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Kennst du dich schon oder entscheidest du noch?Mit richtigen Entscheidungen ersparen wir uns Irrwege, Liebesleid und bares Geld. Entscheiden wir aber zu schnell, ruinieren wir unser Leben – riskieren wir zu viel, können wir auch viel verlieren. Und wer zu lange grübelt, verpennt sein Leben im Gefängnis der unendlichen Möglichkeiten. Egal ob es um den neuen Job oder das Urlaubsziel geht – jedes Mal scheint unser komplettes Lebensglück auf dem Spiel zu stehen. Was aber, wenn der Schlüssel guten Entscheidens nicht im Abwägen, sondern im Loslassen liegt? Rebecca Niazi-Shahabi zeigt, warum Selbsterkenntnis sehr viel fröhlicher macht als alle Chancen zusammen, weshalb Pro- und Kontra-Listen der Anfang vom Ende sind und wie man selbst bei großen Lebensfragen endlich gelassen entscheidet.
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Einleitung | Wenn alles ganz anders werden soll ...
1 Du kannst alles, wenn du dich traust | Im Gefängnis der Möglichkeiten
2 Endlich einmal etwas richtig machen | Warum Entscheiden nicht die Lösung ist
3 Mein gutes Recht auf Glück | Warum das, was andere haben, immer schöner ist
4 Der schöne Glanz des Zufalls | Das Märchen von der wahrscheinlichen Unwahrscheinlichkeit
5 Glücklich sein gegen den Rest der Welt? | Über ein merkwürdiges Gesellschaftskonzept
6 Wer die Reue besiegt | Ein Trick mit Nebenwirkungen
7 Wann es Zeit ist, radikal zu werden | Vom alles ausschließenden Grund
8 Will ich denn, was zu mir passt? | Von der Entscheidung, ein anderer zu sein
Um die Entscheidungsfindung von Menschen zu erforschen, legen Verhaltenspsychologen heimlich Münzen neben Kaffeemaschinen und Kopierer und stellen fest, dass dieser unerwartete »Nebenverdienst« ihre Probanden fröhlicher und risikofreudiger macht. Sie veranstalten komplizierte Lotterien und finden heraus, dass Menschen eher ihren Besitz schützen als Gewinne machen wollen. Und bei moralischen Dilemmata entscheiden sich die meisten Befragten lieber dafür, eine Katastrophe geschehen zu lassen, als aktiv einzugreifen und einen Kollateralschaden zu riskieren.
Die Ergebnisse dieser Versuche sind lehrreich, manchmal sogar verblüffend und durchaus unterhaltsam, aber was haben ausgelegte Münzen, moralische Dilemmata und Lotteriespiele mit unserem eigenen Leben zu tun? Wie können sie uns helfen, so zu entscheiden, dass am Ende genau das herauskommt, was uns wirklich glücklich macht?
Richtig kluge Entscheidungen zu treffen ist etwas, was jeder gut können möchte. Richtige Entscheidungen ersparen einem Irrwege, Liebesleid und bares Geld.
Entscheiden wir aber zu schnell, können wir unser Leben ruinieren; brauchen wir zu lange, werden wir das Beste verpassen; riskieren wir etwas, können wir viel gewinnen, aber auch viel verlieren. Wer nicht oder falsch entscheidet, verpasst also die bestmöglichste Version seines Lebens – und das ist unverzeihlich. Jedenfalls glauben wir das.
Nicht entscheiden können ist quälend. Und selbst wenn wir unzählige Menschen um Rat fragen würden – im entscheidenden Moment können sie uns doch nicht helfen. Denn entscheiden muss man immer allein. Aber wie können wir herausfinden, was wir wollen, denn wüssten wir es, wäre die Sache ja schon entschieden? Entscheidungen markieren also den Punkt, an dem wir etwas am Status quo ändern müssen, aber noch nicht wissen wie.
Los geht’s!
Solange wir davon ausgehen können, dass alles beim Alten bleibt, meiden wir das Risiko. Erst wenn eine Situation unerträglich wird – der Job immer nerviger, der Partner immer liebloser, das Kind immer frecher, der Alltag immer langweiliger und die Figur immer konturloser –, haben wir das Gefühl, die entscheidende Wende in unserem Leben herbeiführen zu müssen.
Den ersten Schritt in die Freiheit, so empfehlen Coaches und Lebensberater, macht nur, wer etwas wagt und aus bestehenden Mustern ausbricht. Dafür soll man sich zum Beispiel ausmalen, wo man in einem Jahr oder in fünf oder zehn Jahren gerne wäre. Und dann soll man alles daransetzen, das Gewünschte zu erreichen. Schließlich können wir morgen alles sein, wenn wir heute nur wollen. Das Einzige, was uns angeblich einschränkt, sind unsere Ängste – und unsere Glutenallergie.
Doch die Wirklichkeit ist leider oft anders, als »nachdenkliche Sprüche mit Bildern« uns glauben machen wollen. Meist weiß man nämlich gar nicht so genau, was einen unzufrieden, unglücklich oder unruhig macht – ganz zu schweigen davon, welche Entscheidung einen von diesem Zustand erlösen könnte. Man weiß nur eines: So wie es ist, kann es auf keinen Fall bleiben!
Panisch macht man sich auf die Suche nach einem lohnenden Ziel, damit man endlich entschlossen losmarschieren kann, schließlich ergeben sich dann angeblich die meisten Entscheidungen von selbst. Nur wie kann es sein, dass man gar nicht weiß, welches Ziel man erreichen will? Traut man sich vielleicht einfach nicht, zu seinen wahren Wünschen zu stehen, wie viele Lebensberater behaupten?
Damit wir uns endlich trauen, üben sie Druck auf uns aus. »Zögere nicht länger«, »Verlasse deine Komfortzone«, »Glaube an dich und wirf deine Ängste über Bord!« sprudelt es aus der Lebenshilfedruckbetankung direkt in unser schlechtes Gewissen hinein. Und Druck ist ihrer Meinung nach nötig, um endlich die Hindernisse zwischen uns und unserem Ziel abzubauen. Endlich soll alles verschwinden, was uns bisher daran gehindert hat, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein und das Richtige zu tun.
Der Irrtum könnte größer nicht sein.
Derart motivierte Menschen sind zwar voller Hoffnung, dass sie nun alle nötigen Entscheidungen treffen werden, sie müssen aber schnell feststellen, dass ihnen ihre Entschlossenheit beim Entscheiden auch nicht viel hilft. Denn was auch immer sie Neues beschließen und beginnen, es gibt stets eine noch schönere Möglichkeit als die soeben ausgewählte. Einen noch größeren Traum, der sich erfüllen ließe, wenn man nur den Mut dazu hätte. Woher soll man also wissen, dass man auf dem richtigen Weg ist? Denn das ist das Problem mit den vielen Optionen, die uns heute angeblich zur Verfügung stehen: Wenn alles infrage kommt, ergibt nichts einen Sinn. Und man kann es genauso gut bleiben lassen!
Wie können wir also herausfinden, welche von den vielen Optionen unsere Option ist? Ob die nächste Reise, die Reise ist, die wir wirklich machen wollen? Wie können wir erkennen, ob es richtig ist, weiterhin durch diese Bürotür zu gehen und nicht stattdessen etwas ganz anderes zu machen? Wann es Zeit ist, seinen Partner zu verlassen, auf einer Familienfeier zu sagen, was man denkt, ein Kind zu bekommen oder alles aufzugeben und mit einem Wohnwagen durch die Welt zu ziehen?
Machen Sie ein Gedankenspiel: Stellen Sie sich vor, Sie hätten die absolute Entscheidungsautonomie. Alles, was Sie in Ihrem Leben bereits getan, gesagt, unterlassen oder auch nicht gesagt haben, war genau das, was Sie tun wollten. Gehen Sie nur zum Spaß davon aus, dass Sie instinktsicher stets die Alternative ergriffen haben, die unter den gegebenen Umständen, unter Berücksichtigung Ihrer Talente, Schwächen und Vorlieben, sowie Ihres jeweiligen Wissens- und Kontostands die beste Entscheidung war. Anders kann es ja gar nicht gewesen sein, denn sonst müsste Sie jemand daran gehindert haben – und dieser Jemand kann niemand anderer gewesen sein als Sie selbst. Und selbst in diesem Fall müssten Sie sich eigentlich keine Vorwürfe machen, denn auch dafür werden Sie Ihre Gründe gehabt haben. Denn hinter jeder Unentschlossenheit, hinter jedem Zögern steckt ein ganz besonderer Sinn. Nun müssen Sie nur noch herausfinden, welcher. Und dann ergibt sich Ihre nächste Entscheidung von ganz allein.
»Wir sind alle maximal frei und maximal unter Zwang. Und zugleich wollen wir uns so viele Optionen wie möglich offenhalten.«
Hartmut Rosa, Soziologe
Es passiert selten, aber es kommt vor: Sie sind verwechselt worden. Als man Ihnen die Aufnahmen aus dem Vorraum einer Bankfiliale vorführt, müssen auch Sie zugeben, dass die Person, die dort den Bankautomaten sprengt, Ihnen verblüffend ähnlich sieht. Ein Serientäter, es besteht Flucht- und Wiederholungsgefahr, also kommen Sie in Untersuchungshaft. Sie versuchen Ruhe zu bewahren, was nicht einfach ist in dieser Umgebung. Vom Bett aus schaut man auf ein verkalktes Waschbecken und eine Toilette, wenigstens sind Sie allein in Ihrer Zelle. In dieser Nacht schlafen Sie nicht, und als Sie um sechs Uhr fünfzehn geweckt werden und nach Ihrem Anwalt fragen, vertröstet man Sie auf später. Sie werden hier bald herauskommen, da ist sich Ihr Anwalt sicher, trotzdem bleibt ein komisches Gefühl, als Sie nach der Unterredung wieder aus dem Besucherraum in Ihre neun Quadratmeter große Zelle geführt werden. Als die Zellentür hinter Ihnen geschlossen wird, bricht Ihnen der Schweiß aus. Zum ersten Mal in Ihrem Leben haben Sie Platzangst.
Am nächsten Tag wollen Sie mit Ihrem Arbeitgeber telefonieren, Sie müssen das Telefonat anmelden. Das Mobiltelefon hatte man Ihnen gleich bei Ihrer Einlieferung abgenommen. Am Nachmittag am Telefonapparat im Besucherraum, im Beisein eines Justizbeamten, erklären Sie sich. Ihr Arbeitgeber versichert Ihnen, dass Sie sich keine Sorgen machen brauchen; ein Justizirrtum, der sicher bald aufgeklärt ist.
Binnen achtundvierzig Stunden, hatte Ihr Anwalt gesagt, sei mit Ihrer Entlassung zu rechnen, kein Grund also, voreilig Verabredungen und Geschäftstermine abzusagen. Obwohl völlig übermüdet, können Sie auch diese Nacht nicht einschlafen. Der Beamte der Frühschicht bringt Ihnen das Frühstück, danach sitzen Sie auf dem Stuhl und warten, aber worauf? Sie sind noch keine drei Tage in Haft und können sich bereits vorstellen, dass man hier von Mahlzeit zu Mahlzeit lebt. Außer dem einstündigen Hofgang gibt es keinerlei Ablenkung. Sie werden etwas zu erzählen haben, beim nächsten Treffen im Biergarten, Sie wissen jetzt, wie es ist, wenn man sich mit allen Fasern seines Körpers nach Freiheit sehnt. Als Sie am Nachmittag im Hof zum ersten Mal anderen Häftlingen begegnen, schlägt Ihr Herz schneller. Mit einem Italiener namens Matteo spielen Sie eine Runde Tischtennis, er ist schon vier Monate hier und verrät Ihnen, dass man einen Fernseher und sogar einen E-Book-Reader mit versiegeltem USB-Anschluss mieten kann.
Eine Woche dauert es, bis der Reader genehmigt ist. Sie finden darauf die neueste Unterhaltungsliteratur, aber auch Klassiker des 19. Jahrhunderts. Sie beginnen mit zwei Werken, von denen Sie immer behauptet haben, dass Sie sie gelesen hätten, die sie aber in Wirklichkeit nur als Zusammenfassung kennen. Der Nachmittag geht schnell vorüber, wann haben Sie das letzte Mal konzentriert drei Stunden am Stück gelesen? Nach dem Abendbrot lesen Sie weiter, wenn man am Schreibtisch sitzt und die Schranktür aufklappt, sieht man die Toilette gar nicht, und Sie fühlen sich fast wohl in Ihrem kleinen Zimmer.
Wiederum zwei Wochen später haben Sie eine Routine entwickelt. Nach dem Frühstück machen Sie eine Stunde Sport, dann widmen Sie sich Ihrer Lektüre, und nach dem Mittagessen (welch wunderbares Gefühl, sich keine Gedanken mehr darüber zu machen, was man essen will und sich mit der Freundin zu streiten, wer heute einkauft und kocht), spielen Sie eine Partie Tischtennis mit Matteo. Außerdem haben Sie sich über einen Freund englische und italienische Bücher zukommen lassen. Der Urlaub mit Ihrer Freundin auf Sylt ist abgesagt, aber den kann man nachholen. Matteo sagt, dass Ihr Italienisch schon viel besser geworden ist, Sie fragen nicht, warum er in Untersuchungshaft ist, es ist Ihnen egal, schließlich haben Sie eine Einzelzelle und fühlen sich ob der Komplettüberwachung (man befindet sich schließlich im Gefängnis!) recht sicher. Sie freuen sich einfach auf die Nachmittage mit ihm, und auch Sie scheinen ihm sympathisch zu sein.
Ihr Freund kommt zu Besuch und macht Ihnen Komplimente zu Ihrer Figur. Sie haben sich lange nicht mehr im Spiegel angeschaut, denn weder in Ihrer Zelle noch in den Duschräumen gibt es Ganzkörperspiegel, aber Ihnen ist aufgefallen, dass Ihre Hosen lockerer sitzen. Offensichtlich scheinen der Sport am Morgen und die Tischtennisrunden am Nachmittag einen gewissen Effekt zu haben. Weil Ihnen inzwischen das Lesen englischer Fachliteratur leichterfällt, bestellen Sie sich die neueste 3-D-Software. Sie haben schon lange mit dem Gedanken gespielt, sich auf diesem Gebiet weiterzubilden, hatten aber natürlich nie die Zeit dazu. Zum Glück sind Sie fast der Einzige, der den PC im Aufenthaltsraum benutzt, Sie arbeiten sich die nächsten Wochen durch das interaktive Traineeprogramm, wahrscheinlich werden Sie Ihre Kompetenzen noch einmal vertiefen müssen, aber im Großen und Ganzen sind Sie mit Ihren Fortschritten zufrieden.
Ihr Anwalt meldet sich, seinem Antrag auf erneute Haftprüfung wurde stattgegeben, und plötzlich ist es so weit, Sie können gehen. An dem Nachmittag, an dem Sie ins Freie treten, scheint die Sonne: Sie sprechen Italienisch, beherrschen ein kompliziertes 3-D-Programm, Ihr Oberkörper ist definiert und Sie haben alles von Dostojewski gelesen – würden Sie diese Zeit bereuen?
Wir haben zu viele Möglichkeiten und können uns darum immer schlechter entscheiden. Aber haben wir wirklich all diese Möglichkeiten, von denen da gesprochen wird? Und wenn ja, warum meinen wir, diese Möglichkeiten alle in Anspruch nehmen zu müssen?
In seinem Buch Anleitung zur Unzufriedenheit legt der amerikanische Psychologe Barry Schwartz dar, warum es unmöglich ist, mit einer Wahl zufrieden zu sein, wenn man aus zu vielen Optionen auswählen kann. Die Idee, den allgegenwärtigen Terror der Vielfalt zu erforschen, kam ihm angeblich beim Jeanskauf. Jahrelang mit einer passenden Jeans in seiner Größe hochzufrieden, entdeckte er eines Tages im Jeansladen seines Vertrauens, dass im Laufe der Zeit eine ganze Bandbreite von Jeansmodellen hinzugekommen war. Nun gab es außer Casual noch Stretch, Slim, Comfort, Regular und Loose Fit. Natürlich kam bei dieser Auswahl die Frage auf, ob denn das Jeansmodell, welches er sich vor mehr als zwanzig Jahren ausgesucht hatte, auch genau jenes war, welches am besten zu ihm passte. Er probierte mehrere neue Modelle, betrachtete sich im Spiegel und war ratlos. Schließlich kaufte er irgendeine Jeans und verließ unzufrieden den Laden. Doch selbst wenn er eine Jeans gefunden hätte, die ihm besser gefallen hätte, als die, die er immer trug, wäre er nicht mehr glücklich geworden: Denn um das für ihn in diesem Laden optimale Modell zu erwerben, hätte er sämtliche Jeans anprobieren und in seine Entscheidung mit einbeziehen müssen – und genau dazu hatte er weder Lust noch Zeit.
Barry Schwartz’ Thesen beziehen sich vor allen Dingen auf Konsumfragen, doch die Übergänge zu Lebensentscheidungen sind fließend: Nicht wenige Menschen leiden darunter, dass die Auswahl an Möglichkeiten zu groß ist und sie einen nicht unwesentlichen Teil ihrer Lebenszeit darauf verwenden, diese Möglichkeiten zu prüfen und zu verwerfen. Und dabei haben sie natürlich ständig Angst, das Beste zu verpassen.
Längst hat der Kostenaufwand (Nerven und Zeit) den Nutzen (eine große Produktauswahl) überholt. In der berühmten »Marmeladenstudie« von Wissenschaftlern der Universitäten Columbia und Stanford konnte in Versuchen in kalifornischen Supermärkten gezeigt werden, dass an Probierständen mit einer großen Auswahl an Marmeladen zwar mehr Menschen stehen bleiben, dass aber die tatsächlichen Verkaufszahlen ab mehr als sechs Sorten signifikant sinken. Ab vierundzwanzig Sorten vergeht schließlich jedem Supermarktkunden die Lust auf Marmelade. Die Versuche wurden in mehreren Ländern mit Schokoaufstrichen, Landschaftsbildern und Schuhen wiederholt, die Ergebnisse sind immer dieselben.
Manche sind von dem Überangebot um sie herum derart überfordert, dass sie daran scheitern. 2014 wurde in Berlin eine junge Frau in die Psychiatrie eingeliefert, weil sie auf offener Straße zusammengebrochen war. Grund ihres Zusammenbruchs: Sie hatte geglaubt, alles würdigen und wahrnehmen zu müssen, was diese Stadt ihr zu bieten hat, also Ausstellungen, Ladeneröffnungen, Lesungen, Konzerte, politische Informationsveranstaltungen, Klubnächte, Flohmärkte und so weiter. Das ist naturgemäß mehr, als ein Sterblicher zu leisten imstande ist, selbst wenn er die Zeit für Nahrungsaufnahme und Schlaf auf ein Minimum reduziert, wie es diese Frau getan hatte. Sie ist aber nicht die Einzige, der es schwerfällt, sich zu entscheiden, welche der Angebote sie auswählen soll, die uns das Leben macht. Kein Wunder, dass Seminare über Entscheidungsfindung oft bis auf den letzten Platz ausgebucht sind und Onlineangebote mit Überschriften »Wie du Klarheit über deine Ziele erlangst« oder »Finde deine Berufung – ohne Umwege«, »Der ultimative Trick, um endlich klügere Entscheidungen zu treffen« hohe Klickzahlen erzielen.
Zu viel Auswahl zu haben, ist einfach die Hölle: Wir erfahren von zu vielen Partys und zu vielen günstigen Reiseangeboten. Wenn wir wollten, könnten wir über das Internet sämtliche Junggesellen der Stadt kennenlernen oder Pullover in allen Farben bestellen. Wir können unsere Hochzeit um die Ecke oder im Ausland feiern, uns wieder scheiden lassen, studieren und eine Patchworkfamilie gründen, Gutes tun oder Karriere machen, Papageien züchten, mit fünfzig Jahren noch einmal unser Leben ändern, ein Schloss renovieren, einen Film über eine bayerische Blaskapelle drehen oder nach Afrika reisen und mit Nashörnern und Wildkatzen schmusen. Kaum haben wir uns dann endlich für irgendetwas entschieden, werden wir gleich mit neuen Vorschlägen konfrontiert, durch die man uns darauf aufmerksam macht, welche aufregenden und tollen Möglichkeiten wir noch gar nicht in Betracht gezogen haben.
Nicht zu vergleichen mit den Zeiten, in denen nur wenige Lebensmodelle und Geburtstagspartys zur Auswahl standen und man wusste, was man wann zu tun hatte. Und selbst, wenn man sich in diesen enggesteckten Rahmen gelangweilt haben sollte – so war dieses Gefühl doch immer noch angenehmer als der quälende Verdacht, das Wesentliche finde woanders und ohne einen statt.
Je besser und sinnvoller wir also unsere Zeit nutzen möchten, desto mehr Zeit scheinen wir zu brauchen, um herauszufinden, welchen Möglichkeiten wir in unserem Leben den Vorzug geben wollen. Aber eine Wahl, bei der wir zu viel Zeit verlieren, führt sich selbst ad absurdum. Man kann tatsächlich so lange überlegen, auf eine Party zu gehen, bis sie vorbei ist; sich einen Reisetermin so lange offenhalten, bis alles ausgebucht ist; so lange zögern, jemandem seine Liebe zu gestehen, bis derjenige einen anderen oder eine andere hat, und Chancen so lange überdenken, bis sie auf immer verloren sind. Oder einfach so lange grübeln, bis einem alles egal geworden ist.
Wer drei Jahre überlegen muss, was er beruflich machen möchte, hätte in der Zeit eine Elektrikerausbildung machen können, und Elektriker werden immer gesucht!
Sich zu entscheiden, gehört zu einer der anstrengendsten psychischen Operationen, die man als Mensch zu leisten hat. Wer auf einmal zu viel entscheidet, kann damit sogar die Symptome einer klinischen Depression herbeiführen. So geschehen in den Achtzigerjahren in den USA. Während einer groß angelegten Studie, mit der die Auswirkung von Entscheidungsprozessen auf mentale Fähigkeiten untersucht werden sollte, wurden frisch verlobte Paare auf ihr Entscheidungsverhalten hin untersucht. Teilnehmer waren Männer und Frauen, die gerade im Begriff waren zu heiraten und anlässlich ihrer Hochzeit in einem Kaufhaus einen sogenannten Hochzeitstisch zusammenstellen mussten. Die Auswahl für einen solchen Tisch beinhaltet eine Menge Entscheidungen, denn das Paar entscheidet gemeinsam, was an Geschirr, Haushaltsgeräten und Nippes es von seinen Gästen geschenkt bekommen möchte.
Vorher und nachher sollten die Probanden Rechenaufgaben lösen, damit die Studienleiterinnen schauen konnten, ob sich nach einem solchen Entscheidungsmarathon die Intelligenz vermindert. Das Problem war: Die Teilnehmer waren nach dem Verlassen des Kaufhauses zu gar nichts mehr in der Lage. Die meisten Paare hatten sich gestritten, die Frauen hatten verweinte Augen und baten darum, allein zu sein, die Männer wollten kein Wort mehr sprechen, geschweige denn Matheaufgaben lösen. Ob sie die Versuchsleiter mit ihrer Verweigerung enttäuschten, war ihnen vollkommen gleichgültig geworden.
Jeder weiß, dass Ehen und Freundschaften an einer Badezimmersanierung oder an einem Hausbau zerbrechen können, da solche Projekte mehr Entscheidungen beinhalten, als eine menschliche Seele verkraften kann. Und jeder Psychologe würde einem bestätigen, dass, wenn die Ehe dann zerbrochen ist, man es tunlichst vermeiden sollte, gleich im Anschluss entscheiden zu wollen, was nun mit dem halb fertigen Badezimmer oder Haus geschehen soll.
Bei zu viel Auswahl vergeht uns also nicht nur die Lust auf Marmeladen, Jeans, Partys und die neueste Kaffeemaschine, sondern sogar auf Freundschaft und Liebe. Es gehört zu den Standardeinsichten, dass die vermeintlich unendliche Partnerauswahl auf Online-Kennenlernbörsen dazu führt, dass sich Menschen einfach nicht mehr füreinander entscheiden können. Denn schließlich könnte sich hinter jedem Profil ein noch schönerer Kandidat verbergen, der noch besser zu einem passt. Dabei ist das Sich-nicht-entscheiden-Können hier fast noch das geringste Problem. Das wirklich Schlimme ist: Ab einer bestimmten Auswahl mag man nicht einmal die schönste und klügste Person der Stadt in seinem Bett haben – sondern gar keine mehr!
Man könnte den Eindruck gewinnen, dass dieses Dilemma nicht ganz so brisant wäre, wenn man mehr Zeit zur Verfügung hätte. Aber auch mit mehr Zeit wird das Problem nicht gelöst. Würde man damit rechnen können, nicht achtzig oder neunzig, sondern zweihundert Jahre zu leben, käme man trotzdem um die wichtigsten Entscheidungen nicht herum. Wäre man dagegen unsterblich, wäre das Entscheiden noch schwieriger, denn dann ließe sich jede Entscheidung unendlich aufschieben. Das Ergebnis: noch mehr Überdruss und Langeweile.