Minestrone um Mitternacht - Simone Hausladen - E-Book

Minestrone um Mitternacht E-Book

Simone Hausladen

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  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Ein kulinarischer Kriminalroman, der Appetit auf mehr macht. Die junge Köchin Clara steckt in ihrem Alltagstrott fest und sehnt sich nach aufregenden Abenteuern. Als sie Viktor, den charmanten Kunstfälscher und Auftragsräuber, kennenlernt, ändert sich ihr Leben auf einen Schlag. Statt kulinarische Kunstwerke zu schaffen, übergibt sie Hehlerware, raubt Villen aus und beteiligt sich an einem Millionenbetrug in London. Doch ein Kunstexperte von Interpol ist dem Pärchen dicht auf den Fersen. Als er Clara ins Kreuzfeuer nimmt, muss sie eine folgenschwere Entscheidung treffen.

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Simone Hausladen wurde 1977 in der Oberpfalz geboren. Die Therapeutin (HPG) und Autorin ist Mutter von drei Kindern. Sie lebte zehn Jahre lang in Zürich und sechs Jahre in Schanghai. Derzeit ist sie mit ihrer Familie in Münster zu Hause.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, unter Verwendung des Bildmotivs shutterstock.com/Ardea-studio

Lektorat: Susann Säuberlich, Neubiberg

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-006-8

Kulinarischer Kriminalroman

Originalausgabe

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We lie awake in love and in fear, in turmoil and in tears.

We stare at walls and drink until they speak back.

We twist in our self-made cages and pray that we aren’t – right this minute –

about to make some fateful life-altering mistake.

Taylor Swift, Album Midnight, Oktober 2022

Prolog

Beim Fälschen von Kunstwerken oder Schriftstücken gilt es, viele Regeln zu beachten. Viktor Faber beherrschte sie alle. Gemälde, Statue, Holzfigur, Dokument – ganz egal. Übung macht eben den Meister.

Er hatte nie etwas anderes getan und sein Talent schon früh entdeckt. In den vergangenen Jahren war er zu Europas erfolgreichstem Fälscher und Kopisten geworden. Er war längst kein Geheimtipp in der Szene mehr, sondern der Star, was seine Arbeit nicht unbedingt einfacher und in jedem Fall gefährlicher machte.

Mit geübten Bewegungen rührte er den rötlichen Farbton, mit dem er die Lippen der Statue, die vor ihm stand, bemalen würde. Hatte er der schlichten Holzfigur die richtigen Farbtöne verpasst, kam sie nach dem Trocknen noch für einige Stunden in den Backofen. Das imitierte den natürlichen Alterungsprozess. Ein Laie würde tatsächlich glauben, es handele sich um die Statue der heiligen Katharina des spanischen Dorfes Catí, die dort zufällig in einem Kloster wiederentdeckt worden war.

Das Bearbeiten von Statuen gehörte nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen, aber es ging ihm leicht von der Hand und brachte gutes Geld. Leute, die sich Heiligenfiguren in die Häuser stellten, hatten häufig keinen ausgeprägten Kunstverstand, geschweige denn ein Auge für wahre Schönheit, fand Viktor. Die Gefahr aufzufliegen hielt sich bei diesen Geschäften in Grenzen. Niemand würde sich die Mühe machen, die Heilige einer komplizierten Echtheitsprüfung zu unterziehen. Diese Menschen hatten nur Geld, zu viel, wie dieser französische Kunde, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, das Bildnis der Katharina in sein Büro zu stellen.

Viktors Auftraggeber waren sowohl Galeristen als auch Privatkunden, manchmal sogar Museen, wie eines in Irland, das ums Überleben gekämpft hatte, sich aber keinen Publikumsmagneten hatte leisten können. Viktor hatte mit einem Jan Vermeer Abhilfe geschaffen. Vor Jahren war ein eher unbekanntes Gemälde des holländischen Barockmalers bei Sotheby’s in London an einen privaten Sammler per Telefon versteigert worden. Der Käufer wurde nie publik gemacht. Viktor fälschte das Bild und verkaufte es dem Museum.

Ein schlechtes Gewissen hatte er nicht. Schließlich schadeten diese Deals niemandem. Im Gegenteil: Er schuf Kunst. Außerdem schätzten Experten, dass weltweit sowieso circa vierzig Prozent der ausgestellten Gemälde in Museen Kopien oder Fälschungen waren. Da kam es auf ein paar mehr nicht an, fand er. Nur manchmal musste er Originale stehlen, was aber den besonderen Kick in seinem Leben darstellte. Er liebte es, die Kunstermittler der Polizei an der Nase herumzuführen und ihnen immer ein paar Schritte voraus zu sein.

Der einzige Beamte, vor dem er Respekt hatte, war Gabriel Peartree, der Kunstexperte Interpols, der für Viktor alles andere als ein Unbekannter war. Der junge Kommissar war gerissener als seine europäischen Kollegen. Irgendwann würde Peartree für ihn zu einem Problem werden; dessen war sich Viktor bewusst. Aber er würde wachsam bleiben und rechtzeitig aussteigen. Sein Bankkonto auf den Kaimaninseln wies bereits eine stattliche Summe auf. Von den Bitcoins, die er besaß, ganz zu schweigen. Davon würde er ein paar Jahre komfortabel leben können, wenn es Zeit war unterzutauchen.

Gefüllte Zucchiniblüten

»Erde an Clara! Erde an Clara! In welchen Sphären schwebst du wieder?«

Clara zuckte zusammen, als ihr Kollege Enzo, der Patissier, sie anrempelte und dabei unsanft mit dem rechten Ellenbogen in die Rippen stieß.

»Ach, lass mich in Ruhe, Enzo. Ich muss mich konzentrieren.«

»Eben. Deshalb sollst du aufhören zu träumen, sonst überwürzt du die Füllung für die fiori di zucchina ripieni.« Er betonte jedes seiner Worte und machte dazu diese typisch italienische Geste, für die er die Fingerspitzen von Daumen, Zeige- und Mittelfinger zusammenpresste und vor seinem Gesicht wippen ließ. Grinsend steckte er sich einen seiner duftenden Mandelkekse, die den Gästen zum Kaffee serviert wurden, in den Mund. Er hatte sie vor ein paar Minuten aus dem Ofen geholt.

»Jaja, schon gut.« Enzo hatte recht. Sie sollte sich besser auf ihre Arbeit konzentrieren.

Die zerbrechlichen zartorangen Zucchiniblüten, die sie gleich füllen würde, lagen ungeduldig wartend vor ihr auf der blank polierten Arbeitsfläche. Mit geübter Hand vermengte sie Ricotta und frisch gehackte Kräuter zu einer glatten Paste und löffelte diese in einen Spritzbeutel. Es war höchste Zeit, dass das Gemüse in seinem weichen Bett aus Weißwein und Butter zur Ruhe kam.

Claras Gedanken waren heute häufiger abgeschweift als sonst. Der Tag war schleppend langsam vergangen, aber nun, bevor die ersten Gäste des Abends in die Cucina Ventura kommen würden, stand sie unter Zeitdruck.

Es war Donnerstag. Für Clara der aufregendste Tag der Woche. Jeden Donnerstag aß seit ein paar Monaten ein Mann in der Cucina zu Abend, der durch ihre Tagträume zu einem ständigen Begleiter für sie geworden war. Der Unbekannte übte auf sie eine unbegreifliche Faszination aus. Seine Ausstrahlung war besonders, anders. Fand sie.

In ihrer Phantasie brach sie aus dem starren Rahmen ihres Alltags aus. Häufig träumte sie nur so vor sich hin und malte sich ein anderes Leben aus. Ihre Parallelwelt, die sie sich erschaffen hatte, schien ihr manchmal realer als die Wirklichkeit.

Sie sehnte sich nach Abenteuer und Aufregung. Alles war so eingefahren. Ihr Job, ihre Beziehung, die Freundschaften, die sie pflegte. Wenn sie träumte, konnte sie sein und aussehen, wie sie es sich schon als Mädchen gewünscht hatte. Sie konnte tun, was sie wollte. In den lebendigen, vor Farbe strotzenden Bildern, die sie sich ausmalte, sah sie sich in ihrem eigenen Restaurant. Die zahlreichen Bewunderer ihres Kochhandwerks lagen ihr zu Füßen wie dampfende Cannelloni, die in Reih und Glied in eine Auflaufform geschichtet waren. Die Restaurantkritiker überschlugen sich mit Lob. Nicht nur für den extravaganten und unverkennbaren Stil ihrer Gerichte, sondern auch wegen der außergewöhnlichen Selbstverständlichkeit der kulinarischen Neuschöpfungen, die sie ihren Gästen immer wieder aufs Neue kredenzte. Sie zierte die Titelseiten von Kochmagazinen und Kochbüchern, ihr eigenes war kürzlich erschienen. Die Hautevolee Münchens gab sich die Klinke ihres Restaurants in die Hand.

In ihren Träumen war Clara groß, schlank, in den Bewegungen anmutig wie eine Elfe, die mit ihren zarten Fingerspitzen aus frischen Zutaten Wonne und Freude kreierte. Ihr ebenmäßiges Gesicht rahmten dichte, glänzende goldene Haarwellen ein, auf denen ihre Kochmütze wie ein Diadem aus Edelsteinen saß. Wenn sie lächelte, faszinierte das Strahlen ihrer tiefblauen Augen die anderen, und jeder hing an ihren wohlgeformten Lippen, beobachtend, wie sie von silbernen Löffeln Delikatessen verkostete.

Die Wirklichkeit offenbarte der Welt ein anderes, wenn auch liebenswürdiges, hübsches Gesicht. Dass Essen in ihrem Leben eine große Rolle spielte, lag ja für eine Köchin auf der Hand, was man ihrer Figur auch ein wenig ansah. An der Taille zwickte die Jeans. Ihre Haare, die sie zur Arbeit streng nach hinten zu einem Zopf geflochten trug, zeigten ein Erdbeerblond, in dem sich das gemütliche Licht der abendlichen Restaurantbeleuchtung weich brach. Obwohl ihr die Dämpfe aus Töpfen, Brätern, Siphons und Pfannen mehrmals täglich den Schweiß auf die Stirn trieben, schminkte sie ihre grünen Augen, bedeckte ihre Wangen mit roséfarbenem Rouge. Seit sie in der offenen, für die Gäste einsehbaren Küche der Cucina Ventura arbeitete, legte sie Wert darauf, auch sich selbst ansprechend zu präsentieren, nicht nur die von ihr liebevoll dekorierten Teller. Und das vor allem an Donnerstagabenden, wenn der Mann ihrer Träume zum Essen kam.

Niemand kannte den Namen des geheimnisvollen Gastes, er reservierte nie einen Tisch. Das taten stets seine Begleiter, die jede Woche wechselten.

Clara wusste nichts über diesen Menschen und fühlte sich ihm trotzdem verbunden. Für sie war er einmal ein Spion, dann ein Erfinder, ein Arzt oder ein einsamer Single, der nur auf sie gewartet hatte und sich nicht traute, sie anzusprechen. In ihrer Vorstellung verliebte er sich jedes Mal unsterblich in sie, nahm sie mit in sein Haus im Süden, und nichts konnte die Liebenden mehr trennen – für den Rest ihres Lebens.

Eines Abends hatte er auf dem Weg zu seinem Tisch an der Theke der offenen Küche haltgemacht und ein paar Worte an Clara gerichtet. Er hatte ihr freundliche Floskeln darüber gesagt, dass er sich wieder auf ihr Wochenmenü freue und alles, was sie bisher für ihn gekocht hatte, köstlich fände.

Das Gespräch war nichts Besonderes gewesen. Viele Gäste plauderten ab und an mit den Köchen. Das war der Gedanke der »offenen Küche«. Für Clara war es nur er: seine Stimme, das schöne Gesicht, die tiefschwarzen Haare, die einen Hauch zu lang in die hohe Stirn hingen. Seine braunen Augen, deren Intensität sie kaum hatte standhalten können. Ihre Knie waren weich geworden, in ihr baten die Schmetterlinge zum Tanz.

Von diesem Moment an war es ihr sehr bewusst gewesen. Sie hatte sich verliebt. Lächerlich kindisch verliebt in einen Fremden, in eine Phantasie. Verliebt wie ein Teenager in ein Popidol. Und das mit dreiunddreißig Jahren. Sie dachte Tag und Nacht an den Fremden. Bei der Arbeit, in der Freizeit und vor allem in ihrem Zuhause, das sie sich seit drei Jahren mit ihrem Freund Franklin teilte.

***

»Clara, leg bitte einen Zahn zu! Ich habe eben noch eine Reservierung für einen Fünfer reinbekommen. Wir sind wieder voll.«

Dante Ventura, Claras Chef, fuhr mit seinem dicklichen Zeigefinger den Rand der Schüssel entlang, die noch vor Clara stand, und leckte ihn schmatzend ab.

Als sie vor zwei Jahren als neue Souschefin bei Dante begonnen hatte, hatte es sie einiges an Überzeugungskraft gekostet, ihrem Chef klarzumachen, dass der Trend der modernen italienischen Küche an seinen Rezepten und Ideen längst vorbeigezogen war. Sie war eine der wenigen Frauen, die sich in einer professionellen Küche behaupten konnten, und hatte im Laufe der Zeit gelernt, nicht klein beizugeben und sich durchzusetzen. So war es ihr gelungen, Dante davon zu überzeugen, das Restaurant neu zu positionieren, umzudekorieren und junge Köche einzustellen. Schließlich waren die samtenen Vorhänge, die früher die Gäste vor neugierigen Passanten auf der Straße geschützt hatten, verschwunden. Die ausladenden runden Tische und die Stühle mit den schweren brokatüberzogenen Sitzflächen waren schlichtem Holzmobiliar gewichen. Unbemerkt hatten sich die Tische 20 und 21 eingereiht und trugen an guten Abenden dazu bei, die Investition schnellstmöglich zu amortisieren. Auf die silbernen Platzteller und das unhandliche Besteck hatte Dante aber trotz Abraten des Inneneinrichters bestanden. Es gab schließlich Grenzen, hatte er zu Clara gesagt. Sie hatte gelacht und es akzeptiert. Sie mochte Dante und wusste, dass er in ihr manchmal die Tochter sah, die er nie gehabt hatte. Beide trieb ein unerschütterlicher Ehrgeiz in der Küche, und sie teilten die Liebe zur Perfektion, die keinen Wert legte auf unnötige Täuschung und Dekoration auf Tellern und in Gerichten. Was zählte, war Qualität. Die brauchte keine Ablenkung.

Die Speisekarte der Cucina trug noch Dantes Handschrift, den Titel Chef de Cuisine ließ er sich nicht nehmen. In ausladenden marineblauen Lettern prangte der zusammen mit seinem Namen auf der blendend weißen Kochjacke, die er jeden Abend trug. Clara störte das nicht. Sie liebte ihren Beruf wegen seiner Vielfältigkeit und brauchte den Titel nicht. Bisher war sie glücklich damit, die Speisen der Menüs zeitgemäß zu gestalten und auf die Klientel des Restaurants zuzuschneiden, die, wie Dante immer wieder lautstark feststellte, jedes Jahr jünger wurde.

Dante Ventura hatte seine Karriere betreffend keine Ambitionen mehr. Das betonte er bei jeder Gelegenheit. Mehr und mehr zog er sich in Repräsentationsaufgaben zurück, für die Clara die Zeit fehlte.

Gemeinsam mit seiner Ex-Frau hatte Dante vor mehr als zwanzig Jahren die Cucina Ventura gegründet und mit seinem Konzept der offenen Küche eine neue Ära der Restaurantszene in München eingeläutet. Er hatte sein Leben dem Restaurant gewidmet und kochte seit der Trennung von seiner Frau, die genug von ihm und der Cucina gehabt hatte, nur noch für Menschen, die ihm am Herzen lagen. Oder wenn es darum ging, eine Dame, die sein Interesse geweckt hatte, zu beeindrucken. Die wirkliche Arbeit machten Clara und ihr Team.

Clara hatte ihn immer bewundert und sich als Kind bei Spaziergängen rund um den Gärtnerplatz vorgestellt, wie es wohl wäre, dort zu essen. Sie hatte schon sehr früh davon geträumt, hinter einem Kochtresen wie dem in der Cucina zu stehen oder vielleicht sogar ihr eigenes Restaurant zu besitzen. Inzwischen war es nichts Besonderes mehr, dass man Köchen bis zu einem gewissen Grad bei der Arbeit über die Schulter schauen konnte, und sie mochte diese Art zu arbeiten sehr. Viele Lokale und Hotelrestaurants hatten die Methode aufgegriffen. Es war schön zu sehen, wie die Gäste sich am Essen freuten.

Saltimbocca

Stetig füllten sich die Tische, und die Kellner riefen die ersten Vorspeisen ab. Ein Bon nach dem anderen flatterte an das Brett mit den Bestellungen. Um den Küchenbereich herum wurde es lauter. Geschirr schepperte, das Fett in den Pfannen zischte, Wasser brodelte.

Clara verteilte systematisch die Aufgaben an ihre Kollegen und machte sich anschließend selbst daran, den Thunfisch für Tisch 4 zuzubereiten. Das rote Fleisch kam für ein paar Sekunden auf den heißen Grill. Nur so lange, bis das Steak außen knusprig gebräunt war, innen sollte es roh bleiben. Aus dem Augenwinkel heraus sah sie zufrieden, dass der Entremetier, der Beilagenkoch, das dazugehörige Gemüse auch ohne ihre Aufforderung bereits blanchierte.

Als Souschefin war es ihre Aufgabe, die Küche zu leiten, wenn Dante das nicht selbst tat; was so gut wie nie vorkam. Sie hatte ein gutes Verhältnis zu ihren Kollegen, und sie waren ein eingespieltes Team, aber darauf verließ sie sich für gewöhnlich nicht. Sie behielt den Überblick.

Noch hatte sie nicht die Zeit gefunden, nach hinten in die Umkleide zu verschwinden, um ihr Rouge und den verblassten Lippenstift aufzufrischen. Nun, um beinahe halb acht, würde Mr. Dreamy, wie sie den unbekannten Schönen nannte, bald das Restaurant betreten. Sofern er seiner donnerstäglichen Routine treu bleiben würde.

»Guten Abend, Clara. Wie geht es Ihnen?« Freundlich winkte der Professor ihr hinter der Küchentheke zu. Er und seine Frau waren gern gesehene Stammgäste Dantes.

»Gut, danke, Herr Professor. Ich habe wieder ein wunderbares Ossobuco für Sie. Das wird Ihnen gefallen.«

»Davon bin ich überzeugt«, antwortete der Professor lächelnd.

Clara mochte das Ehepaar. Schon etwas zittrig und langsamen Schrittes gingen die beiden Hand in Hand zu dem Tisch am Fenster. Ihre stets gleiche Flasche Rotwein stand schon für sie bereit. Tisch 6 in der Cucina war nicht Tisch 6, sondern hieß »Der Tisch des Professors«. Das Ehepaar kam zu Dante, seit dieser das Restaurant eröffnet hatte. Er hatte ihre Kinder erwachsen werden sehen.

Auch wenn sie sympathisch waren, konnte Clara dennoch nicht umhin, das Leben des Paares in Frage zu stellen. Warum besuchte man zwanzig Jahre lang dasselbe Restaurant? Wie konnte man sich ein Leben lang mit demselben Partner zum Abendessen an einen Tisch setzen? War es tatsächlich möglich, dass eine einzige Liebe diese Routine aushielt?

Obwohl Clara schon seit fünf Jahren mit Franklin zusammen war, bezweifelte sie, dass eine Beziehung ein Leben lang halten konnte und man dabei glücklich war. Aber natürlich sind Ausnahmen möglich, dachte sie.

Ihr Blick wanderte von der Kochinsel aus über ihre Schulter zum Eingangsbereich des Restaurants. Dort rührte sich nichts. Clara konnte die Gäste beim Hereinkommen nicht sofort sehen. Sie mussten erst an der Garderobe vorbei, bevor sie in den Gastraum gelangten. Aber man hörte das Klingelspiel an der Tür, das jedes Mal grüßte, wenn sich neuer Besuch ankündigte.

»Ich bin gleich wieder da«, sagte Clara zu ihren Kollegen. Sie wollte einen Moment für sich haben.

In der Umkleidekabine gönnte sie sich trotz des steigenden Drucks in der Küche eine Pause. Aus ihrem Spind holte sie ein pinkes Schminktäschchen. Sich auszuklinken war nicht ihre Art, aber in letzter Zeit ertappte sie sich häufiger dabei, nicht bei der Sache zu sein. Sie mochte ihren Job. Was sie störte, war der immer gleiche Trott. Sie fühlte sich oft träge und lustlos. Manchmal war sie sogar wütend auf sich selbst, weil ihr der Antrieb fehlte, ihr Leben oder wenigstens ihre Einstellung dazu zu ändern und wieder glücklicher zu sein. Andererseits – was hätte sie auch schon groß ändern sollen? Sie hatte einen guten Job als Köchin. Und sie lebte in einer unaufgeregten, stabilen Beziehung mit Franklin, hatte einen netten Freundeskreis. Andere sehnten sich nach einem Leben wie dem ihren.

Am Waschtisch in der Umkleide, um den sich mehrere Flaschen Desinfektionsmittel aufreihten, stellte sie sich auf die Zehenspitzen, um mit dem Gesicht möglichst nah an den Spiegel heranzukommen. Sie überprüfte ihr Make-up. Seufzend registrierte sie, dass nicht mehr viel davon vorhanden war. Von dem Lidstrich, den sie vor Arbeitsbeginn gewissenhaft zu ziehen versucht hatte, war nichts mehr zu sehen. Das Rouge und der Lippenstift waren ebenfalls verschwunden, ihre Haut glänzte von den Fettdämpfen, die sich mit ihrem Schweiß vermischt hatten.

Unzufrieden mit ihrem Spiegelbild puderte sie ihr Gesicht ab. Danach legte sie Lidschatten und neues Rouge auf. Die Haarsträhnen, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten, glättete sie mit ein paar routinierten Handbewegungen zurück und flocht sie wieder in den Strang des Zopfes ein.

Unentschlossen versuchte sie ein freundliches Gesicht. Für ein paar gestohlene Sekunden sah sie in ihrer Vorstellung in die Augen des Unbekannten. Ihr Lächeln wurde echt.

***

Flammen schossen aus den Pfannen, der Grill war voll belegt mit einer sich langsam bewegenden Karawane von Fleisch und Fischfilets. Aus sämtlichen Töpfen zischte und dampfte es. Eine Bestellung für Saltimbocca, geschmorte Tauben, Kalbsleber venezianisch und Schwertfisch kam herein. Alles für einen Tisch.

Die vorbereiteten Tauben mussten zurück auf den Herd, um fertig geschmort zu werden. Das erledigte Clara als Erstes. Für das Gemüse erhitzte sie dazu in einer tiefen Pfanne Olivenöl und briet Pancetta darin an, bevor sie Spitzkohl untermischte. Der musste ein Weilchen dünsten, deshalb kam er als Nächstes an die Reihe und konnte weich werden, bis die anderen Gerichte so weit waren.

Aus der Kühlschublade unter der Arbeitsfläche holte sie eine Portion geschnittene Leber, wendete sie in Mehl und ließ sie in eine weitere Pfanne mit heißer Butter und Olivenöl purzeln. Obendrauf verteilte sie Zwiebelringe; das war zwar die falsche Reihenfolge – zuerst hätte sie die Zwiebel bräunen müssen –, aber so ging es auch. In eine weitere Pfanne legte sie die Kalbsschnitzel, die sie am Nachmittag schon mit Schinken und Salbeiblättern gespickt hatte.

»Ist Platz auf dem Grill?«, fragte sie nach. »Mein Schwertfisch kommt.«

Unsanft warf sie die Filets auf den Rost und schielte verstohlen erst wieder zur Eingangstür, dann auf die große Uhr, die im Gastraum hing. Sie zeigte halb neun. Die Leber brutzelte und fauchte inzwischen nach Aufmerksamkeit heischend. Clara stellte ihr die gewürfelten Tomaten vor und rührte sorgfältig um, ehe sie mit Rotwein ablöschte.

Die geöffnete Flasche des Küchenweins warf ihr ein rubinrotes Lächeln entgegen. Was würde sie für ein Glas davon geben! Der Fisch war gewendet und fertig gegrillt und kam auf einen weißen Teller in den Spiegel einer Soße aus Kapern und Zitronen.

»Ist das Risotto für die Saltimbocca angerichtet?«

Noch rechtzeitig zog sie den Kohl für die Tauben von der Flamme und beeilte sich, auch dieses Essen zum Gast schicken zu können. Bewaffnet mit Pinzette und Rosmarinzweigen verlieh sie den Gerichten mit geübter Hand den letzten Schliff.

»Tisch 9 ist fertig. Alles kann raus. Beeilung bitte!«

Halb zehn. Kam Mr. Dreamy nicht?

Ihr Magen meldete sich. Wie so oft war ihr eigenes Abendessen zugunsten desjenigen der Gäste auf der Strecke geblieben. Wieder und wieder wanderte ihr Blick zur Eingangstür, und wenn diese doch noch einmal geöffnet wurde und das Klingelspiel ertönte, hoffte sie nur auf ein einziges Gesicht.

Weitere Bestellungen regneten in gemächlichem Strom. Noch ein Schwertfisch, die Saltimbocca, die Pasta von der Tageskarte.

***

Zwei Stunden später waren die Bestellungen abgeebbt. Nur Enzo arbeitete noch an ein paar Nachspeisen. Der Feierabend nahte. Mr. Dreamy war nicht gekommen. Die Hoffnung auf sein Erscheinen hatte Clara mit der letzten Portion Pasta des Abends im heißen Wasser ertränkt. Die bittere Enttäuschung saß ihr auf den Schultern und ließ ihre Bewegungen schwer und träge sein.

»Ich mache Schluss. Mir reicht es.« Sie löste das Geschirrtuch, das an ihrem Schürzengürtel baumelte, und legte beides achtlos zum Rest der schmutzigen Wäsche in der Küche.

»Du gehst schon, Clara? Ich wollte die Specials für Samstag noch vorbesprechen.«

Dante ließ sie nach getaner Arbeit ungern gehen. Das wusste Clara genau. War sie weg, verschwanden die anderen auch schnell, und er blieb allzu früh verlassen zurück. Auf ihn wartete niemand, und manchmal versuchte er, die Sperrstunde nach hinten zu drängen.

»Ich bin müde, Dante.« Clara hatte keine Lust, ihrem Chef Gesellschaft zu leisten. Sie verstand, warum es ihn nicht nach Hause zog. Besser, als sie es ihm erklären konnte. Der Unterschied war nur, dass sie nicht in ihre Wohnung wollte, weil sie sich im Gegensatz zu Dante nach Ruhe sehnte. Sie wollte mit Franklin nicht über ihren Tag reden. Die einzige Person, die sie heute interessiert hätte, war Mr. Dreamy. Aber von ihm hatte es keine Spur gegeben.

Bevor Dante noch etwas erwidern konnte, war sie in der Umkleide verschwunden. Die Kochschürze, die die Spuren aller Gerichte der heutigen Speisekarte trug, legte sie in den Behälter für die dreckige Wäsche. Die Reinigung würde sie morgen abholen. Die schwarze Hose, die in verschiedenen Ausführungen jeden Abend Teil ihrer Kochuniform war, behielt sie an. Sie schlüpfte nur in eine graue Strickjacke, die in ihrem Spind hing.

Während sie schon auf dem Weg nach draußen war, zog sie ihren schwarzen Mantel über und knotete einen dicken blauen Schal eng um den Hals. Auf ihrem Gesicht brannte noch die Hitze der Küche, als die Nachtkälte sie traf. So schwarz wie der Himmel war ihre Stimmung. So schwer wie ihre Schritte war ihr Herz.

Risotto

Zügig ging sie in Richtung Fraunhoferstraße. Der Wind hatte aufgefrischt, ein Hauch Februarschnee legte sich auf die Klenzestraße. Die Nacht war besonders kalt.

Clara zog die Schultern hoch, um sich vor der Kälte zu schützen. Ihr Schal roch nach Küche, nach Risotto. Sie war müde. Nicht nur erschöpft vom Arbeitstag. Sie fühlte sich ausgebrannt. Zum ersten Mal seit drei Monaten war Mr. Dreamy nicht gekommen. Warum? War er weggezogen? Im Urlaub? Ging er jetzt woanders essen?

Clara wusste rein gar nichts über den Mann, aber sie war verletzt und kam sich zurückgewiesen vor. Wie lächerlich das war, war ihr bewusst. Er kam nicht ihretwegen. Er wusste nicht einmal, wer sie war, dass sie existierte. Doch nur sein Anblick hatte ihr die letzten Wochen geholfen, nicht vollends in Alltagsresignation zu versinken. Dieser Mann löste Gefühle in ihr aus, die sie bei Franklin nie erlebt hatte. Hätte sie jemand nach ihrer Vorstellung von dem perfekten Mann gefragt, wäre ihre Antwort »Mr. Dreamy« gewesen.

Jeden Donnerstag hatte sie ihn von ihrem Posten in der Küche aus beobachtet. Sie kannte sein Gesicht auswendig, und wenn sie ihre Augen schloss, sah sie es so dicht und real vor sich, dass sie es hätte berühren können, wenn sie ihre Hände nach ihm ausgestreckt hätte. Wenn er lächelte, zeigten sich an seinen Wangen zwei winzige Grübchen. Waren seine schwarzen Haare frisch geschnitten, legten sie die Ohren und den elegant geschwungenen Nacken frei. Die gebräunten Hände hatten schlanke Finger, mit denen er sie in ihren Träumen liebkoste. Er hielt ihr Gesicht und strich ihr durch die Haare. Er war für sie der Ritter auf dem weißen Pferd, der gekommen war, um sie zu retten.

Bei diesen Gedanken kam sie sich lächerlich vor, wie ein kleines Mädchen. Aber sie gab sich ihnen hin und ließ sich in sie fallen.

Sie schien in ihrem Leben angekommen und war es eben nicht. Sollte sie die nächsten zehn oder fünfzehn Jahre für Dante arbeiten und mit Franklin zusammenleben? Der Gedanke machte ihr Angst. Klar, es gab die Option, Kinder zu haben oder sich selbstständig zu machen. Aber würde sie das glücklich machen? Irgendwie hatte sie sich ihr Leben aufregender vorgestellt.

Als sie die Treppen zur U-Bahn hinabstieg, senkte sich mit jedem weiteren Schritt ihre Stimmung.

Die Bahn fuhr ein, und sobald sich die Türen öffneten, drängte sich Clara an den Aussteigenden vorbei hinein und ließ sich auf einen Platz am Fenster fallen. Vom langen Stehen in der Küche schmerzte ihr Rücken mehr als sonst, und ihre Hände brannten. Die von der Küchenarbeit trockene und gerötete Haut spannte über den Fingerknöcheln. Sie kramte in ihrer Handtasche nach einer Creme. Eine Schnittwunde am linken Zeigefinger hatte noch nicht entschieden, ob sie sich entzünden wollte, und der Nagel vom Ringfinger war eingerissen. Von den zahlreichen Schwielen und Brandnarben abgesehen. Clara vergrub die Hände tief in den Taschen ihres Mantels.

Die U-Bahn verlangsamte ihre Fahrt. Sie näherten sich der nächsten Haltestelle Josephsplatz. Clara stieg aus. Trotz der Erschöpfung, die ihr an diesem Abend besonders in den Gliedern saß und ihren Körper schwer machte, wählte sie einen längeren Nachhauseweg in die Elisabethstraße. Sie hoffte, die kalte Luft würde ihre Gedanken klar werden lassen. Außerdem schlief Franklin meistens schon, wenn sie erst nach Mitternacht aus dem Restaurant zurückkam. Das war besser so. Sonst würde sie ihm gegenüber nur wieder gereizt und ungerecht sein und mit schlechtem Gewissen den Tag beenden.

Franklin war aufmerksam und liebevoll. Als sie sich vor fünf Jahren über gemeinsame Bekannte kennengelernt hatten, waren sie verliebt und glücklich gewesen. Schnell waren sie zusammengezogen. Aber ebenso schnell war der Trott eingekehrt, der für Clara von Tag zu Tag unerträglicher wurde.

Hinzu kam, dass es bei ihren Arbeitszeiten schwierig war, überhaupt eine Beziehung zu führen. Wenn andere Paare Zeit füreinander hatten, ausgingen und Freunde trafen, stand sie am Herd. Ein gemeinsames Frühstück, ein gemeinsames Starten in den Tag kannten sie nicht. Clara schlief lang, und Franklin ging früh aus dem Haus. Aber er hatte sich noch nie darüber beklagt und passte sich ihr an. Nach seinem Arbeitstag als Lehrer erledigte er die Hausarbeit, kaufte ein, putzte die Wohnung und wusch die Wäsche. Alles, um Clara den Rücken freizuhalten und die wenige gemeinsame Zeit nicht mit Alltagsarbeiten vergeuden zu müssen. Ihre Freunde – und sogar ihre Mutter – mochten ihn. Jeder mochte Franklin.

Clara mochte ihn auch. Aber sie liebte ihn nicht mehr; hatte sie vermutlich nie, dachte sie. Als Freunde hätte sie gern mit ihm zusammengewohnt. Nicht aber als Liebespaar. Sie empfand keine Leidenschaft mehr für ihn, er langweilte sie. Seine Erzählungen aus der Schule oder seine Hobbys – Spieleabende und Fahrradfahren – fand sie gewöhnlich. Weil er aber ein guter Kerl war und sie nur selten Streit hatten, außer Clara provozierte diesen, wusste sie nicht, ob und wie sie die Beziehung beenden sollte. Und wäre ein Leben als Singlefrau besser gewesen? War es sogar normal, nach fünf Jahren so zu fühlen? Franklin drängte zunehmend darauf, eine Familie zu gründen. Er hätte die Elternzeit übernommen und wäre sicher ein toller Vater gewesen. Aber Clara hatte noch nicht für sich entschieden, ob und wann sie Kinder haben wollte.

***

Ein feiner ziehender Nebel lag über der nächtlichen Straße, in die sie auf ihrem Fußmarsch einbog. Kein Auto. Kein Mensch. Aus der Entfernung hörte sie das Sausen und An- und Abfahren der Straßenbahn. Ein Klapperschritt an der Straßenecke, dann wieder Stille und nur ihre eigenen Schritte und Gedanken.

Der Sirenenalarm, der plötzlich in der Luft hing, kam ihr im ersten Moment surreal vor. Das Geräusch und das blaue Blinken, das über ihr schwebte, riss sie aus der Lethargie. Was war da los?

Sie sah Rauch über dem Nordfriedhof. Unbeirrt setzte sie ihren Weg an der St.-Josephs-Kirche vorbei fort, als sich ein mulmiges Gefühl in ihrem Magen ausbreitete. Etwas war hier nicht in Ordnung. Sie konnte die Situation nicht einordnen – die Feuerwehrsirene, den Rauch, das Blaulicht. Gab es in der Nähe einen Unfall?

Wie aus dem Nichts wurde sie zu Boden gestoßen. Begraben unter einem schweren Körper, lag sie hilflos auf der Straße und wusste nicht, wie ihr geschah. Das Gesicht zur Seite gedreht, fühlte sie den eisigen Asphalt an ihrer linken Wange.

So schnell, wie es sie niedergerissen hatte, löste sich das Gewicht wieder von ihr. Der Schock und die Angst machten sie für ein paar Momente bewegungsunfähig. Als zwei Hände nach ihr griffen und sie unsanft auf die Beine zerrten, war sie noch benommen. Wie in einem Nebel sah sie drei Männer, die schwarze Masken über dem Kopf hatten. Sie stritten sich, gestikulierten wild vor sich hin, deuteten wiederholt in ihre Richtung.

Clara verstand kein Wort von dem, was sie sagten, sie schrien durcheinander. Ihre Gedanken rasten wild, und die Angst lähmte ihr für einen Moment die Sinne.

Neben ihr quietschten Reifen, die Seitentür eines Kleinbusses öffnete sich, sie wurde hektisch hineingezerrt und auf eine der beiden sich gegenüberliegenden Sitzbänke gedrückt. Wieder Reifenquietschen, das Fahrzeug beschleunigte abrupt. Clara saß mit dem Rücken zum Fahrer und hatte Mühe, nicht vom Sitz zu fallen.

Sie kauerte sich zusammen, indem sie die Arme zum Schutz um den Körper schlang, und fühlte Panik, die ihr die Kehle zuschnürte. Sie brachte keinen Laut hervor. Unruhig schaute sie zwischen den gesichtslosen Kerlen hin und her und konnte dennoch nichts erkennen.

Das konnte nur ein riesengroßer Irrtum sein! Was wollten die Banditen ausgerechnet von ihr?

»Was soll das, du Idiot?«, blaffte der fülligste der Männer denjenigen an, der Clara umgerannt hatte.

»Ich habe die Frau nicht gesehen, sie stand plötzlich da. Sie kam aus dem Nichts«, erwiderte der aufgebracht.

»Du kennst das Credo unserer Arbeit! Keine menschlichen Opfer, keine Verletzten – zumindest nicht, wenn es sich vermeiden lässt. Was machen wir mit ihr? Eine Zeugin kann das Aus für unseren Auftrag bedeuten, das weißt du. Du bist ein Idiot! Ich frage mich, weshalb ich dich überhaupt noch mitnehme. Du wirst von Auftrag zu Auftrag tollpatschiger«, schimpfte der Mann neben ihr.

»Wir könnten sie betäuben, zurückfahren und auf den Friedhof werfen. Oder mit einem Genickbruch kaltmachen.« Der Vorschlag kam emotionslos vom Dritten der Bande, er war unter der dunklen Kleidung mit Muskeln bepackt, die sich deutlich abzeichneten. Das Vorhaben wäre ihm sicher leicht von der Hand gegangen.

Clara versteifte sich noch mehr auf ihrem Sitz. Die Angst kroch ihr den Nacken entlang, Schweiß sammelte sich auf der Stirn. Das konnte nur ein böser Traum sein! Sie wollte aufwachen, schloss aber die Augen.

»Hast du komplett den Verstand verloren?«, fragte wieder der Mann neben ihr. »Wir nehmen sie mit und sehen später weiter.« Keiner widersprach. »Hast du wenigstens die Maria sicher im Griff?«

Einer der Männer hielt eine Art Bündel oder Paket an sich gedrückt. »Sicher im Griff, jawohl, Boss.«

»Sei vorsichtig damit, du darfst sie nicht beschädigen. Der marienbesessene Italiener zahlt nur für saubere Ware«, sagte der Boss und zog sich plötzlich ruckartig die schwarze Haube ab. Die beiden anderen taten es ihm gleich.

Clara starrte ihr gegenüber in zwei grobe Männergesichter. Gesichter, die zu Vorsicht rieten. Adrenalin schoss durch ihren Körper. Pure Angst. Was bedeutete es für sie, wenn die Ganoven ihre Masken abnahmen? Bis auf den Fahrer, der sich noch nicht umgedreht hatte, würde sie die Männer wiedererkennen. Aus Krimis im Fernsehen wusste sie, dass es für Opfer gefährlich wurde, wenn sie die Täter identifizieren konnten. Sie wollte nicht verschleppt oder umgebracht werden!

Die nächste Adrenalinausschüttung versetzte ihr innerlich einen Schock, der noch heftiger war als ihre Angst. Ihr Herzschlag setzte tatsächlich für einen kurzen Moment aus. Der Mann zu ihrer Rechten war kein Unbekannter. Sie blickte direkt in das Gesicht des geheimnisvollen Gastes aus der Cucina. Der Boss war Mr. Dreamy.

Pizza

Claras Kehle fühlte sich staubtrocken an. Sie rang nach Luft. Verkrampft klammerte sie sich an den Sitzpolstern fest.

»Beruhigen Sie sich. Wir werden Ihnen nichts tun. Es war nicht geplant, Sie in die Sache hineinzuziehen – oder überhaupt jemanden. Bei diesem Auftrag ist einiges schiefgelaufen.« Mr. Dreamy musterte Clara argwöhnisch. »Moment, ich kenne Sie doch.«

»Ich bin Köchin in der Cucina in der Klenzestraße«, erwiderte Clara ängstlich.

»Genau!«, rief Mr. Dreamy begeistert. »Sie machen das unverschämt gute Ossobuco. Noch ein Grund, Sie unversehrt zu lassen.«

»Sehr witzig.« Clara beruhigte sich ein wenig. »Bitte lassen Sie mich aussteigen. Ich werde niemandem etwas verraten. Ich weiß nicht, um was es geht oder wer Sie sind. Wir tun, als wäre nichts geschehen.«

»Ich glaube, das geht nicht.« Mr. Dreamy rieb sich nachdenklich das Kinn. »Ich heiße Viktor. Sie kennen nun also meinen Namen und mein Gesicht, und ich weiß, wo Sie arbeiten. Wir sollten uns in Ruhe unterhalten.«

Die anderen Männer lachten grunzend.

Der Lieferwagen wurde langsamer und hielt schließlich an. Nach Claras Einschätzung mussten sie irgendwo auf der anderen Seite des Englischen Gartens sein. Richtig orientieren konnte sie sich in der Aufregung nicht. Die Schiebetür öffnete sich, und die Männer samt Fahrer sprangen heraus.

Viktor blieb stehen. Mit einer galanten Handbewegung wies er Clara an, auch herauszukommen.

Sie hatte keine Wahl. Gegen vier Männer hätte sie niemals eine Chance.

Und da war noch etwas, das sich in ihr regte. Mit jeder Minute verflog ihre Angst mehr, und Neugierde keimte auf. Was ging hier vor sich? Was trieb dieser Viktor? Wer war er?

Als Clara ebenfalls auf der Straße stand, versuchte sie, die Gegend einzuordnen. Sie sah nur gepflegte Häuser und vermutete, dass sie sich in Bogenhausen befanden, eventuell in der Nähe zum Herzogpark, war sich aber nicht sicher. Große Äste der Kastanien, die jetzt im Februar noch keine Blätter trugen, verdeckten vereinzelt die Sicht in beleuchtete Fenster.

Viktor nahm sie am Oberarm und führte sie in die Villa, vor deren Treppenaufgang der Lieferwagen parkte. Herrschaftliche Säulen stützten das Vordach, das wie ein Krönchen aussah.

Das Krachen der schweren Eingangstür, die hinter ihnen ins Schloss fiel, ließ Clara zusammenzucken. Eine breite Holztreppe führte in die oberen Stockwerke zu mehreren Wohnungen. Die Männer stiegen gemächlich nach oben. Einer von ihnen hielt das Bündel aus dem Lieferwagen in der Hand. Offensichtlich war es schwer. Er schnaufte laut.

Im Dachgeschoss angekommen, stellte sich Clara in eine Ecke zu der Bande, damit Viktor im engen Treppenhaus die Tür zu einer Wohnung aufschließen konnte. Sie roch Schweiß. Ohne Zögern gingen die Kerle an ihr vorbei und traten ein. Sie kannten den Weg. Keiner beachtete Clara, als hätten sie das Interesse an ihr verloren.

Für einen Moment stand sie allein da. Fluchtreflex kam auf. Sollte sie sich trauen und die Treppe wieder nach unten stürzen? Blitzschnell wägte sie die sich ihr erschließenden Optionen ab. Würde sie es schaffen, sich auf die Straße zu retten? Wüsste sie sofort, wo sie war oder in welche Richtung sie laufen sollte? Sie könnte sich in einem Park, Vorgarten oder Graben verstecken und mit ihrem Handy Hilfe rufen. Sollte sie schreien, um andere Hausbewohner zu wecken?

Sie wusste nicht, wie gefährlich die Männer tatsächlich waren oder wer noch in diesem Haus wohnte und ihr zu Hilfe kommen könnte. Der Muskulöse hatte im Auto zumindest an Gewalt gedacht. Würde er sie wirklich töten? Eben hatten sie einen entspannten Eindruck auf sie gemacht, sodass ihre Angst beinahe vollständig der Neugierde gewichen war. Doch war dem zu trauen? Die Männer waren immerhin Einbrecher. Wieso hatten sie sonst Masken getragen?

Sie war so neugierig und wollte mehr über Mr. Dreamy erfahren. War das zu leichtsinnig von ihr? Den ganzen Abend hatte sie auf ihn gewartet, den ganzen Tag an ihn gedacht. Jetzt war er hier. Sie musste nur durch diese Tür gehen.