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FÜR THOR UND ODIN Jütland. Man schreibt das Jahr 943. Nach seinen Taten bei der blutigen Schlacht von Fünen erwartet Ulv Palnatoki, gefährlichster Bogenschütze der Wikingerzeit, seinen Lohn von König Gorm. Er will die Norneborg, die einst seinem Onkel Ottar Jarl gehörte. Dieser ist nun tot, gefallen in der Schlacht bei seiner eigenen Wikingerburg. Doch Gorm hat andere Pläne, er lässt sich auch noch zum König von Fünen wählen, und Ulv geht leer aus. Das kann er nicht hinnehmen! Seine unüberlegte Rache bringt ihn selbst in größte Bedrängnis. König Gorm schickt Ulv nach Britannien, um ihn aus der Schusslinie zu bringen. Mit ihm reisen Gorms Söhne: Harald Blauzahn und Knut Danaast. Sie sollen Kämpfer rekrutieren. Denn bei Gorms Vorhaben, Schonen, Seeland, Fünen und Jütland zu vereinen, ist ein Krieg unvermeidlich … Der zweite Band der Wikingersaga um Ulv Palnatoki. Schwertkämpfer, Bogenschütze, Legende. Faszination pur für alle Fans von Bernard Cornwell, Bjørn Andreas Bull-Hansen und von «Vikings».
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Seitenzahl: 714
Tonny Gulløv
Historischer Roman
FÜR THOR UND ODIN
Jütland. Man schreibt das Jahr 943. Nach seinen Taten bei der blutigen Schlacht von Fünen erwartet Ulv Palnatoki, gefährlichster Bogenschütze der Wikingerzeit, seinen Lohn von König Gorm. Er will die Norneborg, die einst seinem Onkel Ottar Jarl gehörte. Dieser ist nun tot, gefallen in der Schlacht bei seiner eigenen Wikingerburg. Doch Gorm hat andere Pläne, er lässt sich auch noch zum König von Fünen wählen, und Ulv geht leer aus. Das kann er nicht hinnehmen! Seine unüberlegte Rache bringt ihn selbst in größte Bedrängnis. König Gorm schickt Ulv nach Britannien, um ihn aus der Schusslinie zu bringen. Mit ihm reisen Gorms Söhne: Harald Blauzahn und Knut Danaast. Sie sollen Kämpfer rekrutieren. Denn bei Gorms Vorhaben, Schonen, Seeland, Fünen und Jütland zu vereinen, ist ein Krieg unvermeidlich …
Dänemarks blutiger Weg in ein tausendjähriges Königreich. Der zweite Band der Wikingersaga um Ulv Palnatoki. Schwertkämpfer, Bogenschütze, Legende.
Der Autor
Tonny Gulløv verschlang zahllose historische Mittelalter- und Wikingerromane von Autoren wie Ken Follett und Bernard Cornwell, recherchierte drei Jahre lang und sprach mit mehr als zwanzig Experten, bevor er anfing zu schreiben. Als der erste Band seiner Serie «Millennium Kingdom» in Dänemark erschien, wurde das Buch sofort zum Erfolg. Wenig später erschienen seine Bücher auch auf Schwedisch und Norwegisch und eroberten Skandinavien im Sturm. Der Autor lebt mit seiner Familie in Kopenhagen und arbeitet als Chef-Steward bei Scandinavian Airlines.
Die Übersetzer
Justus Carl absolvierte vor dem Schulabschluss ein Auslandsjahr in Schweden, studierte Politikwissenschaft und Romanistik und erlangte den Abschluss Master of Arts in Skandinavistik. Seit 2017 arbeitet er freiberuflich als literarischer Übersetzer aus dem Dänischen, Schwedischen und Norwegischen. Für seine Arbeit wurde er unter anderem mit Stipendien des Deutschen Übersetzerfonds sowie des Literarischen Colloquiums Berlin geehrt. Heute lebt Justus Carl in Heppenheim an der südhessischen Bergstraße.
Frank Zuber hat einen Master of Arts in Skandinavistik, Deutscher Philologie sowie Anglistik. Zehn Jahre lehrte er an der Goethe-Universität in Frankfurt/Main und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Heute arbeitet er als freier Übersetzer für Belletristik und Sachbuch aus dem Dänischen, Schwedischen und Norwegischen. 2018 wurde er von der norwegischen Literaturförderung NORLA für seine Übersetzungen ausgezeichnet. Frank Zuber lebt in Wiesbaden.
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel «En konges ætt» im Forlaget McGUGL, Kopenhagen.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juni 2024
Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«En konges ætt» Copyright © 2017 by Tonny Gulløv
All rights reserverd
Redaktion Maike Dörries
Mitarbeit Leonie Roth
Karte «Land der Dänen» Peter Palm, Berlin
Karte «Britannien» Daniel Sauthoff
Covergestaltung HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich, nach dem Original von McGUGL Denmark
Coverabbildung Illustration Stinne Fuglsbjerg
ISBN 978-3-644-01704-7
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für Anette, Anna und William
Ich bin Ulv, Sohn von Palna Jarl von Wenden und Ingeborg Ottarsdatter, Enkel von Ottar Jarl dem Älteren von Norneborg bei Odins Vi. Manche nennen mich auch Palnatoki Jarl, vor allem jene, die mich fürchten oder nicht seit meiner Jugend kennen. Mein Vater und meine Mutter sind in Walhall. Zwar nimmt Odin nur selten Frauen in seine Halle auf, aber meine Eltern starben beide weder auf dem Krankenlager noch am Alter. Ein gewaltiger Sturm riss sie aus Midgard, genau wie jener, der meinen Familiensitz Norneborg in Flammen setzte und mich ebenso arm wie vormals hinterließ, als ich in Britannien aufwuchs und drei Jahre als Rudersklave an Bord der Havormen verbrachte. Dass ich die Sklaverei überlebte, ist ein Wunder, welches Odin mir erklären muss, wenn wir uns einmal begegnen, denn ich konnte noch nie meine Zunge im Zaum halten.
Mit siebzehn Jahren half ich meinem ehrenwerten Onkel Ottar Jarl dem Jüngeren beim Kampf gegen Silfraskalli um die Herrschaft über Fünen. Das boshafte Oberhaupt meiner Sippe starb an den Folgen des gleichen Wahnsinns, der viele männliche Nachkommen unserer Familie betrifft. Wie ihn sah ich auch seinen Erzrivalen, den «König der Sølver», in einer Art Kniefall vor König Gorm niedersinken, obwohl er im Grunde nur tot umfiel. Ich sah Irrsinn, Tollkühnheit, Betrug und schlichte Dummheit – ich sah große Häuptlinge aufsteigen und fallen. Der Tod der beiden Jarle sei wohl das Beste für Fünen, meinte Skjalm Hvidelæder. Und er wusste in der Regel besser Bescheid als die meisten anderen. Er stammte aus Seeland und wartete seit Ewigkeiten auf das Ende von Gorms Rivale Sigfred Lejre-König, der über Seeland und Schonen herrschte, damit er zu seiner Familie zurückkehren konnte.
Auf jeden Fall wusste er mehr als ein Bursche von nicht einmal siebzehn Sommern, auch wenn ich mich mit einer Waffe in der Hand viel älter fühlte. Thor flüstert mir ins Ohr, wenn ich wütend werde, und brüllt, wenn ich kämpfe. Meine scharfen Worte haben mich oft in Schwierigkeiten gebracht. Heute höre ich Thor nur noch höhnisch lachen, wenn ich zum Schwert greife, das noch immer an meinem Gürtel hängt und nachts an meinem Bett steht, denn ich weigere mich, eines natürlichen Todes zu sterben. Ich will nach Walhall, weil dort die einzigen Menschen sind, die ich in meinem langen Leben geliebt habe, gemeinsam mit vielen, die ich getötet habe. Habe ich Pech, werden mich meine Kräfte so sehr verlassen, dass ich nicht einmal mehr den Grützlöffel heben kann, bevor ich ihn für immer abgebe. Und die Walküren lassen meinen alten Körper einfach liegen. Aber ich bleibe meinen Göttern Thor und Odin treu! Im Gegensatz zu vielen anderen entsage ich ihnen nicht zugunsten eines Schwächlings mit Nägeln in den Händen und Füßen. Ein Mann, der an Schwäche und andere Dummheiten glaubt, hat kein Rückgrat und ist dazu verdammt, in Niflheim zu enden. Die Götter wissen, wie viele Priester versucht haben, mich mit den listigen Worten einer Kreuzotter von meinem Glauben abzubringen.
Nicht einmal Bischof Poppos hochtrabende Versprechen können mich in den Sumpf hineinziehen, in den er und der Weiße Christus Harald Gormsson gelockt und ihm seine Männlichkeit geraubt haben. Sie mögen mir das Himmelreich geloben und mit dem Fegefeuer und der Hölle drohen, aber meine Götter wohnen in Asgard, genau wie die Sven Haraldssons, einem Mann nach meinem Geschmack.
Doch für all das hatte ich noch keine Worte in jenem Winter, als König Gorm mit über tausend Kriegern nach Fünen und Norneborg kam. Da hatten Ottar und Silfraskalli einander gerade totgeschlagen. Damals wusste ich nur, dass der Drecksack Eskil Einauge mir noch ein Schwert schuldete und dass ich alle Besitztümer niederbrennen wollte, die mein lieber Vetter Ott Ottarsson für sich beanspruchte. So war ich, und so bin ich noch heute – es liegt in der Familie.
Doch nun lasse ich meine Worte in der Reihenfolge fließen, wie sie meinem Gedächtnis entspringen. Edmund der Einfältige, Poppos kleines Miststück von einem Priesterlehrling, wird sie schon ordnen. Er kann das, sonst hätte ich ihm längst den Rücken gebläut.
Genau achtzehn Tage nachdem die zwei mächtigsten Männer Fünens gefallen waren, war ein Thing in Rønninge bei Langeskov anberaumt, auf dem die freien Männer Fünens einen neuen König wählen sollten. Zu Gorms großem Verdruss verlangte ein so wichtiges Treffen den Segen der Götter, weshalb er bis zum nächsten Vollmond warten musste.
Es wäre auch gar nicht früher möglich gewesen, obwohl es milder wurde und der Schnee langsam schmolz. Die Erde musste verbrannt und der Matsch weggeschaufelt werden, um die Toten von Odins Vi halbwegs anständig nach Walhall zu schicken.
Doch war es nicht die Grablegung der Hirdleute, die das Thing verzögerte, sondern die des Jarls, der sich zum König von Fünen erklärt hatte. Silfraskalli sollte in Ladby im Nordosten der Insel bestattet werden, wo das Geschlecht der Alle seine Könige und Häuptlinge begrub. Genau wie sein Rivale, mein ehrenwerter Onkel Ottar Jarl, war er mit der Waffe in der Hand gestorben. Männer wie sie mussten mit ihrem Stand angemessenen Grabfesten geehrt werden, die ihnen einen würdigen Platz in Walhall verhießen.
Ottars Reise von Midgard nach Walhall spiegelte in hohem Grad seinen niederträchtigen Charakter wider. Er hatte jeden verprügelt, der ihm widersprach, und jedem Boten Silfraskallis den Kopf abgeschlagen. Ja, mein Onkel war ein schäbiger, zorniger und gestörter Mann, aber er starb als echter Krieger und wurde gebührend beigesetzt. Nicht pompös, aber gebührend.
Ottar Jarls unbeabsichtigtes, aber dafür umso mächtigeres Leichenfeuer begann auf einer kleinen, vor Norneborg im Eis festgefrorenen Schnigge. Ottars Verwalter Aslak hatte es so schön ausgestattet, wie es das bescheidene Schiff zuließ, doch am Ende griff das Feuer auf die Gebäude über, und ganz Norneborg brannte nieder. So hatte der Drecksack den Stammsitz meiner Familie mit nach Walhall genommen.
Obwohl nur Skjalm Hvidelæder, Torste von Ryesborg und Ymer von meinem Anspruch auf Norneborg wussten, hatte sich mein ebenfalls ehrenwerter Vetter Ott Ottarsson schiefgelacht, als er im Schein der Flammen zu mir hinüberschielte. Ich hatte ihn schon vorher verachtet, aber seitdem hasste ich ihn abgrundtief.
Ott und ich hatten bereits die Klingen gekreuzt, bevor König Gorm in Fünen eintraf, aber Gorm erlaubte mir nicht, ihn zu töten, obwohl er seinen Eid gebrochen und auf Silfraskallis Seite gekämpft hatte. Deshalb betrachtete ich mich als rechtmäßigen Erben und Herrscher von Norneborg, und ich erwartete, dass König Gorm meinen Anspruch unterstützte. Aber Ottar Jarl hatte niemandem Treue und Gehorsam geschworen, auch nicht König Gorm. Deshalb war er kein Gormsmann, und Ott war nicht Gorms Feind. Was meine Laune keinesfalls besserte.
Eigentlich war Silfraskalli viel stärker als Ottar Jarl gewesen, doch mein ehrenwerter Onkel spielte gern Räuber und tötete bei einer solchen Aktion aus Versehen Silfraskallis Neffen. Silfraskalli nahm das so übel, dass er wiederum Ottar töten wollte – nichts Neues, denn fast jeder, der meinen Onkel kannte, wollte ihn irgendwann umbringen, sogar Torste und ich. Ich weiß, wovon ich rede, denn von allen in unserer Familie komme ich Ottars Charakter am nächsten. Darauf bin ich nicht besonders stolz, aber im Lauf der Jahre habe ich gelernt, dass meine Fähigkeit, andere zum Wahnsinn zu treiben, durchaus von Vorteil sein kann, wenn man sie im richtigen Moment einsetzt. Doch daran dachte ich nicht, als Norneborg bis auf die Grundmauern abbrannte und ich vor Wut bebte.
Ich hatte mir vorgestellt, ein mächtiger Herr zu werden, und nun lag die Burg in Schutt und Asche, und ich fühlte mich schlechtergestellt als Torste. Er würde Ryesborg in Jütland von seinem Vater Nils Jarl erben. Torste war der Sohn meiner Tante, und nach vielen harten Worten und einem bewaffneten Kampf waren wir schließlich Freunde und Verschworene geworden, aber ich wollte, dass wir in jeder Hinsicht gleichgestellt waren.
Deshalb hatte ich – ganz im Geiste meines verstorbenen Onkels – große Lust, jemanden zu verprügeln. Am liebsten Ott, den Saubeutel. Nach Silfraskallis Bestattung in Ladby wollten wir so schnell wie möglich zum Allthing nach Rønninge, um der Wahl des nächsten Königs von Fünen beizuwohnen. Das hatte König Gorm befohlen, ehe er mit Nils Jarl, Harde-Gunni und Skjalm Hvidelæder verschwand. Wir hatten keine Pferde, aber wir hatten Ymer, der unser schweres Zelt wie ein Packesel trug. Ich beschwerte mich und fragte, warum Torste unbedingt ein Zelt brauche, worauf er sagte, alle Höfe, Hallen und Scheunen seien während des Things voll.
Eigentlich hatte ich gar nichts gegen das Zelt, ich wollte nur meckern. Meine Gedanken kreisten die ganze Zeit um Norneborg, weshalb ich chronisch wütend war. Und Wut ist weder dem Verstand noch meiner schillernden Persönlichkeit förderlich, denn ich neige nun einmal zu Gewalt und bin äußerst nachtragend. Ich konnte über kaum etwas anderes reden und hatte mir schon zwanzig verschiedene Todesarten für Ott ausgemalt.
Torste und Ymer versuchten, mich abzulenken, indem sie betonten, wie zufrieden Gorm der Mächtige mit uns war, seit er uns mit dem gesamten Heer von Sigfred Lejre-König und Björn Eisenseite auf den Fersen nach Fünen geschickt hatte. Aber gegen meine Wut waren ihre Worte machtlos.
Selbst dass wir die Geiselhaft bei Sigfreds Sohn Vagn sowie Silfraskallis Belagerung überlebt hatten, ehe Gorm mit über tausend Kriegern nach Fünen kam, heiterte mein düsteres Gemüt nicht auf. Nicht einmal das große Fass Bier aus Saxland, das Ymer geklaut hatte, konnte die Gewitterwolke in meinem Kopf fortblasen.
Edmund der Einfältige bekreuzigt sich immer, wenn ich Ymer beschreibe, aber er war mein bester Freund. Seine Spielsucht hatte Ymer zum Sklaven gemacht. Vor vielen Jahren hatte er seinen gesamten Besitz verspielt, danach alles, was er leihen konnte, und am Ende hatte er sich selbst verpfändet. Ymer verliert jedes Spiel, weil er einfach nicht aufhören kann. Zu meinem Glück, denn als ich gefangen genommen wurde und in Ketten auf der Ruderbank neben ihm landete, nahm er sich meiner an. Ich fand später meine Familie in Jütland und gewann die Freiheit zurück. Und meine Tante Heldis, die ich als meine Mutter betrachte, kaufte Ymer für mich. Aber er blieb mein Sklave, zu seinem Schutz, denn die Spielsucht hätte ihn garantiert meine Freundschaft und sein Leben gekostet.
Nun hatte mein Freund ungewöhnlich gutes Bier beschafft und besaß so viel Anstand, Torste und mich dazu einzuladen. Er hatte das Fass von einem Ochsenkarren gestohlen, den ein unachtsamer Bauer kurz unbewacht gelassen hatte, um seine Notdurft zu verrichten. Er hatte sicher nicht damit gerechnet, dass ein Fass von solcher Größe ohne Weiteres verschwinden könne, doch dank Ymers enormer Kraft war es weg, ehe der Bauer seine Männlichkeit wieder in der schmutzigen Hose verstaut hatte.
Ymer öffnete das Fass, füllte den daran festgebundenen Krug und trank, ohne um Erlaubnis zu bitten. Er rülpste, wischte sich den Schaum aus dem Bart und lächelte verzückt. «So ein Bier kannst du auf dieser Scheißinsel lange suchen.»
«Zügle deine Zunge, Ymer, sonst wirst du deine Tage auf dieser Scheißinsel beenden», sagte ich und begann sofort wieder mit dem üblichen Monolog: Norneborg gehörte mir, und nun schuldete Ott mir eine andere Burg. Ymer seufzte tief, und Torste meinte, das sei keineswegs selbstverständlich.
«Ich habe Otts Männer von einem Hof auf halbem Weg zwischen Ladby und Langeskov reden hören. Dort soll Ott mit all seinen schwarz gekleideten Kriegern aus Gotland eingezogen sein», sagte Ymer. Ich trank aus dem Krug, während er fortfuhr: «Sie nennen ihn den Krigerbygd, weil Ott und seine schwarzen Männer ihn vor dem Angriff auf Norneborg eingenommen haben.»
«Kriegerhof!» Ich verschluckte mich, und Ymer nahm mir den Krug ab. Offenbar hatte Ottar Besitztümer gehabt, von denen ich nichts wusste. Eine Burg, die Ott mit größter Selbstverständlichkeit eingenommen hatte.
«Alle Burgen und Höfe von Ottar Jarl gehören mir, egal, wo sie liegen», murmelte ich und suchte Torstes Blick. Er zuckte nur mit den Schultern und meinte, ein Erbstreit ende selten zum Vorteil für alle.
«Und weil Fünen gerade keinen Herren hat, der ein Urteil sprechen könnte, wird die Sache schwierig», fügte er hinzu.
«Oder leicht», warf Ymer ein.
«Wie meinst du das?»
Ymer trank mehrere große Schlucke, ehe er sich zu einer Antwort herabließ, und eröffnete seine Rede mit einem Rülpser.
«Skål», sagte Torste und riet Ymer zu reden, da Geduld nicht zu den Tugenden seines Herren gehöre.
«Oder Klugheit.» Ymer hickste. «Also, wenn kein König oder anderer Herr den Ausgang eines Streits entscheiden kann, ist dann jeder sein eigener Herr?»
Wir sahen ihn mit offenen Mündern an.
«Wenn Ott der Meinung ist, dass Ottars Besitztümer ihm gehören, darfst du dasselbe von dir behaupten. Dann kommt es nur drauf an, wer der Stärkere ist, oder?»
Seine Worte weckten freudige Gedanken an Plünderung, Mord und Vergewaltigung. Ich sah Ott ohne Arme und Beine auf einem Pfahl vor mir, die Rippen in einem Blutadler aufgeklappt.
«Oder der Klügere.» Torste riss mich aus meinen Fantasien. «Ott hat mindestens sechzig Hirdmänner, und wir sind nur drei.»
«Vier mit Harek», warf ich ein, musste jedoch im Stillen zugeben, dass der Unterschied gering war.
«Wo steckt der eigentlich?», fragte Ymer. Ich hatte keine Ahnung, war aber sicher, dass er zurückkommen würde, sobald er sich sicher genug fühlte. Immer, wenn es Ärger gab, verschwand der kleine Marschmann wie ein Hase.
«Er kommt heute Abend», murmelte ich und wendete mich wieder meinen Fantasien zu. «Das kennen wir ja schon.»
Harek kam nicht an jenem Abend, doch als ich am nächsten Morgen aus dem Zelt kroch, saß er am Feuer. Vor ihm auf dem Boden lagen ein Hase und eine fette Taube. Er lächelte zufrieden.
«Harek», sagte ich. «Brate die Taube für deinen Herren.» Sein Lächeln wurde steif, aber er tat, was ich sagte. Harek versorgte uns mit besserem Essen, als wir in den letzten Monaten auf Fünen bekommen hatten, was meine Laune beträchtlich hob. Darüber hinaus glichen sein Gespür für Gefahr und seine Fähigkeit, sich überall hinzuschleichen, unsere Minderzahl ein wenig aus. Beim Anblick der gebratenen Taube lief mir das Wasser im Mund zusammen.
«Wohin gehen wir, Herr?», fragte Harek, schnitt ein Stück dampfendes Brustfilet ab und gab es mir. Ich verbrannte mir die Zunge, aß trotzdem genüsslich die ganze Brust und spülte sie mit dem köstlichen Bier aus Saxland herunter.
«Zu Silfraskallis Begräbnis in Ladeby. So hat es König Gorm befohlen.» Ich rülpste und grinste Ymer an, der aus dem Zelt kroch und wie ein Hund witterte.
«Träume ich, oder steckt dort frisches Fleisch am Spieß?»
«Gib ihm einen Schenkel, Harek», sagte ich und stand auf, um Wasser zu lassen.
Ymer rief mir hinterher: «Eine brustlose Taube mit zwei Schenkeln?»
Harek stammelte etwas Unverständliches, als auch Torste aus dem Zelt kroch.
«Der Trottel hat die ganze Taubenbrust gegessen und uns nur die Schenkel gelassen», sagte Ymer sauer.
«Wer, Harek?», fragte Torste.
«Nein. Der größte Trottel von allen. Und wer mag das wohl sein?»
Ich richtete meine Kleider und ging zurück ans Feuer. Torste starrte auf den Rest der Taube und zeigte auf mich.
«Genau», sagte Ymer sauer und schlug die Zähne in den Schenkel. «Einen größeren wirst du hier nicht finden.» Torste verkniff sich einen Kommentar und befahl Harek, in Zukunft jede Mahlzeit in vier gleich große Portionen zu teilen.
«Hier gibt es jede Menge Essen», sagte Harek und zeigte auf den Wald. Wir hätten aber keine Zeit für die Jagd, antwortete Torste, weil König Gorm uns nach Ladby geschickt habe.
«Da drüben ist ein Hof mit einer Scheune voller Fleisch.»
«Hast du das Fleisch gestohlen?», fragte ich erfreut. Harek nickte zufrieden, und Ymer meinte, zwei grinsende Trottel an einem Ort seien eindeutig zu viel. Und fügte hinzu, dass er dem Hof gerne einen Besuch abstatten würde, weil sein Magen knurrte.
«Der Hofbesitzer muss ein mächtiger Mann sein. Er hat viele Hirdmänner, und mit denen ist nicht zu spaßen.»
«Hat dich auch keiner entdeckt?», fragte Torste. Harek sah ihn an, als wäre dies eine seltsame Frage. «Wie viele sind es?»
«Vierzig. Und alle sind schwarz gekleidet.»
Torste und ich machten große Augen.
«Ja, und sie brüllen wie die Bären.»
«Ymer, könnte das der Kriegerhof sein, von dem du erzählt hast?»
«Keine Ahnung. Aber ich weiß, dass ich dir nicht dorthin folge. Und wenn du mich an einen Mauren in der Wüste von Serkland verkaufst – ich weigere mich.» So wütend war Ymer nur, wenn er Hunger hatte.
«Gute Idee, aber zuerst gibt es hier eine Rechnung zu begleichen und nebenbei die Vorräte aufzufüllen.»
Torste zögerte. «Aber wir sind immer noch nur vier, und die vierzig.»
Ich tippte mit dem Zeigefinger an meine Stirn. «Wie Einar immer sagte, Torste, vergisst du die wichtigste Waffe von allen: die man nicht mit dem bloßen Auge sehen kann.»
Torste bestritt, dass Einar das immer zu ihm gesagt hätte, lobte aber, dass ich ausnahmsweise einmal schneller als er gedacht hätte. Ich ignorierte die Stichelei, denn mein rachgieriger Sinn war ganz auf Ott gerichtet. «Wir wissen, dass sie dort sind, aber sie wissen nicht, dass wir hier sind», sagte ich. «Wenn wir die Halle anzünden, brauchen wir nicht viele Schwerter, um zu siegen.»
«Harek, gibt es auf dem Hof Hunde?», fragte Torste.
Harek schüttelte den Kopf und sagte, er hasse Hunde.
«Nicht nur du», sagte ich, doch dann fiel mir ein, dass Torste ein großer Freund der Biester war – je größer, desto besser.
«Haben sie viele Wächter?», fragte Ymer, der die Taube offenbar vergessen hatte und sich aufs Plündern freute. Harek nickte. Mindestens vier, sagte er, aber zwei davon schliefen in der Regel.
«Der Hof ist von einer Palisade umgeben und liegt tief im Wald auf einer Halbinsel zwischen einem See und einem Fluss. Es ist unmöglich, ungesehen hineinzukommen.»
«Dann bist du wohl wie Hugin und Munin über ihre Köpfe hinweggeflogen?»
Der Marschmann schüttelte den Kopf. «Der See und der Fluss sind noch zugefroren, und sie bewachen nur das Tor auf der Landseite. Man kann fast überall hineinklettern.»
Wir sahen einander an, und Torste nickte langsam, was den Plan besiegelte. Ich gebe es ungern zu, aber seine Meinung zählte ebenso viel wie meine.
«Führe uns zu dem berühmten Kriegerhof, Harek», sagte er.
Der Hof lag vor uns in der Dämmerung, sein Tor und die Palisaden sahen unüberwindlich aus. Nur das Dach der Halle ragte über die Palisaden. Sicher waren einmal alle Tiere darin untergebracht gewesen, wie es früher Sitte war. Nur die Reichsten hielten ihr Vieh in separaten Ställen.
«Haben die gar keine Pferde?», fragte Ymer, der in einer großen Eiche saß. «Komisch.»
«Was siehst du noch?», fragte Torste. «Wie viele Türen hat die Halle?»
«Nur die Eingangstür auf der Vorderseite. Das macht die Sache leichter … Sofern wir über die Palisaden kommen.» Er kletterte herab. Ich platzte vor Ungeduld und wollte so schnell wie möglich über die Palisade.
Harek sagte, zwei der Wächter würden in regelmäßigen Abständen am Ufer patrouillieren, wo lange, spitze Pfähle dicht an dicht standen. Die längsten waren so hoch wie drei erwachsene Männer.
Der Rest der Mannschaft befand sich in der Halle, wo sie ein Trinkgelage abhielten. Harek wunderte sich, dass weder Frauen noch Kinder noch Tiere auf dem Hof waren. Jedoch hatte er eine zierliche Gestalt mit langem, gepflegtem Haar gesehen, die wie eine Frau aussah, aber Männerkleider trug.
«So sehen die Männer auf Gotland aus», sagte Ymer. «Wie sollen wir da reinkommen, Harek?»
«Wir klettern zwischen den Pfählen rauf. Das geht gut mit ein bisschen Geschmeidigkeit.»
«Geschmeidig?» Ymer zeigte auf seinen Fuß. «Ein einziger Fuß von mir braucht so viel Platz wie du.»
Darauf fiel Harek keine Antwort ein. Ich sah Torste an, in der Hoffnung, dass er einen Plan hatte.
«Wir bauen eine Leiter», schlug Torste vor. «Ich bin sicher, dass Harek eine Stelle kennt, wo die Pfähle nicht so dicht stehen oder wo man besser reinkommt.»
An der Spitze der Halbinsel seien ein paar Pfähle vom Eis umgeknickt, antwortete Harek.
«Ymer, du und Harek baut eine Leiter», befahl ich und betrachtete die Halle, aus deren Rauchabzug der Qualm wie eine dicke, graue Wurst in die windstille Winterluft stieg. Wahrscheinlich war ihr Brennholz nass, weil die vorigen Bewohner den Holzvorrat nicht ausreichend aufgefüllt hatten. Überhaupt fehlte auf dem Hof jedes alltägliche Lebenszeichen. Mich schauderte.
«Was, wenn das Schattenmänner sind?», flüsterte ich und umgriff mein Mjölnir-Amulett. «Lass Ott dort sein, Thor, mehr verlange ich nicht.» Der Gedanke an meinen Gott beruhigte mich.
Harek und Ymer machten sich an den Bau der Leiter. Harek hielt einen entasteten, sechs Schritt langen Baumstamm von der Dicke meines Arms, während Ymer Kerben hineinschlug. Er schlug so fest, dass der Stamm aus Hareks Griff rutschte und Ymer an den Kopf knallte. Blut tropfte ihm von der Stirn, als er sich aufrichtete und den Baumstamm schwang, als wäre es ein Zweig. Harek duckte sich und floh außer Reichweite.
«Thor, Herr, ich tausche gerne das Leben meines Sklaven gegen das Otts», murmelte ich, als Harek sich zaghaft wieder hervorwagte.
Wir konnten einander gerade noch erkennen, als wir uns an die spitzen Palisaden heranschlichen. Von Nahem sahen sie noch höher aus.
«Psst!», sagte Harek, als er Stimmen hörte. Er machte sich so klein, dass er nur ein dunkler Fleck auf dem Eis war. Das konnte nur er. Ich begnügte mich damit, neben Ymer und Torste in die Hocke zu gehen.
Die Stimmen kamen näher. Zwei Wächter beklagten sich über das Nichtstun und das schlechte Bier. Dann waren sie verschwunden, und Hareks Silhouette verwandelte sich wieder in einen Menschen.
«Kommt», sagte ich und nahm die Leiter.
«Das Bier ist schlecht», seufzte Ymer und fragte, ob es überhaupt die Mühe lohne.
«Wenn die Wächter das nächste Mal kommen, ist es so dunkel, dass wir gar nichts mehr sehen», raunte Torste. «Dann spießt du dir garantiert den Bauch an den Palisaden auf.» Widerwillig stand Ymer auf und half mir, die Leiter zu tragen. Wir folgten Harek zu der Stelle, an der das Eis einige Pfähle umgeknickt hatte. Wir legten die Leiter an der niedrigsten Stelle an, und Ymer stieg vorsichtig auf die erste Sprosse. Ich musste die Leiter mit aller Kraft festhalten, damit sie nicht unter seinem Gewicht verrutschte.
«Die Leiter rutscht auf dem Eis weg», flüsterte ich Harek zu, der auch ohne Leiter schon halb oben war. «Halt oben fest.» In diesem Moment hörten wir das Eis knacken und Ymer fluchen.
«Ich stehe bis zum Bauchnabel im Eiswasser», sagte er viel zu laut. «Hilf mir raus, die Leiter sinkt weiter ein.» Torste half ihm, und gemeinsam hielten wir die Leiter, bis er aus dem Wasser war.
«Rauf mit dir!», rief ich barsch, weil wir viel zu laut waren. Inzwischen stand die Leiter fest am Boden des Sees, aber sie reichte nicht mehr hoch genug.
«Den Rest musst du klettern», flüsterte Harek wenig überzeugend.
«Geh voran, Ulv», sagte Torste. Ich stieg hinauf zu Ymer. Wolken waren aufgezogen, und es war stockfinster, aber aus seinen Flüchen schloss ich, dass er nicht weiterkam.
«Ich stecke fest», sagte er, und im selben Moment begann es in Strömen zu regnen. Das Holz war schlagartig glatt wie Eis.
«Na toll», seufzte Ymer. Ein lautes Knacken ertönte, dann noch eins, und beim dritten Knacken sauste Ymer an mir vorbei und krachte direkt in das Loch, das die Leiter ins Eis gedrückt hatte. Das Klatschen übertönte sogar den Sturzregen.
«Verdammte Scheiße …» Zum Glück sagte er nicht mehr, denn die Stimmen der Wächter kamen wieder näher. Torste kletterte zu mir hinauf, und wir pressten uns unter dem Palisadengang zwischen die Pfähle, zogen die Kapuze über den Helm und rührten uns nicht. Die Stimmen waren ganz nah und blieben direkt über uns stehen, aber zum Glück hatte der Regen ihre Fackeln gelöscht.
«Njörd ist schlecht gelaunt heute Nacht», sagte der eine. Sein Begleiter antwortete, dass die Ablösung ja bald komme. «Hoffentlich brennt das Langfeuer gut», sagte er.
Auf einmal wurde der Regen ziemlich warm. Zu warm. Einem Mann von meinem Temperament tut es nicht gut, von oben bepisst zu werden. Ich raste innerlich vor Wut und wollte sofort aufspringen, aber Torste legte die Hand auf meinen Arm und drückte so fest zu, dass ich es durch das Kettenhemd spürte.
Dann waren sie weg, und ich stieß eine lange Reihe von Flüchen aus. Ich kletterte weiter und stolperte über Harek, der dem pissenden Wächter so nahe gewesen sein musste, dass er ihm leicht den Schwanz hätte abschneiden können. Hätte er es bloß getan!
Ich zog mein Schwert, rannte den Wächtern hinterher und holte sie rasch ein. Ich schwang Fenris, Ubbe Lodbroks altes Schwert, das ich von meinem Seelenvater Byrnjolf Jarl bekommen hatte, mit aller Kraft, die meine pissestinkende Hand aufbrachte, und traf einen der Männer in den Hals. Ich zog Fenris wieder heraus und wiederholte die Bewegung mit einem Schwinger in die entgegengesetzte Richtung. Der Zweite stieß einen kurzen, überraschten Laut aus, ehe auch er zu Boden sank. In meinem Zorn hätte ich es mit allen Hirdmännern Otts aufgenommen, wenn sie nur ihre warme, trockene Halle verlassen hätten. Ich ließ die Hose herunter und pisste den toten Wächtern ins Gesicht, was meine Wut etwas besänftigte.
«Ulv», sagte Torste, der beinahe über mich gestolpert wäre. «Was tust du da?»
«Ich pisse», sagte ich, schickte einen Schleimklumpen hinterher und zog die Hose wieder hoch. «Hier liegen zwei, falls du auch musst.» Torste tat es mir gleich, denn auch er hatte an der Palisade etwas abbekommen.
«Ymer glaubt wohl, es ist Waschtag», sagte er. «Er planscht zwischen den Eisschollen.»
«Er muss nicht mehr raufklettern», antwortete ich. «Wir können ihm das Tor öffnen, wenn er sein Bad beendet hat.» Torste brummte zustimmend, zog sein Schwert, und wir gingen auf das Tor zu. Als wir uns näherten, sah ich einen Feuerschein in einem Schuppen und davor die Silhouetten zweier Männer. Wir verbargen die Schwerter unter den Mänteln und traten ein.
«Erik und Trygge?», rief einer der beiden. «Wo seid ihr so lange gewesen?»
«Ich musste pissen», sagte Torste mit tiefer Stimme und sprang auf die Männer zu. Ich stürmte ihm hinterher, und obwohl wir sie überrumpelt hatten, mussten wir mehrmals zuschlagen, ehe sie still lagen. Zum Glück hatten sie stumm gekämpft. Sie starben mit einem Speer und einer Axt in den Händen, vierzig Schritt von ihren Freunden in der Halle entfernt. Würdig, von Odins Walküren abgeholt und nach Walhall geführt zu werden.
Während ich noch mein Amulett umklammerte und ein gutes Wort für die zwei mutigen Krieger bei Thor einlegte, schob Torste den Riegel auf und öffnete das Tor.
«Ymer?», rief er leise, bekam aber keine Antwort und ließ das Tor einen Spalt offen stehen.
«Der findet selbst den Weg», sagte ich und trat näher ans Feuer, um mich zu wärmen. Torste durchsuchte die Sachen der Wachmannschaft, fand einen Trinkbeutel voll Bier und schmatzte vergnügt. Wir tranken gierig, obwohl es wirklich nicht besonders gut schmeckte. Immerhin war es besser als Ottar Jarls dünnes, bitteres Bier.
«Ymer steckt im Eis fest», sagte Harek, der urplötzlich aus dem Nichts auftauchte – eine ärgerliche Angewohnheit. Zu seinem Glück hatte ich gerade den Bierbeutel am Mund und großen Durst, sonst hätte ich ihn sicher niedergestochen. «Ymer braucht Hilfe», wiederholte Harek. «Er versucht, das Eis mit dem Bauch aufzubrechen.»
«Der kommt schon zurecht», sagte ich, denn ich hatte keine Lust, ins kalte Wasser zu springen. Ich rechnete fest damit, dass Ymer im nächsten Moment klatschnass und zitternd zur Tür reinkommen würde. Er würde schimpfen und fluchen, nach Bier verlangen und sich am Feuer wärmen.
Die Tür knarrte, ich hielt den Trinksack bereit und zog sie mit der anderen Hand auf. Doch anstelle eines triefnassen Ymer stand dort ein schwarz gekleideter Mann mit Pelzmütze, geflochtenem Bart und einer Drachentätowierung im Gesicht. An seinem Gürtel hing eine Streitaxt, und in der Hand hielt er einen langen Jagdspeer.
«Wer seid ihr?», fragte er heiser und hielt mir die Speerspitze an die Gurgel.
«Freunde von Trygge und Erik», sagte Torste. Eigentlich eine gute Erklärung, aber leider lagen die zwei Wächter tot in einer Blutlache, was schlecht zusammenpasste.
«Ihr gehört nicht zu Otts Männern», sagte er. «Ala…»
Sein Ruf verstummte, als er mit zweigeteilter Pelzmütze vornüber fiel. Ich warf mich zur Seite und entkam gerade noch seiner Speerspitze, landete dafür jedoch mitten im Feuer. Ich rollte herum, sprang mit brennendem Bart auf und stolperte über den Mann mit dem komplett gespaltenen Schädel. Zum Glück trug ich dicke Kleidung, und mein Bart war so nass, dass ich die Flammen mit dem Handschuh löschen konnte. Da tauchte Ymer wirklich in der Tür auf und hielt seine Riesenaxt Margyge in der Hand. Er hatte Eisklumpen im Bart, blaue Lippen und war sauer. Stinksauer. Zuerst verstand ich kein Wort, weil er so laut mit den Zähnen klapperte.
«I-ich hätte da draußen etwas Hilfe gebrauchen können», stotterte er. Ich hob den Trinkbeutel auf und reichte ihn Ymer.
«Trink, das ist Bier.» Ymer setzte den Beutel an die Lippen und trat so dicht ans Feuer heran, dass seine Kleider dampften.
Als der Beutel leer war und er wieder etwas zusammenhängender sprechen konnte, fragte er: «Wer war das?»
«Du spaltest dem Kerl den Schädel, ohne zu wissen, wer er ist?», fragte Torste.
Ymer murmelte, er habe Bewegung gebraucht, um warm zu werden. Außerdem habe er gehofft, dass ich es sei und mir nur eine Pelzmütze aufgezogen hätte.
«Und außerdem stand er gerade günstig», schloss er ab. Torste und ich sahen uns an und zuckten mit den Schultern.
«Das stimmt wohl», sagte ich und fügte hinzu, dass es Ymer trotz allem besser als uns ergangen sei. «Ein Wächter hat vom Palisadengang auf uns gepisst, als wir darunterstanden.»
Ymer grinste verzückt, und ich bereute sofort, dass ich es erzählt hatte.
«Ihr habt Pisse in den Nacken bekommen?» Ich nickte und fügte sofort hinzu, dass es das Letzte war, was der Wächter in seinem Leben getan hatte. Ymer lachte und hatte sicher noch mehr hämische Kommentare auf der Zunge.
«Es hat ihn das Leben gekostet, Ymer. Denk daran, bevor du deine Gedanken aussprichst.» Ymer öffnete trotzdem den Mund, aber Torste unterbrach ihn.
«Hebt euch das Streiten für später auf. Otts Männer sind gut trainiert. Zum Glück kämpfen sie still, sonst hätten wir längst die Beine in die Hand nehmen müssen.»
«Ott hat schon fünf gotländische Hirdmänner verloren, und das ist ein Vorteil», antwortete ich trotzig. Torste gab mir recht, sagte aber, dass uns nur die Flucht blieb, wenn alle vierzig oder sechzig auf einmal aus der Halle gerannt kämen. Doch das taten sie nicht, weshalb ich bei meinem Plan blieb, die Halle anzuzünden und jeden, der herauskam, einzeln abzuschlachten. Leider erwies sich auch das als nicht so einfach, wie ich gedacht hatte.
«Das Strohdach ist so nass wie Ägirs Bart», sagte ich und steckte meine schwelende Fackel ins Feuer, um sie wieder zu entzünden. «Bei dem Regen brennt keine Fackel lange.» Es ärgerte mich maßlos, dass Njörds schlechte Laune meinen schönen Plan verdarb, aber um die Götter nicht zu erzürnen, ließ ich meine Wut an einem von Otts toten Kriegern aus und trat nach ihm. «Da habe ich zum ersten Mal im Leben die Gelegenheit, jemanden in seiner Halle auszuräuchern, und nichts brennt.» Ich funkelte Torste an, als wäre er schuld daran. «Wie soll man das bei so einem Regen anfangen?» Torste zuckte mit den Schultern und sagte, es sei auch sein erster Mordbrand, bei dem er sich nicht in der Halle befand.
Ymer schaltete sich ein: «Damals in Einars Haus … Was hat Toke der Verrückte getan, damit wir es drinnen nicht mehr aushielten?» Ich wusste nur noch, wie wütend ich war, weil ich als lebende Fackel anstatt im Kampf sterben sollte. Ymer sagte, er sei schon bei etlichen Mordbränden dabei gewesen, und das Feuer sei nur einer der Gründe, warum man aus der Halle raus wollte.
«Der Rauch treibt dich raus, er ist noch schlimmer als das Feuer.»
«Rauch?», fragte ich. Was konnte Rauch schon Schlimmeres als Feuer ausrichten?
«Harek, du weißt doch, wo die Vorratsscheune ist. Gibt es da Tran, Speck oder Fett?» Harek nickte, und Ymer fuhr fort. «Wenn wir in Tran getunkte Lederlappen durch den Abzug ins Feuer werfen, entwickelt sich so viel Rauch, dass man davon sterben kann.» Auf meinen Einspruch, dass der Rauch nur durch dieselbe Öffnung wieder verschwinden würde, grinste Ymer breit.
«Genau», sagte er und sah mich an, als wäre ich schwer von Begriff. «Aber wenn wir den Rauchabzug mit Fellen zudecken, was glaubst du, geschieht dann in der Halle?» Torste und Harek strahlten, und ich schalt Ymer, weil er nicht schon früher mit dem Vorschlag gekommen war.
«Es ist deine Pflicht, deinem Herren in jeder Hinsicht zu dienen», zischte ich.
«Ja», sagte Ymer und versprach, meinen Bart zu löschen, wenn er das nächste Mal brannte. Torste befahl ihm, den Mund zu halten, und Harek, uns den Weg zur Scheune zu zeigen.
«Ulv, es wäre sehr hilfreich, wenn du sie mit ein paar deiner schwarzen Pfeile spickst, wenn sie versuchen, herauszustürmen.» Ich wollte aber lieber an der Tür stehen und jedem, der sich herauswagte, Fenris in den Nacken hauen.
«Nein. Wir sind zu wenig, um die Längsseiten der Halle abzudecken, falls sie versuchen, die Wand aufzubrechen.» Er nickte Ymer zu. «Und der Blödmann da kann seine Axt wie jeder andere gebrauchen, ohne groß nachzudenken – denn dazu ist der Sklave offenbar nicht fähig.»
Ymers Mund verzog sich zu einem schmalen Strich. Er war es gewohnt, dass ich ihn ausschimpfte und ihm drohte, was ihm ziemlich egal war, aber Torstes Wut zeigte Wirkung.
«Du hast recht, Torste», sagte ich. «Mein Bogen ist am effektivsten, wenn ich vom Scheunendach aus schieße. Von dort überblicke ich die Rückseite der Halle und das eine Ende, aber wenn du und Ymer am Eingang steht, ist noch immer eine Seite unbewacht.»
«Harek nimmt den großen Jagdspeer, der dir fast die Kehle aufgeschlitzt hat, und bewacht die andere Seite.» Harek schien wenig begeistert, aber sie machten es, wie Torste befohlen hatte.
Wir mussten uns gedulden, bis Nótt den Himmelsbogen an Dag übergab. Die Scheune hatten wir gefunden, ohne entdeckt zu werden, aber es war so dunkel, dass wir die Hand nicht vor Augen sahen. Deshalb lauschten wir dem Trinkgelage von Otts Männern, während wir auf Sól warteten. Wer viel Bier trinkt, muss es in regelmäßigen Abständen auch wieder herauslassen. Zweimal hörten wir ein paar Männer an die Wand der Scheune urinieren, aber sie kamen nicht herein, sodass wir uns bald wieder auf die leeren Fässer und Tonnen setzen konnten.
Allmählich siegte das Licht über die Schatten, und wir sahen, dass Harek recht hatte. Es gab viel zu essen, aber in einer merkwürdigen Mischung. Vor allem fiel uns auf, was es nicht gab. Was die Mäuse und Ratten noch nicht gefressen hatten, war entweder uralt oder ganz frisch. Es hingen frisch erlegte Hasen und Tauben dort, aber kein Speck oder Rindfleisch, auch gab es kein Getreide oder Wurzeln. Alles, was die Frauen normalerweise brauchten, um einen Haushalt über den Winter zu bringen, fehlte. Es sah aus, als hätte der Hof lange Zeit in Niflheims eiskaltem Nebelland weit im Norden gestanden, in der Nähe des Todesreichs Hel, und wäre plötzlich mit Otts Männern nach Midgard zurückgekehrt. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, und ich umklammerte mein Mjölnir-Amulett.
Harek fand einen versiegelten Tonkrug mit Fett, den die Ratten verschont hatten. Vielleicht hatten sie auch keine Lust darauf gehabt, denn das Zeug stank wie verrottete Pilze in ranzigem Robbentran und war fast versteinert. Das sei genau richtig, meinte Ymer, denn solches Fett qualme mehr, als es brenne. Mir war das egal, da ich noch immer enttäuscht war, dass wir die Halle nicht einfach auf traditionelle Weise in Brand setzten. Ich hatte mich so darauf gefreut.
Ymer fand einen Stapel mottenzerfressener Felle, von denen nur eins intakt genug war, um den Rauchabzug damit abzudecken. Die kleineren Stücke schmierte er mit dem Fett ein. Am Ende wickelte er harte Fettklumpen und trockenes Stroh in Lederfetzen und band die Enden an einer Schnur zusammen. Dann schlichen Ymer, Harek und Torste zur Rückseite der Halle, wo keiner von Otts Männern zum Pinkeln herauskommen würde. Ich kletterte vorsichtig auf das alte Scheunendach, um nicht einzubrechen. In der Stille des Morgengrauens war jeder Laut zu hören, sogar das Schnarchen aus der Halle. Ich legte einen Pfeil an den Bogen und sah zu Ymer hinüber, der Harek auf das Dach half und ihm die Schnur mit den Fettbeuteln gab.
Harek trat ebenso vorsichtig wie ich auf das Strohdach und achtete darauf, nur auf die Dachbalken zu treten. Ein falscher Schritt, und er würde Otts Männern direkt vor die Füße fallen.
Ich war nervös, obwohl ich wusste, dass ich alles treffen würde, was sich in meinem Blickfeld bewegte. Doch ich fürchtete, dass Otts Männer einen Gegenplan hatten, genau wie letztes Mal, als wir sie erst besiegt hatten, als Gorm mit seinen Kriegern kam. Außerdem waren sie zehnfach in der Überzahl, weshalb mein Magen sich verkrampfte.
Harek hatte den Rauchabzug erreicht und zog die Schnur mit den Fettbeuteln zu sich heran. Der kleine Marschmann war genauso nervös wie ich, denn dort oben konnte er nicht einfach verschwinden, wie er es sonst immer tat.
Er breitete das ganze Fell auf dem Dach aus und ließ das Fett durch die Öffnung hinab, aus der der Rauch wie dichter Nebel quoll. Dann steckte er den Kopf in den Qualm und das Bündel noch tiefer, und obwohl der Rauch beißend sein musste, schaute er weiter in das Abzugloch. Wir warteten gespannt.
Lange Zeit geschah gar nichts. Ich war schon sicher, dass der Plan fehlgeschlagen war, doch plötzlich stieg dichter, übel riechender Rauch aus dem Kamin. Harek zog das Fell über die Öffnung und kletterte vorsichtig vom Dach. Ymer und Torste lauerten an der Tür, Harek landete sicher auf dem Boden, schnappte sich den großen Speer und verschwand aus meinem Blickfeld.
Ich rechnete damit, dass die Tür jeden Moment aufgestoßen würde und Otts Männer hustend herausgelaufen kämen, aber nichts dergleichen geschah. Als die Tür endlich aufging, geschah dies ganz langsam. Dicker Rauch drückte heraus.
Torste sah mich fragend an, und ich kniff die Augen zusammen, sah aber nichts außer kleinen Rauchsäulen, die durch Ritzen in der Wand und im Dach quollen.
Im selben Augenblick ertönte ein halb ersticktes Husten in der Halle. Ein Mann kroch zur Tür hinaus und rollte sich zur Seite. Ymer schwang Margyge und drehte sich sofort wieder zur Tür, doch es kam niemand mehr.
Sóls bleiches Gesicht stieg am Himmelsbogen auf und beleuchtete eine Landschaft, die ihr schönes Winterkleid allmählich abwarf. Das Eis des Sees, in dem Ymer einen Bauchklatscher gemacht hatte, hatte viele dunkle Stellen, und die letzten Schneereste tropften von den Tannenzweigen am Ufer. Der Wind war kalt, aber nicht mehr so eisig wie vor einem Monat.
Als sich nach einer ganzen Weile noch immer nichts tat, kletterte ich vom Dach herab und ging mit Fenris in der Hand zu Ymer und Torste.
«Was geschieht da drinnen?», flüsterte ich. «Warum kommen sie nicht raus?» Darauf hatten sie keine Antwort, und weil wir durch den Rauch nichts sahen, warteten wir weiter mit der Waffe in der Hand, bis kein Qualm mehr zur Tür hinausquoll.
«Ich brauche einen Schluck Bier», sagte Ymer, senkte die Axt und ging zur Tür hinein. Wenige Sekunden später kam er keuchend wieder heraus. «Man sieht nichts da drinnen und kriegt keine Luft!»
Ich rief Harek, der ängstlich um die Ecke lugte. «Steig aufs Dach und nimm das Fell vom Rauchloch.»
Harek nickte, benutzte Ymer als Leiter, kletterte geschmeidig hinauf und entfernte das Fell.
Der Rauch zog schnell ab, und der Anblick, der sich uns bot, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Es waren nicht so viele, wie wir geglaubt hatten. In den Betten und auf dem Boden lagen gut zwanzig Mann. Einer saß mit einem Becher in der Hand am Bierfass, andere lagen in ihrer eigenen Kotze, alle hatten die Münder und roten Augen weit aufgerissen. Selbst nachdem der Rauch sich verflüchtigt hatte, war der Gestank von Ymers Fettklumpen noch so beißend, dass ich vor Husten kaum sprechen konnte.
«Sind sie tot?», röchelte ich und hielt den Handschuh vors Gesicht. Torste nickte und sagte ebenfalls röchelnd, Ymer habe recht damit gehabt, dass Rauch ebenso tödlich wie Feuer sein konnte.
«Ich sehe Ott nirgendwo», sagte ich. «Ymer, such nach Ott. Er muss hier sein.»
Torste und ich gingen zur Tür, um Luft zu schnappen, während Ymer alle Leichen umdrehte, deren Gesichter wir nicht sahen.
Er schüttelte den Kopf. «Ott ist nicht hier», rief er, schulterte ein Fass Bier und kotzte, ehe er die Tür erreichte. «Aber die Schwuchtel, die Harek erwähnt hat, sitzt wie eine Nonne mit gefalteten Händen da.»
Ich wollte nicht wahrhaben, dass Ott nicht unter den Toten war. «Bist du ganz sicher, Ymer?»
«Schau doch selbst nach, wenn du mir nicht glaubst. Ich habe Durst.» Ymer trug das Fass ins Freie, wir folgten ihm.
«Wo ist Ott, Torste?» Ich bemerkte sofort, wie dumm die Frage war, und fügte hinzu. «Wir müssen ihn finden!»
«Im Augenblick ist der Schönling interessanter. Was hat der hier zu suchen?»
«Das ist mir egal. Ich will Ott», sagte ich so laut, dass ich wieder einmal die drei Nornen überhörte, die am Fuße Yggdrasils sitzen und unsere Lebensfäden spinnen. Gerade eben klopften sie sich vor Lachen auf die Schenkel. Vielleicht hatte Torste ihr Lachen gehört, weil er mit gewohnter Sturheit darauf bestand, dass eine so weibische Person ganz und gar nicht zu den rauen Kriegern aus Gotland passe und deshalb wichtig sein müsse.
«Aber wo ist Ott?», wiederholte ich.
«Vielleicht ist er noch immer bei Vigdis der Seherin in Odins Vi, oder er hat den Hof unbemerkt verlassen. Das könnte den Mann mit der Pelzmütze erklären, der uns am Tor überrascht hat. Manche Anführer sichern sich doppelt ab, wenn sie einen Teil ihrer Gefolgsmänner verlassen. Sie schicken einen Mann zurück, um zu berichten, dass ihr Herr heil am Ziel angekommen ist.»
«Zu dumm, das Ymer ihm den Schädel gespalten hat.»
Harek, der sich normalerweise nicht in Gespräche einmischte, zupfte mich am Ärmel. «Wenn Ihr wollt, kann ich seiner Spur folgen, Herr.»
Torste erwiderte, das sei die Mühe nicht wert. Es sei ja nicht einmal sicher, ob jemand den Hof verlassen hatte, seit wir hier waren. «Vielleicht ist Ott auf dem Weg hierher, oder er ist bei König Gorm in Ladby. Du kannst dich drauf verlassen, dass wir ihn wiedersehen.»
«Bier?», fragte Ymer und gab jedem einen Krug. «Skål! Auf euren ersten Mordbrand, auch wenn das Feuer keinen großen Schaden angerichtet hat.» Ymer gluckste leise vor sich hin, aber als ich weiterfluchte, weil Ott nicht tot in der Halle lag, verstummte er. Zwar hatten wir über zwanzig von Otts Männern getötet, aber es waren noch immer um die vierzig übrig, und wir waren weiterhin nur vier.
Bis heute weiß ich nicht, was genau Otts Männer in der Halle des Kriegerhofs getötet hat, und das macht mir Angst. Sie hatten sicherlich viel Bier getrunken, aber warum waren sie nicht von dem widerlichen Rauch aufgewacht? Und warum war Ott nicht da? Vielleicht war er wirklich ein Schattenwanderer, wie Vigdis die Seherin, als sie Ottar Jarl nach Walhall schickte. Das Schiff und ganz Norneborg brannte zu Asche herunter, aber Vigdis hatte irgendwie überlebt und war am nächsten Tag ohne eine einzige Brandwunde wiederaufgetaucht.
«Wir brennen die Halle nieder», sagte ich entschieden, wie um mich selbst zu überzeugen. «Hier soll sich Ott nie wieder verstecken können!»
«Wollen wir sie nicht erst plündern? Wäre doch schade, wenn Ott zurückkäme und ihr ganzes Silber fände. Bestimmt hat der Hausherr sein Vermögen unter der Halle vergraben, wie es Sitte ist», schlug Torste vor.
«Ymer, such einen Spaten oder etwas anderes zum Graben», befahl ich und warf einen Blick in die Halle, wo Taschen, Waffen, Schilde und andere Gegenstände am Boden verstreut lagen. Die Halle selbst war alt und halb verfallen, wie der ganze restliche Hof. Ich fragte mich, ob die ursprünglichen Bewohner getötet worden waren, oder ob sie den Hof verlassen und ihr Silber mitgenommen hatten.
«Wo vergräbt ein Hausherr sein Silber?», fragte ich naiv. Dass dies keiner wisse, sei doch genau der Punkt, meinte Torste.
Ich nahm einen großen Fischspeer von der Wand und hackte wahllos in die steinharte Erde hinter dem Eingang, sah aber bald ein, dass es ziemlich dumm wäre, dort etwas Wertvolles zu begraben. Der Fischspeer zerbrach, weshalb ich einem der Toten einen Jagdspeer abnahm.
«Harek, sammle die Silberbeutel und Armringe der Toten ein», befahl ich und ging tiefer in die Halle, wo ich jedoch bald aufgeben musste. «Wir warten noch etwas», sagte ich hustend.
Als der Rauch sich endgültig verzogen hatte, gingen wir wieder hinein. Auf einem erhöhten Schlaflager in der hinteren Ecke, so weit wie möglich von Otts toten Kriegern entfernt, saß der schmächtige junge Mann mit dem blonden, gepflegten Haar. Zuerst dachte ich, er lebte noch, bis ich seine ins Leere starrenden Augen sah. Sein Gesicht war schmal, mit spitzem Kinn und haarlosen Wangen, obwohl er kein Kind mehr war. Seine schmalen Hände umklammerten einen Gegenstand, den er erst losließ, als ich seine Finger aufbog. Es war ein goldenes Kreuz mit einem glänzenden Edelstein in der Mitte.
«Entschuldigung, junger Freund», brach es aus mir heraus, als ich ihm das Kreuz aus den Händen nahm und Harek und Ymer befahl weiterzusuchen, während Torste und ich die Halle verließen, um etwas Luft zu schnappen. Obwohl ich alles verachtete, wofür das Kreuz stand, verspürte ich den unerklärlichen Drang, es mir um den Hals zu hängen.
«Das ist hübsch», sagte Torste und nahm mir das Kreuz aus der Hand. «Es muss ein kleines Vermögen wert sein.» Er gab mir das Schmuckstück zurück, und ich steckte es in meine Tasche.
«Der junge Mann mit den blonden Haaren hielt es in den Händen.» Torste nickte uninteressiert, trank etwas Bier und meinte, wir sollten weiterplündern.
Das taten wir, aber der Jüngling mit seinem Kreuz ging mir nicht aus dem Sinn. Hätte ich damals nur ein wenig besser nachgedacht, hätte ich mir viel Ärger erspart!
Stattdessen setzte ich die Halle in Brand und freute mich, als die Flammen bis zum Dach schlugen und alles viel schneller lichterloh brannte, als ich es bei einem feuchten Haus mit morschen Balken für möglich gehalten hatte. Zu meiner großen Enttäuschung hatten wir bei Otts Männern nur wenig Silber gefunden und auch keinen Schatz, obwohl wir in der ganzen Halle den Boden aufgegraben hatten. Aber auch die kleine Beute und das Feuer hoben meine Laune ein wenig.
«Grüßt meine Mutter, Byrnjolf und Einar von mir», rief ich den Toten hinterher, denen wir ihre Waffen in die Hände gelegt hatten, damit die Walküren sie finden und nach Walhall bringen konnten. Wo sicher auch meine Mutter war, nachdem sie von dem Mann erschlagen wurde, den ich viele Jahre lang für meinen Vater gehalten hatte. Sie starb im Kampf, mit der Waffe in der Hand, wie die Schildmaiden, von denen Einar mir erzählt hatte. Auch er war ganz sicher in Walhall, unser alter Lehrmeister und größter Krieger aller Zeiten. Er war vor den Toren von Ryesborg gefallen, umgeben von Dutzenden toter Feinde, in einer Schlacht, die Torste und mich fast das Leben gekostet hätte.
Das hohle Dröhnen des einstürzenden Dachs ließ meine Gedanken zurück zu den toten Männern mit ihren rot starrenden Augen wandern. Die Flammen loderten noch einmal auf, und lange, glühende Fangarme griffen wie brennende Riesenfinger nach uns. Wir traten ein paar Schritte zurück, ich umklammerte mein Amulett und bat Thor um Schutz. Ymer murmelte mit zitternder Stimme ein paar Verse.
«Yggdrasil zittert, die alte Weltesche, es rauscht der Baumgreis, der Riese kommt los … Grässlich heult Garm vor der Gnipahöhle, die Midgardschlange schlägt die Flut.» Erst viele Jahre später fand ich heraus, dass er aus der Weissagung einer Seherin über den Weltuntergang zitierte, was zeigt, dass er mehr Angst hatte, als er zugeben wollte.
«Lasst uns nach Ladby gehen», sagte Torste. Ich nickte und hörte mich sagen, wie schade es sei, dass es nicht einmal Pferde auf diesem Hof gebe. Nach über einem Jahr Krieg gab es auf ganz Fünen kaum noch Pferde – sie waren entweder verspeist oder gestohlen. Ich muss ziemlich benommen gewesen sein, denn ich bin ein mieser Reiter und mag Pferde nur, wenn sie als Braten auf meinem Teller liegen.
«Ja», sagte Torste. «Etwas zu essen könnten wir auch gebrauchen.» Dann setzte er sich in Bewegung, und wir folgten ihm.
Während Ottar Jarls Bestattung recht bescheiden für einen mächtigen Mann wie ihn ausfiel, war Silfraskallis das genaue Gegenteil. Schon zu Lebzeiten hatte er seinen Rivalen um etliche Schiffslängen übertroffen und war offenbar von seiner Familie geschätzt worden. Auch in dieser Hinsicht war er ganz anders als mein Onkel Ottar gewesen.
In Ladby wartete ein an Land gezogenes Schiff mit Platz für 32 Ruderer auf den Schild der Sølver, wie seine Leute ihn nannten. Warum er dort statt in seiner Heimatstadt Sjalvarstad beigesetzt wurde, entzog sich meiner Kenntnis. Ich nahm an, dass sie das Schiff nicht so weit ins Landesinnere ziehen konnten, aber das war weit gefehlt. Nichts war, wie mein junger, unerfahrener Kopf es sich damals zurechtlegte.
Ich konnte den Blick nicht von dem beeindruckenden Drachenkopf mit den eisernen Locken abwenden, der über das Grab herausragte. Sein Schwanz setzte sich am Achtersteven fort.
Ein lautes Wiehern riss mich aus meinen Gedanken. Elf Pferde, nur eines davon mit Sattelzeug, wurden in Silfraskallis Grabschiff geführt, gefolgt von Sklaven mit mehr Gegenständen, als ich zählen konnte. Sie trugen Teller und Schüsseln aus Bronze und Silber, prächtige Gürtel mit Silberschnallen, silberne Trinkkrüge und sogar ein Hnefatafl-Spiel in das Schiff. Dann folgte Silfraskallis Banner, seine große Streitaxt, Schilde, Schwerter und andere Waffen, auf die ich sehr neidisch war. Am Ende trugen sie den König der Sølver in das Schiff.
Silfraskalli sah deutlich vornehmer und friedlicher aus als an seinen letzten Tagen, nachdem ich ihm einen Pfeil in den Fuß geschossen hatte. Ich hatte auf Befehl von Ottar Jarl geschossen, und wäre der Pfeil nicht an der Klinge seiner Axt abgeprallt, hätte ich ihn getötet. Die Wunde am Fuß war nicht sehr groß, aber sie entzündete sich und trug wesentlich zu seinem Ende bei.
Sie trugen ihn auf Schilden und legten ihn mitten ins Schiff, während ein äußerst beeindruckender, junger Mann in einem vornehmen, roten Mantel mit weißen Pelzbesätzen, hohen Stiefeln und einem ebenso vornehmen Schwert am Gürtel auf einen Stein stieg und die Arme erhob. Sein hellblondes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, an den Schläfen und über den Ohren war er rasiert. Sein Gesicht war von blauen und grünen Tätowierungen überzogen, die so meisterlich ausgeführt waren, dass ich auch von Weitem die Giftzähne des Biestes auf der Stirn und den Schwanz der Midgardschlange erkannte, der sich um seinen Hals wand. Er sah aus wie ein Krieger, der gerade von den Asen zurückgekehrt war.
«Odin!», rief er und wartete, bis die Menge still war. «Ihr Asen in Walhall, nehmt den Schild der Sølver und König von Fünen gut bei euch auf.»
Er kreiste mit den Armen, worauf den Pferden an Bord sowie ein paar großen, alten Hunden die Kehle durchgeschnitten wurde. Ihr Winseln und Kläffen mischte sich mit dem Gemurmel der Zuschauer, die ihre Götter baten, sich Silfraskallis anzunehmen. Eine ältere Frau in schwarzen Kleidern, die glänzten, als wären sie nass, ging zu dem Mann auf dem Stein. Sie trug eine schwere Goldkette und ein Messer mit goldenem Schaft um den Hals, auch ihr Kleid war mit Goldplättchen verziert. Ihr Blick war kraftvoll, und als sie in meine Richtung sah, wurde mir klar, dass das Ragnhild Alle war – die mächtigste Frau von Fünen.
«Odin, höre mich!», rief der Mann mit den Tätowierungen. «Ich, Häuptling der Sølver, Bjørn Alle, Bruder von Yngvar und Sohn von Ragnhild Alle, habe das Recht auf den Namen Alle nach meinem Onkel und seiner Familie. Alles Land, alles Silber und alles, was Silfraskalli besaß, gehört nun rechtmäßig mir und meiner Familie. Von nun an bin ich der Schild der Sølver und trage den Namen Silfraskalli der Junge.» Er schwieg, und obwohl viele der Anwesenden von außerhalb kamen, widersprach ihm keiner. Niemand bezweifelte sein Recht auf den Titel und die zugehörigen Güter.
Die Sølver hatten einen neuen Schild – und dieser sah wesentlich gefährlicher aus als der alte. Ich warf einen Blick zu König Gorm, der auf dem Ehrenplatz neben dem Mann auf dem Stein stand, und in meiner jugendlichen Unwissenheit dachte ich zuerst, er verachte den Mann und seine Rede. Dann jedoch ging mir auf, dass das genaue Gegenteil der Fall war.
«Du Arschloch», murmelte ich und bemerkte, dass Torste mich beobachtete. Der Mann, der den Titel seines Onkels beanspruchte, setzte seine Rede fort.
«Odin, schicke deine besten Walküren, Göndul, Skögull und Hlökk. Nimm meinen Onkel auf, denn er starb wie ein Krieger, wie es im Geschlecht der Alle Tradition ist!», rief der junge Mann. «Viele große Männer sind hier anwesend, um seine Reise nach Walhall und das Anrecht der Sølver zu bezeugen. Meine liebe Mutter wird einen Runenstein zu Ehren unseres alten Häuptlings in Glavendrup errichten, auch im Namen seiner Brüder und meines Vaters, die bereits in Walhall weilen. Und in meinem Namen: Silfraskalli der Junge. Jede Rune, die dort geritzt wird, gilt von dort bis Ladby und weiter bis zur Burg der Sølver in Sjalvarstad.»
Sooft er auch den Namen beanspruchte oder mit dem Zusatz «der Junge» versah, für mich gab es nur einen Silfraskalli, und der war auf dem Weg nach Walhall.
In einem Augenblick der Klarheit – die damals ziemlich selten waren – erkannte ich, was die Sølver getan hatten: Sie hatten ihren Häuptling und Jarl östlich von Odins Vi bestattet und errichteten ihm einen riesigen Runenstein westlich der Stadt. Sie wollten beide Gebiete kontrollieren und somit ihre Gegner umzingeln.
Im Grunde war mir das egal, aber es bedeutete auch, dass König Gorm Ott brauchte. Genau in diesem Moment erblickte ich Ott, der neben Harald und Knut Gormsson stand. Unsere Blicke kreuzten sich voller Hass und Rachsucht. Erst als eine alte Frau mit aschgrauem Haar zu ihm kam, wandte er den Blick von mir ab. Die Frau sah ebenfalls vornehm aus, nicht ganz wie Ragnhild Alle, aber dennoch reich und mächtig. Ich verstand längst nicht alles, spürte aber instinktiv, dass sie gefährlich für mich war.
Sie legte die Hand auf Otts Schulter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Ott nickte mir zu, und sie sah mich verächtlich an. In diesem Moment wurde mir klar, dass der Kampf gegen Ott schwieriger werden würde, als ich mir vorgestellt hatte.
«Du Arschloch», wiederholte ich und stahl mich davon. Das Letzte, was ich sah, waren Sklaven, die ein riesiges Feuer rund um das Grabschiff entzündeten, während die Sølver laut Odin und Silfraskalli priesen – den toten, wohlgemerkt – und persönliche Gegenstände in das Schiffsgrab warfen. Schnellen Schrittes verließ ich die Grabstätte.
«Ymer», zischte ich, weil ich wusste, dass er mir folgte.
«Ja», antwortete er ebenso sauer. Es schmeckte ihm gar nicht, ein Fest auszulassen, auf dem es garantiert viel gutes Essen und Trinken gab. Auch ich war darüber wenig erfreut, doch ich musste einfach weg von Ott und seinen mächtigen Freunden. Es war der einzige vernünftige Gedanke in meinem zornigen, von Racheplänen erfüllten Kopf, der nun einmal erst siebzehn Winter und sechzehn Sommer alt war.
«Hol Torste und Harek», herrschte ich Ymer an.
Aus sicherem Abstand sahen wir die Flammen von Silfraskallis Leichenfeuer nach dem dunkelgrauen Himmelsbogen greifen.
«Ott ist stärker, als ich dachte», sagte ich zerknirscht.
Torste nickte altklug, als hätte er dies schon lange gewusst. Vielleicht war dem auch so, denn es gab vieles, worauf er sich besser als ich verstand. Bestimmt hatte er sogar versucht, mir das klarzumachen, aber ich neigte dazu, alles zu überhören, was mich nicht interessierte oder in meine Pläne passte. Trotzdem hatte er mir ohne Zögern geholfen, einen Hof niederzubrennen, der mir nicht gehörte. Allein dafür konnte man gehängt oder – noch schlimmer – als Niding verbannt werden. Aber er hatte es getan, ohne mit der Wimper zu zucken.
«Ott hat eine Frau dabei», sagte er.
«Wer ist sie und woher kommt sie?»
«Von Otts Verbündeten und Freunden auf Fünen?», schlug Ymer vor. «Ottar Jarl hatte ganz bestimmt mehr Besitztümer als die, die schon niedergebrannt sind.»
«Ein paar davon liegen im Süden von Fünen. Die will ich haben.»
«Und wenn du sie nicht bekommst?», fragte Torste. «Oder Gorm dir nicht erlaubt, sie mit Gewalt zu nehmen, was tust du dann?»
«Dann brenne ich sie nieder, und alle anderen auch!», sagte ich trotzig. Ich rechnete mit weiteren Gegenargumenten von Torste, aber es kamen keine.
«Vielleicht bekommst du deine Antworten auf dem Allthing in Rønninge», sagte er stattdessen.
Wir hatten noch immer keine Pferde und konnten auch keine kaufen oder stehlen. Nach über einem Jahr Krieg war Fünen verarmt. Sigfred Lejre-König und Bjørn Eisenseite hatten so hohe Verluste, dass König Gorm das ganze Land mit tausend Mann kampflos einnehmen konnte. Doch das brachte noch keine neuen Pferde auf die Insel.