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Kambuja - ein junger Gottkönig herrscht in dem einst geschlagenen Land. Nach verlorenen Jahrzehnten führt er das Reich aus dem blutigen Morast der Thronwirren endlich zu neuer Größe. Aber die Frevel der Vergangenheit wiegen schwer, denn Chantreas Vater hatte Namen und Zukunft eines Anderen gestohlen. Jetzt giert dieser Mann nach Rache und erschleicht sich das Vertrauen des Kamratengs. Getäuscht und verraten kämpft Chantrea um die Macht - und um das Leben seiner Familie. Der fünfte historische Abenteuerroman über das legendäre Weltwunder und die Fortsetzung einer unsterblichen Geschichte.
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Seitenzahl: 589
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Kambuja – ein junger Gottkönig herrscht in dem einst geschlagenen Land. Nach verlorenen Jahrzehnten führt er das Reich aus dem blutigen Morast der Thronwirren endlich zu neuer Größe. Aber die Frevel der Vergangenheit wiegen schwer, denn Chantreas Vater hatte Namen und Zukunft eines Anderen gestohlen. Jetzt giert dieser Mann nach Rache und erschleicht sich das Vertrauen des Kamratengs. Getäuscht und verraten kämpft Chantrea um die Macht – und um das Leben seiner Familie.
Der fünfte historische Abenteuerroman über das legendäre Weltwunder und die Fortsetzung einer unsterblichen Geschichte.
Jan Erhard wurde 1969 in Bochum geboren, wuchs in Rüsselsheim auf und studierte Philosophie und Geschichte in Berlin. Zur Entstehung Angkors, des Weltwunders in Kambodscha, arbeitet er seit 2003 an historischen Abenteuerromanen, die nun in einer neuen Ausgabe erscheinen.
Jan Erhard lebt mit seiner Familie im brandenburgischen Teltow.
Arun
Angkor I
Milchozean
Anchaly
Angkor II
Chantrea
Angkor III
Weltenschlange
Yan Ji
Angkor IV
Viseth
Angkor V
Sonnenscherbe
Champei
Angkor VI
Eckstein
Querstein
GEBURT UND VERRAT
Pfeiler
DIE PRINZESSIN IM KERKER
DER PAKT DER SCHWACHEN
Erste Galerie
DAS ENDE DES SPIELS
DIE STRAFE DES HIMMELS
Zweite Galerie
ANHANG I - PERSONEN
ANHANG II - ANGKORS HERRSCHER
ANHANG III - ZEITTAFEL
ANHANG IV - GLOSSAR
ANHANG V - KARTEN
Ich danke allen Menschen, die mir Mut machten. Ich danke Familie und Freunden, die sich durch verschiedene Fassungen dieses Romans kämpften und nicht mit Kritik sparten. Ich danke den Angestellten der Berliner S Bahn, in deren Zügen ich viele Stunden arbeiten konnte. Ich danke meiner Frau und unseren Kindern für ihre Geduld und liebevolle Unterstützung.
»Ah! Wäre ich doch mit der Feder eines Chateaubriand oder eines Lamartine begabt, oder mit dem Pinsel eines Claude Lorrain, um die Freunde der Kunst wissen zu lassen, wie schön und großartig diese wohl unvergleichlichen Bauten sind.« Henri Mouhot
Ongcor 1860
Meine treue Frau,
steht auf Jersey alles zu Deiner Zufriedenheit? Sicher kümmert sich mein Bruder auf fürsorglichste Weise um Dich und unsere Kinder. Bitte lies ihnen zunächst die folgenden Zeilen vor, auf dass sie ahnen, welche Pflichten mich von unserer schönen Insel fernhalten:
Ihr Lieben,
ich vermisse meine Kleinen zu jeder Stunde und Ihr sollt wissen, dass ich in Gedanken bei Euch bin, obwohl uns eine Welt zu trennen scheint. Versteht Ihr, warum das so sein muss? Genau wie Mungo, der berühmte Onkel Eurer Mutter, wollte auch ich einige der Rätsel der Terra inkognita lösen. Dafür reiste ich um das Kap in den Indischen Ozean und den siamesischen Golf, dafür schlug ich mich durch Kampucheas Wildnis. Nur fand ich keine Schmetterlinge, sondern etwas viel Bedeutenderes – die grandiosen Überreste einer untergegangenen Zivilisation. Und damit Ihr Euch dies alles besser vorstellen könnt, will ich erzählen, was ich heute erleben durfte.
Nach einer schweißtreibenden Kletterpartie saß ich auf Gewölberesten eines Heiligtums, die wie verwunschene Felsen aus dem Dschungel ragen. Sobald man den Blick über die Wipfel der Bäume erheben kann, erkennt sogar das ungeschulte Auge, wie erstaunlich flach diese Gegend eigentlich ist. Stellt Euch vor, Mutter legt ein neues Tischtuch auf unsere Tafel und zieht es straff – auf ähnlich ebenem Grund wächst der Urwald. Die einzigen Erhebungen zwischen den Stämmen rühren von Menschen, bröckelnde Ruinen, einsame Mauern, von der Natur verschlungene Steinblöcke und gespaltene Sockel, die nichts mehr tragen. Die Zeit kennt keine Gnade und dennoch verschont sie das Werk dieses Genius. Denn da stehen noch zauberhafte Tempel, grandiose Wunderwerke, vielleicht Grabstätten, prachtvoll und betörend, nur die Rasse, die ihrem Glauben solch unvergängliche Denkmäler errichtete, sie fehlt. Ich wanderte durch den Dschungel, betrachtete die Wilden neben den kolossalen Bauten und erkannte die Äonen, die sie trennen. Ongkor Vat oder Vishnuloka, wie es seine Erbauer nannten, war nie gänzlich vergessen. An diesem Ort lebten wohl immer Menschen, armselige Zeitgenossen, die alles vermissen lassen, was ihre Vorgänger auszeichnete. Und abseits des Weltgeschehens vergingen die Jahrhunderte. Die unbarmherzige Witterung der Tropen ließ die einsamen Steine knacken und bersten, doch niemand wusste mehr, wie man die Wunder instand hielt. Allein hier müssen einmal mindestens eine Million Menschen ihren Geschäften nachgegangen sein. Jetzt leisten nur noch einige weltabgewandte Mönche den Fledermäusen Gesellschaft, Schlangen sonnen sich auf den Terrassen, Bäume wachsen aus Straßen und Lianen erdrosseln die steinernen Bögen. Unaufhaltsam drängt der Dschungel herein und kleine Geister vernachlässigen ihre Pflichten. Vielleicht wissen sie auch, dass sie den Kampf ohnehin verlieren.
Heute Morgen fand ich das Kloster verlassen, die Brüder waren ihrem Abt in die Nacht gefolgt, um irgendeinem rückständigen Ritus nachzugehen. Nur mein kluger Phrai begleitete mich. Erinnert Ihr Euch? Dieser wohlgeratene Sohn eines Pfefferpflanzers erstaunt mich immer wieder mit seinen ungeahnten Talenten und profunden Kenntnissen. Wie stets führte er mich an den größten Schlammpfuhlen vorbei, ohne ein überflüssiges Wort von sich zu geben. Die fünf Türme erhoben sich dunkel gegen den fahlen Schein der aufgehenden Sonne. Erste Lichtströme ergossen sich in Säulengänge und auf Galerien, die himmlischen Tänzerinnen erstrahlten, erwachten zum Leben. Einmal mehr erschien mir Vishnuloka unwirklich und fast glaubte ich an die Geschichten der Eingeborenen vom Wirken der Götter. Eine der absurdesten Erzählungen geht in Kürze etwa so: Das Kind eines Sklaven habe diese Tempelstadt errichtet und so Unsterblichkeit erlangt. Ein gefälliger Mythos, fürwahr, tatsächlich ließ jedoch ein hinduistischer Herrscher dieses geniale Werk errichten.
Als ob ein Vorhang fiel, verdüsterte sich plötzlich das Firmament. Wenige Minuten später rauschte der nächste Guss hernieder, denn der Monsun verschont auch das Wunder nicht. Während zweier Jahreszeiten kommt dieser gewaltige Regen in regelmäßigen Abständen über das Land. In Europa kennen wir eine solche Kraft nicht und darüber können wir froh sein. ›Regenzeit‹ scheint mir eine drastische Untertreibung für dieses extreme Schauspiel der Natur. Schier unendliche, dicke Fäden strömen aus dem Himmel und vereinigen sich nicht selten zu Wasserwänden, die einem die Luft zum Atmen nehmen. Wer bei derartiger Witterung keine Geduld kennt, wird sie lernen. Diese Wassermengen lassen jedes menschliche Ziel oder Streben lächerlich erscheinen und durchfeuchten sogar die dreifach vernähte Londoner Imprägnierung. Doch sorgt Euch nicht, denn ungeachtet des garstigen Wetters erfreut sich Euer Vater bester Gesundheit.
Wie muss diese Landschaft früher ausgesehen haben? Hier war kein Dschungel, nein, weite Felder reihten sich aneinander. Und wenn der Monsun über das Land kam, stand der Reis bald unter Wasser. Vishnuloka lag in einem See, nur die Dammstraßen ragten noch aus den Fluten und verbanden die Heiligtümer miteinander, Inseln auf einem gewaltigen Meer.
Ich war bis auf die Haut durchnässt, als endlich der Regen nachließ und schließlich ganz versiegte. Da hörte ich wieder den eintönigen Sprechgesang der Mönche. Sie kehrten zurück, ich sah ihre orangefarbenen Kutten schon von Weitem. Der Erste fegte den Weg, um kein lebendes Wesen zu töten. Ohne auf Phrai und mich zu achten, liefen sie mit gefüllten Almosenschalen an uns vorbei. Nur ihr Abt Pay Mak warf mir einen bösen Blick zu, aber das muss Euch nicht kümmern. Dieses halsstarrige Männlein widersetzt sich Einsicht und Vernunft, leugnet die eigentlichen Erbauer und will mir weismachen, dass die Vorfahren primitiver Buddhisten diese Heiligtümer errichteten.
Ich schenkte ihm ein nachsichtiges Lächeln, das mir umso leichter fiel, da der Duft von nassen Lotusblumen in der Luft lag. Ich sog das herrliche Anisaroma in meine Lungen, bis der Rauch eines Holzfeuers aus dem Kloster herüberwehte. Eine Glocke ertönte wie in Eurer Schule und ich ahnte, dass etwas Wichtiges geschehen sein musste.
›Der letzte Guss,‹ erklärte mir Phrai später, ›deshalb wanderten die Mönche wohl durch ihren Srok. Nun kommen die trockenen Monde.‹
›Das begrüße ich uneingeschränkt.‹
›Schon morgen können die Fischer ihre Welse von den Bäumen angeln!‹
Kaum zu glauben, nicht wahr? Aber der riesige See in der Nähe zeigt sich wirklich enorm fischreich, und wenn jetzt das Wasser zurückgeht, muss der Fang phänomenal sein.
Bald schreibe ich wieder von den Baumfischen, bis dahin seid Eurer Mutter folgsame Kinder.
Es küsst Euch
Euer Vater
Teuerste Annette,
traf ich den richtigen Ton? Wie hält sich unser Nachwuchs? Ich vermisse sie und Dich jeden Tag. Vielleicht liegt in meiner Wehmut der Grund, warum es mir eigentümlichen Trost bereitet, abends in Mungos Bericht zu lesen. Wusstest Du, wie prägnant seine Instruktionen waren? Nach seiner Ankunft in Afrika sollte er seine Expedition über Timbuktu führen und dann zum Niger vordringen. Das war ein klarer Auftrag, den es zu erfüllen galt. Ich hingegen erhielt von der Society eher eine Art Aufmerksamkeit, die weniger mir als dem Andenken Deines illustren Onkels dient. Diese Unverbindlichkeit erscheint mir als Fluch und Segen zugleich. Von einem Mann, der die Fauna und Flora Südostasiens erkunden will, wird man nicht erwarten, dass er ein archäologisches Wunder entdeckt. Und ob ihm überhaupt jemand glaubt, sei dahingestellt. Auf der anderen Seite sollte mir auch niemand verdenken, wenn ich die längst taxierte Pflanzenwelt an diesem Ort für besonders originär erachte und eine weitere Woche bleibe. Leider harre ich immer noch einer Antwort auf meine ersten Berichte. Klangen der Society meine Beschreibungen zu überschwänglich? Vielleicht, doch Vishnulokas Schönheit übertrifft jedes meiner Worte und ich darf immerhin darauf vertrauen, dass Du mir glaubst. Erreichen Euch die Zuwendungen der Gesellschaft? Ich hatte Charles gebeten, Stevens um fristgerechtere Zahlungen zu ersuchen. Unser Gönner sollte in solchen Dingen wahrlich gewissenhafter sein. Hoffentlich überzeugt ihn mein Bruder endlich von der Größe dieser Tempelstädte und der Bedeutung meines fortgesetzten Aufenthalts. Bitte informiere ihn über folgende Erkenntnisse: Ongcor Vat oder Vishnuloka wurde vermutlich im zwölften Jahrhundert errichtet, und zwar unter einem Herrscher namens Suryavarman. Der Nachweis erfolgte auf Grundlage einer unabhängigen Quelle und scheint zwingend. In einem Dorf der Eingeborenen fanden wir die Überreste einer Stele, deren eingemeißelte Schriftzeichen einen Vertrag zwischen Kampuchea und dem mittelalterlichen China darstellen. Faszinierend, nicht wahr? Wieder einmal bewies mein guter Phrai erstaunliche Kenntnisse, zeigte sich durch den Fund jedoch für eine kurze Zeit seltsam verändert, wortkarg und zurückhaltend. Mich beschlich der Verdacht, dass ihn auch andere Gründe als schnödes Geld bewogen haben könnten, mir zu folgen. Aber was sollte den Sohn eines chinesischen Bauern aus Chantaboun mit Kampuchea verbinden?
So viel nun zu den neuen Erkenntnissen. Leider liegt die Herkunft des Volkes, das diese Wunder hinterließ, noch im Dunklen, genauso der Ursprung von Ongcor Thom, der weit ausgedehnteren Tempelstadt in der Nähe. Ich schätze allerdings, dass zumindest diese riesigen Köpfe, die an einen dicken lächelnden Buddha erinnern, später errichtet wurden. Jedenfalls mag die Schönheit der Relikte ihr vergleichsweise geringes Alter mehr als ausgleichen. Angesichts von Umfang und Ausdehnung der Heiligtümer beschränke ich mich weiterhin auf die Erforschung von Vishnuloka, auch wenn mir der Abt die Arbeit unnötig erschwert.
Januar 1860, Ongcor, vierzehn Tage nach Ankunft
Ich kann den Brief an Annette nicht beenden, denn der große Regen hinterließ mir ein Abschiedsgeschenk. Der Monsun scheint doch mächtiger als jede Konstitution. Damit nicht genug genießen wir unerwünschten Besuch: Hier gibt es einen Vogel, den Kupferschmied, dessen Stimme wie der Schlag eines Hammers gegen einen Kessel klingt. Im Dschungel schreit er die Neuigkeiten hinaus und mir will der Kopf platzen.
– Am Abend –
Wie immer finde ich Trost in Mungos Buch. Ende Juli 1795 erkrankte auch er, wahrscheinlich an der damals noch unbekannten Malaria. Immerhin ging er gestärkt aus der Krankheit hervor und das werde ich ebenfalls. Allerdings gibt es da einen entscheidenden Unterschied: Mungo war Arzt und konnte sich gegebenenfalls selbst behandeln. Zudem kurierte er einige Afrikaner, was ihm gewisse Vorteile eingebracht haben sollte.
Der gute Abbé Silvestre vernachlässigt seine Mission, um mich zu pflegen. Wenn es das Wechselfieber ist, wie er meint, kann ich mich glücklich schätzen. Mein besorgter Phrai liegt mir dagegen mit schrillen Schauermärchen in den Ohren, garstigen Würmern, die aus Nasen kriechen und Anderes mehr.
Januar 1860, Ongcor, fünfzehn Tage nach Ankunft
Erstickende Hitze und das Zirpen der Zikaden – nach einer schlimmen Nacht, während der ich mir zitternd die Hitzebläschen auf den schmerzenden Gliedern kratzte, ging es etwas besser. Plötzlich stand Pay Mak neben meiner Hängematte. Der junge Abt gab sich zwar freundlich und schien unsere früheren Auseinandersetzungen übergehen zu wollen, aber helfen wollte er mir nicht. Vielleicht gehört die Heilkunde auch nicht zu seinen Fähigkeiten oder er freut sich auf meinen Tod, wenn sich ein solcher Wunsch mit seinem Gelübde vertragen sollte. Ich sah ihn an und fragte direkt, warum er den Glauben des Erbauers von Vishnuloka leugne, obwohl doch schon dessen Name einen eindeutig hinduistischen Hintergrund aufweise. Was soll ich sagen – für Höflichkeiten war ich zu geschwächt. Sobald ihm der Sinn meiner Worte dämmerte, stürmte das Männlein aus dem Zelt. Wie tief sind diese Eingeborenen gefallen? Vom Licht der Aufklärung erleuchtete Geister können wahrlich einsam werden in der Fremde. Annettes Onkel ging es übrigens nicht anders. Ich ließ mir von Phrai die Stelle vorlesen: Die Mauren reizten und beschimpften Mungo, spuckten ihm sogar ins Gesicht. Sie wollten sein Gepäck konfiszieren und brauchten einen Vorwand. Erst, als er die Provokationen in beeindruckender Seelenruhe ertrug, argumentierten die Anhänger Mohammeds, dass sie den Besitz eines Christen beschlagnahmen dürften. Unterdessen öffneten sie seine Bündel und nahmen alles, was ihnen gefiel. So gesehen, habe ich mit Pay Mak Glück. Er ist weder ein Dieb noch beleidigt er mich.
Januar 1860, Ongcor, sechzehn Tage nach Ankunft
Eine weitere Nacht überstanden. Ich hätte nicht gedacht, dass ein Mensch solche Mengen Wasser ausschwitzen kann.
Der Monsun scheint fast schon vergessen, so trocken ist das Land. Immerhin löste sich auf diese Weise ein Rätsel, das mich seit zwei Wochen beschäftigt. Woher kamen die Steine für die Monumente? Phrai gab mir die Antwort. Der Junge streift immer wieder durch die Gegend und meidet mein Zelt, was ich ihm nicht verdenken will. Er erzählte mir, dass die abfließenden und verdunstenden Fluten viele Senken entblößen. Vermutlich handelt es sich um Becken, die einst zu einem komplizierten Bewässerungssystem gehörten. Der Regen füllte die Reservoire, aus denen Kanäle auf die Felder führten. Diese Gräben umgaben die Stadt in riesigen Ringen, die gleichzeitig als Transportwege dienten und mir bereits während der Anreise aufgefallen waren. Nur so konnten die für den Bau der Heiligtümer erforderlichen enormen Steinmengen hergeschafft werden. Von Silvestre weiß ich, dass die Minen in den Dangrek-Bergen nicht zu weit entfernt liegen.
Dennoch glaube ich, dass vor allem landwirtschaftliche Erfordernisse die Wahl von Vishnulokas Standort bestimmten. Ongcor liegt in einer gewaltigen, von Flüssen versorgten Ebene, die direkten Anschluss ans Meer besitzt. Wahrscheinlich trafen hier auch bedeutende Verkehrswege zusammen. In den Wäldern gab es ausreichend Holz, zudem Elefanten und andere Tiere. Hauptsächliche Nahrungsquelle war und ist natürlich der Tonle Sap mit seinem ungeheuren Fischreichtum. Das klingt so wohldurchdacht, dass die Meinung, die Phrai und der Abt vertreten, noch abwegiger erscheint. Daher bleibe ich bei meiner Überzeugung: Kein Khmer erschuf dieses Wunderwerk, sondern eine überlegene Kultur, die an diesem Ort ihre großartigen Spuren hinterließ.
A.D. MCXXXV. Viele Sommer verbrachte ich im Skriptorium und schrieb an der Geschichte unserer Zeit. Nun komme ich auf Matildas Wunsch meinen Pflichten nach. Ein Schrecken ist über das Land gekommen und die Königin aller rechtschaffenen Engländer vermutet eine Verschwörung, die fünfzehn Jahre zurückreicht. Damals herrschte noch Frieden im Königreich: König Heinrich hatte seinen Sohn William mit Isabelle von Anjou verbunden und so einen alten Rivalen für ein Bündnis gewonnen. Auch die Normandie unterstand dem Erben seit der Schlacht von Brémule und sogar Ludwig der Dicke, dieser gutmütige, verfressene Kapetinger, erkannte ihn als Herzog an. Das Reich der Normannen war also fest gefügt, bis zu jener düsteren Nacht.
[Beginn der Befragung.]
»Dein Name?«
»Bérold, Metzger aus Rouen im Gefolge des Æthelings, das wisst ihr doch schon. Warum befragt ihr mich?« [Anmerkung: Der Zeuge stottert und spricht in kaum verständlicher Mundart.]
»Weshalb wohl? Weil du der einzige Überlebende warst. Man vermutet Ränke. Was weißt du über das Unglück?«
»Die Blanche-Nef verließ Barfleur nach dem Schiff des Königs auf der Route des Eroberers. Nachdem wir den Hafen verlassen ...«
»Stimmen die Gerüchte von der wilden Zecherei an Bord?«
»Keine Ahnung. Ich war unter Deck.«
»Das ist bemerkenswert, doch dazu kommen wir später. Es heißt, der Ætheling habe Wein austeilen lassen.«
»Herr im Himmel! Ich weiß es nicht! Sicher, ich hörte Gegröle, aber das muss nichts bedeuten. Fast dreihundert Leute drängten sich auf den Planken.«
»Wenn du noch einmal Seinen Namen führst, rufe ich Matildas Männer herein. Wer segnete das Schiff? Waren überhaupt Priester zugegen oder blieb ihnen der Zutritt verwehrt?«
»Was fragt ihr mich? Ich schaue nur Frauen hinterher und auch nur den ...« [Anmerkung: Der Zeuge weicht meinem Blick aus.]
»Werde nicht unverschämt! Weiter: Der Neffe des Königs soll die Blanche-Nef kurz vor dem Ablegen verlassen haben. Was weißt du darüber?«
»Wen meint ihr?«
»Stephan, den Thronräuber, du Schwachkopf!«
»Ich würde ja mit den Schultern zucken, aber Matildas Schergen besuchten mich bereits.«
»Dafür kann ich nichts, ich ...«
»Natürlich, ihr habt eure Hände längst gewaschen.« [Anmerkung: Diesen Satz stößt der Zeuge klar und deutlich hervor.]
»Hüte deine Zunge, Mann! Zum Untergang: Eine betrunkene Schar verlangte vom Kapitän, das Schiff des Königs einzuholen, bis der Rumpf an Backbord einen Felsen rammte. Durch das Leck strömte Wasser ein und die Blanche-Nef sank sehr schnell. Entspricht das den Tatsachen?«
»Ich sah keine Besoffenen.« [Anmerkung: Der Zeuge ist wiederum kaum zu verstehen.]
»Du warst unter Deck ...«
»Meine Worte, aber irgendetwas drückte die Planken ein.«
»Und du bist dann nach oben geeilt?«
»Darauf könnt ihr wetten.«
»Und dort?«
»Wildes Durcheinander, das Schiff hatte schwer Schlagseite.«
»Manche sagen, der Ætheling habe sich in ein Boot retten können. Er sei erst ertrunken, als er seine Halbschwester Maud aus dem Wasser zu ziehen versuchte.«
»Ja, wenn ihr schon alles wisst, warum belästigt ihr mich dann? Ich schaute nicht aufs Meer, sondern bloß nach oben. So schnell es nur eben ging, kletterte ich auf den Mast und packte eine Rah. Dort hingen wir, acht an der Zahl, doch nach dem dritten Untertauchen waren wir nur noch zwei.«
»Goisfred de L’Aigle?«
»Ja, ein Ritter und dennoch ein guter Kerl. Sei´s drum, die Nacht war sehr kalt und ein Metzger ist stärker als jeder Edelmann. Nach ein paar Stunden verließen ihn die Kräfte, bis er in den Fluten versank. Fischer retteten mich am Morgen und ich erzählte einem Gottesmann, was passiert war. Das ist jetzt fünfzehn Jahre her.«
»Und auch damals glaubte dir mein Bruder kein einziges Wort.«
[Ende der Befragung.]
Bérold schwieg bis zu seinem trostlosen Tod. Obwohl ich alt und unsicher bin, kann ich Matildas Verdacht gleichwohl nicht guten Gewissens bekräftigen. Es bleibt bei einer rätselhaften Katastrophe, die unser Königreich ins Dunkel stürzte.
Ordericus Vitalis Angligena
William war der Ætheling, der einzige eheliche Sohn Heinrichs I. von England. Sein früher Tod beim Untergang der Blanche-Nef veränderte die Welt der Normannen, denn er ließ den Herrscher ohne legitimen männlichen Erben zurück. Der Schwertadel brach seinen Schwur, überging Williams ältere Schwester Matilda und wählte ihren Vetter zum König. The Anarchy begann, ein erbitterter Kampf um die Erbfolge zwischen Stephan und seiner Cousine, ein Krieg, der fast zwanzig Jahre währte.
The White Ship sank in der Nacht vom 25. November 1120 und vielleicht war Stephan tatsächlich kurz zuvor von Bord gegangen. Aber wer kann heute noch sagen, ob Verrat oder Dummheit das Schiff auf den Felsen führte? Jedenfalls befahl Chantrea im selben Jahr die Planung von Angkor Vat und ging so den ersten Schritt auf seinem langen Weg zur Weisheit.
»Der Reis braucht Wasser und der Krieg braucht Reis.« Kambodschanisches Sprichwort
Der ältere Mann trug eine Fackel und den unscheinbaren Sampot eines Teas, die langen, grauen Haare zu einem Zopf zusammengebunden. Eigentlich musste er auffallen: Unter der Augenklappe liefen helle Narben über seine Wangen und wer ihm nahe kam, hätte im Fackelschein das seltene Blaugrün des verbliebenen Auges bemerkt. Der Unbekannte sah dem Vater des Kamratengs ähnlich, doch jener Fürst Nandamarveda war schon neun Jahre tot und es gab Wichtigeres. Denn es war Nachtmarkt in Yasodharapura, Kambujas aufblühender Hauptstadt, und an der nördlichen Seite des Bakhengs, Yashovarmans altem Tempelberg, drängten sich hunderte Stände aneinander. Davor verharrten einige langhaarige, schmutzige Gestalten, begleitet von mageren Hunden. Die Männer trugen Körbe voller Eidechsen, durften jedoch die unreinen Tiere noch nicht verkaufen.
Ehe Tharavith Bunneang in das Gewühle eintauchte, stolperte er über eine dürre, räudige Katze, die ihm panisch vor die Füße sprang. Fauchend schlug sie einen Haken und verschwand zwischen den Beinen eines Wunderheilers. Der Scharlatan ließ keinen Zweifel daran, dass er sogar Tote zurückholen konnte, obwohl er mit schlaffer Haut und entzündeten Augen selbst nicht gerade gesund aussah. Dennoch lauschten die Menschen seinen Lügen und musterten die grellen Farben seines Wickeltuchs. Einen Augenblick später tauchte der Grund, der das Tier in Panik versetzt hatte, in Form zweier Jungen auf. Mit Netz und Seil bewaffnet zwängten sie sich durch die Menge. Sie wollten sich wohl die Schale Reis verdienen, die es für das Fell eines Streuners gab. Die Leute machten ihnen nur widerwillig Platz, aber die beiden waren geschickt, duckten sich unter Armen hindurch und sprangen über die Auslagen. So kamen sie erstaunlich rasch voran, warfen dabei allerdings einen mannshohen Stapel geflochtener Körbe um, der auf den Früchten einer Obsthändlerin landete. Die Hökerin fluchte, packte einen der Strolche und schrie auf ihn ein, während sich der Zweite in beeindruckender Geschwindigkeit an ihren Mangos bediente. Als die Frau dies bemerkte, ließ sie den Ersten los und wollte den anderen fassen, mit dem Ergebnis, dass sich der Erste zwei Schläuche mit Kokosnusswasser schnappte und in der Menge untertauchte.
»Sohn eines Schweines,« schrie die entrüstete Verkäuferin, »deine Tanten hatten seit Generationen keine Nasen!«
Tharavith begriff, dass die Katze nur der Ablenkung gedient hatte, und legte die Hand auf den schweren Geldbeutel, der an sein Bein geschnallt war. Die Heilige Garde war fern und im Baphuon, dem Palast des Kamratengs, in dem er sonst seine Tage verbrachte, gab es Diebe nicht. Eigentlich verabscheute er das niedere Volk und der aufdringliche Geruch nach gegrillten Hühnerschenkeln machte es nicht besser, doch ihm blieb keine Wahl. Also schob er sich weiter durch die Menge, bis ihm ein tätowierter Mann den Weg verstellte.
»Denk´ an die Dämonen, Pu, sie sind überall!«, bot ihm der Wahrsager seine Dienste an. »Wenn du den Kmoch nicht genug zu essen schenkst, erzürnst du sie!«
Tharavith schüttelte den Kopf. »Lass´ mich zufrieden!« Die vertrauliche Anrede stieß ihn ab und zudem schienen die bösen Geister der Legenden noch seine geringste Sorge.
Er zählte fünfundsechzig Sommer, hatte aber schon vor vierundvierzig Jahren seinen wahren Namen verloren. Geboren als einziger Sohn und Erbe von Suryavarmans Bastard war er als Prinz von Meru aufgewachsen. Vielleicht wäre er sogar zum Yuvaraja, zum Thronfolger, ernannt worden, wenn ihn nicht ein verkommener Khond in eine Schlucht geworfen hätte. Dieser A Arun, ein ihm auf verblüffende Weise gleichender Sklave, hatte ihn sterben sehen, alle heiligen Regeln gebrochen und sein Leben gestohlen. Ein übler Scherz der Götter. Der Dieb hatte das Reich in den Abgrund des Bürgerkrieges gerissen und trotz seines Todes war das Verbrechen ungesühnt geblieben. Vielmehr hatte sein Sohn die Könige des Nordens und des Südens geschlagen und zudem noch den Namen von Tharaviths eigentlichem Großvater entweiht. Nun herrschte der zweite Suryavarman, das Balg eines Frevlers, schon das achte Jahr über Kambuja!
Und was war ihm geblieben, dem echten Viseth Nandamarveda? Schwer verletzt war er von einem Mann gerettet worden, der bis heute sein Schicksal bestimmte. Bharata Rahu, ein Sadhu, hatte ihn in seinem Kloster versteckt und in den Blutkult eingeführt. Die Erinnerung an sein wahres Leben war nur zögerlich wiedergekehrt, und er hatte sich selbst erst gefunden, nachdem er das Werkzeug der schwarzen Göttin geworden war. Im Auftrag seines Meisters begleitete er seit Jahren Diavakara, vergiftete sein Herz und zog Kambujas obersten Priester langsam in Kalimas Arme: Die Heilige Kaste der Brahmanen sollte ihre einstige Macht zurückerobern, redete er dem Greis ein. Aber das war eine Lüge. Nach dem eigentlichen Plan des Sadhus würde natürlich Kalima herrschen und die Sklavenbrut zur ewigen Verdammnis verurteilen.
Viseth harrte also einer Gelegenheit zur Rache und sein Aussehen schadete ihm dabei nicht: Manche glaubten, er müsse Nandamarvedas Wiedergänger sein, andere gaben sich mit einem bloßen Zufall zufrieden. Und obwohl die Gerüchte um den Vater des Königs und seine Herkunft nie verstummt waren, hielten doch alle die Wahrheit für abwegig. So etwas konnten die Götter nicht wollen. Sogar der Kamrateng selbst akzeptierte ihn in Diavakaras Nähe, wenn er dem vermeintlichen Mönch auch mit Vorsicht begegnete.
Vor drei Jahren waren sie fast am Ziel gewesen, ehe Aruns Sohn einen fingerlangen Splitter des zerstörten Lingams verschluckt und überlebt hatte. Seitdem galt der Kamrateng als unverwundbarer Liebling der Götter. Nach diesem herben Rückschlag mahnte der Sadhu zur Geduld, nur wartete Viseth bereits viel zu lange. Er war alt geworden, des Versteckens müde und wollte endlich sein altes Leben zurück. In Wahrheit mochte er auch nicht Kalima an der Macht sehen, sondern sich selbst. Seit dreiundvierzig Jahren bestimmte ein Anderer über sein Schicksal und das sollte sich ändern. Er musste etwas wagen, er ertrug es einfach nicht mehr, dem Sklavensohn zu huldigen, und doch konnte seine Entscheidung, heute zum ersten Mal den Weg seines Vaters zu gehen, ihn den Kopf kosten – oder noch weitaus Schlimmeres. Bharata Rahu durfte nicht einmal ahnen, dass sein Schüler ihn verriet, denn die Strafe würde furchtbar sein. Ja, er hatte Angst und wollte es nur hinter sich bringen.
Eine Fischersfrau stellte sich ihm unter einer Fackel in den Weg. »Ich habe saftigen Tintenfisch, Pu, Krabben, Stichlinge, leckere Riesenbarben, Delfine, Elefantenfische und gewaltige Weichschildkröten. Alle heute von den Bäumen gepflückt.«
Das schien möglich, der Monsun war über das Land gezogen und das Wasser in die Barays abgeflossen. Aber der Geruch der Tiere strafte sie Lügen. Viseth rümpfte die Nase und schob sich weiter, nur um einen Augenblick später vor einer handlangen Klinge zurückzuzucken.
»Soll ich dein Gesicht abschaben, Pu, sonst siehst du bald aus wie ein Affe.« Die Tea hinter dem geschwungenen Messer lächelte ihn an, den grellroten Mund vom Betelkauen verunstaltet. »Komm´ schon, du verstehst doch einen Scherz! Wer keinen Spaß zu schätzen weiß, den holen die Sorgen ein.«
»Ach, der Herr wird zum Affen?«, übertönte sie eine kleine Frau an einem Stand in der Nähe. »Dann bedient euch! Orangen, Ananas, Bananen ...«
Er floh vor dem Gelächter, bis er eine Gasse erreichte, in der sich die Menge staute. Dort wurde neben offenem Feuer Reis gehandelt, auf breiten Blättern zu Bergen aufgehäuft, und obwohl die Körnchen zum Wegblasen dünn schienen, überboten sich die Marktschreier. »Greift zu! Sogar der Kamrateng isst nicht besser!«
Die schamlose Lüge kümmerte Viseth nicht. Er wollte endlich den Chinesen finden, so schwer konnte das doch nicht sein. Aber wohin er auch blickte, waren da bloß schreiende, gestikulierende Menschen vor der Dunkelheit. Freudiges Geschrei begrüßte einen Gaukler mit seinen halbgezähmten Affen, eine Frau tanzte mit Ziegenhörnern an den Füßen über ein schlaffes Seil. Unversehens stapfte ein mausgrauer Stier auf ihn zu. Das heilige Tier kaute ein gestohlenes Bananenblatt und kannte seine Vorrechte. Notgedrungen wich Viseth aus, während ihm der allgegenwärtige Gestank fast die Sinne raubte.
»Pu, du solltest auf dem Markt nicht alleine kaufen.« Mit einem verschmitzten, zahnlosen Lächeln drängte sich ein Mädchen an seine Seite. »Wenn dich hier niemand kennt, bekommst du nur einen Sonderpreis und der macht dich arm.«
Bei diesem Wort fiel Viseth sein Geldbeutel wieder ein, der für jeden Langfinger in Yasodharapura ein lohnendes Ziel sein musste. Als er mit der Hand über sein Bein strich, unterdrückte er ein erleichtertes Stöhnen.
»Was hältst du von mir?!« Die Kleine funkelte ihn an. »Wir waren fleißige Ölpresser, aber der Ochse war immer so stur. Wir legten ihm Ringelblumen für die Götter auf den Nacken und auch auf den großen Balken unterm Dach, doch wir verdienten trotzdem zu wenig. Dann kamen die Blattern zu meinen Eltern und heute bin ich eine ehrbare Kaufberaterin. Für ein bisschen Reis nenne ich dir die wichtigsten Regeln. Nein? Na gut, so betrachte das als Vorleistung: Also, zuerst musst du dich bei verschiedenen Frauen nach dem Preis erkundigen, aber niemals in der Nähe. Oder du bist ein Reh und das wollen alle gemeinsam fangen. Kaufst du mir jetzt eine Handvoll?«
»Lass´ mich zufrieden, schmutzige Göre.«
»Du warst doch noch nie hier!« In ihrem Blick lagen Trotz, Verbitterung und der unstillbare Lebenshunger einer Waisen.
»Wie kannst du wissen, dass sie dich nicht ausnehmen? Wie willst du feilschen? Was machst du, falls sie über dein Angebot lachen? Dann ahnen sie nämlich, dass du keine Ahnung hast. Was tust du, wenn sie sofort einverstanden sind? Möchtest du zu viel ausgeben? Nur, wie oft wirst du den Preis herunterhandeln? Sechsmal, siebenmal? Dann kriegst du nie gute Ware, und niemand verkauft dir irgendetwas mehr als einmal. Und das ist wichtig, denn nur Stammkunden bekommen das, was sie bezahlen.«
In der Tat wusste Viseth all das nicht. Er hatte einen großen Teil seines Lebens im Kloster verbracht und überhaupt noch nie selbst eingekauft. Andererseits würde er mit dem Chinesen wohl nicht feilschen müssen und er brauchte keine Zeugin. Aber vielleicht konnte sie ihn führen. Also öffnete er umständlich seinen Geldbeutel und zog einen im Fackelschein schimmernden Tomlöng heraus. »Ich brauche deine Dienste nicht, du Wurm. Bring´ mich nur zur Sze.«
Das Mädchen starrte auf seine Hand. Was dort lag, machte sie einen Mond lang satt. »Was willst du denn bei dem?« Sie runzelte kurz die Stirn, ehe sie rasch den Kopf schüttelte. »Ich meine, ist das alles?« Sie grinste. »So komm´ mit.« Sie schnappte nach der silbernen Münze, aber der ältere Mann schloss rechtzeitig die Faust.
»Erst zu Sze ...«
»Na gut.«
Grinsend trat sie ihm auf den Fuß und besiegelte damit ihr Geschäft. Dann drehte sie sich um und bahnte ihm mit bemerkenswertem Geschick einen Weg durch die Menge. Sie arbeitete mit Ellbogen, Knien und Füßen und war stets schon verschwunden, bevor sich die getroffenen Menschen nach dem Störenfried umdrehten. Viseth wahrte eine unbeteiligte Miene, während er ihr folgte, und kam so erstaunlich rasch voran. Ihm fiel auf, dass vor allem Frauen Handel trieben, Männer sah man selten und fast immer waren es Chinesen. Doch wer war Sze? Aus seiner Erinnerung wusste Viseth nur noch, dass dieser Mensch sehr alt sein musste.
Bald verließen sie die überfüllten Gassen und traten auf einen breiten Weg. Die Auslagen der Pfeifenrohrmacher, Kupferschmiede und Seidenhändler schienen wertvoller, die edelsten Metalle und Stoffe wurden sogar von bewaffneten Dienern bewacht. Sie kamen zu einem heruntergekommenen Platz, dessen Stirnseite ein schmuckloses, steinernes Portal überragte.
»Da findest du Sze.« Die Kleine wies auf den Durchgang. »Gib mir jetzt das Geld!«
»Woher weiß ich, dass du mich nicht betrügst? Nein, du kommst mit.« Aber ehe er sie packen konnte, entwand sie sich seinem Griff und rannte weg.
»In drei Leben gehe ich da nicht rein, du Sohn einer Eule!«, rief sie noch über die Schulter und verschwand zwischen den Beinen der Leute. Anscheinend fürchtete sie sich wirklich, da sie das Silber vergessen hatte.
Achselzuckend stopfte Viseth die wertvolle Münze wieder in seinen Beutel. Er ahnte, was dem Mädchen solche Angst machte, denn genau aus diesem Grund musste er den Chinesen sehen. Langsam näherte er sich dem Portal. Unter dem rechten Kragstein erkannte er im Fackelschein einen geschwärzten Ziegel, in den das Abbild eines Löwen geschlagen war. Als er sich herabbeugte, sah er die gespaltene Zunge aus dem Rachen des Tieres ragen. Er nickte. Zweifelsohne hatte sein Vater an diesem Ort Geschäfte erledigt.
Der Durchgang führte zu einem halbverfallenen Gemäuer, das jedoch bloß als Fassade diente. Viseth erinnerte sich sofort, als er das Innere betrat und im Zwielicht den Kaufmann erblickte. Wie hatte er diese Gestalt vergessen können? Trotz der Jahre hatte sich Sze kaum verändert, ein sehr kleines Männlein, das sich in reich verzierte Seide kleidete.
Der Herr des Marktes sprach mit zwei anderen Männern, die neben Haumessern bescheidene, saubere Sampots trugen und wohl seine Diener waren. »Wenn ich so darüber nachdenke, liegt mein zweiter Sohn vielleicht richtig. Er will ins Sklavengeschäft einsteigen, da winken höhere Profite, meint er. Ich bin mir da nicht so sicher, aber immerhin sieht er die Welt und nicht nur diese Stadt.«
Sze beherrschte den Handel am Bakheng schon so lange, dass sich niemand erinnern konnte, wie es ohne ihn gewesen war. Er wachte über die Geschäfte und vertrieb gegen ein bescheidenes Entgelt unerwünschte Konkurrenten der Hökerinnen. Wer hier etwas verkaufte, tat dies mit seiner Einwilligung oder nur einmal ohne sie, ehe sein Fleisch die Bäuche der Krokodile im Stadtgraben füllte. Es gab etliche chinesische Kaufleute in Yasodharapura, mehr oder weniger anständige Männer, die sich niedergelassen und Frauen aus Kambuja genommen hatten. Allein Sze war anders. Er führte ein Heer von Dieben, Erpressern und Mördern und hatte Chinesinnen geheiratet, und zwar fünf hintereinander, deren Söhne ihn nun in den verschiedenen Bereichen seiner Geschäfte unterstützten.
Der Kaufmann schien seinen Kunden erwartet zu haben. Er eilte auf Viseth zu, hob den Kopf und starrte ihn mit milchweißen Augen an. »Sze, zu Diensten. Alles, was Menschen wünschen könnten, findet ihr an diesem Ort. Ich freue mich, dass ihr den Weg zu meinem bescheidenen Geschäft gefunden habt. Mit welchem edlen Gast genieße ich die unverdiente Ehre?«
Also wusste der Chinese bereits, dass er es mit einem Mann zu tun hatte. »Oh, ich denke, mein Name tut nichts zur Sache.«
»Allzu verständlich in diesen Tagen. So schenkt mir zumindest einen Eindruck eurer gewiss geistvollen Züge ...«
Schneller, als sich Viseth abwenden konnte, hob Sze die Hände und strich mit sanften Fingern über sein Gesicht. Einen Moment später runzelte der Chinese die Stirn, räusperte sich und machte eine herrische Geste.
»Wie ihr wünscht, Großvater Sethey.« Verbunden mit einigen Verbeugungen ließen die Knechte sie allein.
»Ich kenne den werten Herrn nicht? Aber vielleicht den Vater, mag das sein? Wie auch immer, was begehrt der hoch geschätzte Gast? Kümmert Euch Gold oder ein anderes edles Metall?« Mit überschwänglichen Gebärden wies er in die verschiedenen Ecken des von Fackeln erleuchteten Geschäftes, ehe er in den nächsten Raum vorausging, ohne auf eine Antwort zu warten. »Folgt mir, Verehrtester, wenn es beliebt. Wollt Ihr meine Seide befühlen?« Sze zeigte auf einen enormen Stapel schimmernder Rollen und trat bereits in einen weiteren Durchgang. »Womöglich sucht ihr die bezaubernden Lackarbeiten aus meiner fernen Heimat?«
»Nein.«
»Vielleicht eine elegante Vase? Niemand kann dem Tangsancai widerstehen, der unsterblichen Verbindung aus Grün und Violett.« Sze führte durch sein beeindruckendes Lager, einem mit Schätzen überladenen Labyrinth, und bewegte sich dabei schnell und sicher. »Ich führe alles, was die Seidenstraße des Meeres aus meiner Heimat ins Delta spült, etwa feines Papier, Öle und Moschusdüfte. Oder seid ihr an praktischeren Dingen interessiert? Hier bekommt ihr jede erdenkliche Ware aus Kupfer und Eisen, wie Schüsseln, Siebe und Nadeln. Vielleicht ein Kamm aus edlem Holz für die gewissenhafte Frau und eine Matte, auf der sie ihre Dankbarkeit zum Ausdruck bringen kann? Oder ein Bett, falls ihr dies vorzieht. Ich könnte es mir sogar auf einem Tisch vorstellen, wenn ihr versteht, was ich meine.« Er stieß ein meckerndes Lachen aus und rieb sich den Bauch. »Jedenfalls findet ihr all das an diesem Ort, alles, selbst die prächtigen Sonnenschirme, mit denen sich unsere Würdenträger schmücken.«
»Nein.«
»Ah, wie dumm ich bin! Ihr wollt verkaufen?« Der höfliche Ton war verschwunden. »Ich nehme nur Kupfer und Zinn aus Kulen, auch Aloe und Kardamom. Schnitzereien aus Elfenbein und Federn von Pfauen und Eisvögeln, aber keine Einzelstücke. Alles andere könnt ihr gleich wieder mitnehmen.«
»Ich suche eine Kleinigkeit, die man nur bei jemandem bekommt, der das Zeichen des Löwens ehrt.«
Szes Kopf zuckte hoch, die toten Augen stierten ihn an. »Darüber spricht man nicht.« Nach einer Weile nickte der kleine Greis. »Nun gut, falls es also um delikatere Geschäfte geht, solltet ihr mir vielleicht doch den geschätzten Namen sagen.«
»Den müsst ihr nicht wissen.«
Der Chinese überlegte und lächelte dann. »Ich denke wirklich, dass ich euren Vater kannte. Sri Nandamarveda war ein wahrhaft großer Fürst und er hatte einen Erben, wenn ich mich nicht täusche. Und dieser Sohn war der heldenhafte Vater unseres Kamratengs. Aber er ging in sein nächstes Leben oder nicht?«
»Ihr sprecht in Rätseln.«
»Und ich hörte, dass vor einiger Zeit ein weiser Mann in Yasodharapura auftauchte. Ein Mönch, der dem Vater des zweiten Suryavarmans«, Sze verbeugte sich, als er den Namen des Herrschers in den Mund nahm, »verblüffend ähneln soll.«
»Ich weiß nicht, wovon ihr redet.«
»So verzeiht mir, ein Missverständnis.« Sze verneigte sich erneut. »Sklaven, der Herr will gehen.«
Sofort traten die Knechte aus den Schatten, die gekrümmten Haumesser gezückt.
Viseth hob die Hände. »Schön, ich bin Tharavith Bunneang, alter Mann, Gehilfe des Purohitas. Und ihr werdet mir jetzt zu Diensten sein.«
Wieder stieß Sze ein meckerndes Lachen aus, schickte die Bewaffneten jedoch nicht weg. »Allzu gerne. Ich denke, ihr begehrt das Gleiche, was auch Sri Nandamarveda und die zu den Göttern gegangene Mutter des Kamratengs von mir wollten. Ihr solltet ehrlich zu mir sein.«
»Was meint ihr?«
»Ich meine, mich zu erinnern! Sitadevi versicherte mir in glaubhaften Worten, dass ein Sklave den Platz des jungen Fürsten eingenommen und sie zu Willen gezwungen habe. Und ich meine, dass ich Viseth Nandamarveda als Kind sah, als er mit seinem Vater mein Geschäft beehrte. Damals besaß ich noch mein Augenlicht, und auch wenn ich die Schönheiten der Welt nicht mehr sehen darf, täusche ich mich selten.« Er hob die Finger vor die toten Augen, bis die Seide von seinen Handgelenken rutschte. »Ihr scheint alle Sonnenschirme verloren zu haben, Viseth Nandamarveda. Erzählt mir von eurem gewiss einzigartigen Leben! Dafür gewähre ich einen Rabatt, den sonst nur Stammkunden erhoffen können.«
»Ihr glaubt an alte Gerüchte! Ich bin niemand anderes als Tharavith Bunneang, der ...«
»Der engste Vertraute des Purohita, ich weiß. Und ihr wollt etwas kaufen, das es nur bei mir gibt, nicht wahr? Ein endgültiges Schicksal, deshalb waren auch euer Vater und Sitadevi bei mir.«
»Ich möchte mich nicht wiederholen.«
»Wer will das schon? Welchen Preis seid ihr denn bereit zu zahlen?«
»Wie viel verlangt ihr?«
Sze verzog die dünnen, blutleeren Lippen zu einem Schmunzeln. »Das hängt ganz davon ab, was für ein Ende ihr bevorzugt: Von ewigem Schlaf bis zu brennendem Drachenfeuer kann ich alles anbieten.«
»Das Endgültigste.«
»Zweihundert Naen,« erwiderte Sze trocken. »›Drachenfeuer‹ ist unfehlbar und unvorstellbar schmerzhaft. Verzeiht, ich nehme nicht an, dass ihr diese Summe aufbringen könnt, ihr seid weder König noch Prinz.«
Viseth verbarg seine Bestürzung. Mit diesem Silber ließ sich eine kleine Armee besolden. »Lässt sich darüber handeln?«
»Über einen derart edlen Tod sollte man nicht feilschen, aber ich mache Euch gerne einen Sonderpreis. Allerdings müsstet ihr dann auch euren wahren Vater nennen.«
Viseth winkte ab. »Den kenne ich selbst nicht. Ich erinnere mich nur an ein Leben im Kloster. Zuvor wurde ich schwer verletzt und was früher war, weiß ich nicht mehr.«
»So sagt mir zumindest, wem ihr dieses Schicksal gönnen wollt?«
»Was denkt ihr denn?! Nein, ich leide an einer Krankheit, die mich quält und die selbst der Purohita nicht heilen kann.«
»Interessant, ihr seid der erste Kunde, der im Feuer des Drachen verglühen will. Aber wie ihr meint. Jedenfalls kommt nur Ewiger Schlaf infrage, wenn ich den Inhalt des Beutels unter diesem Sampot richtig einschätze.«
»Woher ...«
»Ich verfüge über andere Augen, viele Augen. Ich wusste bereits um das Silber in eurer Börse, als ihr euch noch durch das Gewühle zwischen den Ständen geschoben habt.«
»Ich will ›Drachenfeuer‹.« Viseth reckte das Kinn. »Ich spreche in Diavakaras Ohr, das wisst ihr. Also beleidigt mich nicht!« Er musste ein Schlucken unterdrücken, so dreist klangen die Worte im Angesicht der bewaffneten Diener in seinen Ohren.
»Nichts liegt mir ferner. Aber ich gehe am Bakheng schon seit mehr als fünfzig Jahren meinen Geschäften nach und überlebte sogar die Plünderungen der Cham und Mon. Glaubt ihr, dass ihr mir drohen könnt?« Der Chinese schwieg einen Moment und schien ihn zu betrachten, dann winkte er in die Dunkelheit.
Einer der Sklaven brachte eine schlanke Phiole, in der eine hellgrüne Flüssigkeit glitzerte, und stellte sie auf einen Tisch aus Ebenholz.
Sze streckte die Hand aus. »Gebt mir euer Geld, es ist viel zu wenig, aber ich kannte euren Vater und er war zeitlebens mein bester Kunde.«
»Ist das Drachenfeuer?«
»Ihr bekommt, was ihr verdient.«
Viseth betrachtete das Männlein, das ihn an eine Säule erinnerte, so hart wirkten dessen Züge. Da er hier nicht mehr erreichen würde, schnürte er seufzend den Beutel ab.
Sze befühlte das Silber und reichte es schließlich an den Diener weiter, bevor er sich mit undeutbarer Miene verabschiedete. »Noch einen kostenlosen Rat: Ihr solltet euch die Haare schneiden lassen. Ihr habt ja nichts zu verbergen, Tharavith Bunneang.«
Das meckernde Lachen verfolgte ihn, bis er wieder vor dem Portal stand. Er spuckte auf die Fratze des Löwens mit der gespaltenen Zunge – und ärgerte sich im selben Atemzug über die kindische Geste.
Stunden schienen vergangen, denn die Nacht war schon alt. Tief in Gedanken schlenderte er am Markt vorbei in den Norden, bis er die äußere Mauer des Baphuons erreichte. Er grüßte die Männer der Heiligen Garde, betrat den von schier zahllosen Fackeln erleuchteten Innenhof und blieb stehen. Sangramas gewaltiges Standbild schien ihn zu verspotten. Kambujas größter Soldat hatte Arun vor vielen Jahren nach Yasodharapura gebracht, ihn zu seinem Leibdiener gewählt und gerettet – vor Viseth und seinem Vater. Der alte Stratege hatte einen schmutzigen Khond beschützt! Was wäre geschehen, wenn er stattdessen den Dhamastras gehorcht hätte? Jetzt bemerkte Viseth endlich die Menschenmenge, die aus dem Portal des Palastes strömte. Eine ganze Hundertschaft der Leibwache sicherte rasch den Platz, den Sklaven mit Blüten bestreuten. Schon hörte er Zimbeln, Flöten und Trommeln, die unweigerlich das Erscheinen des Kamratengs ankündigten.
Die Sklavenbrut kommt ... Er konnte Chantrea nicht mehr ausweichen und es gab keinen anderen Zugang zum Baphuon, aber huldigen durfte er ihm auch nicht. Wenn Bharata Rahu erfuhr, dass er dem falschen Herrscher hier begegnet war, würde er Fragen stellen. Schaudernd versteckte Viseth sich hinter der übergroßen Stele.
Yan Ji zappelte in seinen Armen. »Großer Himmel, das ist unsagbar peinlich!«
»Ach was!«, beruhigte sie Chantrea, froh, dass er auf den Weg achten und sie nicht ansehen musste. »Du brauchst dich für überhaupt nichts schämen, du bist ihre Königin.«
Sie knurrte bloß.
Geduld! Nur noch ein paar Tage ... Was blieb ihm auch übrig? Sogar Geschenke konnten Yan Jis zuletzt schwierige Launen nicht mehr besänftigen. Dabei besaß seine Frau anscheinend den Ehrgeiz, täglich einen nicht unbeträchtlichen Teil dieser Präsente zu tragen. Perlenketten bedeckten ihren Körper vom Hals bis zu den Hüften, bestickte Seide umschlang die Beine, kostbare Gehänge zogen ihre Ohren in die Länge, an jedem Finger glitzerten mindestens zwei Ringe, breite Reifen klirrten an Armen und Fesseln und ein spitzes juwelenbesetztes Diadem krönte ihre nachtschwarzen Haare. All diese Kleinodien sollten die sonst zierliche, nun jedoch aufgetriebene Gestalt verbergen, denn Yan Ji erwartete ihr erstes Kind. Nun rächte sich, dass schon Lü Zetian am Willen ihrer Tochter verzweifelt war. Viel zu spät gebrochen und gebunden, waren die Kinderfüße nie richtig verheilt, und seit einiger Zeit konnte Yan Ji nicht mehr ohne Hilfe laufen. Ihre Mutter hatte diese Probleme vorausgesehen, und auch dieser Umstand hob Yan Jis Stimmung nicht.
Also hatte Chantrea kurzerhand beschlossen, seine Frau aus ihren Gemächern herunterzutragen. Eine zärtliche Geste, die allerdings einen enormen Aufwand verursachte, an den er nicht gedacht hatte: Im Baphuon lebten tausende Menschen, und wenn der Kamrateng einen Schritt tat, hörten es alle. Jetzt trug der Herrscher seine Königin aus dem obersten Stockwerk auf den Hof und die Welt schien kopfzustehen. Obwohl sie den Palast noch gar nicht verlassen hatten, schaukelten gespannte Sonnenschirme vor, neben und hinter ihnen über die Treppe. Die edlen Stoffe schwankten auf rot lackierten Holzstangen, an deren Spitzen funkelnde Blüten und Schmetterlinge thronten. Vierzig Diener hielten diese Zeichen des Rangs an kunstfertig geschnitzten Griffen, andere schwangen Fächer aus golddurchwirktem Brokat. Alle hatten vor den Gemächern der Königin gewartet, sich mehrfach zu Boden geworfen und seitdem geschwiegen. Niemand durfte die Göttlichen ansprechen oder auch nur ansehen. Chantrea hatte sich längst mit der allgegenwärtigen Verehrung abgefunden. Wie selbstverständlich trug er die Weltenschlange am Finger, den Ring, den sein Vater Viseth Nandamarveda abgenommen hatte. Und jeden Morgen ließ er sich eine Mitra auf die zusammengebundenen Haare setzen, ehe Sklaven seine Fußsohlen und Handflächen aufs Neue mit roter Farbe bestrichen. All das nahm er an guten Tagen kaum wahr. Er war fünfunddreißig Jahre alt und herrschte seit acht Jahren, drei Sommer zuvor war er gekrönt worden und hatte seine Frau gewählt. Fünf Jahre jünger als er, war Yan Ji seine kleine Schwester und würde es immer bleiben. Sein Vater Arun hatte ihn vor dem Bruderkampf in Kambuja beschützen wollen und ins Reich der Mitte geschickt, damit er dort als Pflegesohn eines berühmten Arztes aufwachsen konnte. Dann hatte jener Wu Ben geheiratet und seine Gattin Lü Zetian hatte ihm bald darauf ein leibliches Kind geschenkt. Zuerst war der adoptierte Bruder eifersüchtig auf das Mädchen gewesen, später hatten sie Vertrauen zueinander gefasst, Freundschaft geschlossen und schließlich ihre Liebe entdeckt.
Nur barg das Leben an der Seite eines Gottkönigs gewisse Schwierigkeiten. Natürlich befremdete es auch ihn noch manchmal, wenn er keine Augen fand, die seinem Blick begegneten. Dennoch vergaß er inzwischen häufig, wie vollständig sie die Tage ihrer Untertanen beherrschten. Yan Ji hingegen litt unter dem Aufwand, den Sklaven und Teas um die künftige Mutter des Yuvarajas trieben. Sie hasste ihre Unselbstständigkeit, obwohl ihr durchaus beeindruckender Bauch sie mit Stolz hätte erfüllen können. Als Witwe eines Neffens des Himmelssohnes kannte sie die allgegenwärtige Ehrerbietung, allerdings war ihr das Ausmaß immer noch fremd, mit dem in Kambuja der Heiligen Familie gehuldigt wurde. So fiel Yan Jis Laune mit jeder Stufe, die ihr Mann durch das Treppenhaus nahm – vorbei an zahllosen stummen Menschen, mehr.
»Pass auf!«, warnte sie, als er fast über einen brüchigen Stein gestolpert wäre. »Du trägst auch unser Kind!«, zischte sie in ihrer Muttersprache. »Vergiss das nicht!«
Schweigend schüttelte Chantrea den Kopf, als zwei Leibdiener ihn stützen wollten.
»Wenn dieser sogenannte Palast nicht einer Ruine gliche, könnte ich selbst gehen.«
Na sicher. Warum schimpfst du nicht mit deinen Füßen?!
Doch Yan Ji lag nicht gänzlich falsch. Der erste Suryavarman hatte den Baphuon als Residenz seiner Familie in viel zu kurzer Zeit errichten lassen. Damit nicht genug, war Yasodharapura während des Bruderkampfes von den Cham und Mon geplündert worden und diese Raubzüge hatten auch die Grundfesten des Gebäudes erschüttert.
»Das wird sich ändern, warte nur. Ich will den Daming übertreffen.«
»Du bist albern ...«
Der Daming, fünfzehn Generationen zuvor als Sommersitz der Tang errichtet, war mit mehr als vierzig Hallen und Pavillons Chinas größter und herrlichster Palast gewesen. Die gesamte Sippe des Himmelssohnes hatte in diesem großartigen Zentrum des Reiches residiert, bis die Dynastie mit all ihren Prachtbauten untergegangen war.
»Allein die Terrasse, auf der die Haupthalle stand,« merkte Yan Ji wieder auf Khmer an, »erhob sich zehn Männer über den Erdboden. Wie willst du das schaffen?«
»Ich weiß es noch nicht, doch es muss gelingen.« Seit den Jahren in der Akademie trug er diese Vision mit sich. Auf dem Lushan hatte er die Ausbildung zum höheren Beamten durchlaufen und war tief in die chinesische Geschichte und Kultur eingedrungen. Manches hatte ihn befremdet, Einiges sogar abgestoßen, aber Vieles eben auch fasziniert. Und sein Traum war es, die legendäre Stadt der Tang zu übertreffen. Changan sollte größer und schöner wiedererstehen und mit dem Daming, seinem Palast der Götter, würde es beginnen. Doch leider musste er von all dem noch schweigen, bis er die Nachricht erhielt, auf die er seit Tagen ungeduldig wartete. Also wechselte er das Thema und versuchte es mit einem Kompliment: »Die Dichter verehren dich, wusstest du das? Du sollst reiner duften als die Blüte des Nachtlotos.«
»Lass´ diese Speichellecker verbannen! Ich stinke bereits nach Schweiß, wenn ich mich nur auf die Seite drehe!«
»Du seist die liebreizendste aller Königinnen, meinen die Leute, und ich finde, du duftest nach Yasmin.«
»Unfug!«, knurrte sie an seiner Brust. »Ich gleiche einer dieser riesigen Schildkröten und wer das bisher nicht ahnte, mag es dank Dir jetzt sehen.«
»Du überstrahlst sogar Mond und Sterne in goldenem Schein.«
»Hör´ gefälligst auf, du machst dich nur über mich lustig. Ewiger Himmel, wenn ich es bloß hinter mir hätte.«
»Es wird ja nicht mehr lange ...«
»Unglaublich, dass ich mich darauf eingelassen habe. Ich fange an, es zu bereuen.«
»Sag´ das nicht!«
»Wahrscheinlich glaubte ich, dass es ohnehin nicht klappen würde, nach all den Jahren.«
In denen dich Anshi quälte und missbrauchte. Aber auch das sagte er nicht, denn immerhin waren sie auf dem Weg zu seinem Grab, wo Yan Ji dem Geist ihres ersten Mannes opfern wollte. Sie fürchtete seine Rache, jetzt, wo die Geburt anstand.
Weil ihm keine Wahl geblieben war, hatte Wu Ben die Liebe seiner Kinder einst verboten. Da der Arzt viele Sommer zuvor die Mutter des Himmelssohnes kuriert hatte, konnte er die versprochene Ehrung nicht ausschlagen. So hatte Yan Ji den dünkelhaften Zhao Anshi heiraten müssen, einen Neffen des Kaisers, der sie zwar begehrte, aber zugleich ihre Herkunft verachtete. All das hatte Chantrea nicht gewusst. Verbittert war er nach Kambuja zurückgekehrt – zu seinem wahren Vater, den er damals nur als Viseth Nandamarveda gekannt hatte. Seine kleine Schwester hatte er erst zehn Jahre später wiedergesehen. Als geweihter Herrscher hatte er eine hochrangige Gesandtschaft des Drachenthrones empfangen und neben dem Prinzen auch dessen Frau begrüßt – Yan Ji. Anshi hatte sich beschmutzt gefühlt von den Man, den Barbaren des Südens, und so war es leicht gefallen, ihn zu provozieren. Chantrea hatte ihn im Zweikampf getötet und seine Königin gewonnen.
Obwohl Yan Ji die bitteren Demütigungen nie vergeben hatte, achtete sie darauf, dass der Geist des Toten sich nicht beschweren konnte. Dafür hatte sie auf dem Platz vor dem Baphuon ein Mausoleum und zwei Altäre errichten lassen. In jedem Jahr opferte sie dort an den Tag- und Nachtgleichen, die Astrologen seit der Herrschaft der Zhou nach dem Mondkalender festlegten.
Jetzt im Frühling mussten sie vor der Morgendämmerung den Sonnenaltar besuchen. Und so trat Chantrea im matten Zwielicht vor das Hauptportal des Palastes.
»Lachhaft, diese Schirme,« spottete Yan Ji an seiner Brust, »findest du nicht? Es ist noch tiefe Nacht!«
»Vielleicht, aber Rituale sind wichtig. Ich frage mich ja auch nicht, ob Anshis verdammter Geist all das essen wird.«
»Sei still, beleidige ihn nicht!«
Vor dem Altar standen im Fackelschein funkelnde Karaffen voller Palmwein und auf schier zahllosen Platten lagen Bataten, Lotossamen, Hühnerschenkel und Reiskuchen. Auf gekochte Krokodile und Würgeschlangen, sonst unverzichtbar, doch im Reich der Mitte unüblich, hatten die Köche mit Rücksicht auf die Herkunft des Toten verzichtet. Damit das Feuer raschere Nahrung fand, waren alle Speisen mit duftendem Öl besprengt worden.
»Du glaubst, es ist eine Verschwendung, nicht wahr? Vielleicht, aber ich gehe auf keinen Fall ein Risiko ein. Wir haben so lange gewartet! Stell´ dir nur vor, Anshis Geist verflucht unser Kind.«
Den Gatten der Geschwätzigen wird eine große Belohnung zuteilwerden ... Obwohl Chantrea nicht an die Wiedergeburt glaubte, ließ ihn das Sprichwort seiner Untertanen schmunzeln.
»Gebieter.«
Ein Offizier der Garde löste sich von den Wachen und warf sich vor seinem Herrscher auf den Boden.
»Sobald ihr den Befehl geben wollt, legen wir Feuer.«
Chantrea nickte und passierte die Soldaten. Er ging noch einige Schritte weiter bis zu der enormen Stele, auf der Sangrama der Ewigkeit trotzte, und setzte seine Frau dann ab.
Yan Ji schaute zurück und wechselte vom Khmer, das sie inzwischen fließend beherrschte, in ihre Muttersprache. »Verblüffend, wie sie dich verehren. Keiner sagt oder zeigt es, aber sie lächeln schon, wenn du ihnen nicht zürnst.«
»Ach, das muss dich nicht wundern. Ich bin einfach viel jünger als meine Vorgänger.« Tatsächlich waren Harshavarman und Dharanindravarman alt und schwach gewesen.
»Du weißt genau, dass das nicht alles ist! Sie glauben an deine Unverwundbarkeit, an den lackierten Reiskuchen.«
Im tiefen Schatten hinter der Stele weiteten sich Viseths Augen bei ihren Worten. So war es also geschehen! Chantrea hatte gar keinen Splitter des Lingams verschluckt, sondern die Götter mit einem billigen Trick betrogen. Das würde den Meister interessieren ...
Yan Ji lachte leise. »Wieso verehrt ihr überhaupt einen Phallus aus Stein? Dieses Aufhebens um euer Lingam ist barbarisch. Du solltest einen Kult wie zu Hause einführen. Allein du wärst der oberste Priester und dürftest zwischen Himmel und Erde, deinen Vorvätern und den Untertanen vermitteln. Rituale über das ganze Jahr, verstehst du? Irgendwann käme niemand mehr auf die Idee, es könnte anders sein.«
»Das klingt gut, dann wären auch die Brahmanen überflüssig.«
»Warum tust du es nicht?«
»Weil wir das beide nicht überleben würden. Unterschätze nicht die Heilige Kaste! Ihre Macht ist in den Köpfen der Menschen mindestens so tief verankert wie dein Glaube, Zhaos Geist damit bestechen zu können.« Er zeigte auf die übervollen Platten und nickte dem Offizier zu. Wenige Augenblicke später brannten die ölgetränkten Opfergaben.
Yan Ji betrachtete die Flammen. Nach einiger Zeit hakte sie sich bei ihm unter. »Willst du nicht auch deinen Vater besuchen? Bitte um seinen Segen für unser Kind!«
»Hm. Er ruht in der Zitadelle der Frauen, dort, wo er Sangramas Schätze fand. Aber ich lasse dich in diesen Tagen nicht allein. Und davon abgesehen kann ich jederzeit mit ihm sprechen.« Als der Qualm sie einhüllte, nahm er sie wieder auf die Arme und trat den Rückweg an. »Möchtest du nicht endlich einen Namen wählen.«
»Ich habe einen.«
»Du weißt, was ich meine. Kambujas Königin braucht einen Namen, der sie mit den Unsterblichen verbindet.«
»Ja, ja, und meine Brüste dürfte ich auch nicht verhüllen.« Nach den Traditionen der Khmer trugen Frauen nur einen Sarong.
»Eine unnötige Sorge, die würde unter all den Perlen ohnehin niemand sehen.«
Sie schnaubte. »Mach´ dich nur über mich lustig. Jedenfalls wäre all das eine Lüge, denn ich glaube nicht an eure Götter. Ich bin keine Man ...«
Wind kam auf. Während sich der Himmel im Osten grau und gleich darauf safrangelb färbte, trat er in das Portal des Baphuons.
Nur noch ein paar Tage ...
»Du trägst die Haare kurz,« bemerkte der Guru, dessen Bart bis zu den mageren Hüften hing, um die ein schmuckloses Wickeltuch gewunden war. »Aus welchem Grund?«
Viseth antwortete nicht, nur ein leichtes Zittern lief um seine Mundwinkel. Seit seinem Sturz vor vielen Jahren fehlten ihm manchmal die richtigen Worte, doch was konnte er auch sagen? Sze hatte ihn erkannt, das irritierte ihn immer noch, aber das war nicht der eigentliche Grund. Warum hatte er es getan? Weil er sich entscheiden musste? Verwirrt schüttelte er den Gedanken ab und stützte den Greis, während sie den Stadtgraben überquerten. Unter ihnen lagen satte zufriedene Krokodile in der Sonne und die Siedlung hinter der Brücke schien jeden Tag zu wachsen. Da es in Yasodharapura keinen Platz mehr gab, zogen Kaufleute und Handwerker vor die Mauer. Ein untrügliches Zeichen für den steigenden Wohlstand nach Ende des Krieges.
Neben ihm schnaufte Diavakara schwer und hatte seine Frage anscheinend vergessen. Das geschah in letzter Zeit häufig. Der Purohita hatte fast hundert Sommer gesehen und die Lebenszeit eines Mannes doppelt erfüllt. Seine Züge glichen den Schluchten des östlichen Gebirges, hinter dem die Cham hausten. Einst ausrasierte Schläfen waren zu einer vollständigen Glatze gewachsen, nur einige Strähnen im Nacken erinnerten noch an den ausladenden Haarknoten, der den Stand des Brahmanen kennzeichnete. Nicht nur sein unfassbares Alter machte ihn zur Legende. Kambujas oberster Priester war der standhafteste Wächter der Dhamastras und hatte schon den Vater des Kamratengs im Bruderkampf gegen die schwachen Herrscher der Vergangenheit unterstützt.
Doch auch der Purohita ahnte nicht, wer sein Gehilfe wirklich war. Einst hatte er die Nandamarvedas den Cham ausgeliefert, damals, bevor Viseths Leben von Arun gestohlen worden war. Später hatte Diavakara den falschen Erben aufgenommen und ihm seine Geschichte und Läuterung geglaubt. Letztlich war es sein Urteil gewesen, an dem alle Gerüchte über die dunklere Haut des jungen Fürsten abgeprallt waren.
Ja, wir wollen nicht deine Schuld vergessen, alter Mann.
Sie ließen die Vorstadt von Yasodharapura hinter sich und liefen zu den bewässerten Feldern, auf denen die Hitze des Nachmittags lag.
»Chantrea macht ernst,« grummelte Diavakara und blieb stehen. Seine ewig traurigen braunen Augen blickten ihn an. »Wusstest du davon? Er lässt den Prasat auf dem Baphuon abtragen, das Haus der Naga!«
»Ja, ein Frevel,« erwiderte Viseth gelangweilt. Ihn kümmerte nicht, wofür der Sklavensohn das Gold brauchte. Der Tempel war bloß ein Ort, an dem die Pläne seines Meisters gescheitert waren. Dort hatte Bharata Rahu den jungen König mit einem verbotenen Ritual an Kalima binden wollen, um ihre Macht zu begründen. Vergeblich, wie so Vieles ...
»Jeden Tag übergeht er unsere Kaste. Er hält mich für geschlagen, für alt und schwach – und damit hat er recht. Ich sollte dich nach Indien schicken. Du musst studieren. Das wird dir helfen, ihm die Stirn zu bieten, wenn ich in mein nächstes Leben gegangen bin. Jayendrapandita, mein alter Lehrer, war allzu eitel, aber klug genug, um mir in meiner Jugend diese Chance zu gewähren.«
»Herr, wie ihr wisst, bin auch ich nicht mehr jung.«
»Es ist nicht zu spät, nicht zu spät. Dort wirst du die vier geheimen Schriften kennenlernen. Sie stammen aus Shivas Mündern und werden seit Äonen von Brahmanen am Ganges an ausgewählte Schüler weitergegeben.«
Du hast diese Ewigkeit gesehen und kannst mir dennoch nicht helfen! Ich brauche keine heiligen Texte, ich brauche ein Wunder. »Euer Vertrauen ehrt mich, aber ich bin kaum dreißig Jahre jünger als ihr.« Er zog den alten Mann weiter.
»Ach was, in deinem Alter wanderte ich noch mit Viseth und seinen Rebellen umher, schlief auf der Erde und war froh über eine Handvoll Reis.«
Viseth und seine Rebellen ... Heute wirst du endlich erfahren, welchen Fehler du vor den Göttern verantworten musst.
Sie näherten sich einem einsamen Findling. Seit der Herrschaft des ersten Suryavarman verschloss dieser Stein den Ausgang eines Weges, der unter dem Stadtgraben hindurch bis in die Kellergewölbe des Baphuon und von dort über dunkle Treppenfluchten in das Schlafgemach des Kamratengs führte. So waren vor langer Zeit die Truppen der Cham in den Palast eingedrungen und hatten die Verteidiger überrumpelt, doch während des endlosen Bruderkampfes in den folgenden Jahrzehnten hatten die Menschen das Geheimnis vergessen, alle bis auf den Sadhu. In seinem Auftrag hatte Viseth damals den neuen Herrscher belauscht und war nur knapp entkommen. Seitdem hatte der zweite Suryavarman die unter dem Findling verborgene Treppe zumauern lassen und ließ den Stein stets bewachen.
Auch jetzt schaute ihnen ein Mann der Garde entgegen. Sein Brustpanzer, geölt und poliert, leuchtete wie eine schwarze Sonne. Als sie näherkamen, stand der Leibwächter auf und verneigte sich demütig.
»Purohita, ich kann meine Ehre kaum begreifen.«
Diavakara nickte dem Soldaten zu, ehe er sich wieder an seinen Gehilfen wandte. »Was suchen wir hier?« Er hatte von diesem Ausgang des geheimen Weges zwar gehört, ihn aber nie gesehen. »Was wolltest du mir zeigen, Tharavith? Wer den Weisen belästigt, beschwört Unheil herauf.«
»Wir warten auf einen Freund ...«
Während der alte Guru noch die Stirn runzelte, bewegte sich der Findling knirschend. Eine geduckte Gestalt sprang aus der dunklen Öffnung darunter, etwas Silbernes blitzte auf, dann hüllte sie heller, fast unsichtbarer Rauch ein.
Viseth hielt den Atem an, zählte bis zwanzig und fing Diavakara auf, als der Greis zusammensackte.
»Rasch!«
Der gezischte Befehl galt ihm und so beeilte er sich, den alten Priester hinter den Findling, durch die aufgebrochene Mauer und schließlich die Stufen hinunterzuziehen.
»Du kannst atmen.«
Die Luft schmeckte feucht und abgestanden, doch der Rauch hatte sich verflüchtigt. Neben ihm fiel die Leiche des Soldaten auf lose Ziegel. Viseth konnte an dessen Körper keine Wunden entdecken, aber er war sicher, dass der Leibwächter tot war. Sein Meister kannte viele Wege, einen Menschen in das nächste Leben zu schicken.
Finsternis hüllte sie ein, als der Findling mit einem erneuten Knirschen die Öffnung verschloss. Noch während sich Viseth fragte, wer den schweren Stein bewegt hatte, legten sich lange Finger auf seine Schulter.
»Die Mauer wirst du später ausbessern, gründlich, verstehst du? Errege nicht Kalimas Zorn! Ich nehme jetzt ihr Opfer, du folgst mir mit dem alten Mann.«
Er gehorchte und trug den betäubten Purohita über den Sand. Obwohl der Greis kaum mehr wog als ein kleines Kind, spürte Viseth bald die Anstrengung. Die Zeit verrann und er wollte gar nicht wissen, was für Tiere unter seinen Füßen knackten. Endlich trat er auf Stein. Sie hatten das Fundament des Palastes erreicht, von hier aus kannte er den Weg.
»Meister ...«
»Was?«
»Wird niemand den Wächter vermissen?«