Milchozean - Jan Erhard - E-Book

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Jan Erhard

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Beschreibung

Arun verlor seine ganze Welt und der vergebliche Durst nach Rache stürzte ihn nur in tiefste Verzweiflung. Aber nun lernt das sprechende Werkzeug der Khmer den Wert des Wissens und der Freundschaft kennen, findet die Liebe und kämpft gegen seine grausamen Herren um ein neues Leben. Im unbändigen Wunsch nach Freiheit bricht er jede Regel und verspottet sogar die Götter. Der zweite historische Abenteuerroman über das legendäre Weltwunder und die Fortsetzung einer unsterblichen Geschichte.

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Milchozean

Milchozean - AnchalyReiheWidmungDankGalerieQuersteinDer Turm der SterneDie Stadt der SklavenDer Bruch der Heiligen RegelnAnchalyQuersteinEcksteinNachwortAnhang I - PersonenAnhang II - Angkors HerrscherAnhang III - ZeittafelAnhang IV - GlossarAnhang V - KartenImpressum

Milchozean - Anchaly

Jan Erhard

MILCHOZEAN – ANCHALY

Historischer Abenteuerroman

in zwei Teilen

Das Buch

Arun verlor seine ganze Welt und der vergebliche Durst nach Rache stürzte ihn nur in tiefste Verzweiflung. Aber nun lernt das sprechende Werkzeug der Khmer den Wert des Wissens und der Freundschaft kennen, findet die Liebe und kämpft gegen seine grausamen Herren um ein neues Leben. Im unbändigen Wunsch nach Freiheit bricht er jede Regel und verspottet sogar die Götter.

Der zweite historische Abenteuerroman über das legendäre Weltwunder und die Fortsetzung einer unsterblichen Geschichte.

Der Autor

Jan Erhard wurde 1969 in Bochum geboren, wuchs in Rüsselsheim auf und studierte Philosophie und Geschichte in Berlin. Zur Entstehung Angkors, des Weltwunders in Kambodscha, arbeitet er seit 2003 an historischen Abenteuerromanen, die nun in einer neuen Ausgabe erscheinen. Jan Erhard lebt mit seiner Familie im brandenburgischen Teltow.

[email protected]

Reihe

Widmung

Meiner Frau

Dank

Ich danke allen Menschen, die mir Mut machten.

Ich danke Familie und Freunden, die sich durch verschiedene Fassungen

dieses Romans kämpften und nicht mit Kritik sparten.

Ich danke den Angestellten der Berliner S Bahn,

in deren Zügen ich viele Stunden arbeiten konnte.

Ich danke meiner Frau und unseren Kindern für ihre Geduld.

Galerie

Ongcor, 1860

Hochverehrter Mr. Stevens, lieber Samuel,

endlich bietet sich mir wieder die Möglichkeit, ihnen einige hastige Zeilen zukommen zu lassen. Zuerst möchte ich Ihnen und allen unseren gemeinsamen Freunden versichern, dass ich immer noch am Leben bin. Entschuldigen Sie bitte, dass Sie so selten von mir hören, aber die Umstände erlauben es mir nicht allzu oft, meinen Neigungen nachzugeben. Auch jetzt sitze ich auf der Erde und schreibe auf der einzigen Unterlage, die mir verfügbar ist, meinen Knien. Wundern Sie sich also nicht über die Kleckse und Löcher im Papier! Nehmen Sie diese Spuren vielmehr als Beweis für die gewaltige Distanz, die uns trennt.

Ja, der Dschungel stellt eine einzigartige Prüfung dar, doch weder leide ich an Fieber noch ergebe ich mich dem Fatalismus der Wilden. Ich versuche einfach nur, ein Mindestmaß an zivilisierter Lebensart aufrechtzuerhalten. Und zu dieser gehört, dass ich dem Mann schreibe, dem mein ewiger Dank gilt. Allein aufgrund Ihrer großzügigen Empfehlung bei der ehrenwerten Royal Geographical Society darf ich an diesem verwunschenen Ort meiner Bestimmung folgen.

Jeden Tag fertige ich mit bescheidenem Talent weitere Skizzen an, um dem Abendland von diesem Wunder zu berichten. Es mag den Kollegen der Altertumswissenschaft nicht gefallen, aber die zauberhafte Tempelstadt und Ongcor Thoms großartige Köpfe überstrahlen das Kolosseum oder die Akropolis. Vielleicht steht nur die große Pyramide des Cheops nicht im Schatten dieser herrlichen Türme, doch ich wage es zu bezweifeln.

Wer erbaute diese wundervollen Zeugen einer entschwundenen Vergangenheit und vergaß sie dann im Urwald? Ich debattierte diese Frage mit Abbé Silvestre. Erzählte ich bereits von ihm? Er ist ein Priester aus Frankreich, den es vor vielen Jahren in diese Gegend verschlagen hat, und sein profundes Wissen stellt eine unschätzbare Hilfe dar. Doch leider kennt auch er die Antwort nicht und belächelt genau wie ich Pay Maks Beteuerungen. Dieser ausgemergelte und erstaunliche junge Mann ist der Abt des Klosters, das sich heutzutage in der Tempelstadt befindet. Und obwohl die heilige Stätte fast verlassen und dem Verfall preisgegeben ist, müsste ihr Vorsteher eigentlich ihre Geschichte kennen. Aber die Legende von dem Sklaven, dessen Sohn die Zeit überwinden wollte, klingt einfach lächerlich. Es kann nicht sein, dass die Vorfahren der Eingeborenen zu solchen unsterblichen Leistungen fähig waren. Diese Menschen leben heute in schmutzigen Pfahlhäusern und verharren im Zustand der Barbarei. Warum sollten sie das tun, wenn sie Paläste errichten könnten?

Nein, die armen Wilden hier haben das Licht der Vernunft noch nie gesehen. Kaum ein Gespräch ist möglich, ohne dass die haarsträubendsten Mythen und Märchen präsentiert werden. Nur ein Beispiel, damit Sie ahnen, was ich mir anhören muss: In der Gegend treibt ein Stamm von Kopfjägern sein Unwesen und das scheint sogar die Wahrheit zu sein – man stelle sich das vor! Sagen Sie das bitte nicht meiner Frau! Jedenfalls erzählt man sich, dass jene blutgierigen Khond nachts um die Tempel herumstreifen und sie regelrecht bewachen. Und das tun sie, weil dieser legendäre Sklave, der einen König zeugte, einer der ihren gewesen sein soll. Verstehen Sie, was ich meine? Ich forsche und frage, doch ich höre immer nur Unsinn. Als ob ein Hunne jemals die Sphinx oder die hängenden Gärten hätte errichten können!

Immerhin berichtete mir Silvestre von dem schmalen Buch eines chinesischen Gesandten, der vor Jahrhunderten Ongcor besuchte, als die Erben der Erbauer wohl noch hier lebten. Dieser Chou Ta-Kuan stand im Dienste der Mongolenkaiser und seine übersetzten Erinnerungen sollen sogar im Jahr der Revolution in Paris veröffentlicht worden sein. Wieder ein Rätsel, denn ich weiß nichts davon. Kennen Sie etwa diese ominöse Schrift? Wie kann es sein, dass dieses Werk gedruckt wurde und kein größeres Aufsehen erregte? Dennoch erscheint mir der Abbé als ein grundehrlicher Mann, der nicht zu Hirngespinsten neigt. Wie es auch sei – er hat mir versprochen, das Büchlein von seiner Kirche beschaffen zu lassen und vielleicht stellt sich meine Skepsis als grundlos heraus. Warum sollten erstrangige historische Quellen, die in Druckfassung vorliegen, gelesen werden? Und weshalb können Kopfjäger keine Weltwunder errichten? Verzeiht den Sarkasmus, lieber Freund, nur zählen Ratio und Logik nicht viel in diesen Gefilden und bleiben doch meine einzigen Waffen.

Seit vier Tagen wandle ich in den Ruinen, bewundere die wunderbaren Reliefs und die riesigen Köpfe. Ich suche nach Antworten und stoße nur auf immer neue Fragen. Wer war zum Beispiel der Mann, dessen Namen ich in den alten Aufzeichnungen des Klosters entdeckte? Ich bin inzwischen davon überzeugt, dass dieser d´Albuquerque der erste Weiße war, der die Tempelstadt besuchte. Allein – der Abt Pay Mak will nicht von ihm reden. Hat er wirklich den Tempel geschändet, wie es eine weitere Legende sagt, und verließen die Herrscher aufgrund dieses Frevels ihre Stadt? Wer war jener Portugiese? Ich habe das Buch von Brás d´Albuquerque über Afonso den Großen noch einmal gründlich studiert, doch er erwähnt keinen anderen Nachkommen seines Vaters. Und dennoch mag ich nicht an einen Zufall glauben. Vielleicht findet ihr in den Archiven erhellendere Werke? Aber nein, bemüht Euch bitte nicht, lieber Samuel. Ihr habt mir schon den größten Dienst getan.

In tiefster Dankbarkeit

Henri Mouhot

― ― ―

Querstein

Wir schreiben das Jahr des Herrn 1071. Ich bin Sachse. Meine Vorfahren rannten gegen diese Stadt an, dann kamen die Normannen und setzten sich fest. Vor fünf Sommern fielen sie auch über meine Insel her, die elenden Panzerreiter ritten Harolds Bogenschützen nieder und Wilhelm, der Bastard, triumphierte.

Nun bauen die Eroberer Burgen in meiner Heimat und knechten das Land.

Mich kümmerte das nicht, bis im Frühling ein prächtiges Gefolge Einlass in unser Kloster suchte. Bischof Odo, einer der Sieger und einer dieser Christen, die am liebsten in die Schlacht ziehen, wollte dem neuen König ein einzigartiges Geschenk überreichen.

Und da kam ich ins Spiel.

Ich bin nicht besonders gottesfürchtig, singe schlechter als ein Rabe und mein Latein verdient seinen Namen nicht, doch ich besitze recht geschickte Finger. Manche sagen, sie seien gesegnet und vielleicht stimmt das. Jedenfalls sehe ich immer das fertige Bild vor mir, wenn ich die Nadel zur Hand nehme.

Wohl aufgrund meines Talents presste dieser sogenannte Bischof meine Seele dem Prior ab und nahm mich mit hierher.

Auch den Schatz des Klosters ließ er mitgehen, wir wollen das nicht vergessen. Immerhin sorgt unser Gold dafür, dass Odos protzige Kirche, deren Bau seit einem Menschenalter dümpelte, nun in atemberaubender Geschwindigkeit wächst.

Und ich?

Bereits auf der Überfahrt befahl mir der kriegslüsterne Normanne, die Demütigung meines Volkes für die Ewigkeit zu bannen.

Ein Auftrag, den ich nicht erfüllen kann.

Es liegt nicht am Stoff. Das Tuch ist in Fülle vorhanden, Helfer gibt es zuhauf und die Fortschritte beeindrucken durchaus. Das Zusammentreffen Harold Godwinsons mit dem unglücklichen Edward ist längst fertig und gestern beendete ich auch die Arbeit an der Schlachterei bei Hastings. Die Schiffe der Eroberer genügen meinen Augen, die Jagd des Königs wirkt lebensecht und für die Rüstungen der Krieger lobte mich mein verfluchter Brotgeber. Leider möchte Odo mein Werk der Frau des Bastards widmen, der hässlichen Mathilda, doch sogar das könnte ich verschmerzen.

 Nein, Gott will es einfach nicht.

 In meinem Bauch wächst eine harte Kugel heran, ähnlich rund wie dieser Irrstern, der während der Eroberung am Himmel zu sehen war. Der Bischof wollte unbedingt, dass ich ihn verewige. Welch schändlicher Vergleich mit der heiligen Weihnacht!

Herr, vergib mir, du solltest dir deine höchsten Diener besser aussuchen.

Ehe ich sterbe, werde ich dieses flammende Sakrileg noch sticken und sein Licht möge den Normannen ihren wohlverdienten Untergang bringen.

Der Teppich von Bayeux blieb tatsächlich unfertig, aber die Zeit schreitet voran, und zwei Jahre später trat Arun in Chanlinas Leben – und auf ihren Fuß.

― ― ―

Der Turm der Sterne

»Für die gewöhnliche Korrespondenz wie für offizielle Dokumente wird Hirschhaut oder ähnliches Pergament genommen und schwarz eingefärbt. [...] Eine Art Puder, das chinesischer Kreide ähnelt, wird zu schmalen Stiften geformt [...], die benutzt werden, um das Pergament mit lang währenden Zeichen zu versehen. [...] Alle Dokumente werden von links nach rechts gelesen, nicht von oben nach unten.« Chou Ta-Kuan

Sri Nandamarveda war nach Sambor Prei Kuk gezogen. Dort, in der alten Herrscherresidenz, regierte der Fürst im Namen seines Bruders über Kambuja und gab sich wie der eigentliche König. Fünf Jahre waren vergangen und das Land begann seinen tatsächlichen Herrn zu vergessen, der in Yasodharapura zurückgeblieben war. Manche flüsterten, dass Harshavarman dem Schwachsinn verfallen sei oder unglaublichem Luxus fröne, doch die meisten erwähnten ihn einfach nicht, denn das konnte den Tod bedeuten.

Auch die chinesische Sklavin, die zum Hofstaat des ernannten Vetters des Kamratengs gehörte und in der Schriftensammlung arbeitete, kannte nur noch einen Gebieter. Aber glücklicherweise schien Nandamarveda von ihr nichts zu wissen, weshalb sie ein bemerkenswert selbstbestimmtes Leben führen durfte.

Ihr Tagesablauf blieb stets unverändert. Wenn die Sonne am höchsten stand, stieg die junge Frau in ihrer Pause aus der Bibliothek herunter. Sie floh vor der Hitze und hinkte zwischen die Schatten spendenden Säulen, die den Innenhof des Palastes säumten. Dort setzte sich Chanlina auf die kühlen Steine und achtete nicht auf die verwirrten Blicke, die wie immer ihrem entstellten Kopf galten.

Eine Zeit lang saß sie müßig am Rand des Platzes und beobachtete das Treiben um sie herum: Palastwachen übten mit Schwertern und Bögen, freie Kinder spielten und Badende entspannten sich in den großen Bassins in der Platzmitte.

Sie seufzte.

Natürlich wäre sie auch gerne ins Wasser gegangen. Allerdings hatte sie lernen müssen, dass sogar kurz geschorene Haare und ein verkürztes Bein eine nackte Dienerin nicht vor Nachstellungen schützten. Also ging sie nachts baden, sobald der Hof leerer war. Zwar musste sie selbst in der Dunkelheit manchmal einem Herrn zu Willen sein, aber das war zu ertragen und ließ sich ohnehin nicht verhindern.

Träge schaute sie in den Himmel und überprüfte den Stand der Sonne. Soll ich wieder hinaufgehen? Nicht, dass sich jemand darum kümmert.

Chanlina war Sklavin eines Bonzen aus Champa, der als Gast des Fürsten Sri Nandamarveda in Sambor Prei Kuk weilte. Es war durchaus üblich, dass hohe Besucher eigene Diener erhielten, allerdings war sie bis heute noch nie zu ihm gerufen worden. Tatsächlich kannte sie ihren Herrn gar nicht. Vielleicht ist er sehr genügsam oder er weiß überhaupt nicht von mir. Die junge Frau lächelte, denn ihr Leben war freier, als sie es sich in ihren Träumen gewünscht hatte.

Vor zwei Jahren war ihr Bonze an den neuen Hof gekommen und sie aus der Küche in seine Dienste gewechselt. Seitdem gab es für Chanlina nichts zu tun und sie las und lernte alles, was sie in die Hände bekam. Sie studierte sogar die verbotenen Schriften der Brahmanen, wenn sie in der Schriftensammlung allein zurückblieb. Die Priester hatten zunächst noch gefragt, weshalb sie solch ein großes Interesse an den Schriftrollen zeigte. Aber da sie dann immer auf ein geheimes Forschungsvorhaben ihres Herrn verwiesen hatte, war sie nun schon seit vielen Monden nicht mehr behelligt worden. Warum sie wirklich ihren Durst nach Wissen stillte, wusste sie hingegen genau. Es lag nun einmal in ihrem Wesen und so folgte sie nur dem Dao, denn das musste das Glück sein, das die übrigen Menschen suchten.

Gewiss fragten die anderen Sklaven voller Neid, was das Mädchen eigentlich Nützliches tat in den langen Stunden, die sie jeden Tag in der Schriftensammlung verbrachte. Doch das war ihr gleich. Sicher, irgendwann mochte ihr unbekannter Gebieter nach Champa zurückkehren, und sie würde neue Aufgaben erhalten. Aber bis es so weit war, konnte sie lesen, was und soviel sie wollte.

Allerdings heizte sich die Bibliothek schon am Morgen schnell auf und glich bis zum Mittag einem Backofen, weshalb Chanlina die Pause im kühlen Innenhof genoss. Ohne besonderes Ziel ließ sie ihren Blick schweifen und beobachtete schließlich die Übungen der Heiligen Garde. Da die Palastwachen ihre bronzene Haut täglich mit Öl einrieben, um eindrucksvoller zu wirken, glänzten ihre Rücken in der Sonne. In einem immer gleichen Balzritual schlugen die Soldaten wie Pfauen ihre Räder – von diesen Vögeln hatte die junge Frau in dem Reisebericht eines Chinesen gelesen. Und jeden Tag rümpfte sie über diese offensichtliche Eitelkeit die Nase. Dabei war es schon so, dass sie sich für Männer interessierte. Jedoch nicht für muskelbepackte Gockel, die mit ihrer mangelnden Bildung prahlen.

Sie gähnte. Ich sollte jetzt wirklich hinaufgehen. An diesem Morgen war sie in einem der verstaubten Regale hinter umfangreichen, unglaublich langweiligen Abgabenlisten von Kambujas Tempeln auf ein faszinierendes kleines Buch gestoßen. Es handelte sich um eine Abschrift in der Sprache der Menschen und enthielt die erstaunlichen Gedanken eines namenlosen Herrschers. ›Selbstbetrachtungen‹. Er nannte sich zwar Kaiser, doch ein Sohn des Himmels konnte es nicht sein. Niemals hätte ein Gebieter des Drachenthrons solche Überlegungen festgehalten. Vielleicht einer der Monarchen Annams, die sich in grenzenloser Selbstüberschätzung seit einigen Generationen ebenfalls diesen Titel gaben? Aber sie bezweifelte es, denn die Sätze zeugten von großer Gemütsruhe und Weisheit, muteten fast daoistisch an: Der Unbekannte hoffte auf das Ende aller Kriege, forderte die Achtung vor dem Anderen und bezeichnete Bildung als höchstes Gut. Wo liegt nur dieses Reich? Versonnen schüttelte sie den Kopf und wollte weiterlesen. Die übliche Zeit, die sie sich sonst auf den kühlen Steinen zubilligte, war auch längst verstrichen.

Die Chinesin stieg die Stufen zum Treppenhaus hinauf, als sie im Schatten einen jungen Mann bemerkte, der zu den Soldaten auf dem Platz starrte. Der Sklave war mittelgroß, schlank und kraftvoll, hatte aber eine etwas zu dunkle Haut, um ihr zu gefallen. Wie alt mag er sein? Vielleicht hat er zwei, drei Jahre weniger gesehen als ich.

Als ob er ihre Gedanken gehört hatte, drehte er den Kopf und schaute sie an.

Chanlina schnappte nach Luft.

Doch es war nicht die Augenklappe in dem ansonsten ansehnlichen Gesicht, die sie verunsicherte. Das Blenden galt als übliche Strafe und Einäugige gab es viele. Nein, das verbliebene Auge ließ sie erschauern. Es blitzte sie in einem giftigen Grün an und strahlte eine unbeugsame Härte aus.

Sein Blick glitt über ihre kurzen Haare, die Mundwinkel zuckten. Einen Atemzug später beobachtete er wieder die Schützen, die ihre prachtvollen Bögen spannten und auf eine Strohpuppe zielten.

Ihr entstellter Kopf stieß die meisten Männer ab und das sollte er auch, nur beleidigte sie diesmal das geringe Interesse, das er an ihr zeigte. Doch dann geschah etwas, das sie ihren Zorn vergessen ließ.

Einer der Krieger auf dem Platz winkte und der Sklave hastete mit einem glücklichen Lächeln die Stufen hinunter.

Anscheinend kannten ihn die Wachen, begrüßten ihn mit lauten Rufen oder nickten zumindest freundlich. Was haben die Wächter mit einem Diener zu schaffen? Chanlina traute ihren Augen nicht, als einer der Gardisten ihm einen Bogen in die Hand drückte. Darauf steht der Tod! Kein Unfreier darf eine Waffe führen, das weiß jeder. Aber die Palastwachen schienen sich nichts dabei zu denken. Im Gegenteil: Als sich schon der erste Pfeil des jungen Mannes in die Stirn der Puppe bohrte, klatschten sie begeistert. Dann schleppten zwei von ihnen das gespickte Ziel über den Platz, verdoppelten die Entfernung und der Sklave traf erneut. Die Soldaten lachten und klopften ihm auf die Schulter.

Eigentlich ist er nicht alt genug, um in einem Krieg gekämpft zu haben. Doch wo lernt man sonst, so zu treffen – mit nur einem Auge? Es verwunderte Chanlina nicht, dass sie ihn niemals zuvor gesehen hatte. Sie lebte vorwiegend in der Bibliothek und an anderen Tagen wäre sie jetzt bereits wieder bei ihren Büchern gewesen. Nachts, wenn sie badete, schliefen die meisten Palastbewohner und ihr eigenes Lager hatte sie schon lange zweckmäßigerweise im verfallenen Turm über der Schriftensammlung aufgeschlagen. Ist er überhaupt ein Sklave? Das Lendentuch schien diesen Status zu beweisen, doch vor den Soldaten trat er nicht unterwürfig auf, sondern hielt den Rücken gerade und bewegte sich entschlossen.

Die Ziele wechselten, die Palastwachen zogen ihre Beutel und warfen etliche Münzen auf das Pflaster, ehe sie den Himmel absuchten. Auf ihr Zeichen hin riss der junge Mann den Bogen hoch und schoss. Unter den Säulen konnte Chanlina den Flug zwar nicht verfolgen, sah jedoch den Pfeil ohne Vogel zurückkehren. Er hat gefehlt. Dann fiel ein toter Reiher auf die Steine und die Krieger schüttelten voller Bewunderung die Köpfe.

Der Sklave, der vielleicht keiner war, sollte nun mit einem Messer ein bemaltes Holzbrett treffen. Die drei Soldaten, die gegen ihn antraten, lächelten gutmütig und ahnten offenbar ihre Niederlage voraus.

»A Arun, du Missgeburt,« brüllte eine Stimme in Chanlinas Rücken, »Was treibst du da?!«

Als der Meisterschütze aufsah, hatte die junge Chinesin Gewissheit. Er ist also doch nicht frei. Aber weshalb darf er dann Waffen benutzen?

Viel zu spät wandte sie sich um und wich erschrocken zurück.

Viseth Nandamarveda, Erbe und Lustknabe des Herrn von Sambor Prei Kuk, stieg die Stufen zu ihr hinab und wie stets folgten ihm seine Speichellecker.

Der Sohn des Bastards! Gerade noch rechtzeitig beugte sie die Knie, legte ihre Stirn auf die Steine und hielt die Luft an. Sie kannte die Gerüchte über den Prinzen gut genug, um seine unberechenbare Grausamkeit zu fürchten, die unaufmerksame Diener häufig zu spüren bekamen.

Der junge Fürst ging an ihr vorbei, ohne sie zu bemerken.

Chanlina atmete aus und lächelte, aber sie stand zu früh auf.

Der dickste und dümmste Schmeichler aus Nandamarvedas Gefolge trat hinter sie und umfasste ihren Po. Er war nur ein Tea, doch als Lakai seines Herrn genoss er gewisse Vorrechte.

Die Chinesin unterdrückte ihre Wut und regte sich nicht, als gierige Hände über ihre Brüste fuhren. Was hilft gegen diesen Schwachkopf? Dann erinnerte sie sich, dass der Yuvaraja Gebrechen genauso verabscheuen sollte wie sein Vater. »Komm´, mein Starker,« säuselte sie dem Fettwanst ins Ohr, »lass´ uns in den Schatten gehen.« Sie wartete erst gar nicht auf eine Antwort, befreite sich aus den feisten Armen und hinkte übertrieben auffällig die Stufen hinauf. Ein verlockendes Angebot, oder?

»He!«, rief der junge Nandamarveda über die Schulter. »Was willst du denn mit dem Krüppel?!«

Der tumbe Tea grunzte enttäuscht und eilte seinem Herrn hinterher, mit dem er es sich nicht verscherzen wollte.

Ich sollte dem Dao danken für mein kurzes Bein. Angemessen niedergeschlagen blickte sie dem Gefolge nach und wandte sich dann wieder der Gruppe in der Mitte des Hofes zu. Ihre Augen suchten den jungen Mann mit dem seltsamen Namen, fanden ihn jedoch erst, als Viseth zwischen die Soldaten trat. Sie schnaufte vor Überraschung. Die beiden sahen sich verblüffend ähnlich!

Da schlug der Fürstensohn dem einäugigen Sklaven auf die Wange und bewies damit endgültig dessen Stand.

Das Dao kann hart sein, er scheint Nandamarveda zu gehören. Alle Palastbewohner wussten von den widerwärtigen Vorlieben des Fürsten. Kambujas eigentlicher Gebieter umgab sich nicht umsonst mit den Bonzen aus Champa, zu denen Chanlinas Herr zählte.

Allerdings duckte sich das Opfer nicht unterwürfig wie die unzähligen anderen, sondern senkte nur den Kopf.

Wie eine sprungbereite Katze. Sie konnte nicht glauben, dass die Nandamarvedas auch diesen Sklaven missbrauchten. Vielleicht stößt sie die Augenklappe ab oder es ist sein Stolz, den sie nicht brechen können.

»Du Faulpelz solltest doch meine Gemächer säubern, was machst du hier?« Viseth reckte das Kinn und verzog die Lippen zu einem schmalen Lächeln.

Er genießt den Auftritt.

»Du übst mit Waffen? Wieder ein Grund, dich endlich töten zu lassen!«

Der junge Mann reagierte nicht. Nur sein glitzerndes Auge ruhte auf dem Prinzen.

An der Stelle des kleinen Bastards wäre ich vorsichtiger.

Aber Viseth bleckte die Zähne und riss eine Geißel von seinem Gürtel. »Wirst du jetzt gehorchen?!«

Da fiel ihm eine der Palastwachen in den Arm. »Herr, es war nicht seine Schuld,« sagte der muskelbepackte Riese eindringlich. »Wir haben ihn überredet, mit uns zu üben.«

Der Sohn des Fürsten zuckte zusammen und stieß den Mann weg. »Du wagst es, Hand an den Yuvaraja zu legen?«

Der Krieger verbeugte sich in angemessener Demut, doch die Diener des jungen Nandamarveda traten hinter ihren Gebieter und verschränkten die Arme vor der Brust.

Viseth grinste und hob die vielschwänzige Peitsche. »Mir ist es gleich, wen ich zuerst züchtige.«

Ein Messer klirrte vor seinen Füßen auf die Steine.

»Wer ...« Er erblasste, blickte sich verunsichert um und sah in abweisende Mienen.

Mehr als zwanzig bewaffnete Elitekämpfer der Heiligen Garde schoben sich vor den jungen Meisterschützen.

Nandamarvedas Diener konnten einen Kampf gegen die Soldaten nur verlieren. Die Männer wurden unruhig, wichen zurück und ihr Herr verlor sein Gesicht.

»Feigling!«, murmelte eine Stimme.

»Wer war das?!« Der Prinz fuhr herum, begegnete aber nur ausdruckslosen Blicken.

»Spielzeug deines Vaters!«

Die Umstehenden lachten.

»Hure des Bastards!«

Viseths Hände zitterten.

Da bemerkte Chanlina, wie der Sklave von allen unbemerkt ein Messer aufhob. In seinen Zügen las sie mörderischen Hass. Sie dachte nicht nach und sprang vor, war mit wenigen Sätzen bei ihm und warf den überraschten Mann um. Sie landete so hart auf ihm, dass es ihr den Atem raubte. Als sie die Klinge am Hals spürte, schaute sie ängstlich in das vor Wut verschleierte Auge.

Langsam klärte sich sein Blick. »Du bist ja´ ne Frau ...,« nuschelte er verwirrt.

»Sehr treffend,« flüsterte sie. »Ich könnte das nicht besser sagen, allerdings schneller und deutlicher.« Sie vergewisserte sich, dass der Prinz sie im Rücken der Wachen nicht sah. »Hör zu! Du wirst mit mir putzen gehen!« Entschieden griff Chanlina nach seiner Hand und zog ihn von den Männern weg.

Fast hatten sie die Stufen zum Treppenaufgang erreicht, da entdeckte sie Viseth und sah die Möglichkeit, seine Schmach auszumerzen. »Die Khondbrut lässt sich von Weibern retten, wie mir scheint.«

Während seine Diener geflissentlich lachten, drehten sich die Soldaten zu den beiden um und lockerten den Ring.

Der Yuvaraja straffte den Rücken, schob sich an den Palastwachen vorbei und schlenderte zum Bassin in der Platzmitte. Dort legte er betont gelassen den Sarong ab und stieg ins Wasser.

Endlich drängte Chanlina den Jüngling hinter eine Säule und schaute zurück.

Niemand achtete mehr auf sie. Angewidert wandten sich die Männer ab, als Viseth einen stark geschminkten Lustknaben herbeiwinkte und ihnen seine Macht vor Augen führte.

»Nun, das war knapp für alle Beteiligten,« sagte sie leise.

Kräftige Hände umfassten ihre Arme und drehten sie um. »Wer bist du? Was willst du von mir?«

Chanlina betrachtete ihn eine Weile. Er war nur eine Handbreit größer als sie, hatte höchstens achtzehn Sommer gesehen, wirkte aber älter. Und er sprach undeutlich und langsam. »Ich bin eine Sklavin wie du und gehöre einem Bonzen.«

Er neigte den Kopf zur Seite und musterte ihre Gestalt.

»Vorurteile!« Sie rollte mit den Augen. »Ehe du mich für beschmutzt hältst, lass´ dir sagen, dass ich meinem Herrn bis heute nie begegnet bin. Kannst du das von deinem Hintern ebenfalls behaupten?«

Seine Finger krallten sich in ihre Schultern und ließen sie aufjapsen. »Du billige ...«

»Anstatt mich zu beleidigen, solltest du mir danken. Aber, nur damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich erwarte eine Belohnung!«

Verblüfft riss er die Augen auf und wich zurück. »Wie? Was bildest du dir ein?«

»Es wäre schon eine nette Geste, wenn du deine Pranken von mir nehmen würdest.«

Als er sie losließ und zurückwich, bereute sie ihren Wunsch, denn nach dem ersten Schmerz hatte sie seine Finger auf der Haut genossen.

»Woher stammst du überhaupt? So dunkel, wie du bist, bestimmt aus dem Süden. Aber der Sohn des Bastards nannte dich Khondbrut, wieso?«

Er schüttelte nur den Kopf, anscheinend überfordert von ihren Gedankensprüngen.

»Nein? Na, jedenfalls gehörst du zu einem der unterworfenen Völker.« Chanlina blickte kurz zu Boden. »So hast du nicht viel verloren. Meine Mutter wurde im Reich der Mitte geboren und von Bergräubern verschleppt. Dann kamen die Khmer, diese kulturlosen Schwachköpfe, und versklavten uns.« Mit einem schiefen Grinsen breitete sie die Arme aus, als ob sie den ganzen Palasthof umfassen wollte. »Ich kann lesen, schreiben und beherrsche vier Sprachen, verstehst du? Doch ich muss unter Galle saufenden Barbaren leben! Aber wer will schon mit seinem Dao hadern?«

Statt zu antworten, betrachtete er ihre festen Brüste.

Chanlinas verräterischer Körper reagierte. »Großartig!« Peinlich berührt warf sie den Kopf zurück und stieß ihn weg. »Warum bin ich nur so dämlich und rette einen weiteren Schwachkopf, der sein Hirn zwischen den Beinen trägt?«

»Ich weiß zwar nichts von deinem Dao, doch er darf sich glücklich schätzen, wenn du nicht mit ihm streiten willst.«

Die junge Frau schwieg verdutzt. So dumm kann er nicht sein.Aber dann ...

Er hob den Blick und lächelte so verschmitzt, dass ihr der Atem stockte.

Welche Überraschung! Er machte einen Witz, dieser einäugige Sklave, der seinen Lendenschurz zumindest in diesem Mond nicht gewaschen hatte.

»Ach ja, falls es dich kümmert,« fuhr er mit erstarrter Miene fort, »du hast keine Ahnung, was ich verloren habe. Und noch eins: Ich spreche nur zwei Sprachen und den Dialekt meines Volkes wirst du wohl nicht anerkennen, doch lesen, schreiben und rechnen kann ich auch.«

Ihr blieb der Mund offen stehen. »Bitte,« flüsterte sie nach einer Weile, »ich möchte deine Hand sehen!«

Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück.

»Komm´ schon, sei nicht feige! Ich will sie mir nur anschauen.«

»Das sagte unsere Älteste auch immer.« Sein Blick war leer. »Und vor allem trafen ihre Vorhersagen.«

Chanlina spürte Mitleid, ein in ihrer Welt sehr seltenes Gefühl. Er scheint schreckliche Dinge erlebt zu haben. »Las sie aus deiner Hand?«

Er holte tief Luft. »Das musste sie nicht. Vom Tag meiner Geburt an lag ein Fluch auf mir.«

Behutsam, fast zärtlich berührte sie seinen Arm. »Lass´ sie mich sehen. Vielleicht kann ich den Fluch von dir nehmen.«

Voller Zweifel starrte er sie an, streckte ihr jedoch dann die offenen Handflächen entgegen. »Sag kein Wort! Ich habe für mein Leben genug gehört. Und danach schulde ich dir nichts mehr.«

Chanlina nickte abwesend und beugte sich über seine Hände. Langsam zeichnete sie mit den Fingern die Linien nach und konnte kaum glauben, was sie sah. Er will es nicht wissen und das ist gut, denn sonst müsste ich lügen.

Nie zuvor hatte sie solch ein Schicksal gesehen. Welche Pläne verfolgte das Dao nur mit ihm? Vielleicht denken auch nur meine Brüste und nicht der Kopf. Ich sollte es überprüfen. Hastig kramte sie in ihrem Hüftbeutel und warf die Schafgarben auf die Steine.

»Was machst du da?«, fragte er argwöhnisch.

Sie achtete nicht auf ihn, sondern starrte auf die drei langen und sechs kurzen Stäbe, die keinen Zweifel zuließen. Von ihrer Mutter hatte sie das Legen des Orakels gelernt und bereits als kleines Mädchen die heiligen Worte des I Ging aufsagen müssen. Aber obwohl sie die Garben unzählige Male geworfen hatte, sah sie dieses Zeichen zum ersten Mal.

»Also schön. Dann sag´ es mir. Welches schreckliche Schicksal erwartet mich?« Hinter seinem Spott verbarg sich Unsicherheit.

Chanlina streckte den linken Fuß aus. »Tritt drauf und wir schließen einen Pakt.«

Er zögerte.

»Ein lesender Barbar weiß hoffentlich, was ein Pakt ist, oder?«, fragte sie in hochmütigem Ton.

»Du sprichst in Rätseln. Du hast aus meiner Hand gelesen und nun sind wir fertig miteinander. Was willst du also?«

»Nandamarvedas missratener Sprössling quält dich und ich kann dich erlösen, ganz einfach. Ich werde deine Aufgaben übernehmen, ohne dass er es merkt. Du aber wirst jeden Tag in den alten Turm über der Bibliothek gehen. Dort wartest du auf die Schriftrollen, die ich dir bringe, und liest sie so lange laut, bis du wie ein zivilisierter Mensch redest ...«

»Vergiss es!«, fauchte er wütend, »meine Zunge ist kaum größer als ein Stummel!«

»Na und, wenn du im Selbstmitleid badest, stinkst du auch nicht weniger,« sagte Chanlina naserümpfend.

Seine Augen verengten sich zu Schlitzen.

»Ja, ja, spiel dich nicht auf, Junge ...«

»Das bin ich nicht mehr! Schau doch selbst, nur verbrannte Reste!« Er öffnete den Mund.

»Untersteh´ dich!« Sie hob die Hände vor ihr Gesicht. »Deine Zähne sehen bestimmt noch schlimmer aus als dein Sarong!«

Er holte tief Luft.

»Jeden Abend komme ich zu dir,« fuhr sie unbeeindruckt fort, »prüfe deine Fortschritte und lehre dich die Sprache der Menschen. Sie übersteigt das Verständnis eines Wilden, dennoch werde ich mein Bestes geben. Also – entscheide dich: Willst du lernen oder Nandamarvedas Wäsche machen? Und jetzt tritt endlich auf meinen Fuß!«

Der junge Mann starrte sie finster an. »Was forderst du dafür? Niemand tut so etwas umsonst.«

Er möchte gar nicht wissen, was ich in seiner Hand sah. Ahnt er seine Zukunft? Aber wie kann er dann dieses Leben aushalten? Verwirrt schob sie die Fragen von sich. »Nichts verlange ich, denn ich bekomme es sowieso.«

»Hm. Immer nur Rätsel. Und wie willst du sicherstellen, dass ich meine Tage auf diesem Turm in deinem Sinne nutze?«

»Ich werde dich ermutigen ...« Sie umfasste seine Finger und führte sie an ihre Brust.

Als er nach kurzem Zögern begann, ihren kleinen Busen zu streicheln, unterdrückte sie ein lustvolles Stöhnen und wieder raubte sein Lächeln ihr den Atem. Er legte einen Arm um ihre Hüfte und wollte sie an sich ziehen.

Chanlina befreite sich und wich einen Schritt zurück, auch wenn sie das den letzten Rest Selbstbeherrschung kostete. »Erst wird gelernt, Junge, und mein Fuß wartet immer noch.«

Arun verstand nichts und schüttelte den Kopf, aber dann trat er zu, und zwar deutlich fester als es nötig gewesen wäre.

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Im Dschungel vor Angkor Thom, Sommer 1557

Wie unendlich lange lächelten diese unfasslichen Steingötzen schon in die Welt? Wissen konnte es nur der ewige Urwald, der alles beherrschte, jedes Hindernis überwand, sogar die Zeit. Die Paläste waren verschwunden und auch die Götzen mochten irgendwann nur Hügeln im endlosen Busch gleichen, Sinnbilder des unabänderlichen Schicksals menschlichen Strebens.

Welche Anstrengungen diese Wunder gekostet hatten, kümmerte ihn nicht. Pedro begehrte nur den Reichtum, den die Köpfe verhießen, denn die verlassene Stadt musste in der Nähe sein. Er würde seine Constanza mit Gold überhäufen und Silvas gierigen Hals füllen. Selbst Alberto, sein verlogener Vater, dieser Bastard von gemischtem Blut, der ihn verstoßen und enterbt hatte, konnte das nicht verhindern. Ja, er war ins Abenteuer aufgebrochen, doch nicht, weil er dem Dominikaner geglaubt hatte. Die Legende von einem Sklavensohn, der nach Unsterblichkeit strebte und dessen Stamm bis zum heutigen Tag die Tempel bewachen sollte, hatte einfach zu lächerlich geklungen.

Da trat in der drückenden Schwüle des Dschungels der eigentliche Grund neben ihn, wegen dem er alles gewagt hatte.

Der kleinwüchsige, zopflose Chinese, dessen Namen er noch gar nicht lange kannte, erblickte die monumentalen Götzen und rümpfte nur die kurze Nase.

D´Albuquerque verabscheute seine Arroganz, den steten Dünkel der Überlegenheit des deutlich älteren Mannes, der ihm bis heute fremd geblieben war. Aus wenigen spöttischen Bemerkungen – der Gelbgesichtige sprach selten unaufgefordert – hatte er sich die Herkunft des Zwerges ausgemalt. Zumindest schien er kein Konvertit, wie der Portugiese zuerst vermutet hatte, nein, Religion interessierte ihn gar nicht. Vielleicht war er der Sohn eines hohen Mandarins, der beim Kaiser in Ungnade gefallen und bei lebendigem Leibe verbrannt worden war. Pedro belustigte es, sich dieses dramatische Schicksal vorzustellen. Und welcher Chinese schnitt sich sonst schon das Haar? Die tiefe Verbitterung, die gemeinsam mit der allgegenwärtigen Überheblichkeit kaum zu ertragen war, musste jedenfalls einen Grund haben, warum also nicht diesen?

Nach den entbehrungsreichen, furchtbaren Wochen, die hinter ihnen lagen, waren ihm allerdings die Beweggründe seines ebenso unerfreulichen wie wertvollen Reisegefährten herzlich gleichgültig.

Und doch hatte ihn gerade dieser heimatlose Zwerg bewogen, die Reise zu wagen.

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Viseth grinste wie ein Dämon und spannte den Bogen. »Lauf, du Missgeburt, renne, wie du noch nie gerannt bist!«

Und er rannte. Er lief über den Palasthof, hörte die Sehne surren, schlug einen Haken, doch der Tod kam immer näher.

Schweißgebadet fuhr Arun aus dem Schlaf, aber das Zischen des Pfeils verfolgte ihn weiter. Neben ihm lag Narith auf der Matte, schlief friedlich und pfiff durch die Nase. Der Siebzehnjährige atmete auf. Jetzt fürchte ich mich schon vor einem Schnarchen! Er fühlte sich zerschlagen und warf einen Blick aus dem Fenster. Nach vielen durchwachten Nächten konnte er die Tiefe der Schwärze einschätzen und die Sonne mochte erst in Stunden aufgehen. Wann habe ich zuletzt durchgeschlafen?

Seit Sangramas Ermordung kannte er nur Angst und Schmerz. Vielleicht hielt sie Nandamarvedas Hoffnung am Leben, dass er irgendwann doch noch die letzten Worte seines Ziehvaters preisgeben würde. Arun wusste es nicht, aber der Halbbruder des Herrschers brauchte das Lingam mehr denn je. Damals, vor fünf Jahren, war der Verräter mit seinem gesamten Haushalt nach Sambor Prei Kuk umgezogen und hatte Harshavarman als Marionette in Yasodharapura zurückgelassen. Die Heilige Garde bewachte Udayaditvarmans Nachfolger und bezog ihren Sold aus den Truhen des Fürsten. Und Nandamarveda regierte in der alten Residenz aus legendären Tagen wie ein Kamrateng. Er empfing ausländische Gäste, nahm Truppenparaden ab, setzte sich einmal in der Woche auf einen goldenen Diwan und sprach Recht. Aber das reicht dem Bastard nicht, nein, er will eine Dynastie gründen. Zu welchem anderen Zweck führte Viseth den Titel eines Erbprinzen? Und weshalb sonst bauten Sklavenkolonnen seit Jahren in Sambor Prei Kuk an einem neuen Palast, der bereits jetzt alles überragte, was Kambuja je gesehen hatte? Das Klopfen und Hämmern begleitete den Lauf der Sonne und würde auch an diesem Tag bald einsetzen. Ja, der Kev sah seinen Sohn schon auf dem Thron. Doch warum war dann Harshavarman noch keiner mysteriösen Krankheit erlegen? Setzte sein ernannter Vetter nicht allzu gerne Gift ein? Arun konnte sich Nandamarvedas Zögern nur damit erklären, dass der Fürst jedes Risiko scheute.

Und es bedeutete ein Wagnis, wenn der Kamrateng unter ungeklärten Umständen starb. Vor allem galt die Priesterkaste als unzuverlässig, nachdem Jayendrapandita, ihr Vrah Guru, gemeinsam mit Sangrama vergiftet worden war. Soweit der Kui wusste, kannten die Brahmanen nicht die Wahrheit. Doch solange Diavakara, der ehemalige Gehilfe und vermeintliche Mörder des Purohitas, unauffindbar blieb, ließ sich das Verbrechen nicht sühnen. Die Dhamastras, die ewigen Regeln, waren verletzt und damit drohte der Herrschaft ernste Gefahr. Arun dachte häufig an den heiligen Mann, der den Sündenbock spielen musste. Wo versteckte er sich vor Nandamarvedas Schergen? Wo würde er sich selbst verbergen?

Aber nicht nur die Brahmanen, auch die Sanjaks gaben sich unzufrieden. Nandamarveda galt bei den Truppenführern als verschlagen, bestechlich, skrupellos und machtgierig und sie verachteten ihn dafür. Dennoch – sogar die Offiziere kannten nicht den tatsächlichen Mörder ihres legendären Generals.

Es gab nur Gerüchte, aber niemand wusste von der Wahrheit, keiner außer Arun und Narith. Und die zwei Freunde schwiegen seit fünf Sommern, weil ihnen der Fürst einmal in jedem Mond zeigte, welches Schicksal seinen Dienern drohte. Nur aus Zwecken der Anschaulichkeit, wie er es ausdrückte, ließ er irgendeinen unglücklichen Sklaven vor ihren Augen in den Stadtgraben werfen. Und während die Krokodile den Leckerbissen verschlangen, schworen sich die beiden Gefährten immer wieder aufs Neue, das Geheimnis um Sangramas Tod für sich zu behalten.

Aber obwohl die Truppen nicht wussten, was Nandamarveda getan hatte, blieb er schon wegen seiner Grausamkeit unbeliebt in den Kasernen. Auch seine mangelnde Kriegserfahrung und gewisse Vorlieben machten es nicht besser. Sogar die hochbesoldeten Palastwachen und treuesten Waffenträger verspotteten die ekelhaften Gewohnheiten ihres Herrn zu jeder Gelegenheit. Und Arun genoss ihre schmutzigen Späße, weshalb er mit den Männern übte, so oft er ungesehen aus den Gemächern des Kevs entwischen konnte.

Die jüngsten Witze galten der Zimmerflucht im obersten Stockwerk des neuen Palastes. Ein riesiger Flaschenzug sollte aus den Sklavenquartieren in einem versteckten Schacht direkt in das Schlafgemach des künftigen Königs führen. Und die Gardisten ließen natürlich keinen Zweifel daran, welche armen Geschöpfe dort in zukünftigen Nächten in den Himmel gehoben werden mochten.

Doch auch die rausten Zoten der Männer lenkten ihn immer nur kurz von seinem trostlosen Schicksal ab. Die Freunde fristeten das Leben geprügelter Hunde, denn Viseth demütigte sie nahezu jeden Tag.

Arun stand von seinem Lager auf, trat ans schmale Fenster und starrte in die Dunkelheit. Da sah er plötzlich die Älteste ihres Dorfes vor sich. Thom winkte ihn mit ihrer Klaue näher zu sich, bis er ihre weißen Augen auf sich spürte. ›Ein Sklave wird zu den Höchsten aufsteigen und einen König zeugen ... Irgendein Werkzeug der Herren, verstehst du, ja? Nicht du, ja?‹ Er stöhnte. Sie hat Recht behalten und Jayendrapandita sah es bestimmt genauso. Nein, dieses Karma ist nicht meins. In meinem letzten Leben muss ich ein Berg an Schuld auf mich geladen haben.

Tatsächlich schien sich nur noch Viseth für den Cham und ihn zu interessieren, auch wenn er die Freunde bloß quälen wollte. Sein Vater hatte sie jedenfalls vergessen. Sri Nandamarveda zeigte den beiden zwar regelmäßig, wie gerne er die Krokodile im Stadtgraben fütterte, aber eigentlich waren sie ihm gleichgültig, solange sie nicht redeten. Das war nicht immer so gewesen. In den ersten Jahren hatte er sie mit Daumenzange, Brandeisen und natürlich der Peitsche foltern lassen, um ihnen Sangramas letzte Worte zu entreißen. Doch Narith wusste ohnehin nichts und Arun bot allen Hass auf, um seine kurze Zunge zu lähmen. Und irgendwann hatte der Kev das Interesse verloren und sich einfach nicht mehr um sie gekümmert.

Viseth ließ jedoch nicht locker, quälte sie, so oft er nur konnte, und die Freunde lernten den Sohn ihres Gebieters als gespaltenen Menschen kennen. Der Prinz verehrte seinen Vater wie einen Gott und sehnte sich nach dessen Liebe. Und dennoch musste er sich mit schaler Anerkennung begnügen, die ihm der launische Fürst nur selten zollte. Doch das war nur die eine seiner Seiten, denn der Yuvaraja hasste Sri Nandamarveda auch. Zuerst glaubten Arun und Narith, dies liege an den widerlichen Lüsten, denen er als Opfer diente. Aber die eigentliche Ursache lag im Schatten der toten Mutter, der ihn nicht losließ.

Die eitle Prinzessin hatte auf ihren Gatten herabgesehen, der für sie trotz seines Titels bloß Suryavarmans Bastard geblieben war. Und nach der erzwungenen Hochzeit war die blutjunge Frau bald im Kindbett gestorben, zumindest lautete so die offizielle Geschichte. Im Palast sprach niemand ihren Namen aus, keiner außer dem Fürsten, den sein Sohn auf ewig an die Demütigung erinnerte. Doch Nandamarveda rächte sich.

Von Viseths frühester Kindheit an hatte der Witwer seine einstige Gattin mit Schmutz beworfen und mit dem Dreck auch immer den heranwachsenden Jungen getroffen. Und schließlich hatte er es nicht mehr mit Worten bewenden lassen und sich zum ersten Mal an dem Knaben vergangen.

So lebte die tote Mutter weiter und ihr gequältes Kind betete täglich zu ihr, jedenfalls erzählte das Narith. Wenn ich den Fluch meiner Tage nicht verabscheuen würde, könnte ich Viseth sogar bemitleiden. Arun lachte bitter auf. Welch ein Gedanke! Niedergeschlagen blickte er in die nachtschwarze Dunkelheit und wusste, dass er vor dem Morgengrauen keinen Schlaf mehr finden mochte. Für Narith ist es nicht so schlimm. Die Jahre, die der Freund bereits unter den Füßen der Nandamarvedas zugebracht hatte, erleichterten ihm nun das Leben. Er musste sich bloß wieder fügen und in sein Schicksal ergeben. Mir fällt es auch zunehmend leichter – und dafür hasse ich mich! Immer häufiger ertappte er sich dabei, wie er die Tage verdöste, seine Rache und die Gesichter seiner Familie vergaß. Sogar Nuons Stimme hörte er nur noch selten. Sangrama, Vireak, seine Eltern, all die Toten traten zurück und der ewig gleiche Alltag formte ihn zu einem Sklaven. Manchmal erinnerte er sich nicht einmal daran, dass er früher zwei Augen gehabt hatte. Ich soll nicht nur ein Werkzeug sein, sondern bin es geworden.

Plötzlich drängte sich eine kurzhaarige Chinesin in sein Bewusstsein und er schüttelte den Kopf, doch sie blieb da und schaute ihn belustigt an. Chanlina. Sie will für mich putzen! Was sie in seiner Hand gelesen hatte, war ihm gleich. Er dachte nur an die feste Brust unter seinen Fingern und das war mehr, als er in diesem Leben noch erwarten durfte.

- - -

Am Morgen betraten sie durch die Sklavenpforte das Quartier ihrer Gebieter. Da der Fürst bereits gegangen war und sein Sohn bis in den Mittag schlief, vertilgten sie zunächst ihr kümmerliches Frühstück. Sie kauten und schwiegen, wie sie es inzwischen so oft taten, und Arun sagte seinem Freund auch nichts von der Chinesin. Ich werde einfach warten. Vielleicht kommt sie gar nicht.

Die Zeit verging, bis Narith schließlich nach dem Besen griff. »Mein drittes Bein will laufen,« scherzte er müde.

Der Kui fragte sich schon, ob er die Augenblicke im Schatten der Säule nur geträumt hatte, da sah er Chanlina endlich.

Mit großer Selbstverständlichkeit hinkte die junge Frau an den Soldaten vorbei, die an der offenen Tür zu Viseths Gemächern Wache hielten. Die derben Sprüche, die ihren kurzen Haaren galten, quittierte sie mit einem Lächeln.

Arun wollte bereits zu ihr treten, doch sie sah ihn gar nicht an und erkundigte sich bei Narith nach ihren Aufgaben.

Der Cham hob nicht einmal den Blick – zu oft kamen neue Sklaven –, wies sie ein und schlurfte dann in den nächsten Raum.

Sie waren allein.

»Glotz nicht so blöde!«, raunte sie. »Hast du geglaubt, ich halte mein Versprechen nicht? Jetzt bist du dran!«

Sie beschrieb ihm den Weg zum alten Turm über der Bibliothek.

»Krieg ich noch einen Kuss?«

Aber sie rollte nur mit den Augen und drehte den Kopf weg.

Also ging er lernen.

Es war deutlich einfacher, als er befürchtet hatte. Niemand hielt ihn auf, als er die Haupttreppen hinunterging, den Innenhof überquerte und schließlich den Gebäudetrakt erreichte, in dem sich die Schriftensammlung befand. Er galt nur als einer von zahllosen Sklaven und einer von etlichen, denen schon ein Auge genommen worden war. So fragte ihn kein Beamter, Priester oder Aufseher nach seinem Ziel, bis er un-behelligt an den Soldaten vorbeiglitt, die den Eingang zur Bibliothek sicherten.

Die Morgensonne durchflutete den Saal. Er befolgte Chanlinas Anweisungen, setzte eine gelangweilte Miene auf und lief zügig an den hohen überladenen Regalen entlang. Die schiere Menge an Schriftrollen, die in ungeordneten Reihen im Raum verteilt waren, versetzte ihn in Staunen und er fand sich nur mühevoll zurecht. Endlich entdeckte er den Verwalter, einen uralten und vor Schmutz starrenden Brahmanen, der auf einem ausgefransten Teppich schlief. An ihm musste er vorbei, denn die kleine Turmtreppe, ein schmaler dunkler Einlass in der unverputzten Wand, befand sich hinter dem schnarchenden Greis. Chanlina hatte ihm geraten, den alten Mann unbedingt zu wecken. Doch er sah nicht ein, wieso.

Er schlich über die ausgetretene Seide zu dem Portal, als ihn lautes Miauen erstarren ließ.

Eine zahme Katze schaute ihn aus großen leuchtenden Augen an. Sie war schwarz und hässlich, vielleicht nur unwesentlich jünger, aber dafür deutlich sauberer als der Brahmane,

Er verfluchte seine Dummheit und streckte ihr die offene Hand entgegen.

Shiva, hilf!

Doch das Tier beachtete ihn gar nicht, schritt zum Bibliothekar und drückte ihm in einer hoheitsvollen Geste den buschigen Schwanz ins Gesicht.

Der Greis erwachte mit einem feuchten Niesen und schnappte überrascht nach Luft, als er Arun bemerkte. »Habe ich solange geschlafen?« Dann überprüfte er den Sonnenstand und runzelte die Stirn. »Was suchst du schon so früh hier, Sklave?«

»Ich ...« Gerade noch rechtzeitig erinnerte sich der Kui an Chanlinas Worte. »Ich muss den alten Turm neu verputzen,« nuschelte er hastig, »´komme vom Fürsten.«

»Was sind denn das für Ideen. Da war seit Jahren niemand mehr.« Der Brahmane spuckte einen beeindruckenden Brocken Schleim auf die Seide. »Sri Nandamarveda hat dich geschickt? Na, mir soll´s egal sein.« Träge glitt sein Blick an ihm herunter, bevor er misstrauisch den Kopf hob. »Und wo ist dein Werkzeug, Sklave?«

Das hatte er vergessen.

Ich Schwachkopf sollte zu den Krokodilen springen.

»Nun, ich ... muss mir erst ein Bild machen. Ich weiß ja nicht, wie es da oben aussieht, also ...«

»Ist gut,« der alte Mann gähnte und kämmte seinen Bart mit den Händen, »verschwinde!«

Arun lief zu der engen Treppe und blickte sich nicht noch einmal um. Danke, ihr Götter! Morgen bringe ich ein paar Pinsel mit.

Auf der steilen und langen Stiege kämpfte er sich an dicken Spinnweben und Unratbrocken vorbei nach oben. An das Verputzen der Wände brauchte er gar nicht denken, denn allein der Schmutz auf den Stufen bot ihm für Wochen einen Vorwand, wiederzukommen. Immer höher und höher ging es in vielen Kehren hinauf, bis er endlich durch einen schmalen Durchlass in die Sonne trat.

Überirdische Stille.

Blasse Wolken schienen direkt über seinem Kopf zu schweben und in der Ferne ließen sich zwei Silberreiher vom Wind tragen. Er lief zur verwitterten Balustrade, blickte auf den Innenhof von Sambor Prei Kuk hinunter und staunte. Die Menschen waren so klein wie Ameisen und sogar die riesige Baustelle von Nandamarvedas neuem Palast sah nicht größer aus als ein Badebassin. Von Chanlina wusste er, dass der Turm für einen von Jayendrapanditas Vorgängern errichtet worden war. Dieser einstige Vrah Guru sollte ein begeisterter Sterngucker gewesen sein. Noch näher kann man den Himmel tatsächlich nicht kommen. Da ihn hier oben niemand hören konnte, jubelte und schrie er seine Freude in die Welt. Plötzlich fühlte er sich frei und ihn ergriff eine tiefe Ruhe.

Unter einem aus der Balustrade gebrochenen Stein lagen einige Schriftrollen, die ihm die Chinesin hinterlassen hatte. Es gibt etwas zu tun! Er ahnte nicht, weshalb ihm die junge Frau helfen wollte, doch sie putzte für ihn und er stand in ihrer Schuld. Also setzte er sich in die Sonne, dachte an ihre schlanke Gestalt und zog ein Schriftstück aus dem Stapel. Es handelte sich nicht um gewöhnliches Pergament, sondern um eine schwarz eingefärbte Hirschhaut, die mit weißer Kreide beschriftet war.

Arun hatte vor Jahren das letzte Zeichen gelesen und tat sich zunächst schwer, dennoch ging es mit jeder Zeile besser. Nur verstand er wenig, bis nach einigen Seiten ein Name auftauchte, den er kannte: Xa. Das war der Geburtsname des Mannes, der die derzeitige Dynastie begründet, den einfachen Lanzenträger Sangrama befördert und schließlich zu Kambujas Strategen ernannt hatte. Suryavarman, der Vater des Bastards.

Es schien sich um einen Bericht über seine Herrschaft zu handeln, aber nicht um eine der üblichen Chroniken, die den Kamrateng verherrlichten. Mit erwachtem Interesse rollte Arun das Schriftstück wieder zum Anfang zurück. Da sah er Chanlinas vorwurfsvolle Miene vor sich und erinnerte sich an sein Versprechen. Komm schon, du bist ihr auf den Fuß getreten! Er fluchte und formte dann mit seiner verkürzten Zunge die Worte aus: »Der Thronräuber Xa aus Shambhupura griff nach der Krone und ließ sich Suryavarman nennen. Schamlos rechtfertigte er seinen Frevel, indem er das alte Lingam in Stücke schlug und sich einen Splitter des Eisens in das Fleisch einführte. Aufgrund dieses billigen Tricks eines Gauklers wähnten die Soldaten ihren Herrn für unverwundbar und erklärten ihn also gegen jede Sitte in Yasodharapura zum König. Sogleich verging er sich an den Göttern und suchte die Macht der Brahmanenfamilien einzuschränken. So nahm er dem Geschlecht der Shivakaivalya dessen ewiges Vorrecht des Blutes und wählte einen anderen Wächter über den Devaraja, Shivas heiligen Kult. Von nun an sollte der Kamrateng den Vrah Guru ernennen und er bestimmte einen Abkömmling Jayavarmans. Dem gab er eine seiner vier Töchter zur Frau und verleitete ihn so zum Verrat an seiner Kaste. Dieser, mit Namen Yogishvarapandita, hinterging also die übrigen Brahmanen und erfand nun viele Lügen, um die schmähliche Abkunft von Xa zu verdecken. Dafür baute ihm der Thronräuber einen hohen Turm, denn der Frevler liebte die Erscheinungen am nächtlichen Himmel. Der falsche König errichtete das Bauwerk jedoch nicht in der Hauptstadt, sondern in Sambor Prei Kuk. So sandte er den schamlosen Yogishvarapandita in die einstige Residenz und vergaß ihn dort.«

Arun ließ die Schriftrolle sinken und blickte sich um. Er war hier, deshalb hat sie mir die Rolle herausgelegt! Auf diesen Steinen schaute der Alte nach den Sternen! Dann musste der Astrologe der direkte Vorgänger des vergifteten Vrah Guru gewesen sein und diese Schmähschrift stammte von Jayendrapandita selbst. Der junge Mann nickte grimmig. Es war kein Wunder, dass sein Ziehvater nur Abscheu für den Brahmanen empfunden hatte. In dieser Schrift verunglimpfte der alte Purohita den Herrscher, den der General zutiefst verehrt hatte. Er las flüchtig einige Absätze zu religiösen Fragen, bevor er tatsächlich den Namen entdeckte, der ihm alles bedeutete.

»Sangrama, sein gottloses Werkzeug, unersättlich in Gier und Mordlust, überzog Kambuja mit Krieg. Den Thai legte er Tribute auf, er eroberte das Lavoreich und den Süden der Gegend, die wir Laos nennen. Ob dieser leeren Triumphe verspottete der Thronräuber die wahren Götter und huldigte dreist dem vermeintlich Erleuchteten. Als Totennamen wählte er sogar Nirwanapada, aber wir wissen, dass sein schmerzvolles Dasein auf ewig im Samsara gefangen sein wird.«

Arun schüttelte den Kopf und lächelte. Alte Giftkröte! Da ihn Jayendrapanditas fanatische Hetze langweilte, zog er eine andere Schriftrolle aus dem Stapel. Der Militärbericht beschrieb in erfrischend sachlichem Ton Stärke und Bewaffnung der Mon, einem wilden Volk, das im Reich Haripunjaya bei Lamphun siedeln sollte. Wo liegt das? Und warum soll ich das lesen? Von diesem Bergstamm wusste er nur, dass er während Kamvaus Rebellion einige Dörfer im Westen geplündert hatte. Er überflog die Zeilen, bis er las, dass die Mon bereits seit Generationen Kambuja zusetzten und einmal sogar bis nach Yasodharapura vorgedrungen waren. Seine Augen weiteten sich. Die Khmer sind also doch nicht unbesiegbar. Er hob den Blick und dachte an die junge Frau. Was hatte sie in seiner Hand gesehen? Aber dann schüttelte er den Kopf. Wen kümmern sinnlose Träume? Mutter ist tot und ich werde kein neuer Aravindhahrada!

Chanlina hatte ihm auch einige zusammengerollte Palmblätter auf den Turm gebracht und in einem ging es um den Bau des Barays im Westen der Hauptstadt. Von Sangrama wusste er, welch entscheidende Bedeutung den Wasserspeichern für die Ernte zukam. Er las von den nötigen Werkzeugen, Dienern und vorgesehenen Bauabschnitten, konnte sich die enormen Zahlen jedoch kaum vorstellen.

Eine andere Schrift handelte von der Reisverteilung und wieder überforderten ihn die aufgeführten Mengen. Allerdings begriff er, was die schier endlos lange Liste bedeutete, in der ein fleißiger Schreiber die zu versorgenden Einrichtungen verzeichnet hatte. Er sprach die Namen der zahllosen Tempel und Paläste laut aus und dachte an deren Bewohner. Alle müssen wir füttern, alle leben sie von der Arbeit der Sklaven, von uns! Voller Zorn warf er die Rolle mit den aufgelisteten Ungerechtigkeiten von sich.

Da fiel ein Schatten auf ihn und ließ ihn erschrocken aufspringen.

Chanlina betrachtete ihn mit einem schmalen Lächeln.

Verwirrt prüfte Arun den Stand der Sonne und fand nur noch einen hellen Fleck am Horizont. Über die Lektüre war der Tag vergangen.

»Falls du dich fragen solltest: Ja, der Sohn des Bastards hat dich gesucht, und wieder vergessen. Viseth ist ein wirklich armseliger Zeitgenosse.«

Sein Blick glitt an ihrer Gestalt hinunter. Im warmen Licht der Dämmerung enthüllte der dünne Sarong seine letzten Geheimnisse und er starrte versonnen auf die Stelle, wo sich die langen Beine trafen.

»Ach, es ist hoffnungslos!«, zischte sie. »Weshalb glaubte ich nur ...« Sie schüttelte den Kopf. »Ich schrubbe, wienere und opfere meinen Tag dafür, dass Du dich durch das gesammelte Wissen eines minderwertigen Volkes lesen darfst. Und was tut der Barbar?« Ihre schwarzen Augen verengten sich. »Er schaut auf meinen Schoß und fragt sich nur, wann er mich besteigen kann!«

Arun fühlte sich ertappt. Die junge Frau war rechthaberisch und dünkelhaft, hatte kurze Haare und einen zu breiten Mund, und dennoch zog ihn Chanlina auf irgendeine Weise an.

»Nein, du verstehst mich falsch.« Er bemühte sich um ein Grinsen, das ihm zu gelingen schien, denn ihre Züge entspannten sich ein wenig. »Es ist nur so ... Also ich habe mich gefragt, wieso du humpelst.« Er setzte eine neugierige Miene auf. »Deine Beine sind doch nahezu gleich lang.«

Sie rollte mit den Augen. »Du Heuchler musst das Lügen noch lernen.« Dann verzog sie die Lippen zu einem grimmigen Lächeln, das Arun tatsächlich schön fand. »Aber immerhin sprichst du wesentlich schneller als heute Morgen. Vielleicht hast du ja nicht den ganzen Tag mit feuchten Gedanken vergeudet.«

»Nein und ich danke dir. Es war großartig!« Als er von der Lektüre erzählte, verbesserte sie jeden Aussprachefehler und fragte nach, wenn er über Details wie bestimmte Reismengen hinwegging.

Irgendwann, die Nacht war bereits fortgeschritten, unterbrach sie ihn. »Schön, ich bin angemessen beeindruckt, aber nun beginnt die eigentliche Arbeit. Du wirst lernen, wie ein Mensch zu sprechen.«

Arun war müde, doch sie kümmerte sich nicht um seine lahmen Proteste und begann fröhlich mit der Unterweisung.

Mandarin stellte sich als eine gewaltige Herausforderung heraus, die umso größer schien, weil Chanlina ihm mit der Sprache zugleich noch die Schriftzeichen vermittelte. So lernte er in der aufkommenden Nacht nur mühevoll die ersten Worte, bis er schließlich herzhaft gähnte.

Sie rollte mit den Augen, wie sie es stets tat, wenn es ihr an Geduld mangelte, zog hinter ihrem Rücken aber dennoch ein Paket hervor.

Mit Heißhunger stürzte sich Arun auf den Reis und verschlang den Inhalt einiger Schüsseln.

Die junge Frau hinkte unterdessen zur Treppe und besorgte aus der verlassenen Bibliothek Lesestoff für den nächsten Tag.

Als er einigermaßen gesättigt war, ging der Unterricht weiter, bis er sich kaum noch konzentrieren konnte und auch sie endlich müde wurde. Sie vereinbarten, dass er der Einfachheit halber gleich auf dem Turm schlafen sollte, bevor sie sich mit nicht mehr als einem verheißungsvollen Kuss verabschiedete.

So vergingen Tage und Wochen, in denen Chanlina seine Aufgaben in Nandamarvedas Gemächern übernahm. Als sie Narith einweihte, verstand der Cham wenig, freute sich aber über die tatkräftigere Unterstützung. Vor Viseth erfanden sie irgendwelche Ausreden, und er ließ sich täuschen, zumal ihn der Fürst so oft an seine Seite befahl, dass der Yuvaraja gar nicht die Zeit fand, den Kui zu suchen. Solange der Sklave offensichtlich seine Arbeit verrichtete, kümmerte es tatsächlich niemanden, wo er sich aufhielt. Und bald schien der Sohn des Bastards nicht mehr an ihn zu denken.

Unterdessen wünschte sich Arun nicht selten, wenn sein Kopf zu platzen drohte, dass er die Treppe des Turms nie hinaufgestiegen wäre. Er studierte Schriften zur Verwaltung des Khmerreiches, zum Militärwesen, Berichte über fremde Völker, mathematische, philosophische und medizinische, sogar religiöse Abhandlungen. Jeden Tag las er laut und nach einem Mond kam es ihm so vor, als ob er nie etwas anderes getan hätte. Sobald sein Mund trocken war und er nur noch krächzen konnte, trank er aus dem Wasserschlauch, den Chanlina am Vorabend mit dem Essen gebracht hatte. Natürlich schmeckte der kalte Reis schal, aber das war er gewohnt, und immerhin gab es genug. Wichtiger erschien, dass er ungestört blieb. Der alte Bibliothekar kam aus der Schriftensammlung nie die schmutzige Treppe herauf und hatte ihn offenbar vergessen. Das vermutete jedenfalls die Chinesin, die in der Dämmerung am Ende eines jeden Tages an dem Greis vorbeischlüpfen musste.

Einmal sprach der verschmutzte Brahmane sie an und wunderte sich, warum seine treuste Besucherin nun immer erst zu so später Stunde die Bibliothek betrat. Sie erzählte dann, dass der Herr aus Champa ihr neuerdings andere Aufgaben anvertraue und sie nur noch am Abend zum Lesen komme. Aber wenigstens hätte sie auf dem Turm der Sterne Ruhe vor den Nachstellungen ihrer Gebieter.

Der Priester streichelte seine Katze und starrte auf Chanlinas Brüste. »Fürchtest du dich denn nicht vor mir?«

»Doch, natürlich, heiliger Mann. Nur vermute ich nicht, dass ihr mehr als drei Stufen erklimmen könnt.«

»Unverschämtes Ding, leider hast du recht.« Der Alte lachte und stutzte dann. »Warte `mal! Vor einiger Zeit schickte Nandamarveda einen Diener, um da oben sauber zu machen. Da ist wohl nichts draus geworden, oder?«

»Ich glaube, er hat die Plattform abgesichert. Was er jetzt noch tut, weiß ich nicht.«

»Hm. Wie auch immer. Ich wünsche Dir ein paar erleuchtende Stunden.«

»Danke, Herr.«

Und dann eilte sie auf den Turm.

In jeder Nacht überprüfte Chanlina seine Fortschritte und lobte Arun für sein rapide wachsendes Wissen. Sprache und Schrift von Chinas Gebildeten fielen ihm hingegen deutlich schwerer und so musste er sich weiterhin mit einem raschen schwesterlichen Kuss zum Abschied begnügen.

Einmal, etliche Wochen waren vergangen, in denen sie ihn auch in seinen Träumen regelmäßig besucht hatte, ertrug er die Einsamkeit nicht länger. Als sie wieder den Mund auf seine Stirn drücken wollte, hielt er die junge Frau fest und zog sie wie im Fieber an sich. Er presste den Kopf in ihren Schoß und ließ seine Lippen über den dünnen Stoff gleiten, der ihre Beine verhüllte.

Chanlina zitterte und keuchte, kam ihm aber nicht entgegen.

Verwirrt blickte er auf und starrte in das rätselhafte Schwarz ihrer schmalen Augen.

Eine Träne rann die sanft geschwungene Wange hinab. »Wenn du mich jetzt nimmst,« flüsterte sie atemlos, »dann werde ich nie mehr zu dir kommen.«

Doch in seiner blinden Gier erreichten ihn die Worte nicht. Er riss ihren Körper an sich, küsste die kleinen Brüste und schob sein hartes Glied zwischen ihre Schenkel. Nur der Umstand, dass sie sich nicht wehrte, ließ ihn noch zögern. ›Du hast es versprochen!‹, sagte seine Schwester und Nuons Stimme brachte ihn endlich zur Besinnung. Er stieß einen stummen Fluch aus, wandte sich ab, schlug die Hände vors Gesicht und kämpfte mit seiner Scham.

Chanlina stand auf und humpelte zur Turmtreppe.

Nach dieser Nacht bedrängte er sie nie mehr, drehte jedoch auch den Kopf weg, wenn sie ihn küssen wollte.

- - -

Malakka, Herbst 1556

»Ihr glaubt mir nicht,« stellte der Dominikaner in bekümmertem Ton fest. »Ich sehe es eurer Miene an.«

»Wie kann er denn auch?«, rief der Wirt aus dem Hintergrund. »Solch einen Unsinn hörte ich noch nie.«

Pedro warf einen warnenden Blick über die Schulter und wartete, bis Rodriguez sich hinter seine Theke verzogen hatte. Dann wandte er sich wieder an den verhüllten Ordensbruder: »Verzeiht, da Cruz. Aber ein Sklave, der Vater eines Königs war, und Kopfjäger, die den Palast seines Sohnes bewachen ...«

»Nun, obwohl euer Misstrauen mich und die heilige Mutter Kirche beleidigt, verstehe ich, dass meine Worte allein nicht genügen mögen. Wir wollen uns morgen früh am Hafen treffen! Dort harrt mein chinesischer Führer auf den noch ausstehenden Lohn. Vielleicht kann euch dieser übellaunige Mensch endlich von der Wahrhaftigkeit unserer Erlebnisse überzeugen.«

»Ich verspreche nichts.«

Plötzlich hatte Pedro den erfolglosen Missionar und die heruntergekommene Kaschemme satt. Er stand auf, trat grußlos hinaus in die fortgeschrittene Nacht und atmete tief ein.

Er war enterbt, seine Börse leer und dennoch musste er Constanza gewinnen. Zwar konnten ihm seine Kumpane aushelfen, aber mehr als ein weiteres Besäufnis wäre so nicht gewonnen. In zunehmender Verzweiflung schritt er durch die Dunkelheit und fand sich bald im Viertel am südlichen Tor wieder. Ehe er in die Gasse einbog, die zu Silvas Häuschen führte, hielt ihn jedoch sein Stolz zurück. Verdammt sollte er sein, wenn er betteln würde!

Er brauchte Gold!

Also kehrte er um und lief ziellos in den grauenden Morgen hinein. Die Stadt erwachte sonst erst zu dieser Stunde, doch heute herrschte eine seltsame Unruhe auf den Straßen und etliche schweigsame Peranakan strömten an ihm vorbei. Diese in Malakka geborenen Chinesen, das wusste er von seiner Amme, verehrten seit Menschengedenken einen gewissen Zheng He. Allerdings ahnte niemand, wer das gewesen sein mochte, und Pedro kümmerte es ohnehin nicht. Weniger aus Neugier, sondern weil ihm kein besseres Ziel einfiel, folgte er den Männern der aufgehenden Sonne entgegen.

Bald erreichten sie den Vorplatz des ältesten Tempels der Kolonie. Der Portugiese sah die zahlreichen Gläubigen und begriff endlich, was hier geschah. Schon am Vortag hatten die Vorbereitungen begonnen, als er auf dem Weg zu Constanza den Menschenaufläufen ausgewichen war, ohne deren Ursache zu ahnen: das Datuk Chachar, das wichtigste aller heidnischen Feste.

Aus dem Heiligtum stiegen Weihrauchwolken auf und ohrenbetäubendes Getrommel zeigte den Beginn der Zeremonie an. Die Eingeborenen dankten den Göttern für die Erhörung ihrer Gebete und achteten nicht auf den Weißen in ihrer Mitte.

Für den Moment vergaß Pedro seine ungewisse Zukunft, schaute sich fasziniert um und erlebte das legendäre Ritual, dessen Besuch die Kirche streng untersagte. Umso eher fesselten ihn nun die fremdartigen Bräuche.

Ein Mann, der einen federgeschmückten Turban trug, empfing einen Lotusblumenkranz, den er sich um den Hals legte. Mit leerem Blick kauerte er sich auf die Erde und starrte in die Ferne. Bald setzte sich ein Ältester vor ihn und trieb ihm eine lange Nadel in die Wange, bis die Spitze auf der anderen Seite heraustrat. Viele erfuhren diese Tortur, und wenngleich manche vor Schmerz zusammenzuckten, ertrugen sie die Folter in erstaunlichem Gleichmut. Widerstandslos ließen sie sich fingerdicke Stäbe in Brust und Rücken stechen und schnappten doch nicht einmal nach Luft.

Obwohl kein Blut floss, stöhnte Pedro auf und wollte kaum seinen Augen trauen.

Schließlich begann die Prozession, die zu einem zweiten Tempel führen sollte. Zahllose Gläubige wanderten mit durchbohrten Wangen, Zungen und Lippen die Straße entlang. Einigen wurden links und rechts der Wirbelsäule Haken ins Fleisch gesteckt, an denen Schnüre befestigt waren. Wie todgeweihte Ochsen zogen sie heilige Wagen mit Götterbildnissen und ihre Haut spannte sich unter dem grausamen Druck. Damit die Qual noch länger anhielt, krochen andere mit Eisendornen in der Stirn über den Weg. Ein Fanatiker trug gar einen ganzen Käfig, zwei blumengeschmückte hölzerne Halbschalen, deren Aufbau mit einer Vielzahl von Nadeln in Brust und Rücken des Mannes steckte.

Fünftausend Schritte folgte Pedro den Gläubigen, bis sie endlich den zweiten Tempel erreichten. Welche Kraft lag in dieser Hingabe! Wenn ein Mensch solche Marter ertrug, war alles möglich und ein verstoßener Sohn konnte sogar die vergessene Stadt finden. Plötzlich blieb er stehen, starrte auf die Erde und betrachtete die zertretenen Blumengirlanden. Nach einer Weile hob er den Kopf und presste die Lippen zusammen. Dann löste er sich eilig aus der Menge und ging zum Hafen, wo der Dominikaner und dessen Führer auf ihn warteten.

Vielleicht musste er nur an sein Glück glauben.

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Auf dem Turm der Sterne verstrichen die Monde und die Einsamkeit seiner Tage setzte Arun zu. Er lebte auf Kambujas erhabenstem Ort, doch war er allein und auch auf Chanlinas abendliche Besuche freute er sich nicht mehr, seitdem sie ihn zurückgestoßen hatte. Umso schmerzlicher vermisste er die Gespräche mit Narith, seinem einzigen Freund, bis er es schließlich nicht länger ertrug. Er sagte der Chinesin nichts von seinem Plan, denn er wusste, dass sie ihn für verrückt erklären würde. Ja, es mochte ein sinnloses Wagnis sein, aber er musste einfach wieder andere Stimmen hören.

Dann setzte der große Regen ein und er flüchtete vor den Sturzbächen in das Treppenhaus. Das ausgedörrte Land und seine Menschen gierten nach dem Wasser und vom Innenhof des Palastes klangen besonders laute Freudenschreie zu ihm herauf. Alle Freien, sogar die Wachen, begrüßten den Monsun und der Palmwein floss in Strömen. Und da begriff Arun, dass in dieser Nacht keiner auf einen Diener achten würde.

Der Herr der Vorsehung zeigt mir den Weg.

Also wartete er am Abend ungeduldig, bis die junge Frau gegangen war, stieg einige Zeit nach ihr die Treppe hinunter und schlich an dem schlafenden Brahmanen vorbei. Niemand hielt ihn auf, als er die Schriftensammlung hinter sich ließ und zum Quartier von Nandamarvedas Sklaven eilte. Er weckte die Unglücklichen und rief ihnen sein Gesicht ins Gedächtnis, doch sie betrachteten ihn nur mit stumpfen Blicken. Sogar der Cham nickte nur ergeben, als er ihm voller Begeisterung von den Schriftrollen erzählte, die er auf dem Turm studierte. Narith führte inzwischen eine Putzkolonne an und die ewig gleiche Arbeit erschöpfte ihn zusehends. Der früher so lebenslustige Freund wirkte älter, müde und leer. Arun war wütend, verspürte aber sofort den Anflug eines schlechten Gewissens. Er muss das Leben führen, dass mir Chanlina erspart. Ich sollte meine Zeit besser nutzen!