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Think Tank Tsunami gleicht einer intellektuellen Achterbahnfahrt, einem Blick auf Entscheidungen des Menschen in einer repressiven Welt: Was wäre, wenn Alles anders ist und dennoch Hierarchien die Gesellschaft prägen? Welche Strategie sollte man wählen? Wer wird warum aus Unterdrückung Profit ziehen, gegen die Macht aufbegehren oder sich nur um seine Belange kümmern? Drei Brüder, drei Lebenswege in einer von primitiven Interessen zerrissenen Gegenwart. Aber welche Strategie erscheint am sinnvollsten - und welche wählen Sie?
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Seitenzahl: 473
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Think Tank Tsunami gleicht einer intellektuellen Achterbahnfahrt, einem Blick auf Entscheidungen des Menschen in einer repressiven Welt: Was wäre, wenn Alles anders ist und dennoch Hierarchien die Gesellschaft prägen? Welche Strategie sollte man wählen? Wer wird warum aus Unterdrückung Profit ziehen, gegen die Macht aufbegehren oder sich nur um seine Belange kümmern? Drei Brüder, drei Lebenswege in einer von primitiven Interessen zerrissenen Gegenwart. Aber welche Strategie erscheint am sinnvollsten – und welche wählen Sie?
1969 in Bochum geboren, studierte Jan Erhard Philosophie und Geschichte in Berlin. Dort bildet er Philosophielehrer aus und leitet den geisteswissenschaftlichen Fachbereich eines Gymnasiums. Mit seiner Frau lebt er in Teltow bei Berlin, zwei Töchter erkunden die Welt. Seit 2005 veröffentlichte er drei historische Romane über die Tempelanlagen in Angkor.
Für die Schülis
Präejakulat
Weiberhölle
In die Hose
Skilehrer und Gürtellektionen
Männermachen
Peitsche nicht vergessen!
Lendenschande
In Frauen waschen
Eiserne Fische
Frontfußball
Mächtiger als das Schwert?
Zwischen den Stühlen
Der Welten Lohn
Liebenswerter Unrat
Kneipengefasel, keine Feinstickerei
Der Boden der Tatsachen
Legitime Massenhinrichtung
Charismasklaven
...
weil man es sonst zu nichts bringt
Kotze des Glücks
Weltgeistern im Jetzt
Götterdämmerung
Missverstandene Gartenfrüchte
Tiefflieger und Hochschläfer
Schicksal, selbstgewählt
Schwindsüchtiges Dilemma
Reflexionslimit einer Koryphäe
Vorsokratische Paketbomben
Grobsinnige Rezension
Sippenhaftantritt
Schweinemedizin
Hebammenverhör
Skrupulöse Brandstiftung
Klassenschande und Dampfdrohnen
Meier in Bombenstimmung
Mörderbad
Unter Schafen
Vorzeigelager und Parkettsex
Unseliger Utilitarismus
Inkognito und übergangen
Seilbahn ins Blaue
Sackgassendomino
Sahnehäubchen
Hütchenspiel
Die Ertrunkenen
Wieder danke ich Menschen, die mir Mut machten.
Ich danke Allen, die sich durch verschiedene
Fassungen kämpften und nicht mit Kritik sparten.
Beate, Ariane, Luisa, Lena, Eddie, Mehregan,
Maddin, Jim, Felix, Detlef, Holger –
ohne Euch wäre dieses Buch Stückwerk geblieben.
Ich danke den Angestellten der Berliner S-Bahn, in
deren Zügen ich viele Stunden arbeiten konnte.
Tatsächlich entstand ein wesentlicher Teil dieses
Romans auf Schienen.
Ich danke meiner Frau und unseren Kindern für
ihre liebevolle Unterstützung.
Dieses Buch stellt ein dreistes Beispiel für den Diebstahl geistigen Eigentums dar. Sie werden hunderte Zitate kleiner und großer Geister finden, von denen sich niemand gegen die Verwendung, Veränderung, auch Entstellung ihrer oder seiner Worte wehren konnte. Immerhin wurden den Riesen der Weltweisheit keine fremden Äußerungen in den Mund geschoben – natürlich abgesehen von meinen Sätzen, die halbwegs schlüssig die Lücken füllen mögen. Zudem habe ich die Namen der Protagonisten durch möglichst humorvolle/ironische/zynische Alternativen ausgetauscht.
Warum sollten Sie dieses Buch lesen? Das weiß ich nicht. Über Philosophie lernen Sie fast nichts, was Ihnen nicht auch das Netz sagen könnte. Über Geschichte lernen Sie noch weniger, außer vielleicht, wie keineswegs die hellsten Kerzen auf der Torte sie sehen – ich meine die Vergangenheit. Und über das Leben? Na, wir wollen doch nicht pathetisch werden. Aber neigen wir ohnehin nicht dazu, Gründe überzubewerten?
Wie können Sie dieses Buch lesen? Rasch anfangen, eventuelles Unverständnis elegant überspielen und Lücken mit Vorurteilen füllen – das wäre eine übliche Vorgehensweise. Sie könnten ferner versuchen, die Promis der Geistesgeschichte anhand ihrer Worte oder in ihren neuen Namen wiederzufinden. Wenn die Zeit fehlt, dürfen Sie natürlich auch im Register der Ertrunkenen nachschauen. Und vielleicht wollen Sie einfach absaufen? Dann lassen Sie sich in den Think Tank fallen und genießen den Tsunami.
– – –
#Nirgendwo: Da ich in diesem Buch nur eine sehr kleine Rolle spiele, dürfen diese Zeilen wohl den ersten Kapiteltrenner geben. Eine unerwünschte Entschädigung. Gleichwohl soll ich die Wahl meines Pseudonyms erklären, mich allerdings kurzfassen. Daher: Mein Werk offerierte den Menschen auf einem Eiland eine bessere Welt. Zum Beispiel galt dort Bildung als wesentlicher Lebenszweck, und Eigentum, die Ursache der Gier und damit aller Verrohung, war verboten. Die anonym veröffentliche Schrift trug den Namen der Insel im Titel, doch leider beherrschten damals ähnlich Wenige das alte Griechisch wie heutzutage, weshalb Zahllose auf einer sinnlosen Suche ertranken. So will es zumindest die Legende.
– – –
Das Haus der Nietes war in den Felsen gehauen und eine Generation nach der anderen hatte ein Stockwerk aufgesetzt. Einst kaum mehr als eine Berghütte konnte man nun zwar nicht von einem stattlichen, aber immerhin weitläufigen Heim sprechen. Dennoch wirkte der harte Granit, das vermooste Dach und das spröde Holz noch immer wie der zu hoch geratene Wetterschutz eines Almhirten. Und überhaupt wäre niemand auf die Idee verfallen, den Bewohnern Reichtum zu unterstellen, denn der Familiensitz stand allein auf der falschen Seite. Im Westen der tiefen, gekrümmten Schlechtenschlucht schien das Licht der Sonne nämlich nur eine knappe Stunde am Tag. Erst gegen Mittag stachen Strahlen durch klamme Nebel, streichelten Weiden auf der Talsohle, ehe sie schon wieder Abschied nahmen und die Schatten der steil im Osten aufragenden Gipfel aufkamen. Wer hier lebte, könne das Tageslicht nicht schätzen, meinten die Leute. Der Herr des Hauses habe vor vielen Jahren einen Schlag erlitten, ließe sich seitdem von Zynismus beherrschen und pflege bösen Spott. Abgesehen von seltenen Besuchen vollkommen abgeschieden, sehe er die Welt eben so düster, wie sie auf dieser Seite der Schlucht wirken müsse. Zudem und folglich schaue er bevorzugt auf die Vergangenheit.
Zumindest diese rückwärts gewandte Perspektive teilte er mit dem ganzen Land. Das Kaiserreich verrottete im stumpfsinnigen Dünkel, feierte diesen mit überkommenen Ritualen und versperrte sich allen sinnvollen Neuerungen. Stattdessen verehrte man die Zeit der frühen Industrialisierung, als der menschliche Genius die Natur bezwungen hatte. An diese schillernde Epoche erinnerten die Menschen mit Modeaccessoires wie Zahnrädern, Schlüsseln oder monströsen Brillen. Wenn #Kallimachos Misogyn Niete sich anders als seine Zeitgenossen auch nicht mit vermeintlichen historischen Relikten schmückte, hielt er es ansonsten ähnlich: Von der lichten Höhe seiner Einbildung sah er auf andere Menschen herab, züchtigte sonntags in schöner Regelmäßigkeit jeden seiner drei Söhne und hatte den tollkühnen Entrepreneur, der ihm ein kühlendes Ionentauschsystem verkaufen wollte, mit der Armbrust verjagt. Das Geld für den dürftigen Hausstand verdiente #Niete als wenig erfolgreicher Bergführer, dem die Wanderer kaum einmal mehr als ein paar Tage folgten. Spätestens in der dritten Nacht, bis dahin verunsichert von seinem fortgesetzten finsteren Schweigen, flüchteten sie vor einem unvorhersehbaren und umso heftigeren Ausbruch wildesten Zorns. Seine Kinder immerhin genossen diese Zeit, in der #Niete sie nicht wie Schlachtvieh musterte oder gleich wie ein Schnitzel schlug.
Woher kam diese plötzliche Wut, die sich wie ein Blitz aus ewig drohenden Gewitterwolken lösen konnte und uns Sterbliche stets an unsere Natur erinnerte? Das frage ich mich bis heute. Da dieser Titan zumindest meine frühen Jahre beherrschte, man solcherart Einflüsse nie gänzlich abzustreifen vermag und er Menschen prägte, die mir ein Leben bedeuteten, suche ich immer noch nach einer Antwort. Bei der Lösung dieses Rätsels ging ich als Kind nicht chronologisch vor, sondern tastete blind nach Erklärungen. Zum Beispiel erwog ich die These, dass #Niete an der Beschränktheit einer Welt verzweifelte, aus der sein Genius herausragte wie ein schneeweißer Felsen aus dem schmutzigen Meer des Dünkels und der Rituale. An anderen Tagen gab ich mich mit einer Laiendiagnose zufrieden und hielt ihn für schlicht dem Wahn verfallen. Doch solche eindimensionalen Begriffe gehen ja immer fehl. Was heißt das schon: `dem Wahn verfallen´? Stürzt man oder wird man nicht vielmehr von der Umwelt gestoßen? Wie gesagt, ich tastete. Für die Zwecke, die ich mit diesen Zeilen verfolge, erscheint es allerdings geraten, den naheliegenden roten Faden zu ergreifen und zuerst seine Kindheit zu beleuchten.
Carl Ludwig Niete lebte in einer Kleinstadt in der nicht wirklich provinziellen, aber doch uninteressanten Mitte des Reiches, war dem Beispiel seiner Ahnen gefolgt und hatte eine blutarme, todernste Form der Theologie studiert. Folglich gab er in direkter Folge den achten Niete, der als gestrenger Priester des Rautenherren seine Schäfchen führte. Und wie jeder seiner Vorfahren fand er es nur naheliegend, eine Frau aus ähnlichem Hause zu wählen. So kam es, dass der bald geborene Sohn auf seiner Taufe ein Meer aus schwarzen Gewändern sah, denn alle Onkel ersten, zweiten und dritten Grades, Großonkel und Großväter waren im selben Metier unterwegs. Tatsächlich musste der Kleine drei Jahre alt werden, ehe er verstand, dass es noch andere Berufe gab außer dem des Gottesmannes.
Als nicht nur strenggläubiger Patriot, sondern auch überzeugter Monarchist sah der Vater ein gutes Vorzeichen darin, dass sein Junge mit dem Kaiser den Geburtstag teilte. Die Namenswahl war daher rasch entschieden und der winzige Kallimachos bekam das erste Objekt eines lebenslangen Missbehagens mit Wasser auf die Stirn geschrieben. Fortan gab es – vielleicht abgesehen von der Geburt der Schwester zwei Jahre später – zunächst kaum Überraschungen im Leben des Sohnes: Er erfuhr die Härte einer unnachgiebigen, lebensfernen Erziehung, gespeist aus einer metaphysischen und insgesamt unreflektierten Weltanschauung, die niemand und schon gar nicht er hinterfragen durfte. Der stahlummantelte Rohrstock traf den verlängerten Rücken des Kindes bereits vor seinem vierten Sommer. In schöner, gar gottesfürchtiger Regelmäßigkeit rief der Vater von nun an seinen Stammhalter in das karge Arbeitszimmer und züchtigte gründlich und akkurat. Bald jedoch schmerzten die Schläge den Jungen weniger als die Entwürdigung, ein Umstand, der die egozentrische Zukunft zum ersten Mal erahnen ließ. Ehe Carl Niete dieser seltsamen Gemütsverfassung seines Sohnes allerdings auf den Grund gehen konnte oder überhaupt erkannte, starb der Pfarrer einen frühen Tod. Der fünfjährige Kallimachos hätte in späterer Zeit vielleicht mit einer gewissen Genugtuung auf jenen Tag zurückgeblickt, wenn sein Schicksal durch den Reitunfall seines Vaters keine Wendung zum Schlimmeren genommen hätte. Die geschrumpfte Familie zog um und lebte fortan in einer `Weiberhölle´, wie er den Hausstand in der Rückschau nannte. Mutter, Schwester, zwei unverheiratete Tanten väterlicherseits, ein Dienstmädchen und insbesondere die Großmutter, der Fixstern dieses Systems, ließen den Knaben das nächste Extrem erfahren: Der in seinem Leben allgegenwärtige Glaube wurde nun von einem dominanten Geschlecht flankiert, das tragischerweise nicht sein eigenes war. Die Oma, denn so durfte er sie nennen, übernahm zudem bruchlos alle väterlichen Pflichten und schlug den Jungen mit geradezu emanzipierter Härte.
Zwei Sachverhalte meine ich aus der Analyse von #Nietes früher Kindheit erschließen zu können: In den Züchtigungen durch die alte Dame erklärt sich vielleicht das besondere Verhältnis, das ihn Jahrzehnte später mit meiner Mutter verband. Wer kann es wissen? Auf jeden Fall aber bewogen unter anderem jene Erfahrungen den mündigen #Niete zur Wahl eines zweiten Vornamens: Keine schmählich gescheiterten Romanzen oder hastige Begegnungen mit syphilisverseuchten Prostituierten ließen einen aggressiven Frauenfeind entstehen, sondern der Alltag im Haus einer Großmutter.
Doch zu sagen, dass hiermit bereits die charakterlichen Abgründe ausgeleuchtet seien, unter deren Eruptionen seine Kinder, meine Familie und ich für viele Jahre leiden mussten, wäre vermessen. Nicht alle gezüchtigten Halbwaisen wollen den Menschen fremd werden und verzweifeln an der von der Außenwelt nicht ausreichend gewürdigten Überlegenheit des eigenen Genies. Um das ganze Wesen des wachsenden Wüterichs verstehen zu können, fehlen zumindest noch zwei Fußnoten und eine Katharsis.
Die allgemeine Knabenschule, die der Junge zunächst besuchte, erleichterte sein Leben keineswegs. Zu vergeistigt erschien er den Mitschülern, zu dünnhäutig und zu extrem in seinen altklugen Ansichten. Streiche und bösartigere Gemeinheiten blieben nicht lange aus, sodass bereits ein durchgebildeter Misanthrop auf das Domgymnasium wechselte. An dieser höheren Lehranstalt hatte man sich wie die gesamte bürgerliche Gesellschaft des Reiches der gepflegten Rückschau verschrieben. Als Traditionsverehrung getarnte stumpfe Stagnation bestimmte den Lehrplan, der sich jedoch als Glücksfall für den jungen #Niete herausstellte. Hier endlich traf er auf eine wohlmeinende Seele, einen Lehrer, dem die extraordinäre Begabung des Knaben in alten Sprachen und musischen Disziplinen auffiel. Das Talent erscheine so gewaltig, überzeugte der Studienrat seine kritischeren Kollegen, dass man über die gravierenden Mängel in allen logischen Fertigkeiten getrost hinwegsehen dürfe. Nach der so erlangten Hochschulreife ging #Niete den Weg eines angehenden Gelehrten, der ob seiner verkrüppelten Gefühlswelt oder sehr einseitiger Gaben immer das Hackmesser der emotionalen Wucht dem analytischen Skalpell vorzog. An der Hochschule suchte und fand er dann einen vermeintlich verwandten Geistesriesen: #Misanthropicus Misogyn Wegweiser bestärkteihn in der schon blühenden Menschenfeindlichkeit und inspirierte sogar zur Wahl des zweiten Vornamens. Von der im intellektuellen Diskurs vorherrschenden kühlen, rationalen Perspektive hatte sich der außerordentliche Professor bereits weitgehend gelöst, und #Niete empfand solcherart Souveränität wenig überraschend als nachgerade verehrungswürdig. Allerdings missfiel ihm Wegweisers verstockter, mutloser Pessimismus mit den Jahren immer mehr. #Niete wollte die Welt nicht nur beschreiben, das Beste aus schlechten Menschen herausfiltern, nein, er wollte den Menschen verändern.
So trennten sich Lehrer und Schüler, sagten übereinander nur das Vorteilhafteste und waren doch allzu gerne bereit, den anderen aus der eigenen Lebenswelt zu verabschieden. Mit Vorschusslorbeeren überhäuft ging #Niete den vorgezeichneten Weg weiter, veröffentlichte irritierend amoralische Schriften und bewarb sich schließlich um eine Professur. Ihm gehörte die Welt, bis sie ihm an diesem einen Tag, ich erwähnte ihn zu Beginn, für immer gestohlen wurde. Gewiss traf ihn nicht der Schlag, gleichwohl traf er auf # Superbus Spinne.
– – –
#Kallimachos Misogyn Niete: Ich grüße Sie aus lichter Höhe. Mein Name ist in dieser niveaufernen Schrift, diesem geistlosen Unrat eines Massensklaven, auf billigste Art verfremdet: Kallimachos, der edle, virtuose Kämpfer, heiße ich wohl nur, damit der zweitgeborene Sohn Klein-Kalle gerufen werden kann. Wer soll das überhaupt sein? Und ja, ich war ein bekennender Frauenfeind, doch das musste ich sein, weil ich sie liebte. Der Nachname wirkt dagegen einfach abgeschmackt, spielt höchstens darauf an, dass ich nur zerstört und nichts aufgebaut haben soll. Aber ohne mein Werk könnte wohl noch niemand – auch der Schöpfer dieses Exkrements nicht – von irgendeinem `Rautenherrn´ schreiben, ohne ernsthaft der Blasphemie bezichtigt zu werden. Ja, wer nicht gern als `Alleszermalmer´ firmieren möchte, den nenne ich ein Herdentier. Ich war eben kein Mensch, ich war Dynamit. Allerdings kommt sogar dem Lehrer aller künftigen Übermenschen an dieser Stelle keine andere Rolle zu als der eines schnöden Kapiteltrenners.
Unverschämtheit eines minderbemittelten Kretins.
– – –
Er saß nun schon eine halbe Stunde auf dem Abort und wusste, dass es Zeit war. Nicht umsonst war er viel früher von zuhause losgefahren, hatte mit Schwierigkeiten gerechnet, nicht aber damit. Wieder starrte er auf den Knauf, der ihn von der Tür gegenüber angrinste. Bis hierhin war er gekommen, doch dieser Handgriff glich einem Prellbock. Niemals würde er sich erheben können, jedenfalls nicht rechtzeitig, denn seine Gedärme ließen ihn im Stich. Aufstehen, erneut die Gänge der kaiserlichen Akademie hinunterlaufen – wie konnte er darauf hoffen?
Überpünktlich hatte er sich eine Stunde vor der Zeit im Sekretariat der Berufungskommission gemeldet, nur um zu erfahren, was er schon ahnte: Die Scharfrichter waren noch nicht eingetroffen. Also war er wieder hinausgegangen und hatte den Staub vom alten, heruntergekommenen Fischgrätparkett getreten. Diszipliniert war er mögliche Fragen durchgegangen, hatte sich die Professoren vorgestellt, die jeweiligen Eigenheiten, von denen er wusste, und sich kluge Formulierungen zurechtgelegt. Kannte er alle Eitelkeiten, die er nicht verletzen durfte? Was sollte er sagen, was nicht?
Und dann, in einem Moment der Schwäche, die aus seiner Kindheit mit langem Arm nach ihm griff, hatte ihn ein Drang überkommen, so mächtig und abrupt wie der Monsun, keine lächerliche Magenverstimmung, kein Virus oder schlechter Fisch, nein, ein wahrer Dolchstoß in seine Gedärme. Mit verbissenen Lippen war er zum einzigen Klosett auf dem Stockwerk gerannt, viele Schritte durch ehrwürdige Gänge,hatte die Türen hinter sich zugeschlagen, die Hose eher aufgerissen als -geknöpft, den Frack angehoben und sich endlich der ersehnten Entspannung anheimgegeben.
Nur ein Ergebnis gab es bisher nicht vorzuweisen und leider war der Druck noch genauso groß wie zuvor. Verraten von seinem Gekröse saß er hier fest, während die Zeit verrann. Schon hörte er schwere Stiefel auf dem Parkett, die Herren #Spinne und #Spielvorbei, sie mussten es sein. Wer sonst würde in die Richtung laufen, aus der er zu diesem stinkenden Gelass gerannt war? Ein leises Lachen auf dem Korridor, vielleicht hatte der alte Königsberger Klops einen Witz gerissen, er war für seinen trockenen Humor bekannt. Wahrscheinlich auf meine Kosten, dachte #Niete. Wenn es nach dem grenzenlos überschätzten Zwerg gegangen wäre, hätte ihn, den Provinzriesen, ohnehin niemand eingeladen. Die Schritte verklangen, seine einzige Chance ging vorbei! Wie lange hatte er gearbeitet, gelesen, geschrieben und wieder gelesen? Wie viele Briefe hatte er verfasst, wie oft sich erniedrigt, sein Leben allein auf diesen Tag ausgerichtet? Er musste seinen Taschenchronometer nicht ziehen, ihm blieben bloß noch Minuten. Ein Wimpernschlag, dann würde alle Hoffnung sterben. #Spinne mochte die Akte schließen, eine Bemerkung über die Unzuverlässigkeit der neuen Generation näseln und #Spielvorbei zum Essen einladen. Und #Dr. Niete würde zurückbleiben mit seinem Kot, der sich nicht von ihm trennen wollte. Wahrlich, die größten Ereignisse geschahen nicht in den lautesten, sondern in den stillsten Stunden.
NEIN! Der stumme Aufschrei hallte in seinem Schädel wider. Wie durfte es sein schwächlicher Körper wagen?! #Niete grunzte wütend. Hatte er nicht den Willen erforscht?! War er ein Wurm, der sich wie gewöhnliche Menschen knechten ließ?! Keineswegs. Er musste sich erheben und seinen Richterngegenübertreten, und wenn die Scheiße ihm in die Strümpfe lief, dann sollte es eben so sein. An Schonung konnte man auch zugrunde gehen. Was hieß denn, etwas zu wollen? Man wollte erfahren, ob man es vermochte, nichts anderes. Ja, er würde aufstehen, jetzt!
»Gelobt sei, was hart macht!«
#Ad Infinitum Spielvorbei, ein mittelgroßer, beleibter Mann, der täglich am Ausbau seines Umfangs zu arbeiten schien, war ein eher unauffälliger Zeitgenosse. Im obligatorischen braunen Rock mit fleckigem Halstuch illustrierte er die Idee, das Grundmuster eines überflüssigen Akademikers. Leeres Lächeln, verbindlicher Händedruck, dunkle, an den Spitzen ergrauende Locken, schlechte Zähne. #Niete starrte den Handlanger des großen Meisters so lange an, bis die ansonsten nichtssagenden Züge eine gewisse Befremdung zeigten. Zu spät senkte #Niete den Blick, er musste auf seine Augen achten, die auf mindere Menschen nicht selten bedrohlich wirkten.
»#Dr. Niete, schön, dass sie es einrichten konnten.« Die Floskel barg unmissverständlichen Tadel und begleitete eine Geste, mit der #Spielvorbei ihn aus dem Vorzimmer zum Saal führte, in dem die Anhörung stattfinden sollte. »Kommen sie, kommen sie!«
Da #Niete sich eine Erwiderung sparte, durfte er sich auf einen delikateren Sektor konzentrieren, einen gewissen Schließmuskel.
»Es ist Zeit.« Mit diesen Worten öffnete ein Diener die hohe Tür zum Herzen bezahlter Gelehrsamkeit.
In Spielvorbeis feisten Zügen zuckten die Mundwinkel. #Niete vermochte das Mienenspiel zunächst nicht zu deuten, bis er begriff: Der Windbeutel unterdrückte ein Grinsen, welch unverfrorene Dreistigkeit! Eine Stunde lang hatte #Niete die Grundstrukturen seiner Gedankenwelt dem Herrn und seinem Knechtnachgezeichnet. Und während der Meister natürlich wie immer die Fassung wahrte, kostete es den Lakaien offenbar Mühe, seinen dummen Spott zu verbergen.
»Nicht durch Zorn, sondern Lachen tötet man,« knurrte #Niete in die zusammengebissenen Zähne. Wie in einem Tribunal saßen die Wichtigtuer über ihm, starrten von der geschwungenen Marmorempore auf ihn herunter, den armen Tropf, der da vor ihnen saß. Immerhin durfte er sitzen, wenn auch auf einem abgewetzten, im Licht der Ionengaslampen insgesamt armselig wirkenden Hocker. Anscheinend rechtfertigte seine Reputation in den Augen der Lieblingsphilosophen des letzten Kaisers nicht einmal eine Lehne. Immerhin verlief an der Wand zu seiner Linken das glühend heiße Rohr des Vaporiums, sodass er zumindest nicht frieren musste.
Links neben seinem Adlatus beugte sich #Superbus Spinne endlich nach vorn und rückte die Perücke zurecht. In der gekrümmten Haltung erinnerten die legendären, zum Kinn spitz zulaufenden Züge noch mehr an ein Äffchen als ohnehin.
»#Dr. Kallimachos Misogyn Niete,« näselte er. »Ich erwähne den vollen Namen, werter Herr, da sie zu Beginn der Anhörung – vermutlich im Überschwang, den ihr Anliegen mit sich zu bringen scheint – eine Vorstellung versäumten.«
Mit geschlossenen Augen sah #Niete den kleinen, dürren Mann vor Belustigung wiehern. Tatsächlich jedoch und selbstredend lachte #Superbus Spinne nicht. Er lachte nie, mordete nur mit versteckter Häme, dafür umso erfolgreicher.
»Sie studierten bei #Wegweiser, nicht wahr?« Der erste Wissenschaftler des Reiches überflog die Akte, die #Spielvorbei für ihn aufgeschlagen hatte.
»Jawohl.« #Niete wusste, dass er eine rhetorische Frage beantwortete, dennoch musste er seine feste Stimme hören.
»Seine Empfehlung liest sich wie ein Lobgesang.«
»Erstaunlich genug,« warf #Spielvorbei ein. »#Misanthropicus schätzte kaum jemanden, noch nicht einmal die eigene Person.«
›Und vor allem nicht dich,‹ dachte #Niete. Er erinnerte sich an die schäumenden Ausbrüche seines geistigen Vaters, sobald die Rede auf den Systemdenker gekommen war. Einen vornehmtuenden, dreist schwadronierenden Windbeutel hatte er ihn genannt, eine durchaus passende Beleidigung, wie #Niete fand.
›Spielvorbeis rasende Wortzusammenstellungen erschöpfen den Geist und verwirren junge Köpfe,‹ hatte #Wegweiser gepoltert. Und obwohl #Niete vermutete, dass die Geisteskraft seines Lehrers selbst nicht ausgereicht hatte, um den abstraktesten Verrenkungen zu folgen, stimmte er der Kritik zu: Ein Denken in blutleeren, reinen Sphären war seine Sache nicht. Gleichwohl wäre die Entscheidung über Nietes Zukunft vielleicht anders ausgefallen, wenn sie #Spielvorbei getroffen hätte, nur leider oblag dieser Beschluss allein dessen Herrn.
»Um es kurz zu machen, #Dr. Niete,« hob #Spinne an, »ihr Vortrag hinterlässt mich sogar noch ..., ich möchte sagen: irritierter, als die Lektüre ihrer betörenden und zugleich verstörenden Schriften, die, das will ich gerne zugeben, von einem tiefen Sinn für alles Ästhetische durchwirkt sein mögen. Nun allerdings sehe ich den Menschen hinter den Worten, die in mir nach flüchtigem Lesen den Eindruck des vordergründig Schönen hinterließen. Der Mann aber, #Dr. Niete, wirkt mir wie der Feind all dessen, was ich ein Leben lang für wichtig nahm.«
Lautete so bereits das endgültige Urteil? Sollte ihm die Berufung für immer verwehrt bleiben?
Diesen Gedanken konnte er nicht akzeptieren und so tat #Niete das, was er stets getan hatte: Er wehrte sich.
»Starker Glaube beweist nur die Stärke des Geglaubten, nicht seine Wahrheit.«
»Sie vergessen die Wurzel aller Sittlichkeit, die Selbstbeherrschung. Nur in ihr liegt Würde,« wies ihn #Spielvorbei scharf zurecht. »Überhaupt reden wir hier nicht vom Glauben des Illustren, sondern von seiner Überzeugung. Allein von dem unveränderlich und ewig Wahren kann man überzeugt sein: Überzeugungen vom Irrtum sind schlechterdings unmöglich.«
»Ich muss doch sehr bitten!« Spinnes wache, kluge Augen richteten sich auf seinen Schüler. »Wer mag für sich selbst sprechen, wenn nicht ich? Und ferner: Ein Mensch, der vor anderen kriecht und billige Komplimente streut, handelt gleichfalls würdelos.«
Während der gedemütigte #Spielvorbei an seinem Halstuch wie an einem Henkersknoten zog und zugleich das vor seiner Brust baumelnde Schmuckzahnrad umfasste, wandte sich #Spinne wieder an den Kandidaten. »Ihre Gedanken dünken mir wert, gedacht zu werden, #Dr. Niete, verstehen sie mich nicht falsch, allerdings eher als Probierstein für Heranwachsende. Sie geben ein vortrefflich abschreckendes Beispiel für all diejenigen Köpfe, die vom Pfade der Vernunft abzukommen drohen.«
Um die Peinlichkeit erträglicher zu gestalten, zwirbelte #Niete erst seinen buschigen, ausladenden Schnauzer und nutzte dann die Atempause seines Richters: »Das Gute missfällt uns, wenn wir ihm nicht gewachsen sind.«
»Das Gute?« #Spinne zog die vorletzte Silbe in eine Länge, die nur Spott ankündigen konnte. »Im neutralen Sinne der Qualität darf ich annehmen? Vom guten Willen schreiben und reden sie jedenfalls nur in abfälligster Weise ...«
»Sicher, dagegen spreche ich von Idealen, sie bedeuten mir ...«
#Superbus Spinne hob die Hand. »Ja, ich las insbesondere von Leidenschaft, die uns erhöhen soll, ein Wort, das mir zutiefst suspekt anmutet. Wer wünscht sich das? Kein vernünftiger Mensch, meine ich. Werlässt sich schon in die Ketten der Leidenschaft legen, wenn er frei sein kann?«
Auf diese Figur hatte er sich vorbereitet! Mit neuem Mut hob #Niete den Kopf und starrte #Spinne an, seinen Richter, den er als gelehrten Stubenhocker nur verabscheuen konnte. Obwohl er #Spielvorbei anscheinend gar nicht mehr zur Kenntnis nehmen wollte, redete er dennoch zu ihm, denn nur vom Jüngeren durfte er ein Entgegenkommen erhoffen. »Freiheit in der Vernunft gleicht einer Schimäre, deren Kinder giftig bleiben, lebensfern und letztlich belanglos! Nehmen wir zum Beispiel die Toleranz als ein Balg der Vernunft: Sie ist nichts Anderes als ein Beweis des Misstrauens gegen ein eigenes Ideal oder das Fehlen desselben. Der freie Geist, wie ich ihn mir vorstelle, tritt mit Füßen auf die Toleranz, diese Art von Wohlbefinden, von dem Krämer, Kühe, Weiber und andere Demokraten träumen.« Da er die Wörter wie Flüche ausgespien hatte, rieb er sich den Bart trocken. »Der freie Mensch handelt nach seinen Leidenschaften, kann immer nur ein Krieger sein!«
Unvermittelt beugte sich #Spielvorbei nach vorn, hatte die Zurechtweisung durch #Spinne offenbar vergessen und gab sich unruhig, bis sein Mentor ihm einen gnädigen Blick gönnte.
»Da scheint mir etwas ...« #Spielvorbei schüttelte den Kopf, schien nicht sicher.
»Hörten sie je den goldenen Flügel des Genius rauschen, Ehrwürdiger, ein Genius, der nicht zu Gesängen, sondern zu Taten begeistert? Haben sie je ein kräftiges: ›Ich will!‹, ihrer Seele zugeherrscht? Denken sie an ein Resultat, das sie trotz aller Hindernisse nach jahrelangem Kampf vollbrachten und sagten: ›Hier ist es!‹ Welch ein Triumph! Ja, vielleicht ist unser Wille die einzige Realität.«
»Den Mangel an Urteilskraft nennt man eigentlich Dummheit.« #Spinne seufzte. »Und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen.«
Während #Niete die Faust ballte, sich aber sonst zurückhielt, stand #Spielvorbei auf, als ob er den harschen Tadel abschütteln wollte. »Wir wollen nicht vernünftig, sondern frei sein, schon um uns gegenseitig zugrunde zu richten. Unser grausamster Feind, das weiß man, sind wir selbst. Und vielleicht liegt darin Wahrheit: Alle Kraft des Menschen wird erworben, wenn er sich bekämpft und überwindet. Anschließend ist Alles möglich! Ja, immer und notwendig siegt der Begeisterte über den, der nicht begeistert ist.«
»Sehr richtig,« lobte #Niete, hob den Finger und dozierte: »Wonach misst sich die Freiheit, bei Einzelnen wie bei Völkern? Nach dem Widerstand, der überwunden werden muss, nach der Mühe, die es kostet, oben zu bleiben. Wo ich Lebendiges sehe, da finde ich Willen zur Macht. Sogar noch im Willen des Dienenden erblicke ich den Willen, Herr zu sein.« Er schenkte sich ein trotziges Lächeln, ehe er mit einem selbstzerstörerischen und daher lustvollen Gedanken schloss: »Doch wer keinen eigenen Willen mehr besitzt, weil er ihn sich in der kalten Welt der Vernunft abgehungert hat, der möchte wenigstens alles besser wissen.«
#Spinne nahm die letzte Spitze mit geschürzten Lippen zur Kenntnis.
»Wer Andere leichtfertig tadelt und sie bloßstellt, den nenne ich böse.«
Er wandte sich an #Spielvorbei.
»Und sie, sie setzen sich jetzt, ehe mir übel wird. Wie ein Neophyt lassen sie sich von Unfug mitreißen. Wo bleibt ihr Verstand, der so klar sein soll?! Dieser Kandidat redet nicht zuerst der Selbstüberwindung das Wort, sondern spricht für die Vernichtung von Allem, was dem Willen entgegensteht.«
Der kleine Mann schlug mit der Hand auf die Marmorempore und wartete, bis sich der schwer atmende #Spielvorbei mit hochrotem Kopf wieder niederließ.
»Menschen, die rasch Feuer fangen,« knurrte #Niete enttäuscht, »erkalten schnell und sind insgesamt unzuverlässig.«
»Schweigen sie!«, rief #Spinne laut genug, dass ein Speicheltropfen auf seinem Rüschenkragen landete. »Zur Freiheit sagte ich schon alles Wichtige. Nur die innere zählt! Man muss sein eigener Meister, über sich selbst Herr werden, seine Affekte zähmen und die Leidenschaften beherrschen. Wer auf diese edle Weise frei geworden ist, der kann seine willkürlichen Handlungen der Vernunft unterordnen. Der Vernunft, hören sie?!«
»Ich höre gut.« #Niete stand auf und trat einen Schritt vor. »Mancher findet sein Herz erst, sobald er den Kopf verliert – und in ihrem pathologischen Fall seinen Imperativ vergisst. Was habe ich erwartet? ›Du sollst‹ klingt wohl angenehmer als ›ich will‹, da in ihren Ohren noch der Herdeninstinkt sitzt.«
Die Beleidigung schien #Spinne nicht zu kümmern. »Nun ja.« Anscheinend selbstvergessen griff er nach dem Zahnrad, das am Ende seines schwarzen Perü-ckenzopfs hing. Natürlich musste sich der große Wissenschaftler nicht an irgendetwas festhalten, sich nicht gegen den billigen Angriff wappnen. Vielmehr half ihm der haptische Moment, sich in dieser tragischen Situation zu konzentrieren. Tatsächlich spielte er nur höchst ungern den Scharfrichter. »Was geschieht denn, sobald wir uns von den Grenzen befreien, die uns die Vernunft setzt? Die unvermeidliche Folge dieser Gesetzlosigkeit stößt bitter auf: Wir büßen die Freiheit zu denken ein. Und wir verlieren sie nicht durch missliche Umstände, sondern weil wir diese Freiheit verscherzen, für die von ihnen so geschätzten Leidenschaften eintauschen. Wenn ich ihnen folgte, würde ich entweder herrschen aufgrund meines stumpfen irrationalen Machtwillens oder eben beherrscht werden von einem Egomanen wie ihnen. Ja, ich bezichtige sie des Übermuts, sie reden dem Tyrannen das Wort! Niemand kann mich zwingen, auf seine Art glücklich zu sein. Vielmehr darf jeder sein Glück auf dem Wege suchen, welcher ihm gefällt. Er soll nur die Freiheit anderer achten, die ein ähnliches Ziel verfolgen und im Gegenzug seine Freiheit ebenfalls respektieren. Wer nur nach der Wahl eines Anderen glücklich werden kann – und dieser mag so wohlwollend sein, wie man will –, fühlt sich mit Recht unglücklich. Mehr möchte ich nicht anmerken. Ihr Anliegen, #Dr. Niete, muss ich abschlägig bescheiden. Die höheren Lehranstalten des Reiches bleiben ihnen verschlossen.«
Endgültige Worte und auch wieder nicht, denn er, #Kallimachos Misogyn Niete, stand noch aufrecht. »Das wollen sie entscheiden?! Sie meinen, die Wahrheit gehöre #Superbus Spinne? Wer darf das sagen? Wer sind sie? Ich sehe nur einen Gläubigen. Sie pflegen geistige Grundsätze ohne Gründe, das nenne ich Glauben. All diese verschachtelten, überlangen Sätze, ob geschrieben oder gesprochen, für nichts. Nebenbei: Wer seinen Stil entwickelt, der verbessert gleichfalls den Gedanken. Ich weiß dagegen nicht, was gut oder schlecht ist. Der Besitz der Wahrheit erscheint mir jedenfalls langweilig, wie jedes Eigentum, weil es weniger bedeutet als ein Exkrement.« Er hörte die eigenen Worte und fand sie durchaus überzeugend, doch da war wieder dieser Drang, die Lust sich selbst zu vernichten. »Auch sie werden das verstehen müssen, da sogar die hohlste Nuss geknackt sein will.«
»Jetzt ist es genug!« #Spielvorbei schien sich in seiner angestammten Rolle wiedergefunden zu haben, zumindest seine blassere Gesichtsfarbe sprach dafür. »Ich rufe sie zur Vernunft! Wir unterrichten nicht bloß mit Worten, wir lehren weit eindringlicher durch unser Beispiel. Bedenken sie dies! Der Gelehrte soll der sittlich beste Mensch seines Zeitalters sein, auf der höchsten Stufe der möglichen moralischen Reife stehen. Die Festigkeit des Charakters ist gar wertvoller als eine Wahrheit, weil aus dem Gewissen allein die Wahrheit stammt. Das Gewissen irrt nie und kann nie irren, da es alle Überzeugungen richtet und keinen höheren Richter über sich anerkennt. Dagegen bleibt die Selbstsucht die Wurzel jeder Verderbtheit. Ja, was für eine Philosophie man wählt, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist. Und mein wahres Sein zeigt sich nicht in der Rolle, die ich spiele, sondern in der Art, wie ich sie spiele.«
»Tugend schlägt Wahrheit, wollen sie das sagen?« In seiner Frustration und Wut gönnte sich #Niete ein hämisches Lachen. »Mehr wollte ich auch nicht aufzeigen, weil die Wahrheit solchen Überzeugungstätern wie ihnen immer zuerst zum Opfer fällt. Ich verstehe ihre Begeisterung: Nie klingen schräge Musik und krumme Töne besser, als wenn es gegen einen gemeinsamen Feind geht. Also folgen sie wieder brav ihrem Kapellmeister und spielen das Lied der Religion, aber schwätzen sie nicht von Philosophie oder irgendeinem freien Denken.«
»Ich verbitte mir solcherart Unterstellungen!« Spielvorbeis arbeitende, voluminöse Brust erinnerte an einen mächtigen Blasebalg, das zuvor nur baumelnde Zahnrad hüpfte nun umher. »Aller Fanatismus ging vom Anfang der Welt bis auf den heutigen Tag von folgendem Prinzip aus: Falls die Gegner recht hätten, so wäre ich ja ein armseliger Wicht. Sind sie ein Fanatiker? Ich hoffe es nicht für sie.« Er beruhigte den Atem. »Wir sollten in Frieden voneinander scheiden: Ein falscher Satz wird gewöhnlich durch einen ebenso falschen Gegensatz verdrängt, erst spät findet man die in der Mitte liegende Wahrheit. Wir wollen suchen! Der Mensch kann, was er soll; und falls er sagt: ich kann nicht, so will er nicht. Stimmen sie dem zu?«
#Niete blieb stumm.
»Lassen sie mich ausführen: Der Mensch kann nur das wollen, was er liebt, ja, einzig die Liebe treibt unfehlbar sein Wollen an. Leben ist Liebe, die ganze Form und Kraft des Lebens besteht in der Liebe und entsteht aus ihr. Alles, was geschieht, gehört in den Plan der ewigen Welt und ist gut in ihm. Ergo führt nur die Veredelung des Herzens zu echter Freiheit. Können wir uns darauf einigen? Mögen sie darüber nachdenken und vielleicht disputieren wir im nächsten Jahr wieder ...«
»Dieses Hohelied auf die Liebe könnte auch der Prophet des Rautenherren singen. Sie möchten mich mit solch gewollter Stringenz abspeisen?! Ich spreche vom Willen, unbestreitbarem Faktum und nicht nebulösen, elfenbeinernen Hirngespinsten.« #Niete schüttelte den Kopf, ehe er abrupt die Hände in flehender Geste rang. »Ich ersuche nur um die Erlaubnis, meine Gedanken teilen, sie jungen Menschen nahe bringen zu dürfen. Und natürlich lasse ich mich überzeugen, falls ich irre, dennoch, ich flehe sie an: Nehmen sie meine Überzeugung zunächst für wahrhaftig!«
#Spinne erhob sich und griff nach seinem Hut, den vier Schlüssel schmückten. »Genau das geschah heute, #Dr. Niete.«
Ein dunkler Schlund öffnete sich vor ihm und die Angst zu versagen verdichtete sein Leben auf diesen Moment. »Dann also im nächsten Jahr auf ein Neues? Ich werde vorbereitet sein. Hoffnung ist der Regenbogen über dem herabstürzenden Bach des ...«
»Allzu süße Worte, aber nein.« #Spinne wandte sich zum Gehen und #Spielvorbei musste aufstehen, um ihn auf der Empore vorbeizulassen. »Und verlieren sie nicht ihre Haltung. Wer sich zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, dass er mit Füßen getreten wird.«
#Niete verließen die Kräfte. Alles hatte er gegeben – und bekam diesen Satz als Lohn. »Wissen sie, meine Eitelkeit können sie kaum noch verletzen, weil sie bereits meinen Stolz brachen. Daher bitte ich sie: Ich habe Kinder, vier, sie brauchen ...«
»So empfehle ich ihnen Billard,« unterbrach #Spinne kalt, »damit verdiente ich gut während meiner Studien. Oder sie wählen die Karten, vielleicht winkt einem solch extraordinären Willen das Glück.«
Nietes Gedanken rasten und prallten wieder auf den gleichen Felsen: Er hasste diese fetttriefende Selbstgewissheit, diese bürgerliche Ignoranz. In einer unvermittelten Eingebung legte er die Hand an die Knöpfe seiner Hose, wollte wie #Pfui-Deiwel Schrägvogel den bornierten Zeitgenossen seinen Samen vor die Füße gießen. Sollten sie sehen, was er auf ihre Ablehnung gab, sollten sie seinen Zorn schmecken!
#Spinne trat auf ihn zu und wartete, bis sich ihre Blicke begegneten.
»Es ist gut.«
Und nun stellte auch Nietes Schließmuskel die Arbeit ein und zeigte, was Freiheit bedeuten konnte.
Traf ihn an diesem Tag also der Schlag? Zumindest mag die professionelle Abfuhr als folgenreicher Schlag ins Kontor gelten. Ob wir nun bis zu den Quellen seiner Wut vorgedrungen sind, die für so viele Jahre über Menschen hinwegspülte, die für mich zählten, weiß ich immer noch nicht. Ohnedies dünkt interessanter, was der jederzeit drohende Ausbruch einer höchstens dösenden Tobsucht aus den erwähnten Menschen machte.
– – –
#Superbus Spinne: Obgleich man nicht wissen kann, welche Intention mein Namensgeber verfolgt, will ich doch einen Versuch wagen und wähle zuerst das Tier, in dessen Netz man sich offensichtlich ähnlich verfangen kann wie Unbeschlagene in den von mir definierten Begriffen, die in notwendig langen Sätzen meine Gedankenwelt repräsentieren sollen, zumal mich der leider in der vermeintlichen Realität nur bedingt gescheiterte Niete mehrfach als große Spinne bezeichnete, also eine naheliegende Deutung, weil mich das trotzige Unverständnis Geistesminderer bereits zu meinen Lebzeiten beschäftigte, wohingegen ich mit dem Vornamen in keiner Weise konform gehe, da ich, je nachdem, wie man `Superbus´ übersetzen möge, schon aufgrund meiner Statur weder `hoch aufgerichtet´ durch das Leben schritt noch Zeitgenossen mich als `hochfahrend´, `übermütig´ oder gar `hochmütig´ kannten, nein, diese Wahl gibt wohl eher Zeugnis eines Gedankenstückwerks, vielleicht bewogen vom gleichen Anlaut, jedenfalls blieb mir Eitelkeit stets eine der fremdesten der menschlichen Schwächen, ergo muss dem Verfasser das einzige abhanden gekommen sein, das sich wertzuschätzen lohnt: der gute Wille.
– – –
Heute kann ich diesen Zorn als bösartigen Theaterdonner verklären. Damals jedoch spürte ich körperliche Angst vor dem Herrn meiner Existenz und die Frage nach seiner jeweiligen Laune begleitete meine Tage. Manchmal gab es Warnungen: Wenn sich der stechende Blick verengte, kündigte sich eine weitere Migräne an. Oder #Niete legte eine Hand auf seinen Bauch, dann ging man den Folgen der Magenstörung besser aus dem Weg. Zumeist aber wuchs seine schäumende Wut aus dem Nichts, fegte wie ein Wirbelsturm heran und suchte Vernichtung. Wie oft fragte ich meine Mutter, warum wir bei diesem Unmenschen leben mussten? Wir waren nicht verwandt, meine Schwester und ich nicht seine Kinder, wohnten nur oben unter dem Dach seines Hauses, geduldet und zu oft bemerkt. Ich verstand noch nicht, was unser Name bedeutete, wusste nicht, dass wir ein Mal auf der Stirn trugen. Mein Vater war an der Lungenpest gestorben, verscharrt in einem Armengrab, und hatte uns leider nur seinen verfluchten Namen hinterlassen: ›Sattler‹. Wie jede Banausenfamilie wurden wir ausgegrenzt und verachtet, weil sich schon unsere Vorfahren vom Werk ihrer Hände hatten ernähren müssen. Der Name war ein ewiges Stigma. Wir lebten von den Abfällen der Denker, dienten ihnen und galten als schmutzig, falsch und im Kern verdorben. Niemand traute uns. Sicher, da ja die Vernunft in dieser glorreichen Zeit herrschen sollte, zählten wir vor dem Richter als gleich, eigentlich aber als Menschen zweiter Klasse. In den Geschäften gab es für uns immer bloß die dritte Wahl, nur kostenlose, schlechte Schulen und natürlich zu wenig Arbeit und leider auch Lohn. Deshalb blieben wir. Nur #Niete gab Mutter und uns Dach und Brot. Dafür hielt sie seinen kargen Hausstand sauber und stellte jeden Tag drei Mahlzeiten auf den Tisch. Zwar verachtete er uns nicht schon wegen des Namens, wie es so viele taten, zog allerdings Profit aus unserer Not.
Vom Preis, den Mutter als billige Dienerin darüber hinaus bezahlen musste, erfuhr ich erst später. Zwölf Jahre alt wären mir ohne #Klein-Kalle die Abgründe von Nietes Wesen vielleicht für immer verschlossen geblieben. Doch bevor wir uns damit beschäftigen, sollte ich die Familie des Wüterichs vorstellen: Zunächst gab es keine dazugehörige Mutter, jedenfalls sah ich nie eine. Um diese Frau spann sich ein Mysterium, weil niemand von ihr reden durfte. Ich wusste nicht einmal, ob sie gestorben oder einfach weggelaufen war. Letzteres hätte ihr in Anbetracht des Gattens zwar kein Mensch verübeln können, aber wer ließ seine Brut in solch einem Haus? Sie war wohl eher im Kindbett verblutet, nachdem sie #Adi, #Klein-Kalle, #Ali-Baba und zuletzt #Moni das Leben geschenkt hatte. #Aderlass war mit vierzehn der Älteste und ihm folgten dann die übrigen wie Orgelpfeifen im Jahresabstand. An ihre Mutter erinnerten sie sich nicht mehr, sprachen zumindest nie von ihr und das aus gutem Grund.
Das einzige Mal, – Mutter, meine Schwester #Molpe und ich waren gerade erst ins Tal gekommen –, dass einer von ihnen, es war der dritte Sohn, nach ihr fragte, schlug ihn sein Vater vor allen Augen blutig. Es war früher Morgen, #Niete hatte seinen Jüngsten zwischen das Geschirr auf den Esstisch gelegt. Das Hemd über die Schultern hochgezogen, verbiss sich #Ali-Baba jeden Laut, als die Schläge seinen Rücken trafen. Und da er auf den Tag genauso alt war wie ich, spürte ich die Hiebe des mit Stahl ummantelten Stocks als Widerklänge auf meiner Haut.
»NIE WIEDER ...,« keuchte der Tobsüchtige, während er auf den mageren Körper eindrosch, »nie ...«
#Ali-Baba weinte nicht und gab sich überhaupt ziemlich tapfer, wie ich fand. Doch das Thema starb mit seiner Hoffnung, dass #Niete für ihn mehr empfand als der Habicht für den Hasen.
Nachdem die Wut ihr Opfer gefunden hatte, lag für ein paar Tage wieder gespannte Ruhe auf dem Haus in der Schlechtenschlucht. Die Stimmung blieb drückend und schwül, wir warteten auf den nächsten Götterzorn. Aus dem Nichts konnte ein Gewitter entstehen und nicht selten beim gemeinschaftlichen Frühstück: Angesichts der urplötzlich umwölkten Stirn des Hausherrn erstarrten Alle und unterdrückten ein Seufzen, wenn nur milder Spott einen von ihnen traf. »Als ich des Suchens müde war, erlernte ich das Finden,« hörte man zum Beispiel, falls etwa das Butterfass verschollen schien. Beißender Sarkasmus zeigte sich hingegen häufiger. Sobald ihn ein harmloses Spiel der Kinder enervierte oder ihm eine Frage zu naiv erschien – die selbstredend nicht an ihn gerichtet war, denn wer forderte schon für so billigen Preis das Schicksal heraus? – dozierte er aus seinem Kanon der Bösartigkeiten: »Die meisten Menschen bringt offenbar der Zufall auf die Welt, ohne höhere Notwendigkeit. Sie treiben dies und das, ihre Begabung ist mittelmäßig. Schaut doch euch nur an! Die Art, wie jene Zeitgenossen leben, offenbart, dass sie nichts von sich halten. Sie verlieren sich in kleinen Leidenschaften oder Belanglosigkeiten des Berufs.«
Obzwar in diesen und ähnlichen Sätzen Wahrheit lag, schlugen sie tiefe Wunden. Warum #Niete versuchte, seine Nachkommen mit dem Hackmesser zu formen, ob es ihm an Liebe mangelte oder einfach nur an Geduld, fand ich nie heraus. Seine geschilderte Kindheit oder die Katharsis – konnten allein sie solch eine Verbitterung erklären, unter der Schwächere zu leiden hatten? Er schien jedenfalls, das darf ich sagen, keineswegs mit sich im Reinen, weshalb die Kinder seinem Selbsthass regelmäßig zum Opfer fielen. Immerhin – wer gezüchtigt wurde, bemerkt den Spott kaum, und die Jungen jauchzten fast vor Erleichterung, falls sie vernichtende Worte und keine Schläge trafen. ›Väter haben viel zu tun, um wieder gut zu machen, dass sie Söhne besitzen.‹ Solch ein Satz kann brechen, erscheint jedoch nahezu wie eine Liebkosung, wenn der Rohrstock bereits gedroht hatte. Allein #Klein-Kalle schien sich diesem gewaltigen, allgegenwärtigen Druck entziehen zu können. Er grinste, solange er der Züchtigung eines Bruders beiwohnen musste, und falls er selbst geschlagen wurde, gelang ihm zumindest ein schmales Lächeln. Gönnte er dem Wüterich einfach nicht die Tränen? Sadismus und sein gegenteiliges Pendant erschienen mir jedenfalls immer als zu kleine Münze, um den Charakter des zweiten Sohnes zu definieren. Oder war es die ausgeübte Macht, die ihn erfreute, die Kompromisslosigkeit und das endgültige Ergebnis? Es mag jedoch auch sein, dass mein Wissen um sein späteres Leben die Erinnerungen verzerrt. Ich bin nicht sicher.
Der Vater wiederum verbrachte die unbeschwertesten Stunden stets mit seinem einzigen Freund, einem alten Skilehrer, der ihn zwei-, dreimal im Jahr besuchte. Dann saßen die beiden abends vor dem Haus, der Nachwuchs war in die Zimmer verbannt, und tranken den Wein, den #Paragraph Vierzig, so hieß der Mann, mitgebracht hatte. Worüber sie sprachen, wusste ich nicht. Natürlich hörten wir jeden einzelnen Satz, die Sprösslinge hinter den Schiefermauern des Obergeschosses und wir, die Sattlerkinder, auf dem Dachboden. Wir alle lauschten schon deshalb, weil wir sonst nicht ahnen konnten, ob sich eine neue Zornesattacke ankündigte. Allein, wir verstanden wenig. Gewiss erfassten wir in der Regel den vordergründigen Sinn, doch abstraktere Zusammenhänge blieben uns verschlossen.
Wenn zum Beispiel #Vierzig die Stirn furchte und mit dünner, akzentuierter Stimme fragte: »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?«, dann begriffen wir jedes Wort, aber die Implikationen der Frage, die sahen wir höchstens verschwommen.
Obwohl er ein guter Skilehrer sein sollte, verdiente #Vierzig sein Geld an der Hochschule. Vielleicht kämmte er aus diesem Grund die weißen Haare zurück und trug ausnahmslos immer Krawatte, an der zwei Schlüssel hingen. Weshalb er in unregelmäßigen Abständen in die Schlucht hinunterstieg und #Niete besuchte, auch das konnte ich nur ahnen, denn die glühende Wut des Gastgebers loderte sogar in seiner Gegenwart gelegentlich auf. Vielleicht hoffte #Vierzig etwas an #Niete gutmachen zu können. Stets kam er nach langen Ausflügen in die Welt abgründiger Gedanken irgendwie auf den ›überfälligen Ruf‹, der #Niete zustünde. Bei solchen Gelegenheiten strich er sich den dünnen Oberlippenbart, drehte seinen Stuhl und richtete den Blick auf das Gemäuer in seinem Rücken. Er wollte auf die Kargheit hinweisen, in der sein Freund mit den Kindern hauste. Mich sehen konnte er nicht, und dennoch schluckte ich jedes Mal vor Angst und drückte mich noch tiefer in die Schatten hinter dem Speicherfenster.
Von diesem Punkt an verlief das Gespräch der beiden Männer immer ähnlich: Zunächst versuchte #Vierzig eine Brücke zu bauen, sprach zum Beispiel vom Verzicht, der nichts nähme, sondern vor allem etwas gebe: die unerschöpfliche Kraft des Einfachen. Ich verstand diesen Satz erst viel später. Damals hörte ich dem alten Skilehrer nur gerne zu, da er stets eine sanfte, sonst verstummte Saite in #Niete zum Klingen brachte.
Auch an ihrem letzten gemeinsamen Abend, die Schatten lagen bereits auf der Schlucht, nickte der Hausherr nach solchen Worten und schwieg versonnen.
#Vierzig wollte ihm schon die Hand auf die Schulter legen, entschied sich dann aber dagegen. »Der Schmerz verschenkt seine Heilkraft dort, wo wir sie nicht vermuten, mein Freund.«
»Wer soll denn ...?«
Der Moment der Nähe verging, Nietes Kopf fuhr herum. »Meinst du, ich kranke an der Welt? Dem ist beileibe nicht so. Ich wählte die Einsamkeit und sollte ich sie nicht mehr ertragen, empfände ich eine unsägliche Erniedrigung vor mir selber. Ich wäre zu klein für meinen Willen, hätte das Höchste, das Wertvollste, das in mir ist, verraten. Und an diesem Ort ist es gut.« Er breitete die Arme aus. »Wenn man nicht feste, ruhige Linien am Horizont seines Lebens sieht, so wird der Mensch unruhig, zerstreut und begehrlich wie der Städter. In unserer Zeit scheint nur die Rationalität zu zählen, auf ihrem Altar opfern die modernen Ratten der Metropolen alles. Dagegen bin ich hier dem Kern des Daseins näher.«
»Darin liegt Wahrheit. Doch das Bleibende im Denken ist der Weg. Und Denkwege bergen in sich das Geheimnisvolle, dass wir sie vorwärts und rückwärts gehen können, dass sogar der Weg zurück uns erst voran führt.«
»Was möchtest du sagen?«, fuhr #Niete auf. »Soll ich mich Spielvorbeis Dummheit etwa noch einmal stellen? Das kannst du nicht ...«
»Mit meiner Fürsprache. Glaube mir, er ist ein anderer geworden nach Spinnes Ableben.«
#Niete lachte hämisch. »Ein treffendes Wort. Der alte #Superbus ist nicht gestorben, er hat sein Dasein abgelebt, wie man Schuhe abträgt – eine letztlich belanglose Existenz. Davon abgesehen danke ich dir nicht für deine Fürsorge, solange sie mich kleinmacht. Ein Wille wie meiner darf keine Verbindlichkeiten kennen. Und mit solcherart bezahlten Philosophen wie #Spielvorbei habe ich nichts mehr zu tun. Allesamt sind es Advokaten, die so nicht heißen wollen, verschmitzte Fürsprecher ihrer Vorurteile, die sie ›Wahrheiten‹ taufen.«
»Wer groß denkt, muss groß irren, das geht uns allen so. Vielleicht ...«
»Nein! Es ist genug.« #Niete schwieg einige Augenblicke, in denen er ein freundschaftliches Angebot zur Beleidigung umdeutete. Weil er nicht anders denken konnte, wuchs die Wut, dann zerschnitten seine Worte alte Bande: »Welcher Sinn liegt eigentlich in der Gastfreundschaft? Man möchte das Feindliche im Fremden lähmen. Du aber willst dich über mich erheben, meine Dankbarkeit genießen können. Warum? Soll das deine Verworfenheit auf den üblichen Feldern ausgleichen?«
Vierzigs Asthma meldete sich geräuschvoll. Er stand auf und wandte sich ab.
»Das mag es sein, nicht?« Im Zorn und Triumph gefangen wie ein geifernder Inquisitor wies #Niete mit dem Finger auf den Anderen. »Ist es abermals eine neue Studentin, frisch, jung und elfengleich, mit der du deine Frau betrügst, ja?«
Ein anhaltendes Keuchen blieb die einzige Antwort, denn jedes Wort hätte nur eine tobsüchtige Fratze beschworen.
»Aus meinen Augen, Katheder-Hure!«, zischte #Niete.
#Vierzig hechelte in die Dunkelheit davon.
Der Alleszermalmer hatte auch seine letzte Freundschaft zerstört und ich kroch wieder unter meine Decken.
So ging das Leben in der verschatteten Schlucht seinen Gang. Aber obwohl es seltsam klingt, war #Niete nicht der Mittelpunkt des Hauses, weil diesen #Eudaimonia besetzte. #Moni war das jüngste Kind und elf Jahre alt, als ich sie zum ersten Mal sah. Ich verliebte mich sofort: Locken wie der Rauschgoldengel auf dem Weihnachtsbaum, ein dankbares Lächeln und kornblumenblaue Augen, von denen niemand wusste, wie diese in die Blutlinie gekommen waren. Nur leider schienen diese Augen leer und würden es bleiben, denn das zurückgebliebene Mädchen nuckelte noch am Daumen und nuschelte nur ein paar Worte. Sobald Nietes Schreie durchs Haus gellten, zeigte #Moni ihr stilles Puppengesicht und hielt sich verängstigt die Ohren zu. Dennoch, aber auch aus diesem Grund blieb sie das Zentrum des Haushalts, da sich das Verhalten Aller immer zuerst auf sie bezog. Angefangen mit ihrem Vater, dessen Launen sie als Einzige konsequent ignorierte, weil sie die Stimmungswechsel einfach nicht verstehen, vielleicht nicht einmal fühlen konnte. #Niete wiederum spürte offenbar nicht die geringste Liebe für sein schwächstes Kind. Er duldete es nur in seiner Nähe, wie er unzählige Male anmerkte, um sich selbst zu bestrafen. Als bekennender Frauenfeind hätte er niemals eine Familie gründen dürfen und #Eudaimonia sollte ihn auf ewig an diesen Fehler erinnern. »Geist macht Frauen alt, sei also froh, dass du keinen besitzt,« war, so weit ich weiß, das Netteste, was er jemals ihr gegenüber äußerte. Ansonsten verbot er ihr jeden Laut in seiner Gegenwart und übersah sie geflissentlich. Ähnlich hielt es auch der älteste Sohn, #Aderlass, aber keinesfalls, weil er seine Schwester nicht gern gehabt hätte. Im Gegenteil, er kümmerte sich um alle seine Geschwister – wahrscheinlich das Erbe jahrhundertelanger, blutstrenger Konditionierung im Zeichen der Raute –, hatte allerdings begriffen, dass Moni für Aufmerksamkeiten, die man ihr schenkte, büßen musste. #Klein-Kalle, der Mittlere, beachtete sie ebenfalls nicht. Ob er Gefühle für sie hegte, konnte ich nie sagen, denn er dachte über vermeintlich gravierendere Dinge nach als Hinwendung und Fürsorge. Den Menschen blieb er fern wie sein Vater, für den normale Zeitgenossen immer Ärgernisse darstellten. Und die Zeit verging, ja, vielleicht braucht es auslösende Ereignisse gar nicht, um ein halbes Leben später einen monströsen Charakter zu formen, sondern einfach die Jahre des Heranwachsens. Umso inniger hatte sich das Verhältnis zwischen #Ali-Baba und #Moni entwickelt, ich sollte es sogar ›symbiotisch‹ nennen. Wenn den jüngsten Sohn Sorgen oder Ängste quälten, verstummte das ewige Summen des Mädchens, falls er lächelte, gluckste sie vergnügt. Ich mochte ihn übrigens ebenfalls und das lag nicht nur daran, dass wir gleich alt waren. Der Schalk lag in seinen Augen, das gefiel mir, und er schien von allen Nietes am geringsten belastet. Das mag seltsam erscheinen, immerhin war ihm und seiner Schwester am wenigsten Zeit mit der Mutter vergönnt gewesen; auch trafen ihn Schläge nicht seltener als seine Brüder. Doch diese Umstände verdüsterten sein Wesen nicht, stattdessen zeichnete eine gewisse Wankelmütigkeit dasselbe, ein mangelndes Selbstvertrauen, das die eigenen Entschlüsse mit Argwohn betrachtet. Darf man eine Entscheidungsschwäche, die vielleicht aus mangelndem Urvertrauen resultierte, aber schon als Talent zur Selbstreflexion adeln? Damals war es mir gleich und ich genoss einfach die Leichtigkeit des jüngsten Bruders. Obwohl der Vater seinen Kindern unnötigen Kontakt mit ›minderen Menschen‹ verbot, spielten wir auf abgeschiedenen Wiesen zusammen und luden manchmal meine Schwester #Molpe dazu ein. Unbeschwerte Stunden, die immer viel zu schnell vergingen und in denen ein Band zwischen uns wuchs, das bald schwerer wog als Scheu und Dünkel. #Ali-Baba war es zudem, der mir das wertvollste Geschenk meines Lebens machte: einen dunklen, staubigen Verschlag, in dem ich lernen durfte.
Da #Niete seine Söhne keinem bezahlten Lehrer anvertrauen wollte und sich einen solchen ohnehin nicht leisten konnte, unterwies er sie in eigener Verantwortung. Und auch wenn er in der Erziehung grö-blichst versagte, war er vielleicht der klügste, zumindest der gelehrteste Mensch, dem ich jemals begegnete. So erfüllt schien er von seinem Wissen, dass er sich schon davon emanzipiert hatte.
»Wer ist denn gebildet?«, blaffte er seine Zöglinge einmal an und die Antwort, die er sich selber gab, zeugte von wahrer Selbsterkenntnis: »Wer sich nicht anmerken lässt, wie schlecht er ist.«
Dieser Mann unterrichtete also seine Söhne in sämtlichen Fächern, die ihm von Belang erschienen. Und ich hörte zu, hinter dem Kachelofen in einem Wandschrank versteckt, den mir #Ali-Baba gezeigt hatte. Jeden Abend saß ich dort auf einem Deckenstapel und lauschte der gefürchteten, gar verhassten Stimme, die alle Wunder der Welt in die verschattete Schlucht hinunterlockte. Natürlich konnte ich in der Dunkelheit nichts nachlesen, doch Nietes Söhne, die nur wenige Schritte entfernt am Tisch saßen, durften das gleichfalls nicht. Den Grund für dieses strikte Verbot erfuhr ich irgendwann in unserem zweiten Jahr.
»Lesen heißt seine Gedanken von einem Anderen am Gängelband führen lassen,« verkündete #Niete und warf demonstrativ ein schmales Büchlein ins Feuer, was mir verborgen blieb, bis #Ali-Baba es mir am nächsten Tag erzählte.
»Die allermeisten Bücher können bloß zeigen, wie sehr man sich verlaufen kann, wenn man sich leiten lässt.«
Erst später lernte ich, dass er mit diesen Worten seinen Mentor #Wegweiser zitiert hatte, was er sonst eher vermied. Überhaupt schien er an diesem Abend in selten aufgeräumter Stimmung: »›Schrift weiß nicht, zu wem sie spricht.‹ Von wem stammt das, #Kallimachos?«
»#Scriba,« antwortete #Klein-Kalle, »ein Idealist.«
»Ja, eigentlich ein begabter Mann,« grinste #Niete abfällig, »nur schreibt er jetzt bloß alles auf, was sein Lehrer sagt. Wer ist das, #Aderlass?«
»#Servus Xanthippi, Vater, ein großer Kopf.«
»Und leider winzig, wenn seine Gattin ruft. Wie wir wissen, kauft auch der Listigste seine Frau noch im Sack.«
#Klein-Kalle hob die Hand. Ob er der scharfsinnigste Bruder war, kann ich nicht sagen. Zumindest hielt er sich für diesen.
»Ja?«
»Sagte #Superbus Spinne nicht Ähnliches? ›Schüler sollen nicht Gedanken lernen, sondern Denken.‹«
Die Faust seines Vaters streifte nur die Stirn, so rasch senkte der tollkühne Sohn den Kopf, erfuhr ich später. Und #Klein-Kalle hatte Glück, denn #Niete ließ es dabei bewenden und raufte sich an diesem ausnehmend guten Tag bloß die Haare. »Von dieser Person will ich nichts hören!«
So verliefen auch die Abende immer abhängig von der Laune des geschmähten Genies und doch letztlich gleich. #Niete dozierte zu beliebigen Themen, manchmal trug er über mehrere Stunden frei vor, ohne wenigstens einmal eine Frage zu stellen. Er schien jeden Stoff zu beherrschen. Sah er einen Greifvogel auf breiten Schwingen in die Schlucht gleiten, vertiefte er sich in die Ornithologie, an Vollmonden, die wir in der Tiefe nur zu erahnen vermochten, umriss er fortgeschrittene Inhalte der Astronomie, und falls er schlechter Stimmung war, stieg er zu den grammatikalischen Abgründen aller Sprachen hinab, die er kannte – und das waren eine Menge. Logik und Mathematik traten an den Abenden hingegen nur selten in den Fokus, denn das ›biedere Handwerk‹, so #Niete, musste bereits zum Frühstück erledigt werden. Leider konnte ich mich während dieser Mahlzeit nicht verstecken, weshalb mir ein lebenslanges entsprechendes Defizit blieb, obwohl sich #Ali-Baba später am Tag immer große Mühe gab, mir die wesentlichen Gedankenketten des Morgens wiederzugeben. Und tatsächlich verstand ich bald zumindest mehr von #Abakus Pilz und ähnlicher Materie als unser Lehrer, ein Umstand – das begriff ich natürlich erst viele Jahre danach –, der in seiner geschilderten Talentlosigkeit in diesen Disziplinen begründet war. In den anderen Fächern hielt ich allerdings für einige Zeit nicht mit, da die Brüder ihrem Alter weit voraus schienen, als wir zu der Familie stießen. Das lag wohl nicht zuletzt daran, dass sie kein einziges Wort mitschreiben durften. Hoch konzentriert folgten sie den Ausführungen und versuchten jede neue Information so rasch wie möglich mit bereits Erlerntem zu verbinden. Fragen hörte ich selten, alle lauschten aufmerksam der gepflegten Suada. Wie oft stellte ich mir die Runde vor? Natürlich sah ich sie nicht am Tisch sitzen, ich kauerte ja längst im Wandschrank, sobald sich der Vater zu den Söhnen setzte. Aber da Nietes Wut auch am Abend drohte, gaben sich die Brüder nicht anders als sonst. So verzog #Adi keine Miene, nickte höchstens und fügte sich in das Unausweichliche, wie er es immer tat. Das schien klug, weil er sich und die Übrigen auf diese Weise vor einem neuen Ausbruch zügellosen Zornes bewahren konnte. Auch dieses Verhalten formte mit der Zeit einen Charakter, weil es erfolgreich war: Still und unauffällig verfolgte er seine Ziele, und obwohl diese Ziele in der Regel gar nicht die eigenen waren, erfüllte ihn seine Effektivität über viele Jahre mit Stolz. #Klein-Kalle dagegen schüttelte vielleicht einmal den Kopf, wenn die konträren Argumente aus ihm heraussprudeln wollten, blieb letztlich jedoch gleichfalls stumm. Er übte sich wohl schon in der Disziplinierung seines Willens und führte Dispute, die er noch nicht gewinnen konnte, bloß im Geiste. #Ali-Baba sah ich wiederum unruhig auf seinem Schemel herumrutschen und mit den Füßen wippen. Nicht nur zu infantil für solcherart Unterweisungen, war er einfach zu unfertig der väterlichen Härte ausgesetzt. Zumindest für ihn war die Mutter viel zu früh aus dem Nest verschwunden und ihre Wärme fehlte ihm ein Leben lang, in dem er den Mangel zu kompensieren suchte. Dem Jüngsten fielen sie jedenfalls am schwersten, diese Stunden der Abstraktion, die er im Gegensatz zu mir als Folter und nicht als Geschenk empfand. Für meinen Freund sog ich das Wissen gleichsam mit auf und fasste an folgenden Tagen die wesentlichen Sachverhalte für ihn zusammen. Während die Drei also eher aus Angst lernten, trieb mich Neugier. Ich sah ja auch nicht dunkle, stechende Augen auf mich herniederstarren, sondern genoss nur den schier endlosen Strom gelehrter Sätze. Für den Sohn einer Banausenfamilie eine außergewöhnliche Chance, die ich leider nur im Verborgenen nutzen durfte. #Niete dachte nicht in der Kategorie der Klasse, verbannte alle entsprechenden Ideologen aus seiner Gedankenwelt, und dennoch schaute er auf jeden herab, der sich die Freiheit im Kopf nicht leisten konnte. ›Wer von seinem Tag nicht zwei Drittel für sich selbst hat, ist ein Sklave!‹ Wie oft hörte ich diese apodiktische Feststellung und fühlte mich ins Mark getroffen?
Natürlich suchte ich in solchen Momenten nach Worten, wollte dem Herrn unseres Lebens widersprechen, ihm den Wert meiner Existenz nachweisen – und blieb doch stumm. Zunächst verhinderten Naivität und Bildungslücken einen ernstzunehmenden