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Migration E-Book

Hein de Haas

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Beschreibung

In seinem faktenbasierten Buch liefert der Migrations-Experte Hein de Haas Wissen statt Meinung zu einem der drängendsten und umstrittensten Themen unserer Gegenwart: Migration. »Das Migrationsaufkommen ist so hoch wie nie zuvor«, »Die Klimakrise wird zu einer Massenmigration führen«, »Wenn der Wohlstand in Herkunftsländern wächst, wird es weniger Migration geben«. Hein de Haas zeigt: All das sind Mythen, die zwar gerne von Politik und Medien verbreitet werden, aber jeglicher Faktengrundlage entbehren. Ausgehend von jahrzehntelanger Forschung bringt er Klarheit in die Gemengelage von Panikmache und naivem Optimismus und räumt mit 22 gängigen Mythen auf. Er zeigt: Migration ist weder ein Problem, das gelöst werden müsste, noch eine Lösung für andere Probleme. Auf Basis unzähliger Daten erklärt Hein de Haas, wie Migration wirklich funktioniert und befähigt uns, fundierte und differenzierte Debatten führen zu können – jenseits von politischen oder ideologischen Interessen.

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Hein de Haas

Migration

22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt

 

Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer

 

Über dieses Buch

 

 

Wissen statt Meinung zu einem der drängendsten und umstrittensten Themen unserer Gegenwart: Migration

 

»Das Migrationsaufkommen ist so hoch wie nie zuvor«, »Die Klimakrise wird zu einer Massenmigration führen«, »Wenn der Wohlstand in Herkunftsländern wächst, wird es weniger Migration geben«. Der Migrationsexperte Hein de Haas zeigt: All das sind Mythen, die zwar gerne von Politik und Medien verbreitet werden, aber jeglicher Faktengrundlage entbehren.

Ausgehend von jahrzehntelanger Forschung bringt er Klarheit in die Gemengelage von Panikmache und naivem Optimismus und räumt mit 22 gängigen Mythen auf. Er zeigt: Migration ist weder ein Problem, das gelöst werden müsste, noch eine Lösung für andere Probleme. Auf Basis unzähliger Daten erklärt Hein de Haas, wie Migration wirklich funktioniert und befähigt uns, fundierte und differenzierte Debatten führen zu können – jenseits von politischen oder ideologischen Interessen.

 

»In einer Zeit, in der das Thema Migration zu erheblichen politischen Spannungen führt, zeigt Hein de Haas mit bemerkenswerter Klarheit, wie wir die großen sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen, bewältigen können.«

Dr. Parag Khanna – Autor von Move: Das Zeitalter der Migration

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Hein de Haas, geboren 1969, forscht seit über drei Jahrzehnten zu Migration und ist einer der bekanntesten Migrationsforscher weltweit. Er ist Professor für Soziologie und Geographie in Amsterdam und Professor für Migration und Entwicklung in Maastricht. Zudem leitet er das International Migration Institute in Oxford. Seine interdisziplinäre Forschung hat ihn unter anderem in die Türkei, nach Ägypten und nach Marokko geführt.

Er beschäftigt sich mit den sozioökonomischen Auswirkungen von Migration auf die Herkunfts- und Zielländer, mit Einwanderungspolitik und mit den Zusammenhängen zwischen globaler Erwärmung, Umweltveränderungen und Migration. Hein de Haas lebt in Amsterdam.

Inhalt

[Widmung]

Vorbemerkung

Einleitung

Teil 1 Mythen der Migration

Mythos 1: Die Migration bricht alle Rekorde

Was wirklich dahintersteckt

Mythos 2: Unsere Grenzen sind nicht mehr sicher

Was wirklich dahintersteckt

Mythos 3: Die Welt steht vor einer Flüchtlingskrise

Was wirklich dahintersteckt

Mythos 4: Unsere Gesellschaft ist vielfältiger denn je

Was wirklich dahintersteckt

Mythos 5: Migration lässt sich mit Entwicklungshilfe eindämmen

Was wirklich dahintersteckt

Mythos 6: Migration ist die verzweifelte Flucht aus dem Elend

Was wirklich dahintersteckt

Mythos 7: Wir brauchen keine ausländischen Arbeitskräfte

Was wirklich dahintersteckt

Teil 2 Zuwanderung: Problem oder Lösung?

Mythos 8: Ausländer nehmen uns die Arbeit weg und drücken die Löhne

Was wirklich dahintersteckt

Mythos 9: Zuwanderung ist eine Gefahr für den Sozialstaat

Was wirklich dahintersteckt

Mythos 10: Die Integration ist gescheitert

Was wirklich dahintersteckt

Mythos 11: Massenmigration schafft Parallelgesellschaften

Was wirklich dahintersteckt

Mythos 12: Zuwanderung bringt mehr Verbrechen

Was wirklich dahintersteckt

Mythos 13: Migration führt zu Talentschwund

Was wirklich dahintersteckt

Mythos 14: Zuwanderung ist das Allheilmittel für die Wirtschaft

Was wirklich dahintersteckt

Mythos 15: Zuwanderung ist die Lösung für die alternde Gesellschaft

Was wirklich dahintersteckt

Teil 3 Migrationspropaganda

Mythos 16: Die Grenzen werden dichtgemacht

Was wirklich dahintersteckt

Mythos 17: Linke sind für, Rechte gegen Migration

Was wirklich dahintersteckt

Mythos 18: Die Öffentlichkeit hat genug von der Zuwanderung

Was wirklich dahintersteckt

Mythos 19: Menschenschmuggel ist der Grund für illegale Migration

Was wirklich dahintersteckt

Mythos 20: Menschenhandel ist eine moderne Form der Sklaverei

Was wirklich dahintersteckt

Mythos 21: Zuwanderung lässt sich durch Beschränkungen verringern

Was wirklich dahintersteckt

Mythos 22: Der Klimawandel entfesselt eine Völkerwanderung

Was wirklich dahintersteckt

Ein Blick in die Zukunft

Dank

Register

Die Abbildungen des Buches

Für meine liebenden Eltern

 

Stef de Haas

Annie de Jonge

Vorbemerkung

In der Diskussion um Migration sorgen unklare Begrifflichkeiten immer wieder für Verwirrung. Daher möchte ich vorab einige der wichtigsten in diesem Buch verwendeten Konzepte klären.

Schon der Begriff »Migration« verlangt eine Definition. Ein Ortswechsel gilt nur dann als Migration, wenn er mit einer Veränderung des gewöhnlichen Aufenthalts über eine Verwaltungsgrenze hinweg verbunden ist. Hier unterscheidet man zwischen Binnenmigration zwischen Städten, Bezirken oder Bundesstaaten eines Landes und der internationalen Migration zwischen Staaten. Man spricht erst dann von Migration, wenn jemand seinen Wohnsitz für eine bestimmte Mindestdauer in ein anderes Land verlegt (normalerweise sechs bis zwölf Monate, je nach nationaler Zählung), und zwar unabhängig vom Motiv des Ortswechsels. Demnach sind alle Menschen Migranten, die in einem anderen als ihrem Geburtsort oder -land leben. Als internationale Migranten bezeichne ich nur Menschen, die nicht in dem Land geboren wurden, in dem sie jetzt leben. In den Diskussionen zu diesem Thema werden oft auch ihre Kinder und Enkel zu den Migranten gezählt. Um Unklarheiten zu vermeiden, bezeichne ich diese ausdrücklich als Migranten der zweiten und dritten Generation, während Migranten nur diejenigen sind, die den Ortswechsel selbst vorgenommen haben.

Bei den Migranten unterscheidet man Arbeitsmigrantinnen, Familiennachzügler, Studentinnen und Unternehmer sowie Geflüchtete, die unfreiwilligen Migranten. Bei Arbeitsmigranten unterscheide ich zwischen »hochqualifizierten« und »geringqualifizierten«, doch das ist nicht unproblematisch, weil zum einen der Eindruck entstehen könnte, dass einige Migranten intelligenter sind als andere, und weil zum anderen in der Praxis immer mehr Tätigkeiten »mittlere« Qualifikationen verlangen. Auch wenn die Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten sinnvoller sein könnte, halte ich in diesem Buch an der verbreiteten Unterscheidung zwischen »hoch-« und »geringqualifiziert« fest, wobei ich klarmachen möchte, dass sich diese Adjektive auf die Tätigkeiten der Migranten beziehen, nicht auf ihre Intelligenz, ihre Kenntnisse und Fähigkeiten. Tatsächlich übernehmen viele Migranten Beschäftigungen, für die sie überqualifiziert sind.

Die Gruppe der unfreiwilligen Migranten besteht aus Menschen, die ihr Herkunftsland verlassen, weil sie dort Gewalt und Verfolgung befürchten müssen. Auch wenn sie pauschal als »Flüchtlinge« bezeichnet werden, gibt es eine wichtige juristische Unterscheidung zwischen »Asylsuchenden« und »Flüchtlingen«. Erstere haben die Anerkennung als Flüchtling beantragt und warten auf eine Entscheidung. Das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge aus dem Jahr 1951, besser bekannt als die Genfer Konvention, definiert einen Flüchtling als eine Person, die »aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will«. Menschen, die ihre Heimat verlassen, aber innerhalb der Grenzen ihres Landes bleiben, bezeichnet man als »intern Vertriebene« oder »Binnenflüchtlinge«.

Zwei weitere Begriffe, die immer wieder für Verwirrung sorgen, sind »Menschenschmuggel« und »Menschenhandel«. Obwohl sie in den Medien und Debatten oft synonym verwendet werden, handelt es sich um zwei ganz unterschiedliche Dinge. Menschenschmuggel ist eine Dienstleistung, die Migranten in Anspruch nehmen, um ohne gültige Einreisedokumente in ein Land zu gelangen; diese Dienstleistung kann bezahlt oder unbezahlt sein, es kann sich um eine geschäftliche Transaktion oder eine Form des humanitären Aktivismus handeln. Entgegen landläufiger Vorstellungen ist der Menschenschmuggel etwas, das Migranten (und Flüchtende) aus freien Stücken in Anspruch nehmen und wofür sie zu zahlen bereit sind, um in ein Land zu gelangen, ohne dabei festgenommen zu werden. Menschenhandel hat dagegen nichts mit Entführung oder Schmuggel zu tun, sondern bezeichnet die Ausbeutung schutzloser Arbeitskräfte durch Täuschung und Zwang. Menschenhandel muss nicht mit Migration einhergehen, und wenn Arbeitsmigranten von schweren Formen der Ausbeutung betroffen sind, dann handelt es sich dabei oft um legal Beschäftigte.

Illegale Migration – die nicht autorisierte Einreise in ein Land – ist ein weiteres umstrittenes Thema und ein Begriff, der für Verwirrung sorgt. Rechtlich gesehen handelt es sich beim spontanen Eintreffen von Asylsuchenden an einer internationalen Grenze nicht um illegale Migration, da Menschen nach der Genfer Flüchtlingskonvention das Recht haben, eine internationale Grenze zu überqueren, um Schutz vor Gewalt und Verfolgung zu suchen. In diesem Buch wird die Ankunft von Asylsuchenden und illegalen Migranten daher als »unerbetene Einreise« bezeichnet. Auch die Unterscheidung zwischen illegaler Einreise und illegalem Aufenthalt ist wichtig. Tatsächlich handelt es sich bei den meisten ohne gültige Dokumente in einem Land lebenden Menschen um Migranten, die auf legalem Weg eingereist und nach Ablauf ihrer Aufenthaltserlaubnis im Land geblieben sind.

In der Wissenschaft, den Medien und der Politik wird darüber gestritten, ob es angemessen ist, von »illegaler Zuwanderung« und »illegalen Migranten« zu sprechen. Die eine Seite vertritt den Standpunkt, dass zwar Handlungen illegal sein können, nicht aber Menschen – »kein Mensch ist illegal« –, weshalb dieses Adjektiv nicht auf Menschen anwendbar ist. Aufgrund dieser Kritik sind andere Umschreibungen aufgekommen, zum Beispiel »irregulär«, »undokumentiert« oder »nicht autorisiert«. Diese Begriffe mögen ihre Berechtigung haben, doch sie stiften oft nur neue Verwirrung, etwa wenn »undokumentierte« Migranten zwar keine Aufenthaltsgenehmigung haben, wohl aber eine Reihe von anderen Dokumenten wie Führerscheine, standesamtliche Urkunden, Sozialversicherungsausweise und Steuernummern. Das Gegenargument ist, dass der rechtliche Status von Migranten sehr wohl Auswirkungen auf ihr Leben und ihre Entscheidung sowie auf das Verhalten von Behörden hat. Und da Migranten diese Bezeichnung selbst verwenden, würde ich argumentieren, dass man sie nicht um jeden Preis vermeiden, wohl aber mit mehr Bedacht verwenden sollte. In diesem Buch vermeide ich daher das Adjektiv »illegal« als Beschreibung für Einzelpersonen und ziehe Formulierungen wie »illegale Zuwanderung« und »illegale Migranten« im Plural vor.

Eine letzte Anmerkung zu den Statistiken in diesem Buch: Wenn nicht anders erwähnt, stammen die Zahlen zur globalen Migrantenpopulation aus der Datenbank Trends in International Migration Stock: The 2017 Revision der Sparte Bevölkerungsfragen im Ressort Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten der Vereinten Nationen. Trotz aller Schwächen – zum Beispiel werden fehlende Daten durch Interpolation und andere statistische Verfahren ergänzt – ist es die beste internationale Vergleichsstatistik und vermittelt einen guten Einblick in die Muster und Trends der globalen Migration. Wenn ich in diesem Buch keine aktuellere Version der Datenbank verwende, dann deshalb, weil viele der aktuellen Schätzungen auf Hochrechnungen und nicht auf realen Daten basieren. Detaillierte und länderspezifische Analysen von aktuelleren Migrantenströmen stammen aus der Datenbank, die wir für das Projekt Determinants of International Migration (DEMIG) des International Migration Institute (IMI) an der University of Oxford erstellt haben.[1] Daten zur Bevölkerung, Wirtschaft oder Bildung einzelner Länder stammen, wenn nicht ausdrücklich anders erwähnt, aus der Datenbank World Development Indicators (WDI) der Weltbank.

Einleitung

Der Eindruck drängt sich auf, dass wir in einer Zeit der beispiellosen Massenmigration leben. Bilder von »Karawanen« aus Zentralamerika, die Richtung Südgrenze der USA strömen, von Afrikanern, die zusammengepfercht in morschen Booten das Mittelmeer überqueren, und von illegalen Migranten, die über den Ärmelkanal nach Großbritannien kommen – sie alle scheinen die Befürchtung zu bestätigen, dass die Migration außer Kontrolle geraten ist. Unter dem Eindruck einer toxischen Mischung aus Armut, Ungleichheit, Gewalt, Unterdrückung, Klimawandel und galoppierendem Bevölkerungswachstum machen sich immer mehr Menschen aus Afrika, Asien und Lateinamerika auf den immer aussichtsloseren Weg in den »reichen Westen«.

Man erzählt uns, Menschenschmuggler nutzten mit falschen Versprechungen von gut bezahlter Arbeit und einem Leben in Wohlstand die Schutzlosigkeit der Migranten aus und verführten sie zu immer gefährlicheren Reisen, doch selbst wenn sie lebend ankommen, dann warte nur unmenschliche Ausbeutung auf sie. Zu der Angst, dass die Migration außer Kontrolle geraten sein könnte, gesellen sich Zweifel an der Bereitschaft und Fähigkeit der Zuwanderer, sich in die Gesellschaft und Kultur des Ziellandes zu integrieren. Bilder von Migranten, die in einer Art »Parallelgesellschaft« in von Armut und Kriminalität zerrissenen Stadtteilen leben, bestätigen die Befürchtung, dass die Integration dieser Menschen gescheitert ist. Das alles fügt sich zu einem Bild der »Zuwanderungskrise«, die drastische Maßnahmen verlangt, zum Beispiel in Form von verschärften Grenzkontrollen, Integrationsprogrammen für Flüchtlinge und Entwicklungshilfe für arme Länder.

Das sehen allerdings nicht alle so. Auf der anderen Seite der zunehmend polarisierten Debatte erklären uns Politiker, Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Aktivisten, dass die Zuwanderung nicht etwa ein Problem ist, sondern die Lösung für die immer dringlicheren Probleme des Arbeitskräftemangels und der alternden Gesellschaft. Ihrer Ansicht nach brauchen wir Zuwanderer, um das Wachstum und die Innovation anzukurbeln und unsere Gesellschaften zu verjüngen. Die Vielfalt, die uns die Zuwanderung bringt, ist demnach keine Bedrohung, sondern ein Segen, denn sie fördert die Innovation und kulturelle Erneuerung. Auch in den Herkunftsländern wirke sich die Migration wachstumsfördernd aus, denn die Zuwanderer überwiesen große Summen nach Hause und regten in ihrer Heimat den Handel und das Unternehmertum an. Wir benötigten Hilfsarbeiter genauso wie Fachkräfte und sollten daher unsere Grenzen öffnen, um dem zunehmenden Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken.

Wie ich in diesem Buch zeigen werde, stehen hinter diesen Bildern einseitige, holzschnittartige und oftmals falsche Vorstellungen von Migration, die mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun haben. Um die Grabenkämpfe und das simple Pro und Kontra dieser Debatte hinter uns zu lassen, präsentiere ich die Fakten der Migration und bürste die herkömmlichen, an Schulen und Universitäten gelehrten und von den Medien, Experten, Menschenrechtsorganisationen, Thinktanks, Filmen, Zeitschriften und Büchern verbreiteten Darstellungen der Migration gegen den Strich. Wir brauchen ein radikal neues Verständnis der Migration, das nicht auf politischen Interessen oder ideologischen Vorstellungen beruht, sondern die Migration als das begreift, was sie ist.

In diesem Buch vermeide ich ideologische Standpunkte und beschreibe Migration weder als Problem, das es zu lösen gilt, noch als Lösung für unsere Probleme. Stattdessen versuche ich, der Natur und den Ursachen der Migration aus wissenschaftlicher Sicht auf den Grund zu gehen. Dies ist eine ganzheitliche Sichtweise, die versucht, Migration als wesentlichen Aspekt der umfassenderen wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Umwälzungen der Gegenwart zu verstehen, die einigen Menschen mehr nutzen als anderen und wiederum anderen auch Nachteile bringen können, die wir uns aber nicht einfach wegdenken oder wegwünschen können.

Gleichzeitig versuche ich, einige der zentralen Fragen zur Migration zu beantworten. Warum ist es der Politik beispielsweise trotz massiver Ausgaben für den Grenzschutz nicht gelungen, die Zuwanderung zu unterbinden? Warum gibt es nach wie vor illegale Zuwanderung, obwohl Politiker versprechen, das Geschäftsmodell der Schlepper und Schleuser zerschlagen zu wollen? Warum ist es der Politik nicht gelungen, die Ausbeutung der Zuwanderer zu unterbinden, trotz aller Beteuerungen, gegen diesen Missbrauch vorgehen zu wollen? Warum kommen Politiker mit den immer gleichen falschen Versprechungen und Lügen zur Migration durch? Und vor allem: Wie könnte eine bessere Migrationspolitik aussehen?

***

Ich habe dieses Buch aus einem Gefühl der Dringlichkeit heraus geschrieben. Die Forschungsliteratur zur Migration füllt Regale, doch kaum etwas davon ist in die öffentliche Debatte, die Vorschläge von Politikern oder die Arbeit von internationalen Organisationen durchgedrungen – ein Grund, warum politische Maßnahmen so oft wirkungslos bleiben oder gar nach hinten losgehen. Meine jahrelange Forschungstätigkeit, meine wissenschaftlichen Beiträge, meine öffentlichen Vorträge, meine Arbeit mit Regierungen und NGOs und die zahlreichen Fernseh- und Rundfunkdebatten, an denen ich teilgenommen habe, haben mir gezeigt, dass »speaking truth to power« nicht ausreicht, um den Ton in der Migrationsdebatte zu entschärfen und das Niveau anzuheben.

Mit anderen Worten ist es nicht genug, einfach nur die Fakten auf den Tisch zu legen. Politiker ignorieren sie, wenn sie ihnen nicht in den Kram passen. Wie oft ist es mir passiert, dass Politiker im Anschluss an einen Vortrag auf mich zukommen, mir zu meinem »großartigen Vortrag« gratulieren und im selben Atemzug hinzufügen: »Das könnten wir natürlich niemals umsetzen, das wäre ja politischer Selbstmord.« Daher wende ich mich mit diesem Buch direkt an Sie, die Bürgerinnen und Bürger, um Ihnen das Wissen an die Hand zu geben, das Sie brauchen, um die Behauptungen von Politikern, Meinungsmachern und Expertinnen kritisch zu hinterfragen und die Desinformation und Propaganda rund um dieses Thema zu durchschauen.

Dieses Buch basiert auf drei Jahrzehnten meiner Forschung und der Arbeit von Forschungsteams, die ich an der University of Oxford und der Universiteit van Amsterdam leitete. Außerdem stützt es sich auf Erkenntnisse aus dem boomenden Gebiet der Migrationsforschung und auf Arbeiten aus der Anthropologie, Soziologie, Geographie, Demographie und Wirtschaftswissenschaft, aber auch aus der Geschichtsforschung, den Rechtswissenschaften und der Psychologie.

***

Nach zehn Jahren der Forschung und Lehre an der University of Oxford ging ich im Jahr 2015 zurück in die Niederlande, weil ich einen Ruf als Professor für Soziologie an die Universität von Amsterdam erhalten hatte. Die syrische Flüchtlingskrise erreichte damals ihren Höhepunkt. Innerhalb eines Jahres kamen rund eine Million Syrer nach Europa, und es wurden hitzige Debatten geführt. Zu einer dieser Diskussionen wurde ich als Migrationsexperte eingeladen, zusammen mit Politikern und Aktivisten, darunter auch der Vertreter einer Aktionsgruppe, die den Widerstand gegen die Errichtung von lokalen Asylbewerberzentren organisierte. Die Diskussion eskalierte rasch zu einem Schlagabtausch mit persönlichen Angriffen, und keiner wollte den anderen zuhören.

Der Moderator freute sich, dass es hoch herging, doch ich war frustriert, denn in dieser aufgeladenen Atmosphäre war eine differenzierte Diskussion unmöglich. Die Runde unterschied sich nicht von vielen anderen, an denen ich bereits teilgenommen hatte, doch ich hatte nie richtig verstanden, was mit diesen »Migrationsdebatten« nicht stimmte und warum sie einen derart frustrierenden Verlauf nahmen. Die Eingebung kam mir, als der Moderator ins Publikum fragte: »Wer von Ihnen ist mit Professor De Haas für Zuwanderung, und wer ist dagegen?«

In diesem Moment fiel der Groschen, und ich begriff, woran die gesamte Migrationsdebatte krankt: Sie wird als einfache Pro-und-Kontra-Diskussion geführt. Der Moderator reagierte ungehalten, als ich ihn unterbrach und dieses Schwarz-Weiß-Denken hinterfragte, doch mir war es eine wichtige Lektion: Unsere Pro-und-Kontra-Debatten lassen keine echte Auseinandersetzung mit dem Thema zu und bieten keinen Raum für Zwischentöne und Differenzierungen. Danach war mir klar, dass wir als Wissenschaftler nicht nur mit »Fakten« über Migration aufklären, sondern den gesamten Umgang mit dem Thema verändern müssen. Die Fakten sprechen nicht für sich selbst, sie ergeben nur Sinn im Zusammenhang einer umfassenden Geschichte über Migration und darüber, was sie für die Menschen bedeutet.

Das Phänomen der Migration ist zu vielschichtig für einfaches Schwarz-Weiß-Denken. In solchen Erzählungen werden Migranten zu Karikaturen (je nach Standpunkt zu Opfern, Helden oder Schurken), die nichts mit der komplexen Wirklichkeit gemein haben und die sie oftmals ihrer Menschlichkeit berauben. Mehr noch, wenn wir die Migration nur als Pro-und-Kontra-Debatte angehen, dann übersehen wir einen wesentlichen Aspekt des menschlichen Daseins und unserer Geschichte. Migration hat es schon immer gegeben, sie ist so alt wie die Menschheit. Wir waren immer schon unterwegs. Aber mit unserem Kästchendenken sind wir nicht in der Lage, die Migration als ganz normalen Prozess zu verstehen und ihrer Natur, ihren Ursachen und ihren Folgen auf den Grund zu gehen.

Einige Vergleiche sollen veranschaulichen, wie naiv das ist. Pauschal für oder gegen Migration zu sein ist so, als wären wir zum Beispiel pauschal für oder gegen die Wirtschaft. Kein Mensch käme ernsthaft auf den Gedanken, Wirtschaftswissenschaftler zu fragen, ob sie für oder gegen die Wirtschaft oder den Markt sind. Oder Geographen, ob sie für oder gegen die Verstädterung sind. Oder Agrarwissenschaftler, ob sie für oder gegen die Landwirtschaft sind. Oder Biologen, ob sie für oder gegen die Umwelt sind. Aber Migrationsdebatten werden in der Regel genau so geführt, vor allem in den Medien und in der Politik.

Wie wir noch sehen werden, ist dieses Schwarz-Weiß-Denken verantwortlich für eine katastrophale Politik. Wenn die Migrationspolitik so oft versagt oder kontraproduktiv ist, dann vor allem deshalb, weil sie von falschen Annahmen oder Mythen über die Migration, ihre Ursachen und ihre Wirkung ausgeht. Um den Vergleich mit der Wirtschaft noch einmal zu bemühen: Bei der Diskussion um die Regulierung von Märkten geht es selten darum, diese ganz abzuschaffen (wir wissen, wie solche Experimente ausgehen) oder ihre Existenz zu leugnen. Stattdessen sehen wir uns an, wie wir sie kontrollieren können. Genauso sollten wir auch mit der Migration umgehen. Es fällt jedoch auf, dass die technische, nicht ideologische Diskussion über Migration – welche Politik funktioniert, welche nicht, welche erweist sich als Bumerang? – weitgehend unbeachtet bleibt, obwohl an Forschungsliteratur zu diesem Thema kein Mangel herrscht.

So kommt es, dass unsere aktuelle Migrationsdebatte gar keine Debatte ist, sondern überwiegend Meinungsmache und Wunschdenken. Sie beschäftigt sich vor allem damit, was Migration sein sollte, und nicht damit, was sie ist, wie also die aktuellen Entwicklungen, Muster, Ursachen und Wirkungen tatsächlich aussehen, welche Politik dieser Wirklichkeit am ehesten gerecht wird und mit welchen Maßnahmen sich die erwünschten Resultate erzielen und die Fehler der Vergangenheit vermeiden lassen. Doch in den ideologischen Grabenkämpfen zwischen Gegnern und Befürwortern der Migration ist für Fakten kaum Platz. Stattdessen überzeichnen Migrationsgegner die Nachteile der Migration und Wirtschaftsverbände und Liberale ihre Vorteile. Beide Seiten picken sich nur diejenigen Tatsachen und Argumente heraus, die ihre Sicht der Dinge bestätigen, und wischen alles beiseite, was ihnen nicht in den Kram passt.

In Wirklichkeit stehen die meisten Menschen der Migration mit gemischten Gefühlen gegenüber. Wie wir in diesem Buch immer wieder sehen werden, besteht ein großer Unterschied zwischen ihren Ansichten zur Zuwanderung ganz allgemein und ihrem persönlichen Umgang mit den Migranten, denen sie im Alltag begegnen. Es kann durchaus passieren, dass jemand gegen Zuwanderung und für schärfere Grenzkontrollen ist und es gleichzeitig als menschliche Pflicht ansieht, Geflüchteten und Migranten in seiner unmittelbaren Umgebung zu helfen. Auch wenn die Migration auf der Ebene eines ganzen Landes keineswegs die Ausmaße annimmt, die wir oft befürchten, kann sie regional, in Ortschaften, Städten und Stadtteilen, erhebliche und manchmal auch verheerende Veränderungen bewirken. Doch in der zunehmend polarisierten Migrationsdebatte kommen solche Zwischentöne nicht vor. Die Differenziertheit geht verloren, doch genau die brauchen wir, um die toxischen Debatten um Migration und verwandte Themen wie Vielfalt, Identität und Rassismus zu entschärfen.

***

Seit Ende des Kalten Kriegs haben westliche Politiker der Migration den Krieg erklärt. In Europa begann dies mit einer Panikmache vor der Ankunft von Geflüchteten aus Konfliktgebieten wie dem ehemaligen Jugoslawien, dem Nahen Osten und dem Horn von Afrika. In den Nullerjahren folgte eine Reaktion gegen den Multikulturalismus und die Sorge um die vermeintlich mangelnde Integration muslimischer Zuwanderer. Seit 2015 heizte die Ankunft einer großen Zahl syrischer Geflüchteter und die Sorge um die Migration über das Mittelmeer die Diskussion weiter an. In Großbritannien wetterte Tony Blair gegen die »Scheinasylanten«, und andere Politiker gelobten, hart gegen illegale Migranten vorzugehen; der scheinbar unaufhaltsame Zustrom osteuropäischer Arbeitnehmer war ein wichtiger Faktor in der Brexit-Abstimmung des Jahres 2016.

In den Vereinigten Staaten öffnete Ronald Reagan 1986 mit seinem Einwanderungsgesetz IRCA (Immigration Reform and Control Act) zwar rund 2,7 Millionen illegalen Zuwanderern den Weg in den legalen Aufenthalt, doch gleichzeitig verschärften er und seine Nachfolger George Bush senior und Bill Clinton die Grenzpolitik, um die illegale Zuwanderung aus Mexiko und Zentralamerika zu unterbinden. Mit den Terroranschlägen des 11. September 2001 verschärfte sich diese Entwicklung, und immer mehr Politiker sahen in der Zuwanderung eine Bedrohung für die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten. Die Regierungen von George W. Bush und Barack Obama gaben viele Milliarden für die Militarisierung des Grenzschutzes und die Abschiebung von illegalen Migranten aus. Vorläufiger Höhepunkt war Donald Trump, der die Präsidentschaftswahl 2016 unter anderem aufgrund seiner fremdenfeindlichen Politik gewann. Seit der Amtszeit von George W. Bush besteht kaum Hoffnung auf eine umfassende Zuwanderungsreform, und die Einwanderungspolitik ist zum großen Zankapfel von rechts und links geworden.

Westliche Staaten investieren gewaltige Summen, um den Zustrom von ausländischen Arbeitnehmern und ihren Familien zu unterbinden, von Mexiko und Zentralamerika in die Vereinigten Staaten, von Südasien und Osteuropa nach Großbritannien und von der Türkei und Nordafrika nach Westeuropa. Seit Jahrzehnten versprechen Politiker aller Parteien, »unser kaputtes Zuwanderungswesen zu reparieren«, »die Zuwanderung in den Griff zu bekommen« und »Schlepper und Schleuser mit der ganzen Härte des Gesetzes zu bestrafen«. Andere schlagen vor, den Zustrom aus armen Ländern über die Entwicklungshilfe zu drosseln. Doch es bleibt bei Versprechungen. Einige Maßnahmen haben sich sogar als Bumerang erwiesen, denn sie bringen mehr Migranten, fördern die illegale Einwanderung und setzen die Ausbeutung der zugewanderten Arbeitnehmer fort.

So zwangen zum Beispiel die Vereinigten Staaten mit ihren massiven Ausgaben für den Grenzschutz seit Ende der 1980er Jahre rund 11 Millionen mexikanische Arbeiternehmer und ihre Familien, die bis dahin zwischen Mexiko und den südlichen US-Bundesstaaten hin- und hergezogen waren, im Land zu bleiben. Und trotz der gewaltigen Ausgaben für Grenzbefestigungen und Abschiebungen zog der Arbeitskräftemangel immer neue Arbeitskräfte aus Lateinamerika und anderen Ländern an. Weil diese in den Untergrund gezwungen wurden, stieg die Zahl der Einwohner ohne gültigen Aufenthaltstitel von 3,5 auf 11 Millionen.

Auch in Europa entschieden sich viele türkische und nordafrikanische »Gastarbeiter« aufgrund der Verschärfung von Zuzugsbestimmungen in den 1980er und 1990er Jahren, sich dauerhaft niederzulassen und ihre Familien nachzuholen. Gleichzeitig konnten drei Jahrzehnte der massiven Ausgaben für die Kontrolle der Mittelmeerküsten nichts gegen die legale und illegale Zuwanderung aus Nord- und Westafrika nach Südeuropa ausrichten. Auch in Großbritannien konnten frühere Versuche, die Zuwanderung aus Commonwealth-Staaten zu unterbinden, das rasche Wachstum der karibischen und südasiatischen Populationen nicht verhindern. Selbst der Brexit scheint die polnischen, rumänischen und bulgarischen Arbeitnehmer nicht zur Rückkehr in ihre Heimat bewogen, sondern in ihrer Entschlossenheit bestärkt zu haben, dauerhaft im Land zu bleiben; seit dem Brexit hat die Zuwanderung sogar neue Höchstwerte erreicht.

In den Vereinigten Staaten und in Europa sind Politiker an einer Reparatur des »kaputten Zuwanderungswesens« und der Begrenzung der Migration gescheitert; auch die jahrzehntelangen Versuche, den Zustrom von Asylbewerbern und Flüchtlingen zu verringern, blieben erfolglos. Gleichzeitig haben es Politiker versäumt, das Problem der Integration von marginalisierten Zuwanderern und Minderheiten anzupacken, die Gegenstand von Ausbeutung und Diskriminierung werden. Auch die Versuche, gegen Schleuser und Menschenschmuggler vorzugehen, haben kaum Erfolge gezeitigt, und die illegale Migration verursacht nach wie vor großes menschliches Leid und fordert zahlreiche Todesopfer. Flüchtende lassen sich von Zuwanderungsbeschränkungen und Abschiebungen nicht davon abhalten, im Ausland Schutz zu suchen, während Asylsuchende angesichts des Antragsstaus und des Versagens der Behörden jahrelang in einer Ungewissheit leben, die ihr Trauma verstärkt, die Trennung von ihren Familien vertieft und sie daran hindert, sich durch Studium und Arbeit ein neues Leben aufzubauen. Und weil sich die Regierungen als unfähig erweisen, mit der Situation der marginalisierten und oft illegalen Arbeitsmigranten umzugehen, droht eine neue Unterschicht zu entstehen.

***

Wie wir in diesem Buch sehen werden, haben Politiker nicht nur ihre gebetsmühlenartig wiederholten Versprechungen nicht eingehalten, sondern sie haben mit ihren Entscheidungen die Lage in vieler Hinsicht verschlimmert. Ihre Zuwanderungs- und Integrationspolitik hat nicht nur oft ihr Ziel verfehlt, sondern sich als kontraproduktiv erwiesen, weil sie die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Migration außer Acht lässt. Mit anderen Worten ist die Politik Teil des Problems. Eine der zentralen Thesen dieses Buchs ist daher, dass die Politik scheitern musste, weil sie die Probleme mitverschuldet, die sie zu lösen vorgibt.

Warum klammern wir uns dann an eine Politik, die in der Vergangenheit so grandios gescheitert ist? Die Antwort auf diese Frage, die mir zahlreiche meiner Studenten immer wieder stellen, ist nicht einfach. Zum einen ignoriert die Politik die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Entwicklungen, Ursachen und Auswirkungen der Migration. Grund dafür ist nicht etwa ein Mangel an Information, sondern die bewusste Weigerung, die Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen. Politiker (egal welcher Couleur), Interessengruppen und internationale Organisationen halten an einer Reihe von Mythen fest, um die Wahrheit über die Migration gezielt zu verzerren. Propagandakampagnen dieser Art sollen Falschinformationen verbreiten und unbegründete Angst schüren; die Wahrheit würde zeigen, dass Politiker das Problem nicht nur nicht anpacken, sondern dass sie es sogar mitverschulden und verschärfen. Politiker haben sich rettungslos in ihre eigenen Lügen verstrickt.

Das gilt allerdings nicht nur für Populisten, die mit Panikmache und Fremdenfeindlichkeit die nächste Wahl gewinnen wollen. Es gilt auch für Interessengruppen wie Gewerkschaften oder Unternehmerverbände, die die Nach- beziehungsweise Vorteile der Migration überzeichnen. Es gilt für Organisationen wie die Internationale Organisation für Migration (IOM) und das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR), die Migranten- und Flüchtlingszahlen aufblähen und falsch darstellen, offenbar in der Hoffnung auf Aufmerksamkeit und Gelder. Oder für Politiker, die Migranten und »Scheinasylanten« als Arbeitsplatzvernichter und Sozialschmarotzer hinstellen, um von den wahren Ursachen der schwindenden Arbeitsplatzsicherheit, der wachsenden finanziellen Unsicherheit und der Verteuerung von Bildung, Wohnen und Gesundheit abzulenken. Oder für Vertreter der Unternehmerlobby, die Migranten als Helden hinstellen, mit denen ein Land seine Wettbewerbsfähigkeit im globalen Wettlauf um Talente sichern kann. Oder für humanitäre Organisationen, die Migranten und Geflüchteten die Fähigkeit absprechen, eigenständig zu denken und in ihrem eigenen besten Interesse zu handeln, indem sie sie pauschal als Opfer darstellen, die aus den Fängen der Schlepper und Schleuser gerettet werden müssen. Oder für Klimaaktivisten, die das Thema Migration vor ihren Karren spannen und Mythen über die Wellen von Klimaflüchtlingen verbreiten, um damit ihrer (durchaus gerechtfertigten) Forderung nach einer drastischen Reduzierung von Treibhausemissionen mehr Nachdruck zu verleihen.

Und schließlich geht es auch um die generelle Verzerrung der Debatten und der Forschung, die den Blick vor allem auf die Auswirkungen der Migration in den westlichen »Zielländern« richtet. Diese Verzerrung führt zu einer einseitigen Ausrichtung von Debatten und Forschung bei Themen wie Integration, Assimilation, Herkunft und Identität. So wichtig diese Themen sind, sie gehen Hand in Hand mit einem erstaunlichen Desinteresse an den Ursachen und Folgen der Migration in den Herkunftsländern.

Diese Verzerrungen sind zweifelsohne problematisch. Wie sollen wir denn ein realistisches Bild von der Migration bekommen, wenn wir die Hälfte des Bildes ausblenden? Wenn wir »die andere Seite« vernachlässigen, können wir die Migration und ihre Ursachen nie richtig verstehen. Das erklärt auch, warum Politiker, Interessengruppen, internationale Organisationen, Medien, Schulbücher, Expertinnen und Meinungsmacher unbeirrt und unwidersprochen pseudowissenschaftliche Behauptungen über die Migration in die Welt setzen können.

***

Dieses Buch besteht aus drei Teilen. Der erste geht aktuellen globalen Migrationsmustern nach. Er zeigt jüngere Veränderungen der Dimension und Richtung der Migration auf und benennt die Ursachen dafür. Außerdem räumt er mit gängigen Mythen über die Ursachen der Migration auf und zeigt, was wirklich für die jüngsten Veränderungen der weltweiten Migrationsmuster verantwortlich ist.

Der zweite Teil geht den Auswirkungen der Migration in den Ziel- und Herkunftsländern nach. Er analysiert, warum sich die meisten Migrantengruppen gut integrieren, während einige an den Rand gedrängt und ausgegrenzt werden. Außerdem untersucht er die unterschiedlichen Behauptungen und Gegenbehauptungen über die negativen und positiven Auswirkungen der Migration und entwirft ein ausgewogeneres Bild.

Der dritte und letzte Teil zeigt auf, inwieweit die Positionen von Politikern, Interessengruppen und internationalen Organisationen Teil einer gezielten Verzerrung der Wahrheit über Migration sind. Dazu gehört der Unterschied zwischen den Parolen vieler Politiker und ihrer deutlich nachsichtigeren Politik sowie die scheinbar naheliegende, aber falsche Vorstellung, dass Zuwanderungsbeschränkungen tatsächlich dazu führen, dass weniger Menschen ins Land kommen. Außerdem widerlege ich die beliebten, aber wissenschaftlich unhaltbaren Mythen, dass sich die Öffentlichkeit gegen die Zuwanderung wendet, dass Menschenschmuggel die Hauptursache der illegalen Migration und eine moderne Form der Sklaverei ist und dass der Klimawandel zu einer Massenmigration führen wird.

Jedes der 22 Kapitel dieses Buchs greift einen hartnäckigen Mythos zur Migration auf. Zu Beginn jedes Kapitels skizziere ich den jeweiligen Mythos, seine Herkunft und seine Verwendung durch Politiker, Interessengruppen und internationale Organisationen. Danach zeige ich, was wirklich dahintersteckt. Ich zerlege den Mythos mithilfe von Daten und Erkenntnissen aus der Geschichte, Anthropologie, Soziologie, Geographie, Demographie und Wirtschaft. Ziel jedes der Kapitel und des Buchs als Ganzem ist es, die tatsächlichen Entwicklungen, Ursachen und Auswirkungen der Migration als Teil umfassender gesellschaftlicher, kultureller und wirtschaftlicher Veränderungen in den Herkunfts- und Zielländern zu beschreiben und wissenschaftlich zu belegen.

Diesem Buch geht es also nicht nur darum, mit Mythen aufzuräumen, sondern mithilfe aktueller Forschungserkenntnisse Kapitel für Kapitel ein neues, ganzheitliches Verständnis von Migration als wesentlichem Bestandteil eines umfassenderen Wandels auf nationaler und globaler Ebene zu entwickeln. Die Kapitel sind so geschrieben, dass sie unabhängig voneinander gelesen werden können (das ist besonders für Leser mit speziellen Interessen sinnvoll), doch sie fügen sich zu einer umfassenden neuen Erzählung. In ihrer Reihenfolge entwickeln die Kapitel eine allgemeine Argumentation und führen die Leser zu vertieften, grundlegenden Erkenntnissen. Auch wenn ich Fachjargon vermeide, werde ich die einzelnen Themen mit der Komplexität und Differenziertheit darstellen, die nötig sind, um ein vertieftes Verständnis des Migrationsprozesses zu vermitteln.

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Ich habe dieses Buch geschrieben, um meinen Lesern zu zeigen, wie Migration wirklich funktioniert, basierend auf den besten verfügbaren Daten und wissenschaftlichen Erkenntnissen. Es soll eine echte Debatte über Migration ermöglichen, in der Politiker nicht mehr mit populistischen Losungen durchkommen, mit denen sie vielleicht die nächste Wahl gewinnen, die aber die Probleme nicht lösen, sondern noch verschlimmern. Wir könnten sehr viel besser damit umgehen.

Wir haben Grund zum Optimismus, denn wie Meinungsumfragen zeigen, haben die meisten Menschen durchaus differenzierte Ansichten zur Migration. Es ist schlichtweg falsch, dass die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger gegen die Zuwanderung ist. Die politische Polarisierung in Gegner und Befürworter der Migration gibt die Haltung der meisten Menschen gegenüber der Zuwanderung nicht wieder. Zwar haben die meisten Menschen berechtigte Bedenken zu Zuwanderung, Integration und Parallelgesellschaften, doch die meisten verstehen auch, dass Zuwanderung in gewissem Maße unvermeidlich ist, dass Zuwanderer und Flüchtlinge Grundrechte haben und als Arbeitskräfte wichtige Aufgaben übernehmen, und sie verstehen das Dilemma, das sich daraus ergibt.

Vor allem zeigt dieses Buch, dass es für die komplexen Probleme der Migration keine einfachen Lösungen gibt. Aber wenn wir mit den unnötigen Ängsten aufräumen, die die Debatte schon viel zu lange beherrschen, dann schaffen wir Raum für eine informierte Debatte über die Vor- und Nachteile der Migration und über eine bessere und wirkungsvollere Politik, die nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholt und für alle Angehörigen unserer Gesellschaften besser ist.

Teil 1Mythen der Migration

Mythos 1: Die Migration bricht alle Rekorde

Die Migration nimmt beispiellose Dimensionen an und greift rasch um sich, heißt es. Noch nie hat die Menschheit eine vergleichbare Völkerwanderung erlebt. Immer mehr Menschen werden durch Armut, Bevölkerungswachstum, Unterdrückung, Krieg und Klimawandel entwurzelt. Massen strömen in die Städte und ins Ausland und sprengen dort sämtliche Aufnahmekapazitäten. Die sich häufenden Migrations- und Flüchtlingskrisen in aller Welt lassen befürchten, dass dieser Exodus außer Kontrolle gerät, wenn die Probleme nicht unverzüglich angepackt werden. All das scheint die Vorstellung zu bestätigen, dass wir in einem Zeitalter der beispiellosen Massenmigration leben.

Das ist zumindest das Bild, das uns Fernsehen, Zeitungen und Internet vermitteln. Staaten scheinen zunehmend überfordert von der anschwellenden Flut der Migranten und Geflüchteten, die in ihrer Verzweiflung Wüsten durchqueren und zusammengepfercht in morschen Booten über das Meer fahren, um in den reichen Westen zu gelangen. In vielen Ländern scheinen Zuwanderer einen immer größeren Anteil der Bevölkerung zu stellen, und die ethnische und religiöse Vielfalt ist so groß wie noch nie.

Die Globalisierung hat Reisen und Fernkommunikation vereinfacht. Satellitenfernsehen, Internet und Handys haben seit den 1990er Jahren die Kommunikation revolutioniert. Selbst in den hintersten Winkeln von Guatemala, Äthiopien und Afghanistan können die Menschen heute mit dem Rest der Welt in Verbindung treten. Das hat den Horizont junger Menschen in aller Welt erweitert. Die Bilder von Wohlstand und Luxus im Westen haben sie in ein Migrationsfieber versetzt, und nun wollen sie das Leben im Schlaraffenland kennenlernen.

Das alles erzeugt einen immer größeren »Migrationsdruck«. Die internationale Ungleichheit wird größer, viele Entwicklungsländer leiden unter Armut, Instabilität, Korruption und Gewalt. Doch aufgrund des raschen Bevölkerungswachstums müssen Jahr für Jahr mehr Menschen ernährt werden, und der Konkurrenzkampf um die knappen Ressourcen wird immer härter. In den vergangenen Jahren ist der Klimawandel hinzugekommen, und mit ihm mehr Überschwemmungen, Dürren, Wirbelstürme und Waldbrände. Menschen verlieren ihr Zuhause, Vieh und Ackerland, sie versinken im Elend und scheinen keine andere Wahl mehr zu haben, als anderswo ein besseres Leben zu suchen. Sie schließen sich den anschwellenden Massen der Entwurzelten im Süden der Erde an, die verzweifelt versuchen, in den Norden zu gelangen.

Die Vorstellung, dass wir in einem Zeitalter einer noch nie dagewesenen Massenmigration leben, wird durch angesehene internationale Einrichtungen wie die Internationale Organisation für Migration (IOM) und das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) unterstrichen, die Jahr für Jahr neue Rekordzahlen vorlegen. 2021 erklärte die IOM, »die Mobilität der Menschen ist größer als je zuvor in der Geschichte der Menschheit, und sie nimmt weiter stark zu«.[1] Das UNHCR spricht gar von einer »globalen Krise der Vertreibung« und erklärt, immer mehr Menschen seien gezwungen, angesichts von Konflikten, Gewalt und Klimawandel ihre Heimat zu verlassen. Im Jahr 2022 erklärte die Organisation, mit 100 Millionen Vertriebenen sei »ein tragischer Meilenstein« erreicht.[2]

Das alles fügt sich zum Bild einer »Migrationskrise«. Die Vorstellung, dass wir in einer Zeit der Massenmigration leben, hat sich in den Köpfen festgesetzt. Politiker aller Parteien, Klimaaktivistinnen, Nationalisten, humanitäre NGOs, Flüchtlingsorganisationen und die Medien verbreiten die Auffassung, dass globale, wirtschaftliche, demographische und ökologische Krisen heute eine einmalige Migrationskrise ausgelöst haben. Dieser Krisenerzählung zufolge steht die Welt in Flammen, und die Migration ist außer Kontrolle geraten.

Was wirklich dahintersteckt

Die internationale Migration ist dauerhaft niedrig und stabil

Auch wenn die Vorstellung der Rekordmigration inzwischen als unanfechtbare Wahrheit gilt, erzählen die Fakten eine ganz andere Geschichte. Die internationale Migration ist weder ungewöhnlich hoch noch nimmt sie zu. Im Gegenteil, in den vergangenen Jahrzehnten ist die globale Migration bemerkenswert konstant geblieben. Laut den gängigsten Definitionen ist ein internationaler Migrant ein Mensch, der mindestens sechs bis zwölf Monate in einem anderen als seinem Geburtsland lebt. Ausgehend von dieser Definition gab es nach den Zahlen der Abteilung Bevölkerungsfragen der Vereinten Nationen 1960 rund 93 Millionen internationale Migranten. Bis zum Jahr 2000 stieg diese Zahl auf 170 Millionen, und 2017 waren es geschätzte 247 Millionen. Auf den ersten Blick ist das ein steiler Anstieg, doch die Weltbevölkerung ist ungefähr genauso stark gewachsen, von 3 Milliarden im Jahr 1960 auf 6,1 Milliarden im Jahr 2000 und 7,6 Milliarden im Jahr 2017. Der Anteil der Migranten an der Weltbevölkerung ist also bemerkenswert stabil bei rund 3 Prozent geblieben. Dazu kommt, dass frühere Zahlen vermutlich zu niedrig angesetzt wurden, da die Migration in vergangenen Jahrzehnten oft nur sehr ungenügend erfasst wurde.[3]

Deshalb kann man nicht sagen, dass die internationale Migration zunimmt. Es gibt im Gegenteil Hinweise, dass Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts deutlich mehr Menschen unterwegs waren. Zu jener Zeit erreichte eine Auswanderungswelle ihren Höhepunkt, in der Millionen von Europäern der »Alten Welt« den Rücken kehrten, um in der »Neuen Welt« – in den Vereinigten Staaten, in Kanada, Argentinien und Brasilien, aber auch in Australien und Neuseeland – ihr Glück zu suchen. Diese massive Auswanderung fiel mit der Blüte des europäischen Imperialismus zusammen, der viele Europäer als Soldaten, Siedler, Missionare, Verwalter, Unternehmer und Arbeiter in die Kolonien in Afrika und Asien brachte.

Graphik 1 Gesamtzahl der internationalen Migranten weltweit, 1960–2017

Der unersättliche Hunger des europäischen Imperialismus nach Arbeitskräften und Industrialisierung setzte auch andernorts große Migrationsbewegungen in Gang. Zwischen 1834 und 1941 holten Großbritannien, Frankreich und die Niederlande zwischen 12 und 37 Millionen Vertragsarbeiter (»Kulis«) vor allem aus Indien, China und Indonesien in ihre kolonialen Besitzungen in der Karibik, in Ostafrika und anderen Weltregionen.[4] Die Briten rekrutierten aber nicht nur Plantagenarbeiter. Ende des 19. Jahrhunderts brauchten sie zum Beispiel auch Arbeitskräfte für den Eisenbahnbau in Kenia und Uganda. Rund eine Million Japaner wurden angeworben, um auf Hawaii, in den Vereinigten Staaten, in Brasilien und Peru zu arbeiten. Nach der Oktoberrevolution von 1917 und der Gründung der Sowjetunion im Jahr 1922 führte der russische Imperialismus zu einer großangelegten Umsiedlung von Russen nach Sibirien und in Sowjetrepubliken wie Litauen, Estland, die Ukraine, Weißrussland, Moldawien und Kasachstan.[5]

Zwischen 1846 und 1940 bewegten sich geschätzte 150 Millionen Menschen von einem Kontinent zum anderen – 9 Prozent der Weltbevölkerung im Jahr 1900 –, und dabei sind die umfangreichen Bevölkerungsbewegungen innerhalb Europas noch gar nicht mitgerechnet. Unter diesen interkontinentalen Migranten waren rund 55 bis 58 Millionen Europäer, die sich auf dem amerikanischen Doppelkontinent niederließen; 48 bis 52 Millionen Inder und Südchinesen, die in europäische Kolonien in Südostasien, Ostafrika und im Südpazifik auswanderten, sowie 46 bis 51 Millionen Russen und Nordchinesen, die in der Mandschurei, in Sibirien, Zentralasien und Japan siedelten.[6]

Zum Vergleich: Allein zwischen 1846 und 1924 verließen rund 48 Millionen Europäer den Kontinent – das entspricht rund 12 Prozent der europäischen Bevölkerung des Jahres 1900. In manchen Ländern war der Anteil deutlich höher. In diesem Zeitraum verließen rund 17 Millionen Menschen die britischen Inseln – das entspricht 41 Prozent der britischen Bevölkerung des Jahres 1900.[7] Zwischen 1869 und 1940 wanderten rund 16,4 Millionen Italiener nach Nordeuropa, Süd- und Nordamerika aus – das entspricht nicht weniger als 50 Prozent der italienischen Bevölkerung des Jahres 1900.[8]

Der Auswandereranteil aus dieser Zeit liegt deutlich über dem der führenden Auswanderungsländer von heute. So lebten 2017 rund 9,5 Millionen gebürtige Mexikaner (illegale Migranten eingeschlossen) im Ausland, was rund 7,5 Prozent der mexikanischen Bevölkerung ausmacht. Die drei Millionen im Ausland lebenden gebürtigen Türken entsprechen 3,8 Prozent der türkischen Bevölkerung. In bevölkerungsreichen Ländern ist der Anteil noch niedriger: Im Jahr 2007 lebten rund 9,5 Millionen gebürtige Inder und 5,8 Millionen gebürtige Chinesen im Ausland, was rund 0,7 und 0,4 Prozent der jeweiligen Bevölkerung entspricht.

Das Bild des relativ niedrigen Migrationsaufkommens ändert sich kaum, wenn wir Geflüchtete hinzuzählen. Das liegt daran, dass die Zahl der Geflüchteten sehr viel kleiner ist, als die Berichterstattung und politische Debatte über die »Flüchtlingskrise« vermuten lässt. Wie wir noch in Kapitel 3 sehen werden, machen Geflüchtete rund 7 bis 12 Prozent der Migranten aus, was einem Anteil von 0,3 Prozent der Weltbevölkerung entspricht – Mitte des 20. Jahrhunderts waren die Flüchtlingszahlen vermutlich deutlich höher als heute.

Die globalen Migrationsströme haben sich umgekehrt

Die internationale Migration hat also keineswegs das Ausmaß, das wir vermuten. Internationale Migranten machen 3 Prozent der Weltbevölkerung aus, und dieser Anteil ist bemerkenswert stabil. Umgekehrt bedeutet das, dass der überwältigende Anteil der Menschheit, nämlich 97 Prozent, in seinem Geburtsland lebt. Das ist umso beachtlicher angesichts der gewaltigen wirtschaftlichen Ungleichheit in der Welt. Es gibt also keinen Hinweis darauf, dass die globale Migration zunimmt. Was nicht heißt, dass sich nichts verändert hat. Vor allem aus westlicher und europäischer Sicht haben sich die Wanderungsmuster ganz erheblich verändert, und die Weltkarte der Migration wurde gewissermaßen auf den Kopf gestellt. Das hat weniger mit den Zahlen zu tun als mit der Richtung der Migration seit Ende des Zweiten Weltkriegs; daher kann aus europäischer oder nordamerikanischer Sicht der Eindruck entstehen, dass mehr Menschen unterwegs sind als je zuvor.

Der Hauptunterschied besteht darin, dass Westeuropa von der wesentlichen Herkunftsregion der Migranten zu einem der wichtigsten Ziele geworden ist. Ab dem 15. Jahrhundert brachen Europäer in den Rest der Welt auf und besetzten und besiedelten fremde Gebiete, vor allem auf dem amerikanischen Doppelkontinent, aber auch in Afrika und Asien. Das begann mit der »Entdeckung« Amerikas durch Christoph Kolumbus im Jahr 1492 und der nachfolgenden Eroberung durch Spanier, Portugiesen, Niederländer, Franzosen und Briten, die den Kontinent kolonisierten und ab dem 16. Jahrhundert an den Küsten Afrikas und Asiens Siedlungen und Handelsstützpunkte errichteten. Während Spanien die Philippinen eroberte, brachten die Briten den indischen Subkontinent unter ihre Kontrolle, und die Niederlande verschafften sich eine Vormachtstellung in Indonesien.

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts eroberten europäische Mächte – allen voran die Briten und Franzosen – fast ganz Afrika und Asien, abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen wie Äthiopien, Thailand und China. Das ging mit der Auswanderung europäischer Siedler in die neuen Kolonien einher: Eine große Zahl von Briten ging unter anderem nach Südafrika, Rhodesien (heute Simbabwe) und Kenia, und Franzosen und andere europäische Siedler ließen sich in Algerien nieder. Um Erlaubnis fragten sie nicht: Der europäische Kolonialismus war wohl die größte illegale Migration in der Geschichte der Menschheit.

Die europäische Kolonialherrschaft verursachte außerdem die größte Zwangsumsiedlung der Geschichte. Im Rahmen des transatlantischen Sklavenhandels wurden geschätzte 12 Millionen Afrikaner nach Nord- und Südamerika verschleppt.[9] Nach Abschaffung der Sklaverei zu Beginn des 19. Jahrhunderts rekrutierten Briten, Niederländer und Franzosen eine große Zahl von Vertragsarbeitern aus Indien, aber auch Java und China für die Arbeit in ihren Kolonien in der Karibik und in Ostafrika.

Nachdem die Vereinigten Staaten 1776 von Großbritannien unabhängig geworden waren, befreiten sich Anfang des 19. Jahrhunderts die meisten der lateinamerikanischen Kolonien von der spanischen und portugiesischen Herrschaft. Das änderte jedoch nichts am Zustrom europäischer Siedler. Angelockt durch die wirtschaftlichen Möglichkeiten in den Vereinigten Staaten und in Kanada, aber auch in Brasilien und Argentinien, kamen nach 1850 immer mehr Europäer – oft Bauern und Arbeiter, die in Übersee ihr Glück suchten – in die Neue Welt. Das Ergebnis war eine massive Auswanderung von einer Seite des Atlantiks auf die andere. Die Industrialisierung und Urbanisierung brachten außerdem Arbeitsmigranten aus China und Japan nach Nord- und Südamerika.[10]

Das endete nach dem Zweiten Weltkrieg. Zwischen 1945 und 1965 errangen die meisten der europäischen Kolonien in Asien und Afrika ihre Unabhängigkeit. In Westeuropa boomte die Wirtschaft, der Sozialstaat wurde ausgebaut, und die Europäer verloren rasch das Interesse an der Auswanderung. Dazu kam, dass sich aufgrund der Vollbeschäftigung und der rasch sinkenden Geburtenraten viele europäische Länder plötzlich einem Arbeitskräftemangel in Industrie und Bergbau gegenübersahen. Damit kam die Auswanderung im großen Stil von Europäern auf andere Kontinente zum Erliegen.

Nun kehrte sich die Richtung der Migration um, und immer mehr Menschen aus dem Rest der Welt kamen nach Westeuropa. Den Anfang machte die »postkoloniale« Migration von Menschen aus den ehemaligen europäischen Kolonien – aus der Karibik (Jamaika), aus Südasien (Pakistan, Indien) und den indischstämmigen Bevölkerungen Ostafrikas nach Großbritannien, aus dem Maghreb (Algerien, Tunesien und Marokko) und aus Westafrika (vor allem Senegal und Mali) nach Frankreich und aus Indonesien und Suriname in die Niederlande.

Deutschland, Österreich, die Schweiz, Dänemark und Schweden, die nicht über große Kolonialreiche in Übersee verfügt hatten, aber auch die Niederlande und Belgien, rekrutierten in den 1950er und 1960er Jahren Gastarbeiter aus Italien, Spanien, Portugal, Griechenland und Jugoslawien. Als der Arbeitskräftemarkt Südeuropas ausgeschöpft war, warben Staaten und Unternehmen in der Türkei und im Maghreb weitere Arbeitnehmer an. Das galt zunächst als zeitlich befristete Migration, doch viele der ausländischen Arbeitnehmer ließen sich nieder, holten ihre Familien nach und legten den Grundstein für große Gemeinschaften von Zuwanderern.

Mit dieser »globalen Umkehr« der Migration verschoben sich die internationalen Muster der Migration. Europa wurde von der wichtigsten Herkunftsregion der Migranten zum Ziel für außereuropäische Migranten, und dies hatte auch Auswirkungen auf die Zuwanderung in klassische europäische Migrationsziele wie Nordamerika, Australien und Neuseeland: Mit dem Ausbleiben der Europäer kamen zunehmend Nichteuropäer in diese Länder.

Nachdem die Zuwanderung in die Vereinigten Staaten und nach Kanada jahrhundertelang von Europäern beherrscht worden war, traten seit den 1950er Jahren zunehmend Puerto Ricaner, Mexikaner, Kubaner und andere Lateinamerikaner und Asiaten (vor allem Koreaner, Vietnamesen, Filipinos, Inder und Chinesen) an deren Stelle. Auch in anderen Regionen verschoben sich die Muster. Als Südamerika kein Ziel für europäische Auswanderer mehr war, kehrte sich die Richtung um, und die Migration von Lateinamerika nach Nordamerika und später auch Europa nahm rasch zu.

Eine weitere Neuerung war der Aufstieg nicht westlicher Migrationsziele. Seit den 1980er Jahren wurden die boomenden Golfstaaten, wie Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Katar, das Ziel von Millionen Arbeitsmigranten aus ärmeren Ländern wie Pakistan, Indien und den Philippinen und in geringerem Maße auch aus Afrika.

Seit einigen Jahrzehnten drängen Asiaten massiv auf die globale Migrationsbühne, vor allem Chinesen, Inder, Filipinos und Indonesier. Ost- und südostasiatische Länder wie Japan und Südkorea, aber auch Singapur, Malaysia und Thailand werden zum Ziel von Migranten aus ärmeren asiatischen Ländern wie Myanmar, Nepal und Usbekistan. Seit den 1990er Jahren ist Russland ein Ziel für Arbeitsmigranten aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, zum Beispiel der Ukraine, Kasachstan und Usbekistan.[11]

Im vergangenen halben Jahrhundert haben sich die Muster der internationalen Migration also grundlegend verändert. Mit Ausnahme traditioneller Migrationsziele wie Kanada, Australien und Neuseeland – wo Migranten rund 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen – wurden in den meisten westlichen Nationen, darunter auch die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Deutschland und Frankreich, zwischen 10 und 15 Prozent der Bevölkerung im Ausland geboren. Aus historischer Sicht ist dieser Anteil keineswegs ungewöhnlich. In den Vereinigten Staaten hat die Einwanderung in den vergangenen Jahrzehnten zwar zugenommen, doch der Migrantenanteil war 2020 etwa genauso hoch wie ein Jahrhundert zuvor, nämlich bei rund 15 Prozent.[12]

Die größte Veränderung ist die zunehmend nichteuropäische Herkunft der Migranten. Seit der »globalen Umkehr der Migration« steigt die Zahl der Migranten aus Lateinamerika, Asien und in geringerem Umfang auch aus Afrika in Europa, Nordamerika, Australien und Neuseeland sowie in den neuen Zielen am Arabischen Golf und in Ostasien. Am Gesamtumfang der internationalen Migration ändert sich nichts, nur an der Richtung.

Konkret nimmt also die Zuwanderung von Menschen nichteuropäischer Herkunft nach Europa und Nordamerika zu. Das ist zweifelsohne eine drastische Veränderung und macht die Wahrnehmung vieler Menschen nachvollziehbar, dass die Migration neue Höchstwerte erreicht. Dieser Eindruck drängt sich vor allem in den Städten, Vierteln und Ortschaften auf, in denen sich die Zuwanderer konzentrieren. Doch die Daten zeigen, dass die Migration weltweit gesehen keineswegs zunimmt und dass sie schon gar nicht außer Kontrolle gerät. Diese Wahrnehmung ist einer eurozentrischen Sicht geschuldet, die Zuwanderung aus nichteuropäischen Ländern als problematisch darstellt und die europäische Auswanderung nicht mehr im Blick hat.

Die meisten Migranten legen nur kurze Entfernungen zurück

Da sich westliche Politiker und Medien vor allem mit internationaler Migration beschäftigen, übersehen sie oft, dass Binnenmigration – die Migration innerhalb eines Landes – seit jeher viel wichtiger ist als grenzüberschreitende Bewegungen. Das liegt nicht nur daran, dass die Auswanderung ins Ausland eine kostspielige Angelegenheit ist, sondern auch daran, dass es die meisten Menschen vorziehen, in der Nähe ihrer Heimat zu bleiben. Zuverlässigen Schätzungen zufolge macht die Binnenmigration 80 Prozent der Migration oder 12 Prozent der Weltbevölkerung aus.[13] Weltweit gibt es rund eine Milliarde Binnenmigranten.

Besonders wichtig ist die Binnenmigration in Entwicklungsländern, die eine rasche Verstädterung durchlaufen und in denen eine regelrechte Flucht vom Land in die aufstrebenden Städte zu beobachten ist. Diese massive Verschiebung der Bevölkerung ist eine Folge der Urbanisierung, Industrialisierung und wirtschaftlichen Modernisierung und daher weitgehend unvermeidlich.

In Westeuropa, Nordamerika und Japan begann die Landflucht Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts und war in den 1950er Jahren weitgehend abgeschlossen; seither leben mehr als 80 Prozent der Bevölkerung in Städten und ihrem Umland. Die meisten der Landflüchtlinge bleiben zwar im eigenen Land, doch einige nutzen die Stadt als Sprungbrett für die Migration ins Ausland. In China, Indien, Indonesien und anderen Ländern mit mittlerem Einkommen ist ein ähnlicher Wandel in vollem Gange, und in ärmeren Ländern wie Äthiopien, Afghanistan oder Myanmar, wo bislang nur 30 Prozent der Einwohner in Städten leben, nimmt er gerade Fahrt auf.

Das moderne Industriezeitalter war in vieler Hinsicht weniger die Geschichte der internationalen Migration als der Binnenmigration vom Land in die Städte. Die meisten von uns stammen von bäuerlichen Familien ab. Die meisten Städter müssen nur eine oder zwei Generationen weit zurückgehen, um auf Angehörige zu stoßen, die den großen Schritt vom Land in die Stadt gewagt haben, um dort Arbeit, Bildung und ein anderes Leben zu suchen. Der Übergang von ländlichen zu städtischen Lebensformen war der grundlegendste Wandel, den die Menschheit in den vergangenen ein bis zwei Jahrhunderten vollzogen hat, und in Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen ist er noch immer im Gange.

Ob der Umzug vom Land in die Stadt auch mit der Auswanderung in ein anderes Land verbunden ist, ist dabei oft weniger entscheidend als die radikale Veränderung der Lebensweise und die Mischung aus Begeisterung, Entfremdung und Schock, die oft damit einhergehen. Für einen jungen Mann aus einer bäuerlichen Familie dürfte der Umzug aus den Bergen von Oaxaca nach Mexiko-Stadt, aus der Provinz Tata im Süden Marokkos nach Casablanca oder aus den Stammesgebieten unter Bundesverwaltung (FATA) in Pakistan nach Karatschi ein ebenso großer – wenn nicht sogar ein noch größerer – Kulturschock sein wie die Auswanderung nach Los Angeles, Paris oder London. Und junge Städter aus der Mittelschicht von Mexiko-Stadt, Casablanca und Karatschi finden sich in der Regel problemlos in westlichen Metropolen zurecht.

Die große Mehrheit der jungen Menschen bleibt allerdings auf der Suche nach wirtschaftlichen Aufstiegschancen und einem anderen Leben im eigenen Land. Nur etwa ein Fünftel der Binnenmigration führt zu internationaler Migration. Vor allem in bevölkerungsreichen Ländern wie China, Indien, Indonesien, Brasilien und Nigeria, aber auch in den Vereinigten Staaten und in Russland, überwiegt die Binnenmigration bei Weitem. Die sogenannte »fließende Bevölkerung« Chinas ist ein Beleg für die gewaltigen Ausmaße der Binnenwanderungen: Ihre Zahl wird auf 270 Millionen geschätzt, im Vergleich zu 5,8 Millionen in China geborenen Auslandsmigranten.[14] Das heißt, innerhalb Chinas sind mehr Menschen unterwegs als zwischen den Grenzen der übrigen Welt!

Eine Faustregel ist: je größer ein Land, umso größer der Anteil der Migranten, die im Land bleiben, und umso kleiner der Anteil derjenigen, die es verlassen. Die Erklärung ist einfach: In großen und bevölkerungsreichen Ländern haben die meisten Menschen, die aus ihrem Dorf oder ihrer Kleinstadt weggehen, die Möglichkeit, in den Großstädten des eigenen Landes Arbeit, Bildung und ein neues Leben zu finden. Wer dagegen in einem kleinen Land lebt, muss eher über die Grenze gehen, um solche Möglichkeiten zu finden. Wer jedoch das eigene Land verlässt, geht im Allgemeinen nicht viel weiter als ins Nachbarland, da dieser Schritt erschwinglicher ist und Kultur, Sprache, Religion und Gepflogenheiten vertrauter sind. Es ist einfacher, sich anzupassen, Arbeit zu finden und Familie und Freunde in der Heimat zu besuchen.

Karte 1 Wichtigste internationale Migrationsströme, 1950–2020[15]

Karte 1 zeigt die wichtigsten Migrationsströme der jüngeren Vergangenheit. Sie veranschaulicht die Komplexität der Bevölkerungsbewegungen innerhalb von Ländern und Regionen. Die Realität der Migration hat wenig mit der verbreiteten Vorstellung einer Völkerwanderung von Süden nach Norden zu tun. Der Persische Golf ist als Zielregion ähnlich wichtig wie Westeuropa; Länder wie Argentinien und Brasilien in Südamerika, die Elfenbeinküste, Gabun und Südafrika in Afrika und Singapur, Malaysia und Thailand in Asien sind zu wichtigen Regionalzielen geworden; und in Flächenstaaten wie China, Nigeria und Brasilien gibt es massive Binnenströme.

Die allermeisten Menschen verlassen ihre Heimat jedoch nicht. Mehr als vier Fünftel der Weltbevölkerung leben in der Region, in der sie auch zur Welt gekommen sind. Nur drei Prozent der Weltbevölkerung leben im Ausland, und dieser Anteil ist seit Jahrzehnten bemerkenswert stabil. Das heißt, trotz der extrem ungleichen geographischen Verteilung von wirtschaftlichen Möglichkeiten bleiben die meisten Menschen zuhause. Allen politischen Parolen und Mediendarstellungen zum Trotz geht es bei der Migration selten um die Abwanderung ganzer Populationen. Und wenn es zum Beispiel infolge von Kriegen oder Naturkatastrophen doch zu einer massenhaften Entwurzelung kommt, dann bleiben die Migranten überwiegend in der Region, und die Migration ist vorübergehender Natur. Die meisten Menschen bleiben in der Nähe ihrer Heimat, Migration auf einen anderen Kontinent ist eher die Ausnahme als die Regel. Das veranschaulicht das Tortendiagramm in Graphik 2: Rund 83 Prozent der Weltbevölkerung leben in ihrer Geburtsregion, 13 Prozent sind Binnenmigranten, 3 Prozent internationale Migranten und 0,3 Prozent Geflüchtete.

Graphik 2 Anteil von Migranten, Flüchtlingen und Nicht-Migranten an der Weltbevölkerung, 2020

Wird die Menschheit weniger mobil?

Diese Erkenntnisse zeigen, dass die globale Migration keineswegs beschleunigt und dass von einer »globalen Krise« nicht die Rede sein kann. Dass die globale Migration weitgehend konstant geblieben ist, lässt auch Zweifel an der verbreiteten Vorstellung aufkommen, dass die Revolution der Transport- und Kommunikationstechnik eine Völkerwanderung anheizt. Verbreiteten Vorstellungen zufolge erleichtert die Verbilligung des Reisens und der Kommunikation den Ortswechsel. Aber auch umgekehrt könnte ein Schuh daraus werden: Historisch betrachtet hat der technische Fortschritt den Menschen die Möglichkeit gegeben, zuhause zu bleiben.

In der Vergangenheit waren Homo sapiens überwiegend nicht sesshaft, als Jäger und Sammler waren sie ständig unterwegs, auf der Suche nach Nahrung. Das änderte sich erst mit dem Aufkommen der Landwirtschaft vor rund 12000 Jahren. Im Nahen Osten, in Mittelamerika, im Jangtse-Tal und in Teilen Afrikas gaben die Menschen das Nomadendasein auf und ließen sich in festen bäuerlichen Siedlungen nieder.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts führte die industrielle Revolution zu einer massenhaften Abwanderung vom Land in die Stadt. Die Mechanisierung des Anbaus vernichtete Arbeitsplätze in der Landwirtschaft, und gleichzeitig entstanden neue Arbeitsplätze in der Industrie, im Bergbau und im Dienstleistungssektor. Ausgehend von Großbritannien griff die industrielle Revolution erst auf Europa und Nordamerika und von dort aus auf den Rest der Welt über. Diese Migration vom Land in die Stadt ist allerdings ein vorübergehendes Phänomen. In reichen Industrienationen ist der Prozess der Urbanisierung weitgehend abgeschlossen, der Großteil der Bevölkerung lebt in Städten und ihrem Umland.

Langfristig gesehen könnte sich die Migration also sogar abschwächen, genau wie die globale Mobilität. Seit die meisten Menschen in Städten leben, ist die Binnenmigration in westlichen Ländern wie den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Deutschland und Japan wieder gesunken.[16] Auch in den meisten Ländern mit mittlerem Einkommen in Ost- und Südostasien, Lateinamerika und dem Nahen Osten, wo die Mehrheit der Menschen bereits in Städten lebt – in China sind es 63 Prozent der Bevölkerung, in Mexiko 81 Prozent, in Brasilien 87 Prozent –, schwächt sich die Binnenmigration ab. In den ärmeren Ländern Subsahara-Afrikas und in Teilen von Süd- und Zentralasien hat die Verstädterung dagegen gerade erst begonnen – nur hier wird sich die massive Binnenmigration vom Land in die Stadt auch in den kommenden Jahrzehnten fortsetzen.

Die Vorstellung, dass der Fortschritt bei Transport und Kommunikation automatisch die Migration ankurbelt, basiert auf falschen Annahmen über die Ursachen der Migration. Der Zusammenhang zwischen Technisierung und Migration ist keineswegs eindeutig. Einerseits verbilligt die technische Revolution das Reisen und gibt potenziellen Migranten bessere Möglichkeiten, sich über die Chancen in anderen Ländern zu informieren. Doch genau diese Technik macht es oft gar nicht mehr nötig, den Ort zu wechseln, um bestimmte Möglichkeiten wahrnehmen zu können. So können zum Beispiel seit den 1950er Jahren dank des öffentlichen Nahverkehrs und des Ausbaus der Autobahnnetze immer mehr Menschen zur Arbeit pendeln und müssen nicht jedes Mal umziehen, wenn sie eine neue Arbeit finden. In Ländern wie Frankreich, China und Japan ermöglichen Hochgeschwindigkeitszüge tägliche Anfahrten von Hunderten von Kilometern.

Dank der Revolution der Kommunikations- und Transporttechnik können Fertigungsbetriebe, Dienstleistungen und selbst die landwirtschaftliche Produktion in Länder mit einem großen Angebot an billigen Arbeitskräften ausgelagert werden. So haben zum Beispiel britische Unternehmen ihre Call Center nach Indien verlagert und viele US-amerikanische Unternehmen ihre Fertigungsbetriebe in Sonderproduktionszonen in Mexiko. Und niederländische Blumenzüchter haben in riesige Anbaubetriebe in Kenia und Äthiopien investiert, um das ganze Jahr über Rosen anbauen zu können und in den Genuss billiger Arbeitskräfte zu kommen.[17] Die Technisierung bewirkt also nicht automatisch mehr Migration, denn das Outsourcing kann die Produktionsstätten auch zu den billigen Arbeitskräften bringen, und diese müssen nicht mehr der Arbeit in die reichen Länder folgen. Das hat den Bedarf an Arbeitsmigranten deutlich verringert.

Während der Coronapandemie konnten viele Menschen dank des Internets in den eigenen vier Wänden arbeiten, vor allem im gehobenen Dienstleistungssektor. Es ist gut denkbar, dass in Zukunft mehr Mitarbeiter dieser Branchen diese Möglichkeiten nutzen, um aufs Land zu ziehen, wo sie günstiger und entspannter leben können. Die Pandemie hat allerdings auch gezeigt, dass nicht alle Arbeiten von zuhause aus möglich sind. Das trifft vor allem auf das Baugewerbe, die Pflege, das Transportwesen, die Gastronomie und andere Tätigkeiten zu, die häufig von Migranten übernommen werden. Wie wir in diesem Buch immer wieder sehen werden, ist der hartnäckige Arbeitskräftemangel in Branchen, die Präsenz verlangen, einer der Hauptgründe für die fortgesetzte Zuwanderung der vergangenen Jahrzehnte.

Der Zusammenhang zwischen Technisierung und Migration ist also alles andere als eindeutig. Der technische Fortschritt könnte die Migration genauso gut abschwächen wie ankurbeln. Auf der einen Seite fördern Transport- und Informationstechnik die Mobilität und regen Menschen an, neue Horizonte zu erkunden. Auf der anderen Seite ermöglichen sie auch eine »Mobilität ohne Migration«, etwa durch das Pendeln zur Arbeit, Tourismus und Geschäftsreisen. Die Migration hat heute weder Höchstwerte erreicht noch steigt sie weiter an, und in Zukunft könnte sie sich im Zusammenhang einer weltweiten Verringerung der räumlichen Mobilität sogar noch weiter abschwächen.

Mythos 2: Unsere Grenzen sind nicht mehr sicher

Die Grenzen sind nicht mehr sicher, und die illegale Zuwanderung nimmt rasant zu. Obwohl das Niveau der internationalen Migration konstant bleibt, ist der Eindruck verbreitet, dass immer mehr Menschen den verzweifelten Versuch unternehmen, in den Westen zu gelangen, und dass sie dazu illegal über die Grenzen kommen. Staaten unternehmen große Anstrengungen, um ihre Grenzen zu sichern, und das nährt die Sorge, dass die illegale Zuwanderung außer Kontrolle geraten ist. Schlepper und Schleuser nutzen die Verzweiflung der Migranten und Geflüchteten und verlocken sie zu teuren und gefährlichen Fahrten über Meere und durch Wüsten, und die Maßnahmen der westlichen Behörden scheinen wirkungslos. Politiker, Experten und Medien warnen unaufhörlich, dass dieser Zustrom unser Zuwanderungssystem an den Rand des Zusammenbruchs bringt.

Die Krisenerzählung wird noch untermalt durch apokalyptische Schlagwörter wie »Völkerwanderung«, »Exodus« oder »Flut«. Der britische Premierminister David Cameron bezeichnete die Migranten als »Menschenschwärme, die übers Mittelmeer kommen«,[1] und in Reaktion auf die Ankunft zahlreicher syrischer Geflüchteter in Europa erklärte der niederländische Premierminister Mark Rutte 2015: »Wie wir vom Römischen Reich wissen, gehen Weltreiche unter, wenn ihre Grenzen nicht gut geschützt sind.«[2] Drei Jahre später warnte der amerikanische Präsident Donald Trump, die Migration »gefährdet unsere Sicherheit und unsere Wirtschaft und ist ein Einfallstor des Terrorismus«.[3] Und 2022 bezeichnete die britische Innenministerin Suella Braverman die steigende Zahl von Booten, die aus Frankreich über den Ärmelkanal kamen, als »Invasion an unserer Südküste«.[4]

Politiker beschreiben die Zuwanderung gern als »Angriff auf unsere Grenzen«. Der Ton wird immer rauer, in Großbritannien zum Beispiel sprechen Tory- wie Labour-Regierungen davon, eine »feindliche Umgebung« für illegale Zuwanderer zu schaffen.

Auch in den Vereinigten Staaten benutzen Politiker und Journalisten gern die Metapher der »Invasion«. Medienbilder und politische Meinungsmache gegen »Flüchtlingskarawanen« schüren die Angst vor einem Exodus aus der Dritten Welt und einem Angriff auf die Souveränität und Sicherheit der Vereinigten Staaten. Das ist nichts Neues. Als in den 1990er Jahren die Zahl der mexikanischen Zuwanderer stieg, kam die Erzählung von der lateinamerikanischen Migration auf, die die US