Milano Criminale - Paolo Roversi - E-Book

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Paolo Roversi

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Beschreibung

Der 27. Februar 1958: Ein ganz normaler Tag in der Via Osoppo, mitten in Mailand. Aus dem Nichts tauchen sieben Bewaffnete auf. Sie rauben vor aller Augen einen Geldtransporter aus. Und landen den größten Coup in der Geschichte Italiens. Unter den Zuschauern befinden sich auch zwei Jungen, Roberto und Antonio. Angesichts dieser unglaublichen Tat trifft jeder für sich eine Wahl, die sein Leben für immer verändern wird: Roberto wird einer der meistgesuchten Gangster Italiens. Eine Legende.Antonio wird Polizist. Ein Jäger, der die größten Verbrecher Italiens – auch Roberto – fassen und dafür alles riskieren wird. Der 27. Februar 1958: Ein ganz normaler Tag in der Via Osoppo, mitten in Mailand. Aus dem Nichts tauchen sieben Bewaffnete auf. Sie rauben vor Aller Augen einen Geldtransporter aus. Und landen den größten Coup in der Geschichte Italiens. Die Menschen feuern die Räuber an. In diesen Zeiten, in denen Armut und Hunger herrschen, sind die Männer Helden, weil sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Unter den Zuschauern befinden sich zwei Jungen, Roberto und Antonio. Angesichts dieser unglaublichen Tat trifft jeder für sich eine Wahl, die sein Leben für immer verändern wird. Ihre Geschichte beginnt in diesem einen Moment. Roberto wird einer der meistgesuchten Gangster Italiens. Eine Legende. Antonio wird Polizist. Ein Jäger, der die größten Verbrecher Italiens – auch Roberto – fassen und dafür alles riskieren wird. Milano Criminale ist ein großer Roman, geschrieben mit Coolness und Raffinesse.

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Paolo Roversi

Milano Criminale

Roman

Aus dem Italienischen vonEsther Hansen

Ullstein

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Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden

Zweiter Teil, Barrikaden: Pier Paolo Pasolini, Ketzererfahrungen. »Empirismo eretico«. Schriften zu Sprache, Literatur und Film.Herausgegeben und übersetzt von Reimar Klein.© der deutschsprachigen Übersetzung Carl Hanser Verlag München, 1979Der Ullstein Verlag dankt dem Rechteinhaber für die freundliche Abdruckgenehmigung.

Die italienische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel Milano Criminalebei Rizzoli (a division of RCS Libri S. p. A.) Mailand.

ISBN: 978-3-8437-0518-9© 2011 by Paolo Roversi© der deutschsprachigen Ausgabe2013 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAlle Rechte vorbehaltenSatz und eBook: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

The eastern world, it is explodin’

Violence flarin’, bullets loadin’

You’re old enough to kill, but not for votin’

You don’t believe in war, but what’s that gun you’re totin’

And even the Jordan River has bodies floatin’

But you tell me

Over and over and over again, my friend

Ah, you don’t believe

We’re on the eve

of destruction.

Barry McGuire – Eve Of Destruction

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ERSTER TEILDas Ende der Ligera

Seitenwahl

1

Der Mann schlendert am Straßenrand entlang. Seine Schuhe sind staubbedeckt, seine Haltung strahlt Ruhe aus, als hätte er alle Zeit der Welt. Manchmal sieht er sich wie zufällig um, geht weiter, im Gürtel einen Totschläger und eine 9 mm.

Einige Meter entfernt ein paar Männer im Overall auf einem grauen Lieferwagen. Sie schweigen, niemand schenkt ihnen Beachtung, erst recht nicht den Maschinenpistolen auf ihren Knien.

In der Nähe ein Herr, graumeliertes Haar und Zigarette im Mundwinkel, er blättert in einer Zeitung. Langsam, viel zu viel Zeit pro Seite, um glaubwürdig zu wirken. Er sitzt in einem schwarzen Fiat 1400, und in seinen rechten Oberschenkel drückt sich ein Schießeisen.

Neben dem Auto steht ein Junge. Reglos. Mit ausgebeulter Jacke: auch er bewaffnet.

Sie alle tragen den klassischen Arbeiter-Blaumann. Die perfekte Verkleidung, um in dieser Gegend mit ihren unzähligen Fabriken und Manufakturen nicht aufzufallen.

Ein erfahrenes Auge hätte gewusst, was Sache ist. Hätte vorhergesehen, was passieren würde. Aber es war kein erfahrenes Auge in der Nähe.

Der Tanz beginnt, als der Geldtransporter um die Ecke biegt. Die Zweigstelle der Banca Popolare ist keine fünfhundert Meter entfernt. Die erste auf der Tour.

Fuß vom Gas, und aufgepasst für die drei Männer im Wagen: den Fahrer, einen Polizeibeamten und einen Bankangestellten.

Der Bandenboss zwingt sich zur Ruhe. Er kann nicht sehen, was passiert, doch ein Blick auf die Uhr genügt ihm. Alles ist auf die Sekunde genau geplant, und wenn er die Augen schließt, weiß er zu jeder Zeit, was passiert.

In Gedanken versunken sitzt er im Wartezimmer einer Zahnarztpraxis am anderen Ende von Mailand. Das hier ist sein Alibi, und ein gutes Alibi wird er brauchen, wenn die Bullen nach vollbrachter Tat unverzüglich bei ihm aufkreuzen. Er braucht glaubwürdige Zeugen, andere als die, die er sonst anschleppen könnte, seine Kumpane aus dem Stadtteil Ticinese.

Bei dem Gedanken will er unwillkürlich lächeln, verkneift es sich aber. Er muss schreckliche Zahnschmerzen vortäuschen, das erfordert höchste Konzentration. Er hat schwarzes, gewelltes Haar und trägt einen schwarzen Anzug mit einer weißen Rose im Knopfloch: Daran wird sich jeder erinnern. Der Plan sieht vor, sich möglichst auffällig zu verhalten, deshalb bricht er in regelmäßigen Abständen in lautes Gewimmer aus.

Er ist ein akribischer, besonnener Mensch. Für ihren Coup hat er extra diesen einen Tag des Monats abgewartet.

»Wir nehmen den 27., Tag des heiligen Salärius, ciula«, hat er seinen Leuten bis zum Abwinken gepredigt, »dann schwimmen die im Geld, um die Löhne auszuzahlen.«

Zweimal schon hatten sie es probiert, doch jedes Mal war etwas dazwischengekommen. Ein Versuch pro Monat. Heute Morgen würden sie den Sack endlich zumachen. Das spürte er.

›Heute packen wir es‹, sagt er sich, während die Arzthelferin ihn ins Behandlungszimmer führt.

Kaum sieht der Mann im Fiat 1400 den weißen Transporter im Rückspiegel aufblitzen, wirft er die Zeitung beiseite und gibt Gas. Der Wagen fädelt sich ein und schießt in Richtung Fahrbahnmitte.

Antonio steht vor der Haustür, sein Fahrrad hat er an die Wand gelehnt, mit dem Blick verfolgt er fasziniert den schwarzen Wagen, der den Geldtransporter röhrend überholt hat und nun Schlangenlinien vor ihm vollführt.

»Quel lì l’è matt, vollkommen wahnsinnig, der Kerl!«, schreit der Fahrer des Geldtransporters. Der Polizist tastet mit der Hand nach dem Knauf seiner Dienstwaffe.

Ohne auch nur andeutungsweise abzubremsen, schert der Wahnsinnige nach links aus und rast holpernd über den Grünstreifen zwischen den Fahrbahnen. Die Fahrt endet mit einem dumpfen Schlag an der Mauer auf der anderen Straßenseite. Der Fahrer kommt ohne jeden Kratzer davon; blitzschnell springt er aus dem Wagen und sucht das Weite, während ein Haufen Schaulustiger sich um das Auto schart. Auch der Fahrer des Geldtransporters bremst, um zu sehen, was da passiert ist. Der Polizeibeamte entspannt sich wieder. Und tut nicht gut daran, denn während alle Köpfe sich nach hinten drehen, kommt ihnen aus der anderen Richtung ein weiteres Auto entgegen, ein Kleinlaster OM Leoncino, flink wie auf Schienen, und rast voller Wucht in den Geldtransporter. Die Männer im Innenraum stoßen sich gewaltig die Köpfe.

Es ist Vormittag, und viele Leute sind unterwegs. Alle hören den Aufprall – und die Schüsse.

Dem Leoncino entsteigt ein Mann mit vermummtem Gesicht und Pistole. Brüllend rennt er auf den Geldtransporter zu und richtet die Knarre auf das Gesicht des Fahrers, der mit erhobenen Händen erstarrt.

Hinter ihnen kommt mit quietschenden Reifen der graue Lieferwagen zum Stehen: Fluchtweg abgeschnitten.

Der Polizist, der aus einer Wunde an der Stirn blutet, will eingreifen, doch da zersplittert das Seitenfenster neben ihm. Der Totschläger, den der Mann auf dem Bürgersteig im Gürtel stecken hatte, tut seinen Dienst. Das Glas zerbirst in tausend Scherben, und der Wachmann hat plötzlich den Lauf einer .38 Special im Mund.

»Spiel bloß nicht den Helden«, hört er es knurren. Ein Ratschlag, den er prompt befolgt.

In der Zwischenzeit räumen drei maskierte Männer den Geldtransporter aus und verteilen die Geldsäcke auf den grauen Lieferwagen und eine Giulietta Sprint, auch sie wie aus dem Nichts aufgetaucht. Auch der Bankangestellte verspürt wenig Lust, sich eine Kugel einzufangen, und bleibt reglos sitzen, während die Penunzen vor seiner Nase weggetragen werden.

Sie arbeiten in höchster Eile, es dauert keine zwei Minuten, in denen einer der Banditen alle Umstehenden mit seiner Maschinenpistole in Schach hält. Die Operation verläuft exakt nach Plan.

Schließlich rast der Lieferwagen mit quietschenden Reifen davon, dicht gefolgt von dem Alfa, aus dessen Fenster einer der Banditen den Schaulustigen höhnisch zuwinkt. Und einige winken sogar zurück.

2

Als die sechs maskierten Männer in ihren Autos davonjagen, verzieht Antonio keine Miene, fassungslos starrt er weiter auf den Ort des Geschehens: auf den ausgeräumten Geldtransporter und den Leoncino, dessen Motor noch läuft. Und genau in diesem Moment begreift er, dass sein Schicksal vorgezeichnet ist. Das Datum, das er auf einer weggeworfenen Zeitung im Rinnstein liest, brennt sich in sein Gedächtnis ein, der 27. Februar 1958: der Tag, der für alle anderen Mailänder als der ›Tag des Bankraubs‹ in die Stadtchronik eingehen wird, ist für ihn der Tag seiner Berufung. Er ist noch keine vierzehn, und doch hat er soeben entschieden, was er später einmal werden will: Bulle. Nicht Anwalt, wie sein Vater es gerne sähe, oder Arzt, wovon seine Mutter träumt. Nein, er – der schmächtige Teenager mit den schmal geschnittenen Augen – möchte diesen Männern, die die Via Osoppo in Angst und Schrecken versetzt haben, nicht nacheifern, er möchte ihnen das Handwerk legen.

Die drei Burschen hingegen, die auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig herumlungern, scheinen darüber ganz anders zu denken. Es sind drei Ligera, unbewaffnete Kleinkriminelle, die auf Handtaschenraub und Wohnungseinbrüche spezialisiert sind. Sie kommen aus einem der ärmsten und gefährlichsten Stadtteile Mailands, dem Giambellino ganz in der Nähe, und haben aufgeregt alles mitverfolgt. Es ist noch zu früh am Tag, um mit den anderen Jungs aus dem Viertel in dem kleinen Park auf der Piazza Tripoli lippa zu spielen, deshalb sind sie hier und wollen einen Zeitschriftenkiosk überfallen. Mit einem Ball oder Stein die Fensterscheibe einwerfen, um den Inhaber abzulenken, schon greift einer von ihnen in die Holzschublade mit den Sammelbildchen und dann nichts wie weg.

Drei kleine Rüpel, nicht älter als zehn. Der jüngste, Roberto, mit widerspenstigen Locken über der Stirn und grünen Augen, die in dich hineinzusehen scheinen, spielt sich als Anführer auf.

Er lächelt versonnen, trotz seines jungen Alters weiß er seit langem, auf welcher Seite der Barrikade er steht: auf der anderen. Diese Gangster werden augenblicklich seine Helden. Und er verliert keine Zeit zu beweisen, dass auch er nicht aus Pappe ist, dass er Mumm hat genau wie sie: Noch am selben Abend, in Lambrate, wo er manchmal bei seiner Tante übernachtet, zieht er ein richtig tolles Ding ab.

Auf der Wiese neben den Eisenbahngleisen hat der Zirkus Medini gerade seine weiß-blauen Zelte aufgeschlagen. Der Schriftzug aus Sperrholz über dem Eingang, behängt mit blinkenden Lichterketten, verkündet die Attraktionen: Akrobaten, Clowns und Raubtiere. Letztere sind es, die den kleinen Roberto interessieren, insbesondere die Tiger. Diese erweisen sich allerdings als Flop: Sie sehen aus wie Lebenslängliche, reglos und mit dem erloschenen Blick der Besiegten. Als der Wachmann einen Moment nicht aufpasst, beschließt der Junge, sie freizulassen. Träge tappen die Tiere aus ihren Zellen.

Der Bubenstreich dauert nur eine Nacht.

»Niemand sollte im Käfig eingesperrt sein«, erklärt Robertino dem Maresciallo, der ihm am nächsten Morgen die Ohren langzieht.

Die Tiger werden wieder eingefangen, und er landet im zarten Alter von acht Jahren zum ersten Mal im Beccaria, der Jugendstrafanstalt Mailands.

3

Auf der Straße wimmelt es von Uniformierten. Als seien sämtliche Bullen der Stadt an den Ort des Überfalls gehastet. Für den bald zwei Worte reichen: der Bankraub. Zwei Stunden sind vergangen, und das Ding ist schon zum Banküberfall schlechthin geworden. Schnell kennen alle die erbeutete Summe, der fassungslose Bankangestellte wiederholt sie wie ein Mantra, und die Schaulustigen verbreiten sie von Ohr zu Ohr: sechshundert Millionen Lire in bar, plus Zirkularschecks und Inhaberpapiere.

›Was für ein Wahnsinnscoup‹, denkt Antonio. Sein Vater, Ennio Santi, der beim Maschinenbaubetrieb Breda am Fließband steht und jeden Morgen lustlos den Blaumann überstreift, verdient fünfundzwanzigtausend Lire im Monat. Zu viert leben sie davon: er, die Eltern und der Bruder. Und nicht einmal schlecht.

Während immer noch Horden von Journalisten, Fotografen und Schaulustigen hinzuströmen, rechnet der Junge eifrig weiter: Um so viel Geld nach Hause zu tragen, müsste sein Vater zweitausend Jahre arbeiten. Zweitausend! Und dann ist er auch noch vor ein paar Monaten mit den Fingern in diese blöde Presse geraten …

Mit solchen Gedanken steht Antonio reglos in seinem Hauseingang und betrachtet fasziniert das Spektakel nach dem Bankraub. Was da vor seinen Blicken abläuft, ist viel spannender als jeder Film, den sie im Filmtheater zeigen.

Die drei Ligera hingegen haben ziemlich schnell die Biege gemacht, Uniformierte können sie gar nicht leiden.

Leiter der Ermittlungen ist ein kleiner, rappeldürrer Glatzkopf: Commissario Nicolosi. Antonio kennt ihn. Alle kennen ihn. Sein Vater sagt immer, dieser Polizist habe Eier aus Stahl: 1946 nahm er Rina Fort fest, die Bestie aus der Via San Gregorio, jene Frau, die sich ihren Spitznamen dadurch verdiente, dass sie in besagter Mailänder Straße Ehefrau und Kinder ihres sizilianischen Liebhabers niedermetzelte, um ihn für sich allein zu haben. Seitdem ist der Polizeibeamte zu einer Art Stadtmythos geworden. Jetzt steht Nicolosi nur zwei Schritte von ihm entfernt. Mit gepflegtem Schnurrbart und schwarzen, flinken Augen, denen nichts entgeht.

»Was starrst du denn so, Jungchen?«, wendet er sich plötzlich zu ihm hin, als er seinen Blick spürt. »Geh nach Hause, Schularbeiten machen, hier gibt es absolut nichts zu sehen.«

»Aber ich habe sie gesehen!«, erwidert Antonio. Vielleicht ein wenig zu leise.

Der Commissario hört nicht hin. Ein herankommender Beamter ruft ihn.

»Ein Händler von hier behauptet, er habe mit einem der Täter gesprochen«, berichtet er, »und ihn unmaskiert gesehen!«

Die zwei Polizisten entfernen sich, und Antonio würde ihnen am liebsten folgen, doch eine Hand auf seiner Schulter hält ihn zurück. Sie gehört einem abgehalftert aussehenden Mann.

»Erzähl mir, was du gesehen hast«, fordert ihn der Fremde auf.

Er wirkt nicht wie ein Bulle: so ganz ohne Uniform und ohne das steife Gehabe. Im Gegenteil. Er trägt einen verblichenen Paletot und Schuhe mit abgelaufenen Sohlen. Er hat eine rote Nase und gelbe Zähne. Auch seine knotigen Finger sind nikotingelb. Die Stimme rau.

Er fragt ihn, ob er eine Esportazione möchte. Antonio nickt. Seit zwei Jahren raucht er, und sein Vater hat nichts dagegen; manchmal bietet er ihm nach dem Abendessen selbst eine Zigarette an.

»Wer sind Sie?«, fragt Antonio nach dem ersten Zug.

»Mario Basile«, lautet die knappe Antwort.

Von dem Notizblock, den er plötzlich in der Hand hält, kann man auf seinen Beruf schließen, noch bevor er sagt, dass er Reporter bei ›La Notte‹ sei.

»Erzähl mir alles von Anfang an«, fordert er ihn auf.

Und Antonio lässt sich nicht zweimal bitten.

4

Umberto Carminati, der Boss der Bande, massiert sich den Unterkiefer. Er hat sich einen Zahn ziehen lassen, damit alles möglichst echt aussieht für sein Alibi. Und das Alibi hält, als noch am selben Nachmittag Commissario Nicolosi mit zwei Beamten an seiner Tür klingelt. Umberto steht ganz oben auf der Liste der Verdächtigen. Der Bulle hat die Handschellen schon griffbereit, doch dann gibt es plötzlich sechs Zeugen plus Zahnarzt, die seine Geschichte bestätigen.

»Wie könnte man einen Mann vergessen, der elegant gekleidet in die Praxis kommt und sich wie ein Verrückter aufführt, um sich einen Backenzahn ziehen zu lassen, das Ganze mit einer weißen Rose im Knopfloch?«, erklärt der Arzt.

›Kann man nicht‹, denkt der Bulle. Und genau deswegen stinkt ihm die Sache.

Er darf ihn nicht festnehmen, obwohl er so gut wie sicher ist, dass er hinter dem Überfall steckt. Carminati ist ein alter Bekannter der Madama, auf sein Konto gehen Dutzende Coups. Der bekannteste stammt aus einer Zeit, als es eine Bande gab, die die ›Überall-Gang‹ genannt wurde, weil sie in verschiedenen Teilen Norditaliens zwischen Mailand, Imola und Bologna operierte, immer mit Hilfe von schnellen Autos. Trotz zahlreicher, meisterhaft ausgeführter Schläge war der Name des Verbrechers erst in das kollektive Bewusstsein gelangt, als er der neapolitanischen Theaterlegende Eduardo De Filippo seinen Lancia Aprilia stahl. Der Zwischenfall, an sich kaum mehr als ein Bubenstreich, wurde von den Zeitungen dermaßen ausgeschlachtet, dass der Name Carminati augenblicklich zum eigenständigen Begriff wurde, in Polizei- wie in Verbrecherkreisen.

Nicolosi wusste genau, dass dieser Mann kein banaler Autoknacker war, sondern zu ganz anderen Dingen fähig. Dafür waren die Ereignisse dieses Tages der eindeutige Beweis. Es brauchte einen gewieften Kopf wie ihn, um ein Verbrechen dieser Tragweite bis ins kleinste Detail vorzubereiten. Alibi inklusive.

Der Bulle und der Gangster sehen sich stumm in die Augen, und in diesem Blickwechsel ist alles enthalten. Die Wut des einen und die Genugtuung des anderen, die ihn neben der Beute für zehn lange Monate ununterbrochene Arbeit entschädigt, die er an dem Plan getüftelt hat.

Die anderen sechs Bandenmitglieder, die sich für die Flucht in zwei Gruppen aufgeteilt haben, treffen sich um vier Uhr nachmittags in einer Wohnung im Stadtteil Precotto wieder. Der Plan lautet, hier für ein paar Tage unterzutauchen, bis sich die Wogen geglättet haben.

Sechshundertvierzehn Millionen Lire haben sie erbeutet, einen Teil davon in Form von Wertpapieren und Schecks, die sie auf Carminatis Anweisung hin nicht anrühren dürfen. »Zu riskant«, hat er ihnen erklärt. »Wenn ihr mit denen in der Tasche erwischt werdet, oder schlimmer noch, wenn ihr versucht, sie einzulösen, schicken sie euch ohne Umwege in den Bau. Die Stammregister lassen sich nicht fälschen. Und die sind ganz sicher registriert.«

5

Am folgenden Tag sind die Titelseiten der Zeitungen voll mit Berichten über den Bankraub. Besonders eindrucksvoll: die Summe des geklauten Geldes sowie die Präzision der Durchführung. Die Verantwortlichen sind mitsamt der Beute verschwunden, es gab weder Tote noch Verletzte, und doch hallt das Echo bis in die kahlen Flure des Innenministeriums und lässt mehrere Köpfe der Polizeispitze rollen. Die Kräfte, die zur Ergreifung der Täter mobil gemacht werden, sind bemerkenswert.

Fünftausend Beamte durchkämmen jeden Winkel der Stadt auf der Jagd nach den Verbrechern, auf deren Köpfe eine Belohnung von dreißig Millionen Lire ausgesetzt ist. Jeder Geldtransport wird von einem Jeep mit vier bewaffneten Polizisten eskortiert.

Antonio hat sich nach der Schule auf dem Heimweg zwei Zeitungen gekauft. Zu Hause haben sie nur das katholische Wochenblatt ›Famiglia Cristiana‹, Freude und Glaube der Mutter, die natürlich nicht mit dem Bankraub des Jahrhunderts aufmacht, sondern mit dem Gesetz zur Schließung der Bordelle, über das im Parlament gestritten wird. Tageszeitungen sucht man im Hause Santi vergeblich; um informiert zu sein, hört man die Radionachrichten.

Der Junge isst eilig zu Mittag und schließt sich dann mit der Lektüre in sein Zimmer ein. Er kann es kaum erwarten, in diese Räuber-und-Gendarm-Welt einzutauchen und von der Belohnung zu träumen: dreißig Millionen, das sind hundert Jahresgehälter seines Vaters; wenn er die Räuber schnappen würde, hätte er sein Leben lang ausgesorgt!

Im ›Corriere della Sera‹ springt ihm der Leitartikel von Indro Montanelli ins Auge, der die »erstaunlich gute Organisation der Bande« lobt, »und das in einem Land, das seiner Natur nach eigentlich eher unorganisiert ist«. Es sind Fotos von den Tatfahrzeugen abgebildet und auch eine dieser Zeichnungen, die ›sprechende Porträts‹ heißen und später als Phantombilder bekannt werden sollen.

Den Berichten zufolge wollte einer der Täter, der schon früh am Tatort war, sich gegen die Nervosität etwas für zwischen die Zähne besorgen: Also betrat er den Lebensmittelladen gegenüber und ließ sich ein großes Brötchen mit ordentlich Käse belegen.

»Das war also der Ladenbesitzer, den Nicolosi befragt hat!«, überlegt Antonio laut.

Er erkennt das stilisierte Gesicht auf der Porträtzeichnung: Es ist der Typ mit dem Totschläger am Gürtel.

›La Notte‹ titelt mit der Schlagzeile Die Schule des Bankraubs und fährt dann fort: »Die Gangster hatten einen Lehrer und eine Schule. Der unerhörte Coup in der Via Osoppo weist auf eine lange und genaue Vorbereitung hin: Alles wurde bedacht, alles genau geplant. An der Spitze der Bande steht ein kluger Kopf und dahinter eine breite Organisation.«

Außer der Reportage und den Bildern ist auch Antonios eigene Erzählung abgedruckt, fast wortwörtlich. Obwohl Basile weitgehend auf Ausschmückungen verzichtet hat, liest er sich gut, die perfekte Zusammenfassung des Vorfalls.

»Du bist ein guter Beobachter«, hatte der Reporter Antonio gelobt.

Der hatte gelächelt und sich mit einem Kopfnicken die wer-weiß-wievielte Esportazione anzünden lassen.

Einige Jahre später würde sich sein Vorgesetzter über seine allzu detaillierten Berichte beklagen.

»Du sollst hier keine literarischen Ergüsse abliefern, Santi. Spar dir das ganze Blabla. Beschränk dich auf das, was passiert ist. Ohne viel Worte, möglichst knapp und präzise, klar?«

6

Nicolosis angespannter Miene ist anzusehen, wie sehr er unter Strom steht: Der Questore sitzt ihm im Nacken, und er hat seinem kompletten Informantenkreis die Hölle heißgemacht. Ein im Laufe der Jahre gesponnenes Netz, erprobt und effizient; kein Name davon findet sich in seinem Adressbuch wieder, die Telefonnummern weiß er allesamt auswendig, garantiert äußerste Diskretion und Anonymität. Sein derzeitiger Assistent hat dies bereits am eigenen Leib zu spüren bekommen, als er einen Großteil der Weihnachts- und Osterfeiertage in San Vittore verbrachte, um dort in Nicolosis Namen Geschenke an all jene zu verteilen, die so aussahen, als hätten sie das Zeug zum Informanten.

Doch dieses Mal reicht das nicht: Es herrscht Grabesstille, überall.

Mailand wird durchkämmt, Straße für Straße, und nach ein paar Tagen finden sich in der Via degli Apuli im Stadtteil Giambellino auf einem Bürgersteig – als wäre es Altpapier – Zirkularschecks und Aktien, die die Gangster wohl auf der Flucht aus den Wagenfenstern geworfen haben.

Die Ermittler staunen nicht schlecht. Die Verbrecher, die sie suchen, sind gerissen, sie wissen, dass sie nur mit Bargeld auf Nummer sicher gehen, und haben sich deshalb der übrigen Beute entledigt.

In ihrem geheimen Schlupfwinkel im Precotto haben ›die Goldjungs‹, wie sie nun von den Reportern genannt werden, inzwischen den Zaster unter sich aufgeteilt. Jeder steckt den ihm zustehenden Teil ein, genauer gesagt, packt ihn in eine geräumige Tasche, um ihn so schnell wie möglich zu verprassen.

»Stellt bloß keinen Unsinn damit an«, ermahnt sie Carminati noch, bevor er sie abtreten lässt.

Er selbst verstaut sein Sümmchen unter einer Falltür im Boden seines Schlafzimmers, zumindest für ein paar Tage. Dann wird er in ein Flugzeug steigen.

»Immer schön den Ball flach halten«, wiederholt er auf der Schwelle, als ihm längst keiner mehr zuhört.

Sie haben den Coup des Jahrhunderts gelandet, sie fühlen sich unbesiegbar. Zwei von ihnen wollen sich nicht mehr verkriechen und fahren in die Berge: Während ganz Mailand auf der Suche nach ihnen auf den Kopf gestellt wird, lesen sie unter Gelächter die Zeitungsberichte und aalen sich auf der Terrasse eines Fünf-Sterne-Hotels in der Sonne.

Eine Woche später, die Nerven der Polizei liegen blank, nehmen die Ermittlungen eine entscheidende Wendung. Letztlich war es Zufall. Der Fluss Olona, der nach Trockenlegung aufgefüllt und urbar gemacht werden soll, schenkt einem Lumpenhändler, der mit gefundenen Schätzen sein mageres Einkommen aufstockt, einen sackleinenen Beutel. Darin finden sich Blaumänner, Sturmhauben, Patronen und Magazine.

Nicolosi kann sein Glück kaum fassen: Ganz offensichtlich handelt es sich um die Sachen, die bei dem Überfall in der Via Osoppo benutzt wurden. Zusammen mit einem Kollegen breitet er alles auf einem Tisch der Questura aus.

Es sind sieben Blaumänner und Sturmhauben, dabei waren die Ganoven nur zu sechst.

Der Bulle lächelt und streicht sich über den Schnurrbart: Der Siebte, der im dunklen Anzug mit der weißen Rose im Knopfloch, war nicht direkt an der Aktion beteiligt, doch wenn er gewollt hätte, wäre auch für ihn ein Blaumann zur Hand gewesen.

»Und dieser leere Overall wird dir zum Verhängnis werden«, sagt er. »Den perfekten Plan gibt es eben doch nicht.«

Er zündet sich eine Zigarette an und lässt sich im Stuhl zurücksinken.

Bei ihm ist Achille Piazza, Hauptinspektor des mobilen Einsatzkommandos. Sie haben die ganze Zeit über Seite an Seite gearbeitet. Piazza ist um einiges jünger als Nicolosi, hat aber schon wichtige Erfolge eingefahren. Er ist eine Bulldogge, einer, der nicht lockerlässt. Unverheiratet, launisch und wortkarg, kein Privatleben, wenig Schlaf. Er hat sich sogar eine Matratze ins Büro gelegt, da er sich seine kurze Nachtruhe häufig genug im Polizeipräsidium der Via Fatebenefratelli holt.

Bei genauerer Untersuchung des Blaumanns fällt Piazza das entscheidende Detail auf, der Riss in dem perfekten Plan: die Etiketten.

Er liest laut vor, was darauf steht: »Arbeitsbekleidung Malpighi, Stoffe und Kleidung, Via dei Servi 32, Modena.«

»Wer vertreibt deren Sachen hier in Mailand?«, fragt Nicolosi.

»Das weiß ich noch nicht«, erwidert Piazza, »werde es aber im null Komma nichts herausfinden.«

In weniger als einer Stunde wissen sie, welcher Händler die Anzüge verkauft hat. Der Mann führt einen kleinen Laden im Molino delle Armi und kann sich noch an den Kunden erinnern, einen jungen Italiener. Der ist bei der Madama kein Unbekannter, er heißt Stefano Pozzi, seines Zeichens Kleinkrimineller, der von Diebstahl und Trickbetrug lebt. Der Mann wird festgenommen und ist sofort bereit zu kooperieren, um nur nicht in diese Bankraub-Geschichte verstrickt zu werden. Also redet er. Er redet von seinen Vermutungen, nennt Vor- und Nachnamen. Vor allem einen, den des Mannes, an den er die Overalls verkauft hat: Vincenzo Mariani, seit Ewigkeiten Carminatis ›Sozius‹.

Nun läuft die Sache wie von selbst. Nicolosi bekommt endlich einen Tipp von seinen Zuträgern: Er erfährt den Namen des Automechanikers, der den beim Coup benutzten Fiat 1400 in Schuss gebracht hat. Auch dieser Mann lässt sich nicht lange bitten und verrät, wem er ihn übergeben hat: einem Typen mit ellenlangem Vorstrafenregister.

Das Organigramm der Bande nimmt schnell Gestalt an. Zeitgleich genießen die ahnungslosen Banditen die Früchte ihrer Arbeit und investieren eifrig in Champagner und Animierdamen. Vor allem die beiden, die es sich in Cervinia gemütlich gemacht haben und ihr Leben genießen. Bei ihnen klicken die Handschellen als Erstes.

In der Abgeschiedenheit des Vernehmungsraumes schreiten die Beamten nicht gerade zimperlich zur Tat, und es dauert keine Stunde, bis die zwei auspacken. Das Luftschloss bricht zusammen, und ein Ganove nach dem anderen wandert in die Zelle. Als Letzter Carminati, das Gehirn.

Ihm auf die Spur zu kommen, ist etwas mühsamer: Ein paar Tage nach dem Überfall hat er sich nach Venezuela abgesetzt. Doch auch er begeht einen unverzeihlichen Fehler. Er schickt zwei Freunden aus Ticinese eine Hochglanzkarte mit dem Panorama der Wolkenkratzer und einem einzigen Wort: Umberto. Das reicht den Männern von Interpol, um ihn aufzutreiben. Eines Morgens in aller Frühe stehen sie in seiner Villa in Caracas. Carminati, im seidenen Morgenrock, bekommt beim Anblick der Beamten ganz weite Pupillen und rauft sich die Haare: »Man hat mich bestohlen!« Tausendzweihundert Dollar hat es ihn gekostet, hierherzukommen, und ebenso viel musste er an diesen Gauner von der Behörde abdrücken, der ihm geschworen hat, dass Venezuela die Auslieferung verhindern würde.

Betrogen von einem Betrüger.

Als er nach Mailand zurückgeschickt wird, empfängt Nicolosi ihn am Flughafen. Das Blatt hat sich gewendet, und die zwei Männer sehen sich wortlos an. Es ist der Gangster, der das Schweigen bricht und bittet, ihm die Handschellen abzunehmen, damit er ihn begrüßen kann. Stumm schütteln die beiden sich die Hand.

Im Polizeipräsidium, das aus Platz- und Personalgründen in eine Militärkaserne verlegt wurde, herrscht mittlerweile pure Euphorie: Die Bösen sind hinter Schloss und Riegel, und die Beute ist fast vollständig wieder aufgetaucht.

Nicolosi erreichen Glückwunschschreiben und Belobigungen aus dem Ministerium und von Vorgesetzten, Piazza bekommt die langerwartete Beförderung, und in der Kirche Santa Rita wird sogar ein Dankgottesdienst abgehalten.

Ein paar Tage später liest Antonio, der die Sache mit Feuereifer in der Tagespresse verfolgt hat, im ›Corriere della Sera‹ wieder einen Hintergrundartikel von Indro Montanelli, der die Gefühle der Italiener folgendermaßen auf den Punkt bringt: »Offiziell und öffentlich bekundet natürlich jedermann, wie froh und erleichtert er ist, dass die Verbrecher gefasst wurden, damit niemand Lust bekommt, ihnen nachzueifern. Aber insgeheim – was niemand zuzugeben und schon gar nicht auszusprechen wagt – war die Mehrheit der Menschen auf Seiten der Bankräuber. Dieser minutiös geplante Zusammenstoß zwischen Geldtransporter und Lieferwagen, der die Passanten ablenken sollte, sowie die schnelle und präzise, geradezu ferngesteuerte Erstürmung des Transporters haben die Italiener in Verzückung versetzt.«

Räuber und Gendarm

1

Es ist ein lauer Abend, obwohl der Sommer sich langsam dem Ende zuneigt.

Giovanni reibt sich die Hände, er ist aufgeregt. Auf seiner hohen Stirn perlt der Schweiß, und seine ohnehin leicht hervortretenden Augen scheinen geradezu aus den Höhlen zu springen. Antonio mustert ihn schweigend. Er geht aufs Gymnasium, während sein Bruder, seit einer Woche zwanzig, schon vor einiger Zeit die Bücher gegen eine Arbeit als Schweißer beim Automobilzulieferer Marelli getauscht hat.

»Bist du so weit?«, fragt ihn der Vater.

Giovanni nickt und steht auf. Antonio bleibt am Tisch sitzen, vor sich ein Päckchen MS. Wie gern würde er mitkommen, doch er weiß, dass das nicht geht, also schweigt er.

»Du halt dich an die Zigaretten«, sagt der Vater im Hinausgehen.

Heute wird Giovanni zum ersten Mal ein Bordell betreten. Und gleichzeitig auch zum letzten Mal.

Es ist die Nacht des Abschieds, eine Nacht der Trauer und der Tränen für viele Menschen.

In der Bar unten im Haus, zwischen Kartenspiel und Zigarettenqualm, hat Antonio tagelang den Diskussionen der Leute gelauscht, bis die Parlamentsabgeordneten das Gesetz Merlin endlich verabschiedeten.

»Nach meinem Dafürhalten handelt es sich um eine sinnvolle öffentliche Einrichtung«, hatte der Anwalt argumentiert, der oft in der Bar war und bei dem immer alle schwiegen, wenn er redete, »und zwar sowohl für die Ehefrauen, die von den exzessiven Wallungen ihrer Männer verschont bleiben, als auch zur Vorbeugung vor Geliebten, zur Stärkung des Familienzusammenhalts und zur physischen Reifeprüfung der männlichen Nachkommenschaft.« Ob vor seinem Espresso oder vor Gericht, der Mann klang immer gleich.

An diesem Abend stand Antonios Vater beim Essen das Bedauern ins Gesicht geschrieben, auch wenn er es niemals zugegeben hätte. Zwischen Pasta und Hauptgang hatte er Giovanni einen bedeutungsvollen Blick zugeworfen.

»Nach dem Essen wirst du zum Mann«, mehr hatte er nicht gesagt.

Trotzdem verstanden alle, was gemeint war. Auch seine Frau, dem Anschein nach eine kleine, farblose Person, dabei aber zäh und widerstandsfähig. Scheinbar unbeteiligt spült sie die Teller. Sie ist eine Begine und kennt das Leben, sie weiß, dass die Männer von Anbeginn der Zeit in den Puff gehen. Wie sie selbst jeden Sonntag in die Kirche.

Die sogenannten ›Häuser der Toleranz‹ gab es bereits lange vor ihrer Geburt, seit 1883. Die dort arbeitenden Frauen spielten seit jeher die Rolle von Geliebten und Vertrauten, wiesen geduldig ganze Generationen von jungen Burschen in die Manneskraft ein und spendeten ausgehungerten Soldaten generös Liebe. Auch ihr Vater hatte Bordelle besucht, ein über jeden Zweifel erhabener Generalfeldmarschall. Der Bordellbesuch war nicht unmoralisch, und er musste auch nicht dem Pfarrer gebeichtet werden, da man ihn auf der Liste der schändlichen Sünden vergeblich suchte. Und wenn die Kirche einverstanden war, was sollte sie dann dagegen haben? Zumal es den Vorteil hatte, dass ihr Mann sie im Bett in Ruhe ließ. Ja genau, bei näherer Betrachtung könnte die Sache sich auch auf ihre eigene Beziehung auswirken, wenn sie ab morgen wesentlich häufiger als gewohnt die Beine für ihn würde breit machen müssen.

Gerade heute Nachmittag hatte Antonio wieder mal einen Artikel von Montanelli gelesen, in dem es polemisch hieß: »Die Bordelle sind der sichere Garant für die drei Grundpfeiler Italiens: Glauben, Vaterland und Familie.«

In den TV-Nachrichten unten in der Bar, da sie in der Wohnung kein Fernsehgerät hatten, hörte er, wie der Sprecher in einer Meisterleistung der Prüderie das Ereignis verkündete, ohne die abzuschaffende Sache auch nur einmal beim Namen zu nennen. Glaube, Vaterland, Familie.

»Und Lüge«, hatte er unwillkürlich hinzugefügt.

Weitaus weniger reserviert wirkt sein Bruder an diesem Tag, als er eine Stunde später zurückkehrt.

»Eine Brünette in Korsage, schwarze Strümpfe, die Augenbrauen zwei elegante Striche und einen Arsch … hmmmm«, erzählt er, kaum dass sie allein im Zimmer sind, »zum Wahnsinnigwerden, ich schwöre es dir!«

Antonio stellt das Radio lauter, damit die Mutter sie nicht hört: Fred Buscagliones raue Stimme singt Buonasera Signorina und überdeckt die sündigen Einzelheiten.

Das Ganze hat wohl kaum ein paar Minuten gedauert, doch Giovannis Erzählung füllt fast eine Stunde. Er beschreibt die eleganten, offenen Hausmäntel der anderen Damen, die farbenfrohen Seidenstoffe, die Wendeltreppe, die nach oben führte, der nach edlen Essenzen duftende Saal, wo sich die Männer drängten und warteten, bis die Reihe an ihnen war. Die beleibte Puffmutter an der Kasse, die ihm und dem Vater beim Hinausgehen traurig prophezeite: »Meine Herren, von morgen an nur noch illegale Straßennutten, bei denen ihr euch was einfangt.«

Antonio lässt sich kein Wort entgehen. Er kann gut zuhören, ein Talent, das ihm später als Bulle bei zahllosen Gelegenheiten zugutekommen wird. Den Verdächtigen reden lassen, ihn in Sicherheit wiegen, um ihm dann nonchalant die entscheidende Frage hinzuwerfen, die ihn reinreißt.

Heute Abend kann Antonio nicht einschlafen, er hat einen Steifen von all den Geschichten, so dass er sich am Ende ins Bad einschließt, um sich Erleichterung zu verschaffen, unter dem belustigten Feixen seines Bruders.

In den darauffolgenden Tagen schwelgen die Zeitungen in Wehmut. Der Schriftsteller Mario Soldati zum Beispiel berichtet, wie er bis zum letzten Schlag der abolitionistischen Mitternacht im Bordell verharrte. Und dann die Verteidigungsreden für die geschlossenen Häuser, viel zu spät, aber gespickt mit klugen Argumenten aller Art von Dino Buzzati, Enzo Biagi, Giorgio Bocca, Alberto Sordi und vielen anderen. Auch ein Pamphlet besagten Montanellis darf natürlich nicht fehlen mit dem Titel Leb wohl, Wanda.

Kurz gesagt, es ist das Ende einer Epoche, die rote Laterne für immer erloschen; fünfhundertsechzig Bordelle mit zweitausendsiebenhundert Prostituierten haben ihre Pforten geschlossen.

Die Vorhersage der Puffmutter erfüllt sich im Nu: In den folgenden Tagen tauchen an den Straßenecken ganze Heerscharen von Spaziergängerinnen auf wie auch Kleinwagen, die als Liebesrefugium dienen.

»Wo sollen die ganzen Nutten sonst auch hin?«, kommentiert ein Gast an der Bar die Fernsehmeldung.

Jahre später, als er schon Uniform trägt, sollte Antonio häufig die älteren Kollegen von jener letzten Nacht erzählen hören, und stets voller Wehmut. Und er sollte auch Commissario Nicolosi hören – angejahrt, aber pragmatisch wie ehedem –, der zu seinen Männern sagt: »Macht, was ihr wollt, geht ruhig auch zu den Nutten, aber bitte besucht sie zumindest jedes zehnte Mal aus beruflichen Gründen.«

2

Fünf Uhr morgens. Die Stadt ist schwarz, in Erwartung der Dämmerung. Auf den Straßen nur Polizeistreifen, ein paar Nachtschwärmer auf dem Heimweg und Berufstätige, die früh mit der Arbeit beginnen.

Der Amerikaner fällt unter keine der drei Kategorien. Er fährt langsam, denn der Kofferraum seines Cadillac 5000 ist voll mit Beutegut. Die ›Arbeit‹ war ein Erfolg, der Tipp heiß. Eine kleine Villa in der Gegend von San Siro, siebzig Kilometer nördlich von Mailand, völlig verlassen. Die Eigentümer für ein Wochenende außer Haus und sie drinnen: Zwei Säcke füllen sie mit Schmuck und Geld.

Er und dieser Junge, der zusammengerollt auf der Rückbank liegt und schläft. Robertino, klein und agil wie ein Äffchen, hat sich durch ein rückwärtiges Fenster ins Haus gezwängt und die Vordertür geöffnet, sonst wäre der Amerikaner niemals hineingekommen. Er ist ein großer Mann von fast zwei Metern und trotz seines Spitznamens Italiener mit Leib und Seele, die Mutter Mailänderin, der Vater Ungar und gestorben, als er noch klein war.

Die Mutter hat eine Milchbar in der Via Novara, die sich die ›Krimenbar‹ nennt aufgrund der zwielichtigen Stammkundschaft. Hier trifft sich das Gesindel der Stadt, ein unterschiedsloser Mix aus Ex-Faschisten und Ex-Partisanen, die in den letzten Kriegstagen Überfälle, Plünderungen, Entführungen und angeblich sogar Morde begangen haben. Jetzt sitzen sie gelangweilt in der Bar und tun so, als wären sie normale, anständige Leute.

Das wissen die Bullen, und das weiß Robertino, der trotz seines jungen Alters schon einmal im Jugendknast war und ein gewisses Geschick für Wohnungseinbrüche mitbringt. Er ist bei den Jungs aus dem Stadtteil Lambrate in die Lehre gegangen: Zuerst klaute er Lkw-Ladungen, dann Käse auf Spritztouren durch die Poebene, schließlich war die Villa am Comer See an der Reihe. Ein aufgeweckter Junge, der vor nichts zurückschreckt.

Der Amerikaner wollte zunächst nichts davon wissen.

»Zieh Leine«, hatte er ihm bei dem ersten Kontaktversuch gesagt.

Robertino hatte seinem Blick standgehalten und war keinen Schritt zurückgewichen. Und er war jeden Tag wiedergekommen, eine ganze Woche lang. Beim letzten Mal hatte er sich sogar eine Backpfeife gefangen, hatte aber weder geklagt noch geheult. Das war gut angekommen.

»Einverstanden«, hatte der Amerikaner schließlich eingelenkt, »aber wenn etwas schiefgeht, lässt du dich nie wieder blicken. Ende der Diskussion.«

Robertino nickte. Ein Lächeln wäre zu viel gewesen, obgleich das die Gelegenheit war, auf die er immer gewartet hatte.

Der Amerikaner war in sich gegangen: Auch er hatte einmal so angefangen, mit einem Vorbild, das erfahrener war als er und ihn angeleitet hatte. Sein Lehrer war der Baron gewesen.

Er hatte ihn als Teenager kennengelernt, als er zum Aufpolieren seiner Finanzen Mofas geklaut und bereits erste Anzeigen wegen Randale und Diebstahl kassiert hatte. Ein Großmaul, sicher, aber eins mit Erfahrung, so dass sein Mentor auf ihn aufmerksam geworden war. Eben der Baron, der in Wahrheit im Viertel Ticinese auf die Welt gekommen war und sich mit Hilfe von Maßanzügen und vornehmen Umgangsformen als feiner Herr gerierte, so geschickt, dass es ihm jedermann abkaufte. Allen voran die Madama.

Die erste Aufgabe des Amerikaners – damals noch ohne Spitznamen und für alle nur Leandro Lampis – war, den Baron durch die Gegend zu kutschieren, und zwar am Steuer eines Cadillacs. Zusammen stahlen sie Hühner am Großmarkt. Der geräumige Kofferraum der amerikanischen Limousine umfasste einige Zentner, und wenn die Bullerei den Wagen zufällig für eine Kontrolle anhielt, war die breite Brust des vornehmen Barons mit eigenem Chauffeur so respekteinflößend, dass eine Durchsuchung nicht in Frage kam.

Dies war sein Sprungbrett gewesen. Der Cadillac blieb ihm als Erbe, als der Baron in den Knast wanderte, weil irgendwann ein Maresciallo Verdacht geschöpft und sich zu einer Durchsuchung durchgerungen hatte. Das war’s dann gewesen.

Bei einem Altwarenhändler vervollständigte Lampis seine Ausrüstung durch eine Smith & Wesson, Kaliber .45 mit langem Lauf, die früher der kanadischen Polizei gehört hatte: ein Kriegsüberbleibsel ohne Munition, da Patronen für dieses Kaliber nicht mehr aufzutreiben waren. Dennoch war es dieser Revolver zusammen mit dem schwarzen Cadillac, der ihm seinen ersten Spitznamen eingetragen hatte: der Amerikaner.

Auf sich allein gestellt hatte er die ersten Schritte der angestrebten Karriere unternommen: die eines Bankräubers. Welche der Wahrheit zuliebe eher zufällig ihren Anfang nahm, nämlich in einem Postamt der Peripherie. Dorthin hatte es ihn wegen einer Stromrechnung seiner Tante verschlagen, die er bezahlen sollte. Es war kurz vor Schalterschluss, und der Postbeamte hielt es nicht für nötig, von seiner Abrechnung aufzuschauen. Lampis war nervös geworden, hatte mit der Faust auf den Schalter geschlagen und dabei versehentlich das Schießeisen in seinem Gürtel freigelegt. Der Postbeamte, der ihn für einen Bankräuber hielt, hatte ihm verängstigt eine Million Lire ausgehändigt. Herrliche dané – ein Geldsegen.

Ohne mit der Wimper zu zucken, steckte der Amerikaner die Knete ein und floh. Draußen überkam ihn eine ganz ungewohnte Leichtigkeit. Er hatte seinen ersten Überfall begangen und spürte weder Angst noch Reue. Eher das komplette Gegenteil. Er fühlte sich stark, mächtig. Gedanken, die ihn zu dem Schluss brachten, dass Banküberfälle sein eigentliches Metier seien, weil sie im Gegensatz zu vielen anderen Tätigkeiten – also beispielsweise jeder beliebigen ehrlichen Arbeit – selbst dann gelangen, wenn sie gar nicht beabsichtigt waren.

»Wach auf, Junge. Du bist da.«

Robertino schlägt die Augen auf. Der Wagen hält auf der Piazza Napoli.

Der Amerikaner drückt ihm ein Bündel Banknoten in die Hand.

»Das ist dein Anteil. Hast du gut gemacht. Wir sehen uns bald wieder.«

Der Junge blickt dem protzigen Wagen nach, der in Richtung des Viale Misurata verschwindet. Aus dem Radio erklingt ein Lied von Ray Charles, Georgia on My Mind.

Der Morgen graut, und während er nach Hause geht, kann er sich nicht vorstellen, dass dies das letzte Mal gewesen sein soll, dass er den Amerikaner gesehen hat. Zumindest als freier Mann. Viele Jahre später würden sie sich wiedertreffen, in San Vittore. ›Die Zwei‹, wie das Gefängnis von allen genannt wird.

3

Die Krimenbar ist fast leer an diesem Morgen. Was nicht weiter erstaunt, da die Stammkundschaft ja nachts ›arbeitet‹ und vor vier Uhr nachmittags normalerweise niemand aufkreuzt.

Der Amerikaner hingegen ist seit sieben hier. Er will sich von seiner Mutter verabschieden, weil er eine Weile verreisen muss.

»An die Riviera, geschäftlich«, erklärt er der Frau, die ihn kopfschüttelnd ansieht.

Seit der Baron im Knast sitzt, ist er auf eigene Faust unterwegs und schnell von den Hühnern zum Champagner gewechselt. Er lebt von Diebstählen und Raubüberfällen. Er arbeitet allein, ein einsamer Wolf, bisher läuft alles wie geschmiert. Jetzt will er sich die Julisonne in der Romagna auf das Fell brennen lassen.

Um zwei ist er schon in Cesenatico. Sonnenbrille, schulterlange Locken, Seidenhemd und Leinenhose. Ringe an jeder Hand und die Ambassador zwischen den Lippen, die er mit einem silbernen Ronson anzündet.

Keiner beachtet ihn, auch nicht, als er vor einem Hotel an der Strandpromenade zwei Koffer ergreift, die eine Touristin dort abgestellt hat, und sie in seinem Kofferraum verstaut. Ruhig fährt er los und erreicht völlig unbehelligt sein Zimmer in einem Hotel wenige Kilometer weiter südlich.

Als er die Koffer öffnet, ändert sich sein Leben. Nicht etwa, weil sie Schätze oder Kostbarkeiten enthielten. Nichts Derartiges. Es ändert sich, weil der Amerikaner den Kopf verliert, was ihm nie zuvor passiert ist. In den Koffern befinden sich Luxusgüter: Korsagen, Slips, Mieder, Seidenstrümpfe, ein paar Fotos von dem Mädchen, das er bestohlen hat. Er ist wie elektrisiert. So einer ist der Lausejunge aus der Via Novara noch nie begegnet, und sie soll ihm auf keinen Fall durch die Lappen gehen.

Eine halbe Stunde später steht er erneut vor dem Hotel des Mädchens. Wie wild gestikuliert sie mit dem Portier, ganz verzweifelt, denn die Koffer enthielten all ihre Habseligkeiten. Nun hat sie nichts mehr außer den Kleidern am Leib.

Der Amerikaner, der sich vom Baron die Umgangsformen des feinen Herrn und Charmeurs abgeschaut hat, nähert sich der schönen Touristin. Sie heißt Chantal, vielmehr ist dies ihr Künstlername; ihr echter Name hat für ihn wenig Bedeutung, so wenig, dass er nicht einmal danach fragt. Sie ist fünfundzwanzig Jahre alt und Italienerin, lebt aber in Genf, wo sie als Tänzerin in einem Nachtclub arbeitet.

Er tröstet sie und lädt sie an die Bar ein. Bei einer Flasche Cristal sagt er ihr, sie brauche sich keine Sorgen zu machen, er habe Kontakte und die Koffer ließen sich bestimmt wieder auftreiben. Sie solle ihm nur vertrauen.

Noch am selben Abend sind die Koffer wie von Zauberhand wieder da, und Chantal fackelt nicht lange, sich in der Art bei ihm zu bedanken, auf die sie sich als Nachtclubtänzerin am besten versteht.

Doch es bleibt nicht bei einer Nacht. Der Amerikaner verliebt sich rasend in das Mädchen und nimmt sie mit sich zurück nach Mailand. Er will sie heiraten. Was er nach einem Monat in Saus und Braus wahr macht. In Genf, chez elle.

Zwei Tage später betritt Lampis mit der Gattin am Arm die Krimenbar. Chantals Anblick ist betörend. Nonchalant trägt sie eine Fuchsstola über einem enganliegenden, langen schwarzen Kleid mit Seitenschlitz, der viel Bein zeigt. Sie balanciert auf schwindelerregenden Absätzen, und der Femme-fatale-Effekt wird durch ein verschwenderisches Make-up und weiße, lange Handschuhe noch verstärkt.

Die Mutter rümpft die Nase.

»Du kannst doch kein Flittchen heiraten«, sagt sie zu ihrem Sohn.

»Aber ich habe sie schon geheiratet!«

Und er zeigt ihr die Urkunde.

»Die Schweiz existiert nicht in meinem Haus!«, erwidert die Frau und zerreißt das Papier vor seinen Augen.

Die zufällig anwesenden Gäste tun unbeteiligt, leeren ihre Gläser und scheren sich nicht darum.

Der Amerikaner geht hinaus, Hand in Hand mit seiner Frau. Sie nehmen sich ein Zimmer im Hotel in der Via Washington. Sie spielt die feine Dame und glaubt, er verfüge über die nötigen danè. Und ein wenig hat er ja auf der hohen Kante. Aber nicht genug, um die Extravaganzen einer solchen Frau erfüllen zu können. Erste Anzeichen gibt es Heiligabend. Sie spazieren unter den Arkaden direkt gegenüber vom Dom entlang. Chantal spiegelt sich zufrieden in den Schaufenstern und lächelt den Männern zu, die sich heimlich, die Ehefrauen untergehakt, nach ihr umdrehen. Übertrieben lässt sie die Hüften schwingen, und ihr Lachen hallt durch die glasüberwölbte Weite der Einkaufsgalerie. Heute sind viele Leute unterwegs, schönes Volk noch dazu. Mit Pelz und Schmuck behängte Damen und Herren in eleganten Anzügen. Man lächelt, tauscht Küsschen hier und da und wünscht sich ein frohes Fest, unterhält sich unter dem großen, mit roten Kugeln und Lichterketten behängten Tannenbaum. Nach ein paar Schritten landen sie und Lampis vor einem erleuchteten Schaufenster. Die Frau ist ganz bezaubert von einem Hermelin. Ihre grünen Augen funkeln.

Er begreift.

»Geh nach Hause«, sagt er, »ich will mal sehen, ob ich den Besitzer finden kann, vielleicht sitzt er in einer der Bars von San Babila.«

Sie steigt in ein Taxi und tut so, als glaube sie ihm, dass irgendjemand am Abend des 24. Dezembers in einer Bar herumsitzt.

Der Amerikaner sucht die nähere Umgebung ab, bis er eine geparkte Giulietta findet: Er schlägt das Seitenfenster ein, verbindet zwei Drähte und fährt seinem ersten Liebesraub entgegen.

Auf den Straßen sind die Nachtwächter auf ihren Rädern unterwegs und Menschen, die aus der heiligen Messe strömen. Er kurvt herum, bis es ruhiger wird. Gegen halb fünf fährt er mit dem Kleinwagen die Fensterscheibe ein. Er springt hinein und versucht, der Puppe den Pelz vom Leib zu reißen, doch sie ist gespickt mit Stecknadeln, also wirft er sie so, wie sie ist, ins Auto und rast mit Vollgas davon.

Als er die Wohnung betritt, ist es schon Morgen. Der Hermelin hängt über seinem Arm.

Chantal erwartet ihn. Wie ein schnurrendes Kätzchen. Sie trägt einen transparenten, rosaseidenen Morgenrock, mit Straußenfedern besetzt. An den Füßen winzige Pantöffelchen mit Absatz und Bommeln an den Spitzen. Betont langsam schreitet sie durch den Flur, einen Fuß vor den anderen setzend wie auf dem Laufsteg, die pure Sinnlichkeit. Als sie neben ihm stehen bleibt, sieht Lampis, dass sie sorgfältig geschminkt ist: die Augen mit Kayal betont und die Lippen so rot wie noch nie. Der Mann will sie umarmen, doch sie entwindet sich, vollführt eine Art Pirouette, um dann den Morgenrock wie zufällig zu Boden gleiten zu lassen.

Nun ist sie nackt bis auf ein Goldkettchen, das ihre Hüfte umschlingt. Er hüllt sie in den Pelz.

»War er teuer?«, fragt die Frau, während sie vor ihm auf die Knie geht.

Statt einer Antwort überlässt sich der Amerikaner ganz dem Dank, den sie ihm abstattet.

Dennoch sind die ersten Ehemonate des Amerikaners nicht die glücklichsten. Als der Champagner leer und das süße Leben an der Riviera Vergangenheit ist, dämpft der graue Alltag in der lombardischen Hauptstadt den Enthusiasmus des Paares. Zumal ein paar Sachen auffliegen und er für sechs Monate hinter Gitter wandert. Alte Geschichten: kleinere Diebstähle und Gaunereien vor allem, aber die Justiz hat ein Elefantengedächtnis.

Chantal übt sich in Geduld und wartet auf ihn, in der Gewissheit, dass ihr Mann sie wieder glücklich machen wird.

Der Amerikaner enttäuscht sie nicht. Er ist nicht untätig in San Vittore, sondern setzt seine Zeit gewinnbringend ein und knüpft Kontakte zu anderen Subjekten der Mailänder Unterwelt – zumeist kleine Halunken –, die sich später als äußerst nützlich erweisen sollen, und plant bis ins Detail eine Reihe von Überfällen. Hier trifft er auch den Baron wieder, mit dem er sich eine Zeitlang sogar die Zelle teilt. Als er freikommt, ist er geladen und bereit, sein Verbrecherleben noch entschiedener als zuvor wieder aufzunehmen.

Doch seine Rückkehr auf die Bühne wird von einem aufwühlenden Ereignis verzögert: Nach langer Krankheit stirbt seine Mutter.

An ihrem Totenbett schwört Lampis, dass er sein Leben ändern will. In den Folgemonaten tut er alles, um dieses Ziel zu erreichen. Er verkauft die Krimenbar und arbeitet eine Weile in einer Fernverkehrsfirma, als Taxifahrer ohne Konzession und als Chauffeur eines Cadillacs, in weißen Handschuhen und Uniform. Er spielt sogar beim Film In einem anderen Land mit, in der Rolle von Rock Hudsons Fahrer.

Doch die guten Vorsätze währen nicht lange: Mit dem bisschen Geld, das er verdient, kann er kaum die großzylindrigen Autos und die kostspieligen Kleider seiner Gattin bezahlen. Er ist nicht gemacht für diese Art von Leben und verscherbelt den Wagen, um von dem Geld ein paar Schießeisen zu kaufen; dann macht er mit dem weiter, was er am besten kann, mit Überfällen. Zuerst arbeitet er allein: Tabakläden, ein paar Boutiquen. Von Banken hält er sich noch fern, denn dafür muss man mindestens zu zweit sein. Mit Geschäften ist es leichter, das geht auch allein: Er verschafft sich Zutritt und ist drei Minuten später wieder draußen. Einfach und schnell.

Allmählich weitet sich sein Aktionsradius auf ganz Norditalien aus, und auch Chantal hilft ihm manchmal. Sie betritt ein Juweliergeschäft zur Ortsbegehung, lässt sich Ketten und Ringe zeigen. Dann kommt Lampis mit der Maschinenpistole im Arm und weiß schon genau, was er rauben will. Sie verstehen sich prächtig, er ist immer verliebter in die grünäugige Schönheit und kann – abgesehen von einigen Ausrutschern mit Mädchen aus Nachtclubs, doch Eifersucht ist ihr fremd – ohne sie nicht sein.

Sie werden unzertrennlich, sind bei den Ordnungshütern als Bonnie und Clyde Italiens bekannt. Die Lust am schnellen Geld hat sie voll im Griff, und sie beschließen, höher zu zielen, auf die Banken. Aber nur auf Zweigstellen.

Sie grasen verschiedene Städte ab, und in seiner Freizeit lässt der Amerikaner es sich gut gehen. In seinem Geltungsdrang nimmt er Musiker, Animierdamen und Kellner der Nachtclubs und Tanzschuppen für sich ein, indem er mit Trinkgeldern von niemals unter fünftausend Lire um sich wirft. Sein Ruhm wächst, und die Menschen sind loyal: So kommt es, dass niemand ihn an die Bullen verrät.

Im Übrigen versteht es Lampis, mit Worten umzugehen. Er ist witzig, nie um eine Antwort verlegen, gerne auch im Mailänder Dialekt. Und er ist nicht gierig.

Eines Tages bei einem Überfall in einem Mailänder Außenbezirk entdeckt er ein Großmütterchen, das wie Espenlaub zittert, während er dem Kassierer die Kanone an die Schläfe hält und dieser ihm das Köfferchen füllt.

Chantal wartet draußen im geklauten Wagen auf ihn, der Motor läuft.

Die Alte steht einen Schritt von ihm entfernt, bleich wie ein Leintuch. Der Amerikaner lässt sie nicht aus den Augen: Er fürchtet, dass sie jeden Augenblick vor lauter Schreck alle viere von sich streckt.

Bevor er abhaut, packt er wie zur Belohnung, dass sie nicht abgekratzt ist, ein Bündel Scheine und drückt es ihr in die Hand.

»Té, vegetta, du sollst auch nicht darben, Alte«, sagt er und rennt hinaus.

Die Frau jedoch dankt es ihm schlecht. Am nächsten Tag trifft ihn fast der Schlag, als er in der Zeitung die Schlagzeile des Tages liest: Rentnerin rettet Teil der Beute.

4

Antonio mag Rom. Entschieden besseres Wetter als in Mailand. Nicht dieser ewige nebiun, sondern ein Sonnentag nach dem anderen, und das im Januar.

Dabei ist er nicht zum Urlaubmachen hier. Gleich nach bestandener Polizeiprüfung hat man ihn in die ewige Stadt geschickt. Er muss selbst zugeben, seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt seit jenem bleigeschwängerten Vormittag in der Via Osoppo, doch am Ende hat sein Starrsinn Früchte getragen.

»Bulle, was für ein Scheißberuf!«

Sein Bruder Giovanni hält mit nichts hinterm Berg, auch nicht mit seiner Meinung zur brüderlichen Berufswahl.

»Wie bist du bloß darauf gekommen? Brauchen wir etwa noch einen Polypen in der Familie? Als ob ein Carabiniere-Opa nicht reichen würde!«

»Das ist nicht dasselbe.«

»Beide beim Militär, beide Sklaven des Staates.«

»Ach, jetzt fang du nicht auch noch an, Giovanni! Oder bist du etwa über Nacht Kommunist geworden? Haben sie dir in der Fabrik eine Gehirnwäsche verpasst mit ihren Reden?«

An diesem Punkt hatte der Bruder abwiegelnd die Hände gehoben: Frieden. Zumindest zwischen ihnen beiden; die Eltern sind da weniger großmütig.

»Wozu haben wir dich so lange auf die Schule geschickt, wenn du dann doch nur Bulle wirst?«, hatte sein Vater gebrüllt. »Willst du denn nicht studieren? Willst du kein Anwalt werden?«

Antonio war keine überzeugende Antwort eingefallen. Er wollte nun mal Polizist werden, das war alles, was er wusste. Sie hatten auf ihn eingeredet, er solle es sich noch einmal überlegen, er dürfe nicht sein Leben ruinieren. Nichts zu machen. Die Diskussion endete mit einem grummelnden Vater und einer stummen Mutter, die sich als Tochter eines Militärs ohnehin zurückhielt. Praktisch denkend, wie sie war, fand sie, dass ein Jahr beim Militär dem Jungen nicht schaden könne.

Am Tag der Abreise zur Polizeischule von Piacenza hatte sein Bruder Giovanni ihn in seinem gebrauchten Fiat 500 zum Bahnhof gefahren.

Sie schwiegen, die sinnliche Stimme von Jula de Palma erfüllte den Innenraum. Das Lied Tua hatte den Ruch des Verbotenen, nachdem der Vatikan es gerade als Skandal gebrandmarkt hatte aufgrund eines anstößigen Auftritts der Sängerin beim Festival von San Remo. Die Unterhaltung stockte, doch die zwei Brüder hatten sich noch nie viel zu sagen gehabt.

Die Ausbildung bereitete Antonio wenig Probleme. Nachdem er zwischen Ligera-Banden, Rowdys und kleinen Straßenganoven aufgewachsen war, hatte er das ideale Grundtraining, sowohl in Sachen Gewaltvermeidung als auch Gewaltanwendung. Marschieren, Liegestütze, selbst die unzähligen Militärzeremonien machten ihm nicht viel aus. Alles diente der Stärkung seiner mentalen Disziplin. Nur das Schießen war ihm neu; nicht, dass er noch nie eine Waffe gesehen hätte, im Gegenteil. Kleine Jungs mit Schießeisen hatte es genug gegeben, dort in der Mailänder Peripherie zwischen dem Giambellino und der Piazza Brescia, wo man auf der Straße aufwächst unter den Schikanen der älteren Jungs, den zu leistenden Mutproben und der Bewunderung für all jene, die mit einer Ramme im Hosenbund und einem Bündel Geldscheine in der Hand herumliefen. Diese weitverbreitete Vorstellung des sozialen Freikaufs hatte die Jungs um Antonio allerdings nicht verführen können. Die katholische Jugendbewegung hatte ihn davor bewahrt, in schlechte Gesellschaft zu geraten.

»Für irgendwas muss es ja schließlich gut sein, eine Betschwester als Mutter zu haben«, sagte er sich.

Viele Jahre als Messdiener, in denen er den alten Damen das silberne Tellerchen unters Kinn hielt, hatten ihn wahrscheinlich vor dem Beccaria bewahrt und gleichzeitig auf die andere Seite geschoben, in Richtung derer, die die errungene Ordnung um jeden Preis bewahren wollten. Wenn nötig auch mit Hilfe der Schlagstöcke.

Er hatte nie Waffen besessen außer einer Steinschleuder, von Messern ganz zu schweigen. Der Umgang mit dem Messer ist eine edle Kunst, die dem vorbehalten ist, der sie beherrscht, während alle anderen sich bloß wie Idioten in die Hand schneiden. In der Ausbildung lernte er, eine Beretta innerhalb weniger Sekunden auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen, mit dem Gewehr auf ein Ziel und auf bewegliche Pappfiguren zu schießen und dabei noch durch den Schlamm zu robben. Sie schien Ewigkeiten zu dauern, dabei waren es nur wenige Jahre, die ihn jedoch grundlegend veränderten. Antonio wurde zum Bullen: Er stand im Morgengrauen auf, rasierte sich gründlich, ging hinaus, um die Bösen zu fangen, rief jeden zweiten Abend vom Münztelefon im Kasernenflur aus zu Hause an. Vaterland und Familie.

Am Telefon sprach er hauptsächlich mit seiner Mutter; der Vater beschränkte sich auf ein paar Floskeln, während der Bruder im Versuch, das peinliche Schweigen zwischen ihnen zu überbrücken, immer dasselbe langweilige Zeug erzählte: Tratsch von den Freunden aus der Bar, die letzten Spiele von Inter Mailand. Solche Sachen.

Die ersten Monate in Uniform waren ernüchternd. Nach der Ausbildung wurde Antonio übergangslos nach Rom geschickt. Streife fahren, Nachtdienste, Überwachung von öffentlichen Veranstaltungen und Demonstrationen – die damals in der Hauptstadt an der Tagesordnung waren – und Ordnungsdienst im Stadion. Halbe Tage mit dem Helm auf dem Kopf herumzustehen und von der einen oder anderen Seite Prügel zu beziehen kann lehrreich sein, doch zunehmend machte sich der Frust in ihm breit, und er begann an seiner Bauchentscheidung zu zweifeln. Bis nach vierzehn nicht gerade einfachen Monaten endlich die Versetzung nach Mailand erfolgte. Es fehlte an Personal, und der Standort war nicht beliebt: Heißes Pflaster, hieß es. Die meisten wollten so schnell wie möglich wieder von dort weg. Vor allem seine süditalienischen Kollegen, und das war die überragende Mehrheit; nur wenige trugen im Norden die Uniform. Und einer von ihnen war Agente Antonio Santi, der glücklich wie Napoleon bei seiner Rückkehr aus dem Exil auf Elba nach Hause kam.

5

Nach einer nicht enden wollenden Fahrt im heißen, ruckelnden und überfüllten Eilzug erreicht Antonio Milano Centrale und geht zu Fuß zur Questura in der Via Fatebenefratelli, ohne zu Hause vorbeizuschauen. Er ist aufgeregt: Er muss zum Rapport bei Nicolosi, seinem großen Vorbild.

Der Commissario empfängt ihn in seinem Büro in der Questura.

»Antonio Santi?«

Der junge Mann nickt.

»Sind wir uns schon einmal begegnet?«

»Nicht dass ich wüsste, Signore«, lügt Antonio.

Sein Gegenüber studiert den Versetzungsbescheid.

»Du wohnst in der Via Osoppo?«

»Sissignore.«

Die beiden wechseln einen Blick.

›Nie im Leben erinnert der sich‹, denkt der junge Bulle.

Nicolosi sagt nichts. Er schließt die Akte und erhebt sich.

»Kannst du einen tropfenden Wasserhahn reparieren, Santi?«

Antonio weiß nicht, was er antworten soll, also schweigt er.

»Nun?«

»Tja, also … ja.«

»Dann komm.«

Eine Stunde später betreten sie eine leerstehende Wohnung im vierten Stock eines einfachen Mehrfamilienhauses an der Piazza Corvetto. Es liegt in einer Gegend, in die niemand mit halbwegs gesundem Verstand nachts freiwillig einen Fuß setzen würde, doch um diese Tageszeit ist es ein Viertel wie viele andere. Antonio beobachtet erstaunt, wie Nicolosi im Badezimmer sämtliche Hähne aufdreht, bis das Wasser überläuft und auf den Boden fließt.

»Ich bin nicht verrückt, Santi«, erklärt ihm der Vorgesetzte. »Hilf mir.«

Der junge Polizist verkneift sich die Fragen und dreht auch in der Küche den Hahn auf.

Nach einer halben Stunde steht alles unter Wasser.

»Das wär’s«, verkündet Nicolosi. »Lass uns gehen.«

»Ohne das Wasser zuzudrehen?«

»Sonst hätten wir uns ja nicht die Mühe machen brauchen, was?«, erwidert der Vorgesetzte.

Den Rest des Vormittags verbringen sie in einem zivilen Streifenwagen der Polizei: einem Fiat 600, der nach Hund stinkt und wenige Hundert Meter vom Platz entfernt parkt.

»Worauf warten wir?«, fragt Antonio irgendwann.

»Dass die aus der Wohnung drunter den Wasserschaden melden.«

Auf dem Rücksitz liegen zwei Klempneroveralls und eine Werkzeugkiste.

»Seit vier Jahren etwa«, erzählt Nicolosi, »sind wir schon hinter Paesanino her, einem Kriminellen, der auf Raubüberfälle spezialisiert ist. Es ist einfach unmöglich, sein Versteck zu finden. Doch heute Morgen habe ich einen Tipp aus San Vittore bekommen: In der Wohnung unter der, die wir geflutet haben, wohnt die Schwester seines Kompagnons.«

Mehr Erklärungen gibt es nicht, und Antonio lässt es dabei bewenden. Immerhin ist ihm die Sache ein wenig klarer.

Irgendwann am Nachmittag bekommen sie endlich den Anruf. Der Portier teilt ihnen mit, dass die Bewohnerin aus Wohnung 24 einen Klempner bestellt hat, weil Wasser aus der Decke tropft. Die zwei Bullen schlüpfen in die Overalls und klingeln bei ihr.

»Machen Sie sich keine Sorgen, Signora«, beruhigt Nicolosi sie. »Mein Kollege geht schon mal hoch und klärt, woher das Wasser kommt, ich kümmere mich inzwischen um Ihre Decke.«

Antonio steigt eine Etage höher und dreht die Wasserhähne zu, während der Commissario mit der Frau spricht und so tut, als arbeite er. Zuerst reden sie über dies und das, dann kommt er wie zufällig auf den Ganovenbruder der Signora zu sprechen. Nicolosi gesteht ihr, dass er ihn bewundert.

»Der Bursche muss echt Eier haben, wenn er sich so lange nicht erwischen lässt«, sagt er. »Ich habe in der Zeitung gelesen, dass in der Stadt ein paar hundert Polizisten auf ihn und Paesanino angesetzt sind.«

Die Frau zögert bei dem Thema, doch die Liebenswürdigkeit des Mannes, sein gutes Benehmen und ihre Tratschlust sind stärker.

»Ich an seiner Stelle«, meint Nicolosi nun, »würde ans Meer fahren. Strand, Sonne, Ruhe. Sie etwa nicht?«

Die Frau zuckt mit den Schultern.

»Er mag das Meer nicht. Er sagt, er muss beim Schwimmen immer das andere Ufer sehen …«

»Ach ja?«

»Ja, sicherheitshalber. Er hat gerne alles unter Kontrolle.«

»Dann mag er bestimmt die Seen. Von Mailand aus ist man ja im Nu am nächsten See. Und Sie, Signora, mögen Sie Seen?«

Sie seufzt.

»Sehr. Ich würde ja auch nach Stresa fahren, wenn ich könnte …«

Die Frau verstummt erschrocken, als sie merkt, dass sie sich verplappert hat. Doch sie beruhigt sich schnell wieder; Nicolosi steht auf einer Leiter, um der tropfenden Decke Einhalt zu gebieten, und tut, als hätte er nichts gehört. Er lässt sich nicht anmerken, dass dies die Information sein könnte, die den Ermittlungen die entscheidende Wendung gibt. Es wird schließlich seine Gründe haben, warum man ihn den italienischen Maigret nennt.

Es wird ein langer Tag für Antonio. Im Morgengrauen ist er in Rom aufgestanden, und nun, während sich die ersten Lichter des Abends auf der ruhigen Fläche des Sees spiegeln und Tony Renis aus dem Radio Quando quando quando fragt, fährt er auf dem Rücksitz eines Alfa 2600 Zagato im Luftkurort Stresa am Lago Maggiore ein, zusammen mit Nicolosi und drei weiteren Kollegen. Sie haben das schnellste Auto genommen, das der Mailänder Polizei zur Verfügung steht, nur für den Fall, dass es zu einer Verfolgungsjagd mit den zwei Verbrechern kommt.

Sie passieren die Luxushotels an der Uferpromenade und halten auf das Rathaus zu, wo der Bürgermeister sie erwartet. Nicolosi hat ihre Ankunft bereits angekündigt.

Der erste Bürger der Stadt, mit zerzausten Haaren und einem Bäuchlein, das auf die Gürtelschlaufen drückt, ist nervös. Ihm gefällt die Vorstellung nicht, dass zwei gefährliche Kriminelle in seiner Stadt untergetaucht sind, und er ist zu jeglicher Kooperation bereit. Auf dem Konferenztisch hat er den Stadtplan von Stresa ausgebreitet. Er deutet auf eine kleine Villa außerhalb des Ortes, mit Blick auf den See.

»Hier wohnen seit einer Woche ein paar Männer: Sie behaupten, Mailänder Unternehmer zu sein.«

Nicolosi lässt sie sich beschreiben. Der eine lang und hager mit braunen Locken: der Bruder der Signora, die ihnen den unfreiwilligen Tipp gegeben hat. Der andere untersetzt, pechschwarze Augen, energisches Kinn und unüberhörbarer süditalienischer Akzent: der Paesanino.

»Passt«, kommentiert der Commissario trocken.

Sie beschließen, mit der Aktion fortzufahren, aber nicht sofort: Es ist zehn Uhr abends, zu früh.

Das ist nicht die Stunde der Bullen.

Die Stunde der Bullen kommt um vier Uhr morgens.

»Dann sind wir sicher, dass sie schlafen«, erklärt Nicolosi.

Antonio ist aufgeregt. Seine Hände zittern, es ist seine erste Stürmung. Ein wenig hat er auf einem Stuhl gedöst, fühlt sich aber immer noch ganz zerschlagen.

»Bist du dabei, Junge?«

Der Commissario mustert ihn prüfend.

»Sissignore.«

Sein entschlossener Blick wirkt überzeugend, trotz der dunklen Augenringe.