meinen Bauch und hielt ihn fest. Falsch gedacht. So konnte ich die Schmerzen auch nicht eindämmen. Ich zog die Beine hoch und stützte sie an dem Tischchen vor uns ab.

»Jane?« Élian kam nah zu mir. »Ella.«

Ella sprang neben Élian auf und drängte sich durch die stehenden Leute zu mir. »Achtung, ich bin Ärztin.« Sie ging neben mir in die Hocke.

Hätte ich nicht solche Schmerzen, hätte ich gelacht. Ella und Ärztin, klar. Dieses Bauchstechen war nicht mehr normal. Und schon gar keine Nachwirkung eines abgelaufenen Biers. Irgendetwas passierte mit meinem Körper. Es kam mir vor, als zögen sich Blitzflüsse durch meine Adern, die in meinen Magen mündeten. Sogar den Atem musste ich vor Schmerzen anhalten. Mir ging die Luft aus. Das Chokerband schnürte mir plötzlich auch noch den Hals zu. Hatte sich die Welt gegen mich verschworen?

»Jane? Jane? Alles gut? Soll ich das Handy rausholen und dir ein Bild von Itzan Escamilla zeigen?« Ella nahm die Lage nicht ernst.

Die Krämpfe ebbten nach und nach ab. Das mulmige Gefühl blieb wie ein bitterer Nachgeschmack zurück. Ich schnaubte belustigt, ehe die Qualen noch intensiver wiederkamen. Sofort krümmte ich mich und bäumte mich auf, biss die Zähne zusammen. Es schüttelte mich. Kälte kletterte meinen Rücken empor. Vorhin hatte ich mich über die stehende Schwüle beschwert, jetzt fror ich?

»Jane? Merde. Was ist mit dir?« Élians Stimme klang kilometerweit entfernt. »Drogen?«

Es ließ wieder nach. Fühlte sich so eine überstandene Wehe an? Zumindest stellte ich es mir so vor. Oder Messerstiche. Ja, Messerstiche. Wie ich es im Training gelernt hatte, atmete ich gegen den Schmerz an.

»Okay, die Lage ist ernst. Hier, trink etwas Wasser.« Ella griff vor.

Die Musik dröhnte in meinem Kopf, und nun gesellte sich zu den Schmerzen auch noch eine Migräne. Wie aus dem Nichts brannten die bunten Lichter, die wie Regenbogensäulen durch den Raum irrten, in meinen Augen. Ich presste die Lider zusammen und massierte meine Schläfen.

»Gib her.« Nachdem ich Élians Stimme gehört hatte, lag die Wasserflasche schon an meinen Lippen.

Als ich die warm gewordene Flüssigkeit schmeckte, bemerkte ich erst die Dehydrierung meines Körpers. Ich sog, bis ich das Knacken der Plastikflasche hörte und nichts mehr aus ihr herauskam.

»Alles okay?«, fragte einer der Securityleute, die sich ständig durch den Kellerclub drängten, um das Handyverbot durchzusetzen.

»Wir bringen sie raus.« Ella legte meinen Arm um ihre Schultern und stand auf.

Ella war größer als ich. Somit hing ich etwas schief von ihr runter. Sie machte sich kleiner, und in ihrem Gesicht spiegelten sich Sorge sowie Verwirrung zu gleichen Teilen.

Mein Kopf fiel vor, und ich sah auf den Boden. Meine Sicht verschwamm, doch die Lichter, die sich mittlerweile an einer Discokugel brachen, registrierte ich noch. Ellas Stimme wurde von einem lauten Piepen in meinem Kopf abgelöst. Ich verstand keines ihrer Worte mehr. Der Hörsturz stoppte jedoch so plötzlich, wie er gekommen war. Was stimmte nicht mit mir?

Etwas schepperte unter mir. Ich schnappte nach Luft. Ellas Handy. Sie reichte mich an Élian weiter, der mit mir wegging. Jeder Schritt fiel mir schwerer.

»Ella?« Keine Antwort. »Ella.« Meine Zunge war schwer wie Blei. In Élians Armen fühlte ich mich aber ebenso sicher. Die beiden würden mir durch diese Scheiße helfen. Was es auch war.

»Sie kommt gleich nach. Ella muss der Security das mit dem Handy erklären.«

Meine Beine trugen mich kaum noch. Ich sah hoch, wollte Ellas Blick suchen, konnte aber meinen Kopf nicht drehen. Stattdessen blieb ich an den Augen der Feiernden hängen, die nicht verheimlichten, wie witzig sie meinen Anblick fanden. Für die war ich wohl nur eine Betrunkene. Aber das konnte es nicht sein. Die Jugendlichen, die sich vor mir verdoppelten, sprachen jedoch eine andere Sprache.

Lag es an dem täglichen Trank meiner Mom, den ich nicht genommen hatte, oder doch am Alkohol? Waren Élian und Ella einen Augenblick unvorsichtig gewesen, und jemand hatte etwas in mein Bier gekippt?

»Könnt ihr uns hochhelfen?« Mit wem unterhielt sich Élian?

Hatte sich das Stroboskoplicht eingeschaltet, oder bekam ich nur noch Bruchstücke davon mit, was geschah?

Im einen Moment hing ich noch an Élian im Club, im nächsten torkelte ich mit einem Fremden die Treppe zum Ausgang hoch. Etwas später peitschte mir kalter Wind ins Gesicht. Die folgende Luftohrfeige weckte mich endgültig auf, und ich bemerkte den Asphalt, auf dem ich saß.

»Putain de merde. Geht’s wieder?« Verdammte Scheiße traf es gut. Élian beugte sich weit nach hinten. Nachdem er sich knackend etwas eingerenkt hatte, richtete er sich wieder auf.

»Mach doch mehr Sport, dann hast du keine Rückenschmerzen mehr.« Das Kratzen in meinem Hals ließ nach.

Élian strafte mich mit einem bösen Funkeln. »Okay, du bist wieder die Alte.«

Das Unwohlsein verschwand nach und nach, bis ich mich wieder fit fühlte. Wäre ich betrunken, verschwände dieser Zustand doch nicht innerhalb weniger Augenblicke. Oder?

Ich sah mich um, begriff aber nicht, wo wir waren.

»Hab uns hinter den Club ans Ende des Geländes geschleppt. Weiß ja, wie du es hasst, wenn fremde Leute dich betrunken sehen.« Élian hatte mein fragendes Gesicht richtig gedeutet. »Außerdem ist es hier ruhiger, falls du schlafen willst.«

Élian kannte mich gut, obwohl auch etwas von seiner Pflegerattitüde rauskam. Ein Güterzug ratterte etwas weiter entfernt an uns vorbei. Dahinter sausten Autos auf der Fernverkehrsstraße N14 hin und her. Der Sternenhimmel begrüßte Élian und mich, aber auch er gab mir keine Antwort darauf, was seit Mitternacht mit mir los war.

Mom anzurufen, wäre nur eine Option gewesen, wenn ich im Sterben läge. Denn weit außerhalb der Pariser Innenstadt auf einem heruntergekommenen Fabrikgelände von Saint-Denis zu sitzen, glich Hochverrat. Das Revier der Furta Noctra betrat man nicht.

»Was überlegst du?« Élian setzte sich neben mich und nahm meine Hand.

Er machte sich Sorgen. Sonst würde er nicht riskieren, seine senfgelbe Hose und den weißen Hoodie zu beschmutzen. Zu gern würde ich ihm die Wahrheit sagen, doch wie immer lächelte ich und sagte: »Nichts.«

»Jane. Hast du irgendetwas genommen? Einen Shot von einem Fremden?«

»Nein, spinnst du? Ihr habt auf mein Bier aufgepasst, und darauf lag auch noch der Gullideckel-Untersetzer.«

»Ja, ich hatte die Flasche vor mir. Keiner war dran.« Élian schien den Abend Revue passieren zu lassen. »Nein.«

Wieder ging mir Moms Trank durch den Kopf. Kam die Krankheit zum Vorschein, vor der sie mich seit meiner Kindheit warnte? Warum stellte ich mich so blöd an und brach die Regel, niemals ihren Trank auszusetzen? Auch darüber konnte ich nicht mit Élian sprechen.

»Weißt du, Jane, also, versteh mich nicht falsch, hoffentlich geht es dir bald besser …«

»Aber?« Mit halb zugekniffenen Augen behielt ich Élian fest im Blick.

»Irgendwie finde ich die heutige Nacht phänomenal. Wir befinden uns weit außerhalb unserer Komfortzone. Du hast irgendetwas genommen.« Hatte ich nicht. »Ella hängt bei den Securitytypen ab. Wir haben deinen Geburtstag in einem angesagten Club gefeiert. Sind endlich aus dem Raster des Alltags ausgebrochen. Wie lange haben wir uns nicht mehr getroffen? Ich meine, in der Realität, nicht online. Du musst ständig deiner Maman helfen, und ich bin bei meinen Eltern mit ihrer Pflege eingespannt. Zut, Jane! Wir erleben etwas.« Mit »Verdammt, Jane!« hatte er mich wachgerüttelt.

Das Klirren einer Glasflasche, die auf den Boden fiel, hallte durch die Nacht und unterbrach meine angesetzte Antwort. Ich zuckte zusammen und sah mich um. Diese Gegend sollte ich ohnehin meiden, selbst wenn ich normal wäre, aber nein, natürlich musste ich meinen Geburtstag hier feiern. Hatte ich wieder klasse eingefädelt.

»Ach, Mist, wir haben unsere Handys noch nicht abgeholt.« Élian reichte mir eine Hand. »Wir müssen sie holen. Der Schuppen wird mir immer suspekter. Wir wollen ja nicht sehen, wie unsere Smartphones aus den Tresoren online verhökert werden.«

Ich zog eine Augenbraue hoch. »Ach, erst froh etwas zu erleben, und nun willst du abhauen?« Dass ich meinen besten Freund durchschaut hatte, dürfte ihn nicht wundern. »Tu nicht so besorgt. Dir ist nur wieder eingefallen, dass es nach Mitternacht ist und du in deinem komischen Farming Game wieder ernten kannst.«

»Wie kannst du das sagen? Ich mache mir Sorgen und, äh.«

»Élian. Gardian.« Ich suchte stets sich reimende Worte auf Élian, wenn ich ihm etwas nicht glaubte.

»Hirte? Die gibt’s in dem Spiel nicht. Ja, okay, wie auch immer. Aber Farmhill Town ist nicht komisch.« Er zog eine beleidigte Grimasse.

Ehe ich aufstehen wollte, checkte ich noch einmal meinen Gesundheitszustand. Vorsichtig streckte ich meine angewinkelten Beine aus. Kein Ziehen ging durch meinen Bauch. Seufzend legte ich meine Handflächen links und rechts von mir auf die Straße und spürte kleine Kieselsteine. Was war das bloß gewesen?

»Jane, Beeilung. Sonst kann ich meine Farm schließen. Außerdem sollten wir Ella helfen. Der Türsteher hält sie deswegen bestimmt noch fest. Sie wird einen Aufstand anzetteln und damit alles schlimmer machen, bis er an ihr ein Exempel statuiert.« Bestürzt legte er sich eine Hand an die Brust. »So aufregende Abende sind doch nichts für mich.«

»Du guckst zu viele Serien.« Ich hievte mich hoch, begleitet von einem langen, übertriebenen Stöhnen.

»Sagt ausgerechnet Mademoiselle Schauen Sie noch oder schlafen Sie schon? Liebe Grüße Netflix. Los, gehen wir.«

Steinchen kratzten auf dem Asphalt. Jemand näherte sich uns.

»Ihr habt doch bestimmt noch etwas Zeit für uns.«

***

Die bröckelige Fassade des alten Fabrikgebäudes im Rücken und Élian vor mir. So stand ich da und fragte mich, was ich machen sollte. Die beiden Typen, die uns aufgelauert hatten, hatten sich vor uns ausgebreitet und wollten unser Geld. Ich blickte über Élians Schulter und erkannte, wie der eine mit den kurz geschorenen Haaren ein Messer zückte. Mein Puls beschleunigte sich. Scheiße.

Das war keines dieser Amateurmesser von Leuten, die in der Innenstadt ein paar Euro abzwackten. Das war ein gezackter Dolch, den sie zum Kämpfen benutzten. Ich schluckte und schätzte unsere Chancen zur Flucht ab. Okay. Es war aussichtslos.

Mein Herz pochte laut. Mir fiel es schwer, einen kühlen Kopf zu bewahren. Und ausgerechnet mein Élian stand zitternd vor mir und wollte mich beschützen.

Ich krallte mich an seinem Hoodie fest und spürte, wie sein Körper bebte.

»Lasst uns doch, doch …« Élian schluckte laut, und seine Stimme brach. »… bitte gehen. Wir haben unsere Sachen im Club unten.«

»Glauben wir ihnen das, Bill?« Der Messertyp drehte seinen Dolch, und das Licht der Straßenlaternen brach sich darin.

»Nie und nimmer, Pat.« Er zog den linken Mundwinkel nach oben. Sein Grinsen bekam dadurch etwas Unheimliches.

»Wir sind draußen, weil mir schlecht war. Denkt ihr, wir würden unser Leben für Geld riskieren? Hätten wir es mit, würden wir es euch geben.« Élian und ich ließen unser Geld immer in einer von Ellas Designerhandtaschen, damit wir es nicht schleppen mussten.

Wenn die uns nicht vorbeiließen, musste ich die dritte heilige Regel brechen und einschreiten.

Wieder ein Güterzug, der vorbeifuhr. Schleifgeräusche von den Schienen durchschnitten die Nacht.

»Ihr seht nicht aus, als wärt ihr aus der Gegend. Ihr kommt bestimmt aus so einem Schickimicki-Bezirk.« Strengte es Pat gar nicht an, mit seiner Stimme den Zug zu übertönen? Blöd, dass uns hier niemand hören würde. Der Kellerclub nahm nur einen winzigen Teil der alten Fabrik ein, in der früher Autoteile hergestellt worden waren.

»Genau. Ihr haltet euch doch für was Besseres.« Bills knallrote Haare wehten im aufkommenden Wind des Zuges, sodass es wie fließendes Blut aussah.

Eine Erkenntnis überkam mich. Ihnen ging es nicht um unser Geld. Sie wollten einen Grund, um uns anzugreifen. Aber waren Bill und Pat, falls das ihre Namen waren, auch noch von den Furta Noctra? Die Panik vernebelte meine Sinne, was es mir schwer machte, mich zu beruhigen.

»Wartet und wir holen unsere Sachen aus dem Club. Oder einer von euch kommt mit und …«

»Und dann ruft ihr im Club um Hilfe.« Zumindest Pat, der mich unterbrochen hatte, strahlte nicht nur allumfassende Dummheit aus.

Bill näherte sich Élian und fischte einen Schlagring aus der Seitentasche seiner Militärhose. Was sollte ich machen? Ich konnte doch nicht, nein, Mom brächte mich um. Konnte ich das Leben meines besten Freundes der Geheimhaltung meiner Identität unterordnen?

Ich ließ Élian los, ballte meine Hände zu Fäusten.

»Und du willst das Mädchen beschützen, Schlappschwanz?« Ich hatte zu lange überlegt. Bill stand direkt vor Élian. Er umfasste sein Kinn mit einer Hand. »Kannst nicht mehr reden? Oder sprichst du unsere Sprache nicht?«

»L…lasst Jane in Ruhe.«

»Oh. Hast du das gehört? Er will sie beeindrucken.«

Pat lachte aus dem Hintergrund, was rau und kratzig klang, am liebsten hätte ich gekotzt. Und wie er breitbeinig dastand, als gehörte ihm die Welt, machte mich umso wütender.

Das ging zu weit. Élian tat mir leid. Ohne länger nachzudenken, schnellte ich vor und packte Bills Hand. Élian taumelte zurück, bis er mit dem Rücken an der Fabrikwand stand.

»Das halte ich für eine schlechte Idee, Kleine.« Aus der Nähe wirkte er durch die Falten um den Mund älter. Dabei hatte ich ihn jünger geschätzt.

»J…Jane.« Mehr kam nicht mehr aus Élian.

Scheiße, was tat ich hier? Ich durfte nicht gegen sie vorgehen. Die Stimme meiner Mutter tauchte in mir auf: »Denk an das höhere Wohl.«

Aber es ging um Élian, verdammt noch mal. Verzeihung, Mom. Ich stellte sie auf lautlos.

Im selben Moment riss sich der Möchtegernpunk los und sah mein Einmischen als Rechtfertigung, uns endlich anzugreifen.

»Na warte.« Seine Faust schnellte vor.

Ohne auf Élians Reaktion zu achten, wich ich aus. Ich wechselte in meine Kampfsporthaltung und kickte Bill gegen den Oberschenkel. Die Überraschung in seinen Augen löste ein befriedigendes Gefühl in mir aus. Sofort drückte ich mit meinem rechten Unterarm seinen weg, packte sein Handgelenk und zog ihn vor. Ein leises »Ah« entglitt ihm, als ich mich drehte, danach seine Schulter umfasste und ihm in die Kniekehle trat. Mit meiner Abwehr überrumpelte ich ihn. Er knickte nach vorn, und ich brauchte ihn nur noch mit meiner Hand zu Boden zu drücken. Neben mir hörte ich Geräusche. Meine Aufmerksamkeit galt jedoch Bill unter mir.

Der keuchte auf. »Wie hast du …« Ohne seinen Satz zu beenden, wollte er wieder aufstehen.

Meine Brust hob und senkte sich schnell. Nicht, weil ich ausgepowert war, sondern weil das Adrenalin durch mein Körper schoss. Noch bevor Bill wieder hochgekommen war, trat ich ihn. Er kippte auf den Rücken, und ich schwang mich auf ihn.

»Lass uns gehen, Élian.« Noch genoss ich Bills Anblick unter mir.

»Jane.« Das klang nicht nach Élians bewundernden Rufen. Ängstliche Schwingungen kamen bei mir an.

Ich drehte mich zu ihm. Mist. Pat, auf den ich gar nicht mehr geachtet hatte, stand vor Élian. Sie befanden sich etwas weiter entfernt, als ob Élian versucht hätte, wegzulaufen, aber eingeholt worden war.

»Élian.«

»So taff biste dann doch nicht.«

Ohne auf Bills Provokation einzugehen, hüpfte ich hoch und rannte zu Élian. Kurz vor ihm und Pat bremste ich ab. Urplötzlich fror ich am Boden fest.

»Nein.« Ein ersticktes Hauchen, für mehr reichte es nicht.

Bis das Bild vor mir mehr und mehr real wurde.

»Nein!« Mein eigener Schrei fuhr mir wie ein Messerstich ins Herz.

Dieses hilflose, zutiefst niedergeschlagene »Nein!« hallte hier, hinter dem Fabrikgebäude, wider und wurde zugleich von dem Lärm der N14 verschluckt.

Das Licht brach sich in dem blutverschmierten Messer, das der Verbrecher aus Élians Bauch zog. Élian sah auf seine Wunde. Seine Finger stoppten zitternd vor dem Blut. Es verfärbte seinen Hoodie. Erst danach blickte Élian zu mir und öffnete den Mund. Heraus kam ein mickriges Krächzen.

Sämtliche Panik und Sorgen sammelten sich in meinem nächsten »Nein«, das in der Luft hing wie ein böses Omen.

Hinter mir näherte sich jemand. Gekonnt trat ich zurück und traf auf etwas. Ohne mich zu vergewissern, wie stark mein Tritt gewesen war, raste ich vorwärts. In mir drehte sich alles. Das Rauschen meines Blutes in meinen Ohren nahm an Lautstärke zu, und ich musste mich konzentrieren, damit meine Beine nicht nachgaben.

Blut tropfte von Pats Messer und fiel mit Élian zu Boden. Ich hatte keine Angst vor ihm, aber davor, Élian nicht helfen zu können.

Die Straßenlaternen neben uns fingen zu flackern an, und meine Schmerzen von vorhin kamen wie eine unerwartete Explosion zurück.

Ohne Umschweife kippte ich vor und biss mir auf die Unterlippe. Ich ging in die Hocke und stützte mich mit den Händen auf der rauen Straße ab. Sie sollten nicht merken, wie es mir ging, aber sie wären blind, erkannten sie es nicht.

Unter Schmerzen hielt ich erst meinen Bauch und schlug dann mit der flachen Hand auf die Straße ein. Die Steinchen am Boden kratzten meine Haut auf. Warum? Warum? Es kostete mich Überwindung, zu Élian zu sehen. Er lag am Boden, und die Feststellung, zu spät reagiert zu haben, ließ meine Krämpfe stärker werden. Blitze zuckten vor meinen Augen umher. Wie sollte das ausgehen? Élian war verwundet, und ich konnte ihm nicht helfen. Was im Moment mehr schmerzte? Élians Anblick oder die Krämpfe? Keine Ahnung.

Ich würde die Nächste sein und erwartete jeden Moment, den Stich des Dolches zu spüren. Oder war er bereits gekommen und in meinen Schmerzen untergegangen? Was stimmte nicht mit mir? Und warum zum Teufel hatte anscheinend jemand meinen neunzehnten Geburtstag verflucht?

»Nicht mehr so ’ne große Klappe, was?« Keine Ahnung, wer von beiden auf mich einredete. Die Stimme echote in meinem Kopf.

Schwarze Stiefel mit Metallketten hielten vor mir.

»Hey.«

»Was macht ihr da?«

Zwei weitere männliche Stimmen, falls ich das richtig gehört hatte. Noch mehr Feinde?

Der Boden unter mir drehte sich, als verwandelte er sich in einen Strudel, ein schwarzes Loch, das drohte, mich zu verschlucken. Ich hielt den Atem an, und meine Lunge stach. So sehr ich es auch versuchte, ich konnte nicht mehr einatmen.

Als das Karussell meiner Schmerzen allmählich nachließ, waren die Stiefel verschwunden. Ich spürte eine Hand auf meinem Rücken und zuckte zusammen. Erst da ließ ich die Luft wieder in mich. Man half mir, mich zu setzen. Blaue Augen sahen mich an.

»Alles gut? Sie sind weggelaufen.« Ein nettes Gesicht.

Ich deutete zu Élian. Bei ihm stand ein anderer Junge.

»Holt Hilfe.« Hörte man mich überhaupt?

Übelkeit kletterte meinen Hals empor, und ich benötigte all meine Kraft, um mich nicht zu übergeben.

Mein Körper vibrierte. Ich hatte große Angst davor, was mit mir los war und wie es Élian ging.

»Geht es dir gut, hast du …«

»Holt Hilfe, er stirbt.« Mit letzter Kraft sprach ich so eindringlich, wie ich konnte.

Die Jungen warfen sich einen unbeholfenen Blick zu.

»Simon?«

Simon, der eine rote Cappy trug und bei Élian stand, nickte. »Beeil dich, Philippe.«

Neben mir regte sich etwas, der Blonde. Wie war sein Name? Philippe.

»Nein, geht beide.«

Wieder schauten sie sich an.

»Geht.«

Sie rannten los. Ich musste mit Élian allein sein. Nachdem ich mich zu ihm geschleppt hatte, drehte ich ihn auf den Rücken und untersuchte ihn mit verschwommenem Blick.

»Bitte nicht, Élian.« Die Wunde an seinem Bauch war nicht nur eine Stichverletzung. Das Messer mit den Zacken hatte ihm schwerer zugesetzt, als ich gehofft hatte.

Wie er da lag, wie etwas Zerbrechliches, dem ich nicht noch mehr schaden wollte, ließ mich hilflos zurück. Die Möglichkeit, meinen Plan umzusetzen und vielleicht dennoch zu scheitern, umklammerte mich. Eine giftige Umarmung, die mich daran denken ließ, wie ich damals im Krankenhaus an Yassins Bett gestanden hatte.

Ich zog die Nase hoch und wischte mir die Tränen weg. Nicht jetzt. Für Élian musste ich stark sein und es wagen. Ich rieb die Hände aneinander, als schaltete ich so meine Furcht ab. Schmutz bröckelte ab, und die Flächen wurden warm. Dann zog ich ihm den heiligen Hoodie aus und benutzte ihn als Kissen für seinen Kopf. Sachte legte ich meine Hände auf seine Brust und seinen Bauch.

»Bitte, bitte, bitte, bitte. Mach etwas.« Nichts geschah.

Ich atmete tief ein, hielt die Luft und atmete wieder aus. Langsam versuchte ich, mich zu entspannen. Für Élian musste ich mich zusammenreißen, also schloss ich meine Augenlider und strich meine Haare hinter die Ohren, fühlte die goldenen Piercings. Mein Herzschlag beruhigte sich, dank der Atemtechnik meiner Mutter. Die Schmerzen in meinem Körper zogen sich zurück.

Immer weiter drang ich in mein Inneres, öffnete alle Energiekanäle und konzentrierte mich darauf, meine Kraft auf Élian zu lenken. Ich nahm die Sanitatemaura der Heilung wahr, die um mich tanzte wie eine Kerzenflamme. Langsam streifte ich sie mit meinen Gedanken ab, bis sie Élian einnahm.

Schwärze hüllte mich ein, und ich nahm nichts mehr wahr, bis auf das Geräusch eines Flusses in mir. Langsam und zögerlich tat sich ein Lichtfunken in der Finsternis in mir auf. Wie ein kaputtes Feuerzeug, das man verzweifelt zu entfachen versuchte.

Voller Hoffnung sah ich Élian wieder an. Das Rasen der Autos, die schlechte Luft, das flackernde Straßenlaternenlicht, alles kam wieder zurück zu mir. Nur Élian nicht. Wie in einem Wahn kniete ich vor meinem besten Freund, drückte meine Hände auf ihn, aber es passierte nichts.

»Warum klappt es nicht?« Verzweifelt schlug ich mit beiden Fäusten auf Élian. »Wach auf, wach bitte auf.«

Die Erinnerungen an meinen verstorbenen Ex-Freund Yassin drängten sich in den Vordergrund, obwohl ich sie lange verschlossen gehalten hatte. Vor meinem inneren Auge sah ich, wie ich an seinem Sterbebett im Krankenhaus stand und an ihm rüttelte, nachdem ich Dummkopf ebenfalls versucht hatte, ihn wiederzubeleben. Obwohl ich schon lange wusste, dass ich eine Versagerin war, die diese und viele weitere Fähigkeiten komischerweise nicht geerbt hatte. Ich war die Schande der Familie und konnte selbst diejenigen nicht retten, die ich liebte.

Die Tränen brachen aus mir. Mein gleichzeitig lautes Schluchzen erschreckte mich selbst. Sanft legte ich meine Hände an den Mund und spürte Élians warmes Blut an mir.

»Das darfst du mir nicht antun. Bitte, Élian.«

Immer wieder wiederholte ich diesen Satz.

»Wach auf.« Mein Wispern kam mühsam aus meinem trockenen Mund, und meine Zunge klebte schwer an meinem Gaumen.

Erschöpft bettete ich meinen Kopf auf seine Brust. Überall an mir klebte sein Blut. Ich streichelte seine Wange und erwischte mich dabei, wie ich mir jedes Detail seines Gesichts einprägte, um sie mir in meine Erinnerungen einzuschweißen. Seine Zornesfalte zwischen den Brauen, sein Tattoo am Hals, das an seine japanischen Wurzeln erinnerte. Das Grübchen in seiner Wange, das sich vorhin noch vertieft hatte, als er mir von einem Typen erzählt hatte. Moment, was machte ich da?

»Nein.« Ich setzte mich wieder auf und legte meine Hände auf ihn. »Ich gebe dich nicht auf, Élian. Du hast mich auch nie aufgegeben. Wach endlich wieder auf, lass mich nicht allein.«

Mit aller Kraft zwang ich mich, die Magie in mir zu finden. Ich tauchte tief in mein Unterbewusstsein, verdrängte all die Wut und Trauer in mir, um meinen Geist die Sanitatem in mir suchen zu lassen. Nichts. Kein Funken, kein Strahlen, keine Heilmagie. Nein, so würde das hier nicht enden. Ich eilte in den dunkelsten Winkel meines Selbst. Eine leicht schimmernde Barriere mit Rissen darin hielt mich auf, doch dabei würde es nicht bleiben. Ich sammelte also all meine Energie und durchbrach die kaum sichtbare Mauer, bis ich es sah. Ein schwaches Glimmen. Gedanklich griff ich danach, und sofort nahm mich die Wärme der Magie ein.

Alle Lichter um uns flackerten, bis die Lampen platzten. Ein paar Scherben rieselten auf uns herab.

Zuerst verschluckte uns die Dunkelheit, bis ich meine Hände hob.

»Wach auf.« Mein Körper heizte sich auf, zitterte, und dann platzte meine Aura aus meinem Körper wie Wasser aus einem Geysir, umhüllte Élian und erhellte die Umgebung, bis ich wenige Sekunden später das Bewusstsein verlor.

Kapitel 2

Der Typ mit den langen, blonden Haaren von vorhin war wiederaufgetaucht. Wir standen in der Personaltoilette des Clubs, die uns die Security zur Verfügung gestellt hatte. Das kühle Wasser fühlte sich angenehm auf meinem Gesicht an. Es rauschte mit voller Wucht aus dem Hahn, und ich beugte mich noch ein wenig tiefer in das Waschbecken, bis es auch über meine Haare floss. Gleich danach sprudelte es auch in meinen Ohren, übertönte aber leider nicht das Gewusel von draußen. Lange hatte es nicht gedauert, bis der Vorfall die Runde gemacht hatte. Spätestens als die Notärztin gekommen war, hatten selbst die Betrunkensten den Vorfall realisiert.

Irgendwann musste ich mich jedoch wieder dem Leben da draußen stellen. Also richtete ich mich auf und warf meine nasse, schulterlange Mähne zurück. Tropfen fielen zu Boden und das gleichmäßige Geräusch, das dabei entstand, füllte den Raum aus. In meinem Gesicht und an meinen Händen erblickte ich durch den Spiegel noch rosafarbene Stellen, wo noch immer etwas von Élians Blut klebte, wie eine verschwommene Erinnerung, die ich nicht fassen konnte.

»Können wir dich echt allein lassen?« Philippes Blick eilte in der Toilette umher, die in sattem Weiß erstrahlte, als wäre sie frisch renoviert worden.

War er lediglich aus Pflichtbewusstsein da, weil er dachte, er müsse auf mich aufpassen?

»Ich hol nur die Sachen von Élian und Ella, und dann fahre ich zu ihnen ins Krankenhaus. Du kannst gehen.« Alleinsein wäre mir für den Moment ohnehin lieber, um Élians Anblick und meine aufgetauchten Fähigkeiten zu verarbeiten. Es war mir schwergefallen, dem Notarztwagen mit Blaulicht hinterherzuschauen und nicht bei Élian sein zu können.

Mist. Bei dem Gedanken daran hatte ich gar nicht bemerkt, wie viel Papier ich bereits aus dem Spender gezogen hatte. Ich riss es ab und wischte mir über das Gesicht. Einen perfekten Basketballwurf später landete es im überfüllten Eimer. Ich bemühte mich, Élians Verletzungen aus meinem Gedächtnis zu verbannen, aber ständig blitzten die Bilder auf. Wenn ich ihn verloren hätte, dann …

»Schon krass, dass dein Freund das überlebt hat. Ich meine, nach unserer Rückkehr sah er aus, als wäre er nur zerzaust nach einem langen Mittagsschlaf aufgewacht. Du bist jetzt, äh, ganz allein hier, oder?« Philippe lachte auf, während seine Augen weit offen standen und sein Blick an Irgendetwas haftete, nicht mehr herumirrte.

»Ja und ja, Glück gehabt.« Von wegen Glück. Nur wie hatte ich das geschafft? Ein Ding der Unmöglichkeit. Ich dürfte das nicht können. Meine Mom hatte immer gesagt … Merde.Maman.

»Du hättest aber ruhig mitfahren und eure Sachen später holen können, oder wir hätten sie euch gebracht.« Philippe trat vor, und unter dem Licht des Spiegels wirkte er noch blasser.

Ich machte einen Schritt zur Seite und lehnte mich gegen die weißen Kacheln.

»Er braucht, äh, seinen digitalen Ausweis, Nummern im Handy und so.« Ich ratterte die erstbesten Begriffe herunter, die mir einfielen.

Eigentlich gab es einen anderen Grund, weswegen ich nicht in den Krankenwagen gesprungen war. Zuerst musste ich nämlich die Aura meiner Kräfte loswerden, die ich, keine Ahnung wie, eingesetzt hatte. Denn in einem Krankenhaus war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass jemand, der es nicht sollte, meine Energien bemerkte. Wie sollte ich das bewerkstelligen? Mir hatte nie jemand gezeigt, wie ich die magische Aura erlöschen lassen konnte.

Die Tür öffnete sich und stieß gegen meine Seite.

»Pardon.« Simon betrat die Toilette.

»Sie sind da.« Simon sah nach draußen, ehe er die Tür wieder schloss. Sie?

Philippe knackte mit den Fingern und nickte zwei-, dreimal hintereinander. Für die beiden hatte sich die Sache erledigt, warum stieg seine Nervosität?

»Na ja, auf jeden Fall, danke für eure Hilfe.« Ich drückte mich von der Wand weg und schüttelte mein Shirt durch, das durch das Wasser an mir klebte.

Ohne auf ihre Antwort zu warten, wollte ich mich an Simon vorbeidrängen. Dieser ging aber nicht zur Seite.

Ich suchte seinen Blick und zog meine Augenbrauen tief ins Gesicht. Bitte, ich brauchte jetzt keine Anmache oder so was.

»Wir können dich leider nicht gehen lassen.« So nah vor Simon bemerkte ich es erst.

Ein Glühen ging von ihm aus. Die Adern in seinen Augen pulsierten, färbten sich mitternachtsschwarz. Um seine Iriden erstrahlte ein dunkelgelber Ring.

Ich machte zwei Schritte zurück, und Philippe stellte sich mir in den Weg.

»Bitte, ich …« Mehr konnte ich nicht mehr sagen, da spürte ich es wie einen Bienenstich direkt in meinem Kopf.

Simon, der mich mit seinen Augen fesselte und mir die Energie stahl, meine Aura schwächte, bis mir schwindelig wurde.

»Nein.« Das Wort kam wie ein Säuseln aus mir.

Wie eine Betrunkene stolperte ich zur Seite. Sah weg von Simon und fixierte einen Punkt, um mich zu lösen, was aber nicht klappte. Stattdessen sah ich die Kacheln, die pink wurden und sich zu Kreisen verformten.

Ich musste zu Élian, falls doch noch etwas geschah.

Meine schlaffen Arme kamen mir wie aus Gummi vor, und es kostete mich all meine Kraft, sie zu heben. Es musste ihnen lächerlich vorkommen, wie ich vergeblich versuchte, Simon zur Seite zu schieben.

Philippe verdreifachte sich neben mir. Ich verlor meinen Verstand. Die drei Philippes kauten an ihrem Daumennagel. Simon, dessen Blicken ich auswich, packte mich am Hals. Seine Adern traten schwarz hervor.

Zuerst bereitete es mir höllische Schmerzen, meine Energie zu verlieren, bis ich mich betäubt fühlte. Sie raubten mir all mein Licht, meine Seele und meinen Lebenswillen. Ich stellte die erlegte Beute dar und sie die Raubtiere, die vorhatten, mich zu verspeisen. Simon sagte etwas, aber seine Stimme klang gedämpft, wie unter Wasser. Und als sich die schwarzen Ränder meines Tunnelblicks zuzogen, wusste ich, bald würde ich niemals wieder Licht sehen.

***

Wassertropfen rannen die schimmelige Wand herunter. Mein Hals machte einer Wüste Konkurrenz und kitzelte, als steckte ein Härchen irgendwo darin fest. Dennoch konnte ich mich nicht dazu durchringen, die Feuchtigkeit mit meiner Zunge aufzulecken. Ekel und Kälte ließen mich erschaudern.

Die aufkeimende Panik gewann nach und nach. Mein Unbehagen zu verdrängen, gelang mir nicht mehr lange. Ich stieß ein weinerliches Seufzen aus. Kam ich jemals wieder hier raus? Es gab doch noch Sachen, die ich erleben wollte. Warum hatte ich ständig alles in die Zukunft verschoben und nicht einfach gelebt? Hier und jetzt verstand ich, warum es besser war, sein Ding durchzuziehen, statt es jedem recht machen zu wollen. Wäre das mein Ende, hätte ich wirklich alles versäumt, was für mich von Bedeutung gewesen wäre.

Wieso war ich hier gelandet? Das Strohbündel, auf dem ich saß, schützte mich vor dem scheußlichen Steinboden. Ich zog die Beine an und bettete meine Stirn auf meine Knie. Gerade hatte ich mich beruhigt, da kündigten sich die nächsten Tränen an. Selbst Ellas neue TikToks, in denen sie die verschiedenen Arten von in Paris lebenden Menschen nachmachte, hatte ich mir nicht angesehen.

Die stickige Luft und die Wände, die näher zu kommen schienen, engten mich ein und halfen nicht, mir die Höllenangst vom Leib zu halten. Warum hatte sich mein Geburtstag derartig entwickeln müssen? Warum ich? Die Verzweiflung drückte mein Herz zusammen, und es fiel mir schwer, nicht durchzudrehen.

Ich sah wieder hoch und suchte nach Schlagspuren von mir an der Tür, die ich beschworen, beschimpft und bekämpft hatte. Doch der stählerne Ausgang sah aus wie neu. Meine blauen Knöchel und pulsierenden Hände sprachen leider eine andere Sprache. Es war vorbei. Wozu noch bemühen?

Ein Krächzen schallte bis in meine Zelle und ging mir durch Mark und Bein.

Mein Kinn zitterte, und ich wimmerte. Wut übermannte mich, und ich schlug gegen die feuchten, rutschigen Steine.

»Lasst mich raus, salauds.« Diese Bastarde. Wenn ich rauskäme, dann … Ach, keine Ahnung.

Ich wischte mir durch das Gesicht. Kalter Schweiß stand auf meiner Stirn. Der schmale Lichtkegel, der zwischen den winzigen Gitterstäben des Gucklochs in der Tür schien, war gerade hell genug, um den Schmutz erkennen zu können.

Wie lange würde es noch dauern, bis ich starb? Natürlich überraschte es mich wenig, dass die Furta Noctra eigene Kerker irgendwo unterhalb von Paris aufgebaut hatten. Ich malte mir aus, wie sie mich in einen Raum mit Folterbänken, Brandeisen und Kneifzangen brachten. Da fielen mir auch wieder die Erzählungen meiner Mom über die Kammern der Furta Noctra ein. Was, wenn Philippe und Simon die beiden Typen engagiert hatten, die Élian und mich angegriffen hatten? Deshalb auch ihr aggressives Vorgehen. Nur so konnten sie einen von uns dazu bringen, unsere Kräfte einzusetzen. Deshalb hatten sie uns auch allein gelassen, vermutlich um die Ecke gewartet. Bestimmt hatte sogar jemand anderes anstelle der beiden die Rettung gerufen. Wenn ich an all das dachte, wurde mir schlecht.

Dazu noch der Geruch von Fäulnis, der in meiner Nase stand wie eine Wolke aus Müll, als bemühten sie sich, diese Kerker extra verkommen zu lassen.

All die Trainings, die ich bewältigt hatte, um mich zu verteidigen oder in solchen Situationen ruhig zu bleiben, halfen in der Realität nichts. Wenigstens hatte ich herausgefunden, dass ich meine Heilaura erlöschen lassen konnte, wenn ich die Magie in mir wie einen Muskel entspannte. Nachdem das funktioniert hatte, war mir auch wieder eingefallen, diese Beschreibung in einem alten Buch meiner Mutter gelesen zu haben. Ich sprang auf, strich meine Haare zurück, ging im Kreis und schrie noch mal um Hilfe.

Ich hielt. Es brachte nichts. Trotzdem erdrückte mich das Nichtstun noch mehr. Mein Fuß wippte auf und ab. Ich kratzte mich am Hinterkopf. Dann setzte ich mich, um gleich danach wieder aufzustehen.

Ich verlor den Verstand. Eventuell hatte ich mir diese Melodie vorhin auch nur eingebildet, die mich ein wenig beruhigt hatte. Das melancholische, traurige Summen, das sich nach und nach mit einer Prise Hoffnung vermischt hatte.

Okay, ich musste mich zusammenreißen. Woher sollte dieser Klang gekommen sein?

»Deine Nervosität reicht bis zu mir. Kannst du dich endlich zusammenreißen?« Wer hatte das gesagt?

»Ich reiße mich nicht zusammen.« Warum widersprach ich ihm, wenn ich mir den gleichen Ratschlag gerade selbst gegeben hatte? »Wer bist du überhaupt?«

»Archie. Bin im Kerker fast gegenüber.« Seine Stimme klang rau und düster.

»Ich bin Jane. Hast du vorhin diese Melodie gesummt?« Ich musste es wissen, um mir einzureden, dass ich nicht durchdrehte.

Es herrschte einen Moment Schweigen. Hatte ich mir diese Stimme jetzt auch nur eingebildet?

»Ja«, sagte er und gab mir damit die Bestätigung, mich nicht verhört zu haben.

»Sie ist eine Art Anker, habe ich mir über die Zeit selbst ausgedacht. Die Stille kann einen fertigmachen.«

»Über die Zeit? Wie lange bist du denn schon hier?«

»Paar Jahre.«

Ich setzte mich wieder. Das Stroh pikte mich. Jahre? Ich stand wieder auf. »Jahre? Verarschen kann ich mich auch selbst.« War er einer von ihnen?

»Mir doch egal, was du glaubst.«

»Denkst du, ich lass mich in so einer Situation von dir verarschen? Ta gueule.«

»Ich halte schon zu lange hier unten den Mund. Ganz allein.« Nein, Archie veralberte mich nicht. Wie er das sagte. Es lag viel zu viel Traurigkeit in seinen Worten.

»Echt? Jahre?«

»Mhm.« Aha. Sonst keine Erklärung, Mister? »Was hast du getan, Jane?«

Außer dass ich ihre Feindin, eine Sanitatem, war und sie uns Heilerinnen, wie sie uns salopp nannten, grundlos hassten? »Nichts, du?«

Archie schnaubte belustigt. »Also wie ich.«

Es war Ewigkeiten her, dass ich einen zirkelfernen Sanitatem getroffen hatte. Ich sah auf die Blechschüssel neben der Tür und die Suppe mit der schleimigen Konsistenz darin. Das sollte ich von nun an essen?

»Wie lange bin ich hier?«

»Einen Tag circa.«

Einen ganzen Tag? Meine Mutter musste ausrasten vor Sorge. Was hatte sie Ella und Élian gesagt, wo ich blieb und warum ich nicht vorbeikam? Élian. Lebte er noch? O Mann.

Ganz langsam lehnte ich mich gegen die Tür und rutschte an ihr entlang, bis ich am Boden landete.

»Wo sind wir überhaupt genau?« Normalerweise sollte ich ihn mehr ausquetschen, aber ein Schwindel überkam mich, der es mir schwer machte, mich zu konzentrieren.

»Weiß nicht.«

»Okay, und gibt es keine Chance, zu entkommen? Wenn sie das Essen bringen oder so?«

»Denkst du, ich wäre dann noch hier?«

Stimmt. Blöde Frage. Mein Kopf funktionierte nicht richtig, als hätte ich etwas von der Suppe in meinem Gehirn. Abermals suchte ich mein Verlies nach Waffen ab, falls Philippe und Simon zurückkamen. Nichts.

»Und …«

»Sag, Jane«, unterbrach Archie mich und sprach meinen Namen vorsichtig aus.

»Ja?«

»Ich weiß, es klingt blöd, aber kennst du die Serie Once Upon a Time? Hast du sie gesehen?« Hää? Für Serien hatte ich gerade keinen Kopf.

»Äh, ja«, antwortete ich dennoch. Wenn man sich selbst mit magischen Fähigkeiten auskannte, sah man solche Serien zwar mit einem Lächeln, aber man fühlte sich normaler dadurch.

»Was ist denn noch passiert? Wie hat sie geendet?« Seine Stimme wirkte, als hätte er sich ganz nahe an seine Tür gestellt, um nichts zu verpassen. »Mann, ist echt unangebracht, oder? Aber ich denke darüber oft nach und male mir aus, wie es weitergegangen sein könnte.«

Mir war zwar nicht danach zumute, aber ich lächelte einen Augenblick. Das verflog gleich darauf. Das machte er ja nur wegen seiner langjährigen Gefangenschaft.

»Das verrate ich dir nicht.« Einen etwas belustigten Unterton konnte ich mir nicht verkneifen. Er tat mir leid, also beschloss ich, ihn erst mal nicht mehr mit Fragen zu löchern und wartete ab, wie er reagierte.

»Wie gemein.« Wie Archie das sagte, konnte ich mir richtig vorstellen, wie er beleidigt die Unterlippe vorschob.

»Wir kommen raus, und dann siehst du es selbst, okay? Deshalb spoilere ich dich nicht.«

Lange kam keine Antwort.

»Süß. Du denkst, du kannst fliehen.« Es klang nicht nach einer Verhöhnung. Obwohl. Irgendwie schon. Trotzdem hörte ich, wie leid ihm meine Naivität tat.

Aber ich glaubte fest daran, zu entkommen.

»Archie?«

»Ja?«

»Ich werde rauskommen. Koste es, was es wolle, und ich nehme dich mit. Ach, und du bist ein Arsch.«

Archie lachte auf. »Nehm dich beim Wort, Jane, äh …«

»Jeanne Sana Amicus. Aber alle nennen mich Jane.«

»Enttäusch mich nicht, Jane Sana Amicus.«

Es tat gut, mit Archie zu sprechen, seine Stimme zu hören und mir sein Lächeln vorzustellen. Obwohl ich ihn noch nie gesehen hatte, baute mein Kopf ein Bild von ihm zusammen. Da fühlte ich mich gleich fitter.

»Mach ich nicht. Wie ist dein voller Name?«

»Andre-Claude, aber lieber Archie. Andre-Claude erinnert mich zu sehr an meine Familie und daran, wie sie ihn ausgesprochen hat. Also: Archie Malus L…«

Archie verstummte, als sich etwas aufschob, und ein Poltern durch die Gänge zog. Stimmengewirr erklang, und ich bekam Gesprächsfetzen mit, die zu abrupt kamen, um sie zu verstehen.

Kapitel 3

Meine Abwehr verpuffte sofort nach Simons Berührung. Seine böse Aura der Dunkelheit nahm mich völlig ein. Meine Muskeln waren wie paralysiert. Sie waren zurückgekehrt und hatten mich aus meinem Gefängnis gezerrt. Was hatten sie mit mir vor?

»Lass mich los.« Gedanklich schrie ich ihm das entgegen. In der Realität kamen die Worte quälend und wie ein Flüstern aus mir.

Er lachte mich aus.

Eigentlich sollte ich strampeln, aber es klappte nicht. Simons Dunkelheit, die ihn umgab, hatte sich gelöst und hielt mich wie eine Zwangsjacke gefangen. Dabei strengte ich mich an, meine Beine und Arme zu bewegen. War ich auf ewig gelähmt? Dieser Gedanke versetzte mich in Panik. Aber meine Angst brachte mich nicht weiter. Mir blieb nur die Möglichkeit, Simons Kontrolle, die er mit seiner Magie über meinen Körper hatte, zu akzeptieren und einen Plan zur Flucht zu schmieden.

Betäubt stolperte ich von Schritt zu Schritt. Simon zerrte mich halb hinter sich her. Immer wieder presste ich die Augen zusammen, um meine verschwommene Sicht zu klären, was mir mittelmäßig gelang. Die Macht, mit der er meine Beine zwang, ihm zu folgen, fühlte sich zu mächtig an, um sie zu brechen.

»Fasst sie nicht los, äh, an. Mich, ähm, ich schwöre euch …« Archies Worte gerieten durcheinander, wohl weil er lange nicht mehr mit jemandem gesprochen hatte und das alles zu schnell vor sich ging.

Simon lachte auf und warf dabei den Kopf zurück. Seine Baseballcap fiel von ihm. Ich sah zurück und sah Philippe, nervös wie letztens. »Was willst du denn machen, crétin?« Dummkopf? Was Besseres fiel Simon nicht ein? Und Philippe? Hatte der gar nichts zu sagen?

Archie schlug gegen die Tür. Zumindest glaubte ich das.

Simon knallte mich an die feuchte Mauer. »Denkst du auch, dein neuer Freund wird dir helfen? Soll ich dir sagen, wer er ist?« Er schüttelte mich. »Oder checkst du es selbst, Mädchen?«

»Verpiss dich.« Es war schwer, den Satz rauszubekommen.

Meine Worte machten Simon fuchsteufelswild. »Ach, so ist das?«, brüllte er, wirbelte mich herum und schleuderte mich zu Boden, direkt vor Philippe, der mir von oben in die Augen sah.

Da Simon mich weder im Blick hatte noch berührte, erholten sich meine Kräfte. Mehr nahm ich zunächst nicht wahr, bis jemand mein Handgelenk ergriff und mich auf die Füße zerrte. Meine Energie ging wieder dahin. Simon zwang mich gewaltsam mit sich. Lichter an den Wänden, die wie Fackeln aussahen, zogen an mir vorbei.

Alles in mir versetzte sich in Aufruhr. Leider konnte ich das nicht nach außen tragen. Wir hielten vor einem Tor, und ich krachte in Simon. Wieder ließ er mich los und fischte etwas aus seiner Tasche.

Ich lehnte mich gegen die Steinwand und sah Philippe mit einem Auge an, das andere hielt ich vor Erschöpfung geschlossen. Er entzog sich meinem Blick. Der lange, dünne Junge knabberte an seinen Fingernägeln und schien sich unwohl in seiner Rolle zu fühlen.

»Jane.« Archies Stimme und die Tatsache, dass Simon abgelenkt war, hauchten mir wieder Leben ein, und ich blinzelte die Benommenheit von mir ab.

Eventuell hatten die beiden nur meine Heilmagie gespürt, ohne meine Kampfsportfähigkeiten mitzubekommen. Das war meine einzige Chance. Wohlgemerkt eine ziemlich geringe, aber immerhin.

Also kramte ich mein gesamtes schauspielerisches Talent hervor – und das war nicht viel, eigentlich gleich null – und schwankte von einem Bein zum anderen. Um dem die Krone aufzusetzen, tat ich, als rutschte ich ständig von den Steinen an der Wand ab, an denen ich mich festhielt.

Simon öffnete mit einem Ruck das Tor und wollte mich schnappen, um mich wieder mit sich zu zerren.

Genau in diesem Moment drehte ich den Spieß um, ergriff mit geschlossenen Augen seinen Pulli und verdrehte ihm den Arm, bis er aufschrie. Danach öffnete ich meine Lider wieder. Nun war er zu abgelenkt, um mich mit seinem Blick zu fesseln.

Philippe sprang zurück und legte die Hände an seine Wangen. »Simon.« Er schien nicht in der Lage zu sein, seine Kräfte zum Kampf einzusetzen. Gut für mich, vielleicht war er nur ein Mutatio, und meine Aura zu verändern, brachte ihnen im Moment gar nichts. Damit könnte er nur erreichen, dass Simon oder er mich anders wahrnahmen, aber nicht verhindern, was ich nun vorhatte.

Ich hatte das noch nie mit voller Wucht getan, und es widerstrebte mir, jemandem wehzutun, aber ich musste mich überwinden und trat Simon von hinten. Er fiel zu Boden, und es ertönte ein dumpfes Geräusch.

Bei Philippe kam es mir noch komischer vor, ihn zu bekämpfen, weil er nicht böse aussah, aber ich konnte nicht riskieren, verfolgt zu werden. Also täuschte ich einen Schlag vor, er wich zurück und hielt die Arme wie einen Schutzschild nach oben. Genau da ging ich in die Hocke und kickte ihm die Beine weg. Er schlug mit dem Kopf gegen die Steinwand und fiel dann auf Simon.

Hektisch blickte ich um mich und bemerkte, dass meine Kräfte noch nicht vollends zurück waren, außerdem kündigten sich diese Magenkrämpfe wieder an.

Zimperlichkeit konnte ich mir nicht leisten. Ich visierte das Tor für meine Flucht an.

»Jane?«

Sollte ich riskieren, erwischt zu werden? Abwechselnd sah ich zwischen dem Durchgang zur Freiheit und Archies Gefängnis hin und her. Archie retten oder nicht?

»Jane?«

Ach, scheiß drauf.

Da mein schlechtes Gewissen mich sonst umbringen würde, rannte ich los. »Archie?«

»Hier.«

Vor seinem Verlies hielt ich.

»Archie?« Ich klopfte.

»Ja.«

Merde, die mächtige Tür hatte nichts, um sie zu öffnen. »Komme gleich.«

Wenige Schritte später stand ich über Simon und Philippe. Simon bewegte sich und gab Knurrgeräusche von sich. Er könnte jeden Moment aufwachen.

»Ich muss mich beruhigen«, flüsterte ich zu mir selbst. Was machte ich jetzt?

Als Simon sich den Kopf rieb, entschied ich mich dafür, ihm noch mal eine zu verpassen, dann tastete ich nach dem Schlüsselbund. Er musste doch irgendwo sein. In meiner Erinnerung hörte ich ein Rascheln von Schlüssen.

Mit leichten Schlägen gegen seine Hosentasche brachte ich den Bund zum Scheppern. Yes. Ich zog ihn heraus und fand mich kurz danach vor Archies Tür wieder.

»Welcher Schlüssel?« Ich ging jeden davon durch. Sie mussten beschriftet sein, sonst könnte sich das doch niemand merken.

Meine Sicht stellte sich abwechselnd scharf, dann wieder verschwommen. Wie sehr ich das Ziehen in meinem Magen auch verdrängte, es kämpfte sich in den Vordergrund.

Ich stöhnte in mich hinein. Dieser Druck brachte mich um den Verstand. Was ich auch tat, ich konnte mich nicht konzentrieren. Ständig linste ich zu Philippe und Simon, dann auf den Schlüsselbund, von dem ein rostiger Duft nach Eisen aufstieg, sobald ein Schlüssel gegen den anderen klimperte.

»Was machst du?« Archie schien näher gekommen zu sein. Ich blickte hoch und entdeckte seine Augen durch das schmale Guckloch mit den Gitterstäben. Augen voller Finsternis, vor denen schwarze Strähnen hingen.

»Was wohl? Ich spiele die Melodie von Alle meine Entchen mit dem Schlüsselbund nach.« Ich wusste, Gereiztheit brachte mich nicht voran. Unterdrücken konnte ich es jedoch nicht.

»Schau nach Punkten. Den Neuen wird oftmals was von Punkten erklärt.«

»Was für verfluchte Punkte?« Mehrmals blinzelte ich, um meinen Blick zu zwingen, endlich die Schlüssel scharf zu stellen. Wenn ich das versaute, dann, okay, stopp. Darüber wollte ich nicht nachdenken.

»Keine Ahnung, schau genau.«

»Schau genau«, äffte ich ihn leise nach und nervte mich selbst mit meiner Art.

Ich ließ meinen Kopf in den Nacken fallen und wischte mir den kalten Schweiß von der Stirn. Einmal atmete ich tief ein und aus. Ich sah über Archies Tür. Dort befanden sich drei Punkte untereinander.

Gleichzeitig tastete ich mit meinen Fingern über einen der Schlüssel und spürte etwas am Schaft. Vierecke. Das suchte ich nicht. Der nächste Schlüssel: Striche. Na toll. Vielleicht dieser hier? Nein. Ich tastete den nächsten ab. Da waren sie. Die langersehnten Punkte, drei untereinander. Exakt was ich gesucht hatte.

Die Freude währte nicht lange. Mir wurde wieder übel. Die Krämpfe in meinem Magen kommentierte ich mit einem unterdrückten Wimmern.

Kurz zögerte ich. Was hatte Simon vorhin gemeint, wer Archie war? Egal, wir hatten keine Zeit, und er musste ein Sanitatem sein, also half ich ihm.

Ich steckte den Schlüssel in das Schloss. »Bitte, bitte.« Er ließ sich drehen.

Archie stieß die Tür hastig auf. Meine Reflexe setzten noch rechtzeitig ein, und ich sprang zurück.

Er kam aus dem übel riechenden Kerker. Ich erhaschte einen kurzen Blick darauf und entdeckte eingeritzte Sprüche, Zahlen und Bilder auf der Steinwand.

Als er sich vor mir auftat, erblickte ich einen jungen, blassen Mann mit Augenringen und rauen, vollen Lippen, die von einem unsauber geschorenen Bart eingerahmt waren. Bevor ich mich intensiver mit ihm beschäftigen konnte, schnappte er meine Hand. Ein Stromschlag zuckte durch meinen Körper, und eine Wärme erfüllte meine Adern, die mir Energie schenkte.

Schwielig, rissig und fest fühlte sich seine Hand an, mit der er mich mit sich zog. Als wir an Simon und Philippe vorbeiliefen, kickte er auch noch auf sie ein.

Archie rannte unglaublich schnell, und ich fragte mich, wie er sich seine Geschwindigkeit bewahrt hatte, war er doch jahrelang eingesperrt gewesen. Unter seinem ergrauten, engen Tanktop erkannte ich Muskeln an seinem Rücken. Vielleicht überforderte mich die Lage, in der ich mich befand, lediglich, aber irgendetwas stimmte nicht.

Gemeinsam eilten wir durch das Tor. »Ich kann selbst laufen, Archie.«

»Gern, wenn du wieder in den Kerker willst.«

Das hatte er nicht gesagt … Ich riss mich los. Kurz fiel ich zurück, bis ich mich gefangen hatte und gleichauf mit ihm zog.

Ein knappes Grinsen, mit dem Archie offenbar seine Wertschätzung zeigte, dann konzentrierte er sich wieder auf den Weg. Die Steinwände zogen sich monoton durch. Von der Decke tropfte es, und manchmal erwischte mich das Wasser an meinem Kopf. Außerdem kostete es mich Zeit, nicht über die hervorstehenden oder fehlenden Steine im Boden zu stolpern. Dennoch hetzte ich nie lange hinter Archie her.

Irgendwann erreichten wir eine Wendeltreppe, die er aber nicht benutzte. Wir eilten dahinter.

»Archie, was machst du? Hier ist Ende.« Nervös blickte ich mich um und die Treppe empor.

»Dort oben«, Archie deutete mit dem Zeigefinger hoch, »würde das Chaos erst richtig losgehen.« Wie selbstverständlich strich er mit den Händen über die Steinmauer.

Über uns hörte ich Schritte. Jedes Geräusch ließ mich innerlich zusammenzucken. Ich kannte diese Angespanntheit vor einem eventuellen Angriff. Die Ungewissheit, wer der Gegner war und ob er mir überlegen wäre, machte mir zu schaffen. Das Grauen befand sich auf dünnem Eis, und es konnte jederzeit einbrechen und mich einnehmen.

»Na, Angst?«

»Ich doch …« Wieder ein Tropfen, dieses Mal auf meine Schulter, der mich leise Aufwimmern ließ. »Nicht.«

Archies halb unterdrücktes Grinsen kommentierte ich mit einem Räuspern, ehe ich sagte: »Lach ja nicht. Du stehst in meiner Schuld.«

»Was dich nicht weniger ängstlich macht.«

»Ich schwöre dir, ich …« Archie stieß auf etwas, und die Wand gab nach. Er drückte sie wie eine Schiebetür zur Seite. Im selben Augenblick gingen schwache, flackernde Lichter im Tunnel an. Ähnlich einer Lichterkette, die an der Decke angebracht war.

»Ladys first.« Archie deutete in den Gang.

»Keine Sonderbehandlung, beeil dich lieber.«

»Wer nicht will.« Archie bückte sich und schlüpfte hinein.

Ich folgte ihm.

»Drück auf den Stein, der herausragt.«

Gesagt, getan. Die Wand schloss sich. Die Hitze im Gang legte sich brühend heiß um mich. Keine Stelle an meinem Körper, die nicht schwitzte. Atmen kam mir wie Hochleistungssport vor. Dazu krabbelten auch noch überall kleine Tierchen.

»Geht es noch, Jane?«

»Ja, wie lange noch?«

»Bisschen.«

Mein Rücken begann, wehzutun. Die gebückte Haltung und meine verkrampften Oberschenkel taten meinem Magen auch nicht unbedingt gut. Irgendwann wurde mir alle paar Minuten schwarz vor Augen, bis ich mich wieder fing.

»Jane?«

»Ja?« Die Zunge klebte an meinem Gaumen.

»Danke.«

»Hab dich nur mitgenommen, weil ich ohne dich nicht rauskomme.« Ich wollte neckisch klingen, was mir aber schwerfiel, da mein Mundraum komplett ausgetrocknet war. »Außerdem soll niemand sterben, ohne das Ende von Once Upon a Time zu kennen.«

»Das ist beinah witzig.« Er warf einen Blick über die Schulter. Sein Lächeln war so entwaffnend und vertrieb jegliche Sorgen. Ohne darüber nachzudenken, grinste ich. Archie besaß dieses Talent: jemandem ein Lächeln zu stehlen. Als er wieder nach vorne sah, schlug ich ihm sanft gegen den Rücken. »Hey. Ich bin witzig.«

Archie zuckte zusammen.

»Alles okay?«

»Ja, habe mich nur erschrocken.«

Erst jetzt bemerkte ich die Spitze einer Narbe, die unter seinem Tanktop hervorragte, genau dort, wo das Shirt unter seinem Nacken endete. Was hatten sie Archie angetan? Warum war er hier?

»Ich weiß nicht, wie sich alles verändert hat. Könnte jetzt aber etwas holprig werden.«

»Holprig?«

Archie deutete mir, nach vorne zu schauen.

Oh. Der Geheimgang mündete in einem engen Rohr oder Schacht. Wir konnten also nicht mehr weitergehen und mussten uns von dem Tunnel in dieses Rohr stürzen, um vorwärtszukommen. Klasse.

»Da soll ich hinunter?«

»Angst, Jane?« Wieder umspielte dieses spitzbübische Lächeln seine Lippen, Zähne blitzten hervor.

»Nein, es ist nur, dass ich etwas klaustrophobisch bin. Dieser Gang ist schon winzig, aber dieses Rohr …«

»Du kannst auch zurückgehen. Simon und Philippe freuen sich.« Wie Archie das sagte, unschuldig wie ein Kind, hätte ich beinahe geglaubt, er hatte es ernst gemeint. Doch dann vertiefte sich das Grübchen in seiner Wange.

Wäre das schlimmer als meine Mom, sobald sie mich in die Finger bekam?

»Haha, ich sterbe vor Lachen.«

»Hör zu, Jane. Ich war jahrelang eingesperrt. Wenn du das willst, gerne, aber glaub mir, wenn ich dir sage, dagegen kommt dir dieses Rohr vor wie ein Kindergeburtstag.«

Archie sprach die Wahrheit, natürlich tat er das, aber meine Angst lähmte mich im unpassendsten Moment. Er linste nun nicht mehr hinter sich, sondern drehte sich, so gut das im engen Gang ging, zu mir um.

»Jane, wir …«

Plötzlich ertönte ein Knall, dessen Ursprung weit weg zu sein schien, aber durch den wenigen Platz klingelten mir die Ohren. Ich spähte hinter mich. Es dauerte, dann kam eine Staubwolke auf uns zu.

»Sie haben uns.« Hatte ich das gesagt oder gedacht?