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Zwölf einzigartige Krimigeschichten von zwölf internationalen Bestsellerautorinnen feiern die Queen of Crime und die erfolgreichste und beliebteste weibliche Detektivfigur aller Zeiten: Vorhang auf für Miss Marple! Sie ist jedem ein Begriff: Miss Marple, die alte Dame aus St. Mary Mead, besitzt die geradezu unheimliche Fähigkeit, noch den verwickeltsten Fall in kürzester Zeit bei einer Tasse Tee zu lösen. Hier kehrt sie knapp fünfzig Jahre nach ihrem letzten Auftritt ("Ruhe unsanft") zurück auf die Bühne. Ob sie in den zwielichtigen Ecken des Broadway oder in einem besonders mysteriösen Todesfall in Hong Kong ermittelt: Die erfolgreichste und beliebteste weibliche Detektivfigur aller Zeiten ist, von zwölf internationalen Bestsellerautorinnen mit frischem Abenteuer- und Ermittlersinn ausgestattet, ganz die alte unbestechliche Spürnase. Ein kongeniales Buch, das eine einmalige Figur und ihre Autorin aufs Unterhaltsamste feiert. Mit Erzählungen von: Lucy Foley, Ruth Ware, Val McDermid, Leigh Bardugo, Naomi Alderman, Karen M. McManus, Kate Mosse, Alyssa Cole, Elly Griffiths, Natalie Haynes, Jean Kwok, Dreda Say Mitchell. »Jeder der Autorinnen gelingt es, sich Christie - und Marple - nahezu perfekt anzuverwandeln und ihren Geschichten genau die richtige Dosis der eigenen Handschrift beizumengen.« The Washington Post »Alle Autorinnen erfinden diese scharfsinnige Beobachterin der menschlichen Natur auf erfrischende Weise neu.« The Guardian »Agatha Christie ist der Goldstandard des Krimis - und Miss Marple mit Fug und Recht ihre beliebteste Ermittlerin.« Los Angeles Times
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Seitenzahl: 504
Agatha Christie
Zwölf neue Kriminalgeschichten
Alexander Weber
Miss Jane Marple, die wohl berühmteste Amateurdetektivin der Weltliteratur und eine von Agatha Christies großartigsten Schöpfungen, hatte ihren ersten Auftritt im Dezember 1927 in einer Kurzgeschichte namens The Tuesday Night Club (dt. Der Dienstagabend-Klub). In The Murder at the Vicarage (dt. Mord im Pfarrhaus) aus dem Jahr 1930 ließ Christie diese faszinierende Figur mit der ausdrücklichen Absicht, »alten Jungfern eine Stimme zu geben«, wiederaufleben. Es folgten elf weitere Miss-Marple-Romane sowie mehrere Kurzgeschichtensammlungen mit St. Mary Meads klügstem Kopf, bis hin zu ihrem allerletzten, posthum in Christies Todesjahr 1976 veröffentlichten Roman Sleeping Murder (dt. Ruhe unsanft).
Agatha Christie war aufgefallen, dass Frauen, insbesondere unverheiratete in fortgeschrittenem Alter, oft bevormundet, übersehen und unterschätzt wurden, doch die meistgelesene Schriftstellerin der Welt wusste nur allzu gut, wie wenig solchen Dorfgranden entging und dass sich unter biederen Spitzenhäubchen ein messerscharfer Verstand verbergen konnte, der imstande wäre, selbst Koryphäen von Scotland Yard zu überflügeln. Denn schließlich lauerte das Böse überall – an den idyllischsten Fleckchen Englands ebenso wie auf den finstersten Gassen großer Städte. Die Natur des Menschen ist nun einmal überall dieselbe. Und so erblickte eine ihrer unvergesslichsten Figuren das Licht der Welt.
Lucy Foley
»Manchmal frage ich mich, ob das Böse in kleinen Ortschaften nicht geballter auftritt.«
»Was willst du damit sagen, Jane?« Prudence sah hinüber zu ihrer einstigen Schulfreundin, die ihr mit einem Gläschen Kirschlikör im anderen Sessel gegenübersaß. Der gnädige warme Schimmer des Kaminfeuers verschleierte auf schmeichelhafte Weise die Anzeichen des Alters. Doch was ihre wesentlichen Merkmale anging, hatte sich Jane Marple seit ihrer Jugend so gut wie nicht verändert. Ihre flinke, vogelgleiche Art, die wachen, neugierigen Augen, die Ahnung einer stillen, womöglich sogar überragenden Intelligenz.
Gerade als Miss Marple den Mund öffnete, um etwas zu erwidern, explodierte draußen in der Dunkelheit ein Böller, gefolgt von Schreien und Geheul, als hätte sich der Schlund der Hölle aufgetan. Irgendwer fing an, auf eine Trommel einzudreschen. Die beiden Frauen konnten nicht hinausschauen, da Prudence’ Dienstmädchen um Punkt vier alle Vorhänge zugezogen hatte. Fairweather House – imposant und georgianisch – lag unmittelbar an der Hauptstraße von Meon Maltravers. Und draußen in der Finsternis, gleich hinter den Fenstern, rottete sich eine heidnisch anmutende Menschenschar zusammen.
Als sich der Aufruhr vor dem Haus etwas gelegt hatte, sprach Miss Marple weiter. »Man weiß natürlich, dass in Städten und größeren Gemeinden jede Menge Schandtaten begangen werden. Die Zeitungen sorgen ja nur allzu gern dafür, dass uns keine noch so grauenhafte Einzelheit entgeht. Doch frage ich mich, ob in den Dörfern und Weilern Englands nicht noch viel furchtbarere Dinge vor sich gehen als in den Metropolen unseres Landes.«
Prudence spitzte die Lippen. »Nun, auf Meon Maltravers trifft das gewiss nicht zu. Dies ist ein hochanständiger Ort.«
Meon Maltravers war eine Kleinstadt mit roten Ziegeldächern und gemauerten Häuschen, die man im Laufe der Jahrhunderte im wilden Durcheinander an hügelige Pflasterstraßen gebaut hatte, nicht selten mit atemberaubenden Ausblicken über die South Downs bis zur Küste. Als Miss Marple vorhin, bei Tageslicht, angekommen war, hatte das Städtchen in der Tat den Anschein eines rechtschaffenen Ortes vermittelt. Jetzt aber war die Dunkelheit hereingebrochen. Und just in diesem Augenblick drang von der Straße eine neuerliche Woge Johlen und Gekreische zu ihnen herein.
Miss Marple hob die Augenbrauen. »Bist du dir da sicher?«
Prudence winkte ab. »Ach, nur ein wenig dörfliche Ausgelassenheit. Vollkommen harmlos. Aber du hattest ja schon immer eine ausgesprochen makabre Phantasie, Jane.«
»Mit Phantasie hat das nichts zu tun, meine Liebe. Ich habe es selbst gesehen …« Miss Marple wollte gerade »mit eigenen Augen« hinzufügen und von einigen ihrer Erlebnisse der vergangenen Jahre berichten, wurde jedoch von einer weiteren kleinen Explosion draußen unterbrochen. Vielleicht war das auch gut so. Zu viel Gerede über das Böse verursachte ihren Freundinnen nicht selten ein gewisses Unbehagen, selbst solchen mit einer so robusten Konstitution wie Prudence.
Stattdessen nutzte Miss Marple den nächsten Moment relativer Stille, um zu ergänzen: »Ein Grund ist, dass jeder jeden so gut kennt. Das kann zu Missverständnissen und allerhand Missgunst führen. Und zu Langeweile obendrein: Das ist noch so ein Aspekt. Keine Kinos, Theater oder Restaurants, die die Leute ihren Alltagstrott vergessen lassen. All die grausamen Verbrechen, die nur begangen werden, weil es sonst schlicht nichts zu tun gibt …«
Prudence runzelte missbilligend die Stirn und erwiderte im Brustton einer Schulsprecherin – sie war vor all den Jahren tatsächlich Schulsprecherin gewesen: »Seit ich meinen armen George vor fünfzehn Jahren verloren habe, hat man mich hier äußerst herzlich aufgenommen, was keineswegs selbstverständlich ist, wenn man bedenkt, dass er so lange hier allein als Junggeselle gelebt hatte, bevor Alice und ich zu ihm zogen.«
Miss Marples Blick fiel auf den Kaminsims. »Das war auf der Kreuzfahrt, nicht?«
Die Fotografie zeigte eine jüngere Prudence, daneben Alice, ihre Tochter aus erster Ehe, und den verstorbenen George Fairweather. Es war das letzte Mal, dass Miss Marple und Prudence sich gesehen hatten: auf einer Rundreise durch die norwegischen Fjorde. George Fairweather, um einiges älter als Prudence, war ein gebrechlicher Mann gewesen, wacklig auf den Beinen, die Gesichtshaut fleckig wie ein Fallapfel. Was Alice anging, so erinnerte sie sich an ein hübsches Mädchen, dessen Kleidung für ihr zartes Alter einen Hauch zu luxuriös erschien.
»Wo lebt Alice denn jetzt?«, fragte Miss Marple.
»Oh, nur ein kleines Stück außerhalb des Dorfes. Wir standen uns schon immer näher als die meisten Mütter und Töchter. Sie hat einen hiesigen Gutsherrn geheiratet, Sir Henry Tyson. In Meon Maltravers sind sie so etwas wie Berühmtheiten …«
Miss Marple hüstelte. »Und du gehörst wirklich schon dazu? Meiner Erfahrung nach gilt man in solchen Orten oft jahrzehntelang als Zugezogene, bis man wahrhaftig in die Dorfgemeinschaft aufgenommen wird. Fünfzehn Jahre sind da gerade mal ein Wimpernschlag.«
Prudence straffte den Rücken. »Ich bin Vorsitzende des Gemeinderats, Jane!«, erklärte sie, als wäre damit alles gesagt. »Und im Vergleich zu unserem jüngsten Neuzugang – der neuen Chorleiterin – gehöre ich bereits zur alten Garde. Sie ist die Pächterin von Badger’s Rest, einem Ungetüm von Haus am Ortsrand. Sie verkauft dort Kunsthandwerk, und man munkelt ja so einiges über sie.«
Miss Marple beugte sich ein Stück nach vorn. »Was munkelt man denn?«
»Zunächst einmal ist sie Ausländerin. Französin. Jung, nun, unter vierzig jedenfalls. Was das Alter angeht, also näher an Alice. Und sie war früher einmal eine recht erfolgreiche Opernsängerin, doch es heißt, sie habe Probleme mit den Stimmbändern bekommen und der Bühne Lebewohl sagen müssen. Wie auch immer. Jedenfalls hat sie hier einigen Unfrieden gestiftet. Eine alleinstehende Frau, du weiß ja, wie es ist. Natürlich gebe ich nichts auf solchen Klatsch.«
Miss Marple nickte. »Natürlich.«
»Doch Christopher Palfrey, unser Dorfdichter – und ein sehr begabter Tenor dazu –, hat seinen jüngst erschienenen Gedichtband der ›Zauberin des Liedes‹ gewidmet. Du kannst dir vorstellen, wie das bei seiner Frau Annabelle angekommen ist, die so gar nichts von einer ›Zauberin‹ an sich hat. Sie ist so eine Art Sozialistin, weißt du, macht ständig Ärger, hat selbst an den vernünftigsten Vorschlägen im Gemeinderat noch etwas auszusetzen, was ich ausgesprochen lästig finde. Jedenfalls muss sie sich über das Büchlein derart grün und blau geärgert haben, dass man sie seit Wochen nicht hat lächeln sehen … wenngleich auch das nicht völlig untypisch für sie ist.«
»Ich frage mich, wieso sie wohl hierhergezogen ist«, grübelte Miss Marple, die ihren ganz eigenen Gedanken nachzuhängen schien. »Die Chorleiterin, meine ich. Eine unverheiratete Frau, Ausländerin obendrein? Dass sie an einen so abgelegenen Ort zieht – das kommt einem doch seltsam vor, oder etwa nicht?«
»Na ja, so weit ab vom Schuss sind wir hier nun auch wieder nicht«, entgegnete Prudence spitz. »Wir haben einen Fernbahnhof, eine Direktverbindung nach London. Wie du ja selbst gesehen hast.«
Eigentlich hatte Miss Marple nur den Park von Honnington Manor besuchen wollen – Bunch Harmon hatte wahre Lobeshymnen auf den Fächerahorn gesungen und auf die vorzügliche Herbstausstellung, die dort zu dieser Jahreszeit geboten wurde. Doch für einen Tagesausflug war es zu weit gewesen. Da hatte Miss Marple sich an die Begegnung auf der Schiffsreise erinnert und daran, dass Prudence nicht allzu weit entfernt wohnte. Also hatte sie ihr geschrieben und ein Wiedersehen vorgeschlagen. Zwar waren die beiden Frauen zu Schulzeiten nicht gerade Busenfreundinnen gewesen, aber Miss Marple hatte sie immer recht faszinierend gefunden und gedacht, dass es ein interessanter Besuch werden könnte.
»Wie auch immer«, fuhr Prudence fort. »Du wirst Celia Beautemps – die Chorleiterin – heute Abend ja selbst kennenlernen. Die Proben finden bei ihr statt; das Kirchendach wird derzeit repariert. Und hoffentlich wirst du Alice wiedersehen: Sie singt ebenfalls Alt. Wenn sie überhaupt wegkann. Henry und sie halten einige Tiere – ein paar Schafe und Schweine.« Und sie fügte, für den Fall, dass Miss Marple diese Tätigkeit geringschätzen könnte, hinzu: »Henry gehört selbstverständlich zum Landadel. Aber man muss auch Wege finden, Profit aus diesen ganzen Liegenschaften zu schlagen.«
»Heute Abend?«
»Ja! Chorprobe, natürlich. Das hatte ich doch gewiss erwähnt? Wir haben vor der Adventszeit noch so viel einzustudieren, und die steht ja förmlich vor der Tür.«
So hatte Miss Marple sich den Abend mitnichten vorgestellt. Viel lieber hätte sie geruhsam am Kamin gesessen und etwas gestrickt – gerade fing sie einen Pullover mit Argyle-Muster an, den sie ihrem Neffen Raymond zu Weihnachten schenken wollte.
»Außerdem, wenn ich mich recht erinnere, singst du doch einen so herrlichen Sopran, Jane«, meinte Prudence. »Glockenrein. Falls du also Lust hättest, mitzusingen …«
»Es ist schon eine ganze Weile her, dass ich im Schulchor gesungen habe, meine Liebe. Aber es macht mir nicht das Geringste aus, euch zuzuhören.«
Just in dem Moment fegte ein Windstoß den Kamin herab, die Glut stob auf, und ein Funkenregen ergoss ich auf den Vorleger. Miss Marple starrte so innig in die Flammen, als könnte sie darin etwas erkennen. Prudence folgte ihrem Blick. »Es ist viel zu weit heruntergebrannt! Ich werde sofort nach dem Dienstmädchen läuten!«
»Nein, nein«, winkte Miss Marple ab. »Mir ist warm genug.«
Doch da hatte Prudence sich schon nach der Klingel umgewandt und geläutet. Wenige Sekunden später erschien das Hausmädchen. »Neues Feuerholz! Und beeil dich gefälligst, Mädchen.« Miss Marple schaute zu, wie die Flammen auf die neuen Scheite übergriffen, die das Mädchen auf alles, was ohnehin schon darunter lag, gestapelt hatte. Jetzt würde ihr viel zu heiß werden. Das war das Problem, wenn man bei anderen Leuten übernachtete – weswegen Miss Marple es in der Regel auch nicht tat. Nichts war so, wie man es selbst am liebsten hatte.
»Das Mädchen ist ein ziemlicher Tölpel«, seufzte Prudence, als die Bedienstete gegangen war. »Es ist heutzutage ja so schwer, gutes Personal zu bekommen.«
»Ich erinnere mich noch daran, wie du bei unserem letzten Treffen dasselbe gesagt hast, Prudence.«
»Ganz bestimmt. George hatte stets eine so alberne Schwäche für Bedienstete. Er gab dem Hausdiener Fahrstunden, und obwohl er furchtbar sparsam sein konnte, bezahlte er der Tochter seiner einstigen Haushälterin das Schulgeld; er hielt sie für zu begabt, um den Rest ihres Lebens als Küchenmagd zu arbeiten. Den Urlaub unseres Butlers in Brighton hat er auch bezahlt. Wenn du mich fragst, setzt ihnen so etwas nur Flausen in den Kopf, bis sie glauben, sie wären etwas Besseres.«
Miss Marple konnte sich bei diesem Gutsherrinnen-Gehabe ein kleines Lächeln nicht verkneifen, war Prudence doch die Tochter eines Gemüsehändlers und hatte die Schule nur mit einem Vollstipendium besuchen können. Außerdem wusste Miss Marple, dass Prudence sich nach ihrem Abschluss jahrelang in eher bescheidenen Stellungen verdingt hatte: als Gouvernante und Bibliothekarin. Ihren ersten Ehemann – einen Apotheker, fast doppelt so alt wie sie –, hatte sie kennengelernt, weil sie seine Assistentin war, und für George hatte sie als junge Witwe als Sekretärin gearbeitet.
»Als Georges Herzprobleme anfingen«, erzählte Prudence, »habe ich natürlich einige von ihnen entlassen müssen und sie auch später nicht mehr eingestellt, da es einfach zu viel gewesen wäre, eine vollständige Dienerschaft zu unterhalten – ach, du meine Güte!«, unterbrach sie sich selbst mitten im Satz und sah entsetzt empor zur Uhr. »Wir sollten lieber aufbrechen, sonst kommen wir noch zu spät.«
Wenig später traten sie hinaus in die klirrende Novemberluft und rafften ihre Mäntel fest um sich. Hier draußen stießen sie auf eine Prozession maskierter Gestalten, die an der Vordertür des Hauses vorbeimarschierten. Sie sahen aus wie einem mittelalterlichen Gemälde entsprungen; Teufel und Dämonen, die gekommen waren, um die Sünder mitzunehmen. Der beißende Geruch brennenden Paraffins brannte tief in der Kehle. Etliche von ihnen schlugen Trommeln. Alle hatten lodernde Fackeln in den Händen, und einige der Grüppchen trugen auf den Schultern lebensgroße Pappmaschee-Figuren mit grauenhaft entstellten Zügen: übergroße Köpfe und hervorquellende Augen, allesamt gekleidet in den roten Roben und Kappen katholischer Kardinäle. Eine merkwürdige Energie ging von ihnen aus. Sie mutete sonderbar bedrohlich an, wenn nicht gar leicht entflammbar – als könnte die Luft selbst sich jeden Augenblick entzünden. Miss Marple blieb kurz stehen und blickte sich staunend um, fasziniert und abgestoßen zugleich.
Ohne den Pulk groß zu beachten, trieb Prudence sie auf ihre Schulsprecherinnen-Art vorwärts. »Hier entlang.«
Sie mussten sich ihren Weg durch die Menge bahnen. Mehrmals spürte Miss Marple, wie sie angerempelt wurde – einmal hätte sie schwören können, dass eine Hand sie mit einem ziemlich rüden Stoß beiseiteschubste, und sie hatte Mühe, das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Diese Leute schienen sich keinen Deut darum zu scheren, dass nun zwei ältere Damen unter ihnen waren. Sie vernahm das Wuuuusch der Paraffinfackeln, als diese über den maskierten Köpfen hin und her geschwungen wurden, spürte die Hitze der Flammen auf den Wangen und merkte, wie ihr die ungewollte Nähe zu all diesen anonymen fanatischen Gestalten, die gleichmäßig voranschritten wie eine Herde oder marodierende Armee, ihr einen leichten Schauder des Unbehagens über den Rücken jagte.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Miss Marple zu Prudence, nachdem es ihnen endlich gelungen war, den Menschenstrom zu queren, und sie auf der anderen Straßenseite standen. »Die Guy Fawkes Night ist zwei Wochen her. In den Feldern bei St. Mary Mead gab es ein großes Feuer. Dr. Haydock spendete ein paar Römerkerzen, und Griselda Clement – die Frau des Pfarrers – schenkte so eine Art gewürzten Wein aus … wie hieß er doch gleich … Es war etwas Ausländisches. Glühwein, ja, das war’s. Köstlich, aber vielleicht mit einer Prise zu viel Zimt. Natürlich blieb ich nicht sehr lange. Viel zu kalt.«
»Ah«, versetzte Prudence, »nun, in Meon Maltravers laufen die Dinge etwas anders, ein bisschen wie in Cornwall. Mit den heutigen Feierlichkeiten gedenkt man nicht der Hinrichtung einer Bande katholischer Rebellen, sondern des Feuertods von siebzehn protestantischen Märtyrern am Dorfkreuz. Deshalb verbrennen sie auch die Kardinäle – diese Puppen, du weißt schon. Man könnte es wohl als eine Art Rache ansehen, schätze ich, wenn auch mehrere Jahrhunderte später.«
»Rache«, sagte Miss Marple fast wie zu sich selbst. »Rache und das Begleichen offener Rechnungen. Noch so etwas, das in kleinen, abgelegenen Ortschaften äußerst verbreitet ist.«
»Na ja, auch wenn die offenen Rechnungen viele Jahrhunderte alt sind, so sind es doch vor allem die Dorfjugendlichen, die bei dem Spektakel mitmachen. Und wenn ich eines sagen kann, dann Folgendes«, erklärte Prudence, wobei sie ihren Blick verächtlich über die Menge schweifen ließ, »mit Religion hat all das hier sehr wenig zu tun. Ja, es erscheint mir sogar durchaus passend, dass wir heute Abend zur Chorprobe gehen. Inmitten dieses heidnischen Treibens werden wir ein Bollwerk christlicher Rechtschaffenheit sein.«
Sie stiefelten die Hauptstraße entlang, fort von den Massen und dem Lärm, bis sie am Ortsrand angekommen waren.
»Hier entlang«, dirigierte Prudence Miss Marple. »Wir nehmen eine Abkürzung durch den Wald, die uns auf dem schnellsten Weg zur Rückseite des Anwesens führt.« Sie zog eine kleine Taschenlampe hervor und knipste sie an.
Die Straße war indes zu einem Trampelpfad geschrumpft, der sich durch ein finsteres Dickicht aus Bäumen zog. Der Schein der Straßenlaternen drang kaum noch durch sie hindurch, doch der Vollmond griff mit Fingern aus Licht durch das Gewirr der Äste, und der Strahl aus Prudence’ Taschenlampe hüpfte federnd vor ihnen dahin. Es war erst etwa fünf Uhr nachmittags, doch es fühlte sich viel später an. Kaum zu glauben, dass nur etwa hundert Meter entfernt belebte Straßen und Geschäfte lagen, voller Lärm und Licht. Jeder ihrer Schritte war zu hören, jedes Knacken eines Astes. Im Strauchwerk um sie herum vernahm man das verstohlene Rascheln nachtaktiver Tiere.
»Wie weit noch?«, wollte Miss Marple wissen, während sie behutsam über eine Baumwurzel stieg, die aus dem Weg hervorgebrochen war.
»Nur noch ein paar Meter in diese Richtung. Wir nehmen den Hintereingang, das geht viel schneller. Das Gelände hat eine lange Zufahrt, doch man gelangt nur vom anderen Ende der Hauptstraße dorthin. Gleich siehst du die Lichter des Hauses. Madame Beautemps lässt sie stets die ganze Nacht über brennen, was bei den örtlichen Vogelbeobachtern für Unmut gesorgt hat; sie sind überzeugt, dass sie dadurch alle Kreischeulen verscheucht hat. Sie ist wirklich wie eine Katze im Taubenschlag.«
»Oder Eulenschlag«, ergänzte Miss Marple.
»Nein, Jane«, widersprach Prudence, »so geht das Sprichwort ganz gewiss nicht …« Sie verstummte jäh, als ein furchtbarer und unheimlicher Tierschrei die Luft zerriss. Sein Echo schien noch eine Ewigkeit in den Bäumen widerzuhallen.
»Wie seltsam«, merkte Prudence an. »Ein paar Kreischeulen scheint es ja doch noch hier zu geben. Wo war ich stehen geblieben? Ach ja. Auch die meisten Chormitglieder hat sich Celia Beautemps zum Feind gemacht. Von den Palfreys habe ich dir ja schon erzählt, nicht? Dann ist da noch Colonel Woodage, der Bass singt und alle Franzosen hasst; er hatte einen Sohn, der im Krieg beide Beine verlor, weil er versucht hat, eine Bande gallischer Deserteure zu retten, weißt du. Und natürlich ist auch Mrs Prufrock, die den Chor seit dreißig Jahren geleitet hat, nicht sehr gut auf sie zu sprechen, aus naheliegenden Gründen. Wir glauben, dass Reverend Peabody ihr völlig verfallen ist, weil er die arme Mrs Prufrock ohne Vorwarnung ihres Amtes enthoben hat.«
»Wenn du mich fragst, sollte sie lieber mit dem Reverend hadern als mit ihrer Nachfolgerin.«
»Gut möglich, doch um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, hat Madame Beautemps außerdem darauf bestanden, dass Mrs Prufrock nicht mehr Sopran singt, weil sie es nicht mehr schafft, die hohen Töne zu treffen. Und dann ist da noch Gordon Kipling, der Hundeführer der örtlichen Jagd – ebenfalls ein Bass –, der überzeugt ist, dass sie drei seiner Tiere auf dem Gewissen hat: Zwei Tage nachdem sie sich über ihr Gebell beschwert hatte – er wohnt gleich dort drüben, hinter diesen Bäumen –, haben sie Rattengift gefressen und sind daran verendet. Und dann …«
Plötzlich stieß Prudence einen ganz ungewöhnlichen Schrei aus. Es ging alles blitzschnell. Sie erspähten die Gestalt erst, als sie fast schon bei ihnen war, als wäre sie der Dunkelheit selbst entsprungen. Maskiert preschte sie aus der Gegenrichtung mit hohem Tempo auf die beiden zu. Prudence stand ihr mitten im Weg. Es folgte ein Moment des Innehaltens, in dem der Fremde kurz zu stutzen schien, unschlüssig, ob er um sie herumlaufen sollte oder nicht. Dann sah Miss Marple eine Hand hervorschnellen; eine Sekunde später war Prudence schon zu Boden gestürzt, die Taschenlampe flog ihr aus der Hand, und das Licht erlosch mit einem leisen »Plopp«. Wenige Sekunden später war die Gestalt verschwunden. Sie waren wieder allein.
»Prudence!« Miss Marple hastete zu ihrer Freundin und half ihr mit etwas Mühe auf die Beine. »Ist alles in Ordnung? Bist du verletzt?«
»Ich – ich weiß nicht«, sagte Prudence mit leicht zittriger Stimme. »Nein, ich glaube nicht, also verletzt, meine ich. Ich muss nur … wieder etwas zu Atem kommen. Er hat mich umgestoßen, Jane! Hast du das gesehen?«
»Ja, ja. Ich hab’s gesehen – eine fürchterliche Sache! Sollen wir zur Polizei gehen? Wir sind auf der Hauptstraße doch gerade an der Wache vorbeigekommen …«
»Nein«, sagte Prudence tapfer. »Ich möchte keinen großen Wirbel machen. Es ist ja nichts gebrochen. Und er wird längst in der Menge untergetaucht sein. Sie werden ihn niemals finden. Nimm einfach meinen Arm. Es ist nicht mehr weit.« Sie wirkte von dem ganzen Vorfall seltsam unbeeindruckt, andererseits – Prudence war eben aus ziemlich hartem Holz geschnitzt.
Miss Marple bückte sich, um die Taschenlampe aufzuheben. Als sie sich hinabbeugte, sah sie etwas auf dem Weg liegen. Im Dunkeln erschien es ihr wie ein winziger heller Kiesel. Sie hob ihn auf und steckte ihn in die Tasche.
Bald schon hatten sie die Rückseite des Hauses erreicht. Eine Melodie wehte zu ihnen herüber: Madame Butterflys berühmte Arie »Un bel dì«, wenn sich Miss Marple nicht irrte. Sämtliche Lichter – auch die Außenlampen – brannten und loderten in die Finsternis hinaus. Eine Flügeltür stand offen, und jemand zeichnete sich darin als scharfe Silhouette vor der Helligkeit dahinter ab, gesichts- und regungslos wie eine Statue. Als sie näher kamen, konnte Miss Marple sie erkennen. Ein junges Dienstmädchen, das Gesicht eine Fratze des Entsetzens. Sie wusste sofort, dass es keine Kreischeule gewesen war, die sie gehört hatten.
»Oh Missus. Missus … etwas Grässliches ist geschehen.«
»Was denn, Mädchen?« Im Nu war Prudence die Sachlichkeit in Person. Miss Marple musste an ihre Worte von vorhin denken. Man muss streng mit ihnen sein. Ihnen zeigen, wo es langgeht. »Mach schon. Raus mit der Sprache!«
Das Mädchen wies mit einem zitternden Finger in das Zimmer hinter sich.
»Ich darf sie ja nich’ stören, wenn sie in ihrem Studierzimmer is’. Und die Musik aus dem Grammophon war so laut – ich hab auch nichts gehört. Sie müssen durch die Flügeltür reingekommen sein. Ich – ich kann’s nicht glauben.«
Ein großer Schreibtisch aus Walnussholz verdeckte die Sicht auf die Hälfte des Teppichs. Alles, was sie anfangs sehen konnten, war ein grüner Wildlederschuh. Dann, als sie um den Tisch herumgingen, geriet auch der Rest in den Blick. Der Schal der Frau – ein exaltiertes Flitterding aus smaragdgrünem Kaschmir – lag weit ausgebreitet dort um sie herum, wo sie gestürzt war. Auf den ersten Blick schien der Schal ein burgunderrotes Muster zu besitzen – auf den zweiten aber wurde klar, dass diese Musterung tatsächlich Blut war, sehr viel sogar, das aus einem klaffenden Schlitz über dem Schlüsselbein der Frau in ihn eingesickert war. Offenbar war sie tatsächlich ausgesprochen tot.
Ein Moment der Stille trat ein, als die drei Frauen hinab auf die hingestreckte Gestalt starrten. In einer Hand, das fiel Miss Marple jetzt auf, hielt die Tote einen Briefbogen umklammert. In der anderen einen unbeschriebenen Umschlag. Von ihrer Warte aus konnte sie die Worte lesen, die in Druckschrift dort geschrieben standen:
ICH KENNE DICH.
ICH WEISS, WAS DU WIRKLICH BIST.
ZAHLE, WAS DU SCHULDIG BIST, ODER ALLE WERDEN DIE WAHRHEIT ERFAHREN.
Miss Marple konnte nicht umhin, auch die Hand mit dem Umschlag zu bemerken. Sie achtete immer auf Hände. Auf Fingernägel ebenso. Vor nicht allzu langer Zeit war sie in einen Vorfall verwickelt gewesen, bei dem Fingernägel eine Rolle gespielt hatten. Jetzt fiel ihr auf, dass Celia Beautemps’ Nägel hässlich und missgestaltet waren, vergilbt und wulstig. Sie hatte so etwas schon einmal gesehen – sie musste sich einfach nur erinnern, wo.
Ihr Haar war zerzaust, ihr Nackenknoten halb gelöst. Unter einer Schicht schwarzer Haarfarbe konnte Miss Marple die mausgrauen Ansätze ausmachen.
»Hast du die Polizei gerufen, Kleines?«, wollte Prudence wissen.
Das Dienstmädchen rang die Hände. »Nein, Ma’am – da habe ich nicht dran gedacht. Ich war so erschüttert …«
»Na los, dann ruf sie rasch. Sie müssen sofort kommen.« Prudence warf einen Blick empor zur Uhr des Arbeitszimmers. »Halb sechs. Der Rest des Chors wird in Kürze hier sein.«
Wie zur Antwort pochte jemand energisch an die Tür. Prudence schickte das Hausmädchen, um aufzumachen. »Ich rufe die Polizei.«
Wenige Augenblicke war Miss Marple mit der Leiche allein. Sie würde gerade genug Zeit für eine rasche Inspektion des Zimmers haben, schätzte sie, bevor hier das blanke Chaos ausbrach. Sie warf noch einmal einen Blick auf den Brief – und den dazugehörigen Umschlag. Schlenderte zum Schreibtisch hinüber. Noch ein Stapel Briefumschläge, diesmal ungeöffnet, etliche gestempelt mit den Worten »LETZTE MAHNUNG«. Ein Lyrikband, aufgeschlagen auf der Seite mit einem Gedicht namens »Meine Lady von Shalott«.
Sie trat hinüber zur Wand, die vollgehängt war mit Fotografien aus Celia Beautemps’ Glanzzeit, bei Auftritten auf großen Bühnen, dazu gerahmte Zeugnisse der Guildhall School of Music. Auf dem Kaminsims stand eine kleine, eher billig wirkende Blechurne, daneben ein kleines Foto einer Frau, die, wie es schien, eine weiße Haube trug – obwohl sich das schwer sagen ließ, da das Bild so alt und stockfleckig war.
Unvermittelt bemerkte sie, dass sie nicht mehr allein im Zimmer war. Das Dienstmädchen war zurückgekommen. Nun sah sie, dass der grauenhafte Fund das Mädchen nicht nur erschüttert oder verstört hatte. Aus ihrer Miene sprach aufrichtige Trauer.
»Wer kann das nur getan haben?«, fragte sie klagend.
»Das weiß ich nicht, mein Kind«, beschied Miss Marple ihr. »Aber wir werden es herausfinden.«
»Sie war ’ne gute Herrin. Nich’ wie andere, für die ich gearbeitet hab. Sie hat mich wie einen Menschen behandelt. Hat mir besondere Handschuhe zum Putzen gekauft und so.«
»Das klingt, als wäre sie sehr nett zu dir gewesen.«
»Sie war ’ne nette Lady, Ma’am. Aber so spricht man nicht von ihr hier in Meon Maltravers. Die sagen jede Menge grauenhafte Dinge über sie. Sie hat geglaubt, jemand würde Lügen über sie verbreiten. Sachen, die die Leute gegen sie aufbringen würden. Aber sie meinte, am Ende würde sie sich rächen …«
Sie verstummte. Jemand war ins Zimmer gestürzt. Ein jüngerer Mann, blass und ziemlich gutaussehend. Beim Anblick der Toten auf dem Boden blieb er wie angewurzelt stehen. Miss Marple vermutetet, dass es sich um den Dichter handeln musste, Christopher Palfrey. Gleich hinter ihm trat eine großgewachsene Frau mit kantigen, recht grimmigen Zügen ein. Das musste seine Ehefrau sein, Annabelle. Dicht gefolgt von einem adretten grauhaarigen Herrn mit dickem Schnauzbart und militärischem Erscheinungsbild, einer kleinen welken Frau, gekleidet wie in einem vergangenen Jahrzehnt, und zuletzt einem rotgesichtigen, attraktiven Mann mittleren Alters in elegantem Tweedjackett, das an den Knöpfen schon ein wenig spannte. Alle spähten sie einander gegenseitig über die Schultern, wie es schien, mit schaurig-sensationslüsternem Interesse.
Die welke Frau – vermutlich die ehemalige Chorleiterin – stieß einen kurzen spitzen Schrei aus. Zweifelsohne sollte der Kiekser dazu dienen, Entsetzen kundzutun, klang seltsamerweise aber eher wie jene Jauchzer der Erregung, die Miss Marple von den Kindern kannte, die das Feuerwerk in St. Mary Mead bestaunten.
»Großer Gott«, entfuhr es dem in Tweet gehüllten Herrn, den Miss Marple für den Hundeführer Gordon Kipling hielt. »Jemand hat das Luder umgebracht.«
»Hüten Sie Ihre Zunge, Mann«, sagte der Schnauzbärtige.
»Bitte vielmals um Verzeihung, Colonel«, entschuldigte sich Kipling rasch – von seinem eigenen Ausbruch anscheinend ebenso erstaunt wie alle anderen. »Verdammt erschütternder Anblick, das hier.«
Zu seiner sichtlichen Erleichterung erregte eine andere Gefühlswallung nun die Aufmerksamkeit aller Versammelten: ein jähes tiefes Stöhnen, mehr tierisch als menschlich; ein Laut abgrundtiefen Schmerzes. Christopher Palfrey war vor der Leiche auf die Knie gefallen. »Sie ist tot«, drangen die geseufzten Worte dumpf durch die vor den Mund geschlagenen Hände. »Sie ist tot, und ich habe sie umgebracht.«
Fassungslose Stille senkte sich über den Raum. Dann herrschte Annabelle Palfrey ihn an: »Um Himmels willen«, trat zu ihm und packte ihn mit ihrer klauenartigen Hand so fest an der Schulter, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. »Steh auf, du verdammter Trottel«, fauchte sie. »Denk an dein Herz. Ja nicht zu viel Aufregung, hat Dr. Briggs gesagt.« Sie hievte ihn wieder auf die Beine. Ihre Wangen waren tief gerötet: von der Kälte womöglich oder einer kürzlichen körperlichen Anstrengung – oder vielleicht auch nur vor Wut.
Dann kniete auch sie sich neben die Leiche, fühlte an Hals und Handgelenk nach einem Puls. »Sanitätsausbildung«, blaffte sie die Gruppe zur Rechtfertigung an. »Habe 1918 einen Krankenwagen gefahren.«
Diese zur Schau gestellte Fürsorge, dachte Miss Marple, könnte gleichwohl dazu dienen, ihre Fingerabdrücke zu erklären, die man auf der Leiche finden könnte.
»Ich habe die Polizei verständigt«, sagte Prudence, die nun mit ausgreifenden Schritten ins Zimmer trat. »Sie sollte jeden Moment hier sein – die Wache ist ja nur wenige Fahrminuten entfernt. Und kommen Sie gefälligst raus hier, und zwar alle. Das ja geradezu makaber.«
Kurz darauf hörte man einen Wagen in die Einfahrt fahren, und ein paar Minuten später hatten sich zwei Polizisten zu ihnen gesellt. Bei dem Größeren handelte es sich offensichtlich um den Ranghöheren der beiden. Er wirkte eher wie ein Polizist aus einem Raymond-Chandler-Roman oder einem amerikanischen Film noir: die markanten Wangenknochen, der Trenchcoat, der tief über die dunkel beschatteten Augen gezogene Hut. Miss Marple vermutete, dass er mit Absicht so gekleidet war, um diese Wirkung zu erzielen. Der Gesamteindruck wurde ein wenig durch die Tatsache getrübt, dass er, wenn er den Mund aufmachte, in einem breiten Sussex-Dialekt sprach. »Ich bin Inspector Eidel«, ließ er die versammelte Gesellschaft wissen. »Und ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.«
Einige Zeit später wurde Miss Marple – als eine der Letzten in der Gruppe, die sich der Befragung stellen mussten – von dem jüngeren der Polizisten in einen kleinen Salon geführt. Er wies auf einen Sessel gegenüber von Inspector Eidel.
»Jane Marple«, bemerkte dieser, dann hielt er plötzlich inne – womöglich, weil Miss Marple an ihm vorbei durchs Fenster auf den Wald blickte – und fragte, nun mit lauterer Stimme: »KÖNNEN SIE MICH HÖREN, MADAM?«
Miss Marple zuckte zusammen, dann nahm sie ihn in den Blick. »Bestens, vielen Dank.«
»Ihre Freundin hat mir erzählt, Sie hätten heute Abend im Wald eine heftige Auseinandersetzung mit einem maskierten Mann gehabt. Einem Mann, der aus der entgegengesetzten Richtung kam, also vom Haus her, auf dem Pfad, der zum Hintereingang führt. Entspricht das der Wahrheit?«
»Das entspricht nicht ganz der Wahrheit«, erwiderte Miss Marple gut gelaunt.
»Verzeihung?«
Miss Marple neigte leicht den Kopf, um ihm zu zeigen, dass ihm in der Tat verziehen wurde. »Nun, es war nicht am Abend. Es war erst kurz nach fünf – obwohl man dies zu dieser Jahreszeit, wo es so früh dunkel wird, sehr leicht vergisst, was ich verstehe …«
Inspector Eidel räusperte sich recht geräuschvoll. »Entschuldigen Sie, nur so eine Redensart …«
»Aber ist es denn nicht furchtbar wichtig, dass solche Dinge gleich von Anfang an korrekt festgehalten werden? Sie als Polizist wissen das bestimmt nur zu gut. Worte sind nur Worte, aber sie können ja so gefährlich werden, so in die Irre führen. Kurzum: Ja, ich war heute Nachmittag dabei. Und wir trafen auf eine maskierte Gestalt. Meine Freundin wurde grob zu Boden gestoßen – äußerst schockierend. Fast, so ließe sich behaupten, auf eine unnötige Weise grob.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Das weiß ich selbst nicht ganz genau. Nur, dass es besonders boshaft wirkte. Eine alte Frau so zu Boden zu stoßen, wo es doch ein Leichtes gewesen wäre, einfach um sie herum zu laufen. Als hätte man damit etwas verdeutlichen wollen. Um was genau es sich dabei handelt, weiß ich allerdings nicht.«
»Nun, Ma’am«, sagte Inspector Eidel – ein wenig gönnerhaft, wie sie fand –, »wir sprechen hier von jemandem, der aller Wahrscheinlichkeit nach gerade eine Frau ermordet hatte. Also ist das womöglich nicht ganz so überraschend. Bedauerlicherweise wird sich dieser Jemand, wer immer es auch war, mittlerweile längst unter die Menge gemischt haben, die gerade zum Dorfkreuz marschiert. Ich glaube, wir werden wohl …«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, fiel Miss Marple ihm ins Wort. »Das ist natürlich, was man Sie glauben machen will. Doch wenn wir von der Vermutung ausgehen, dass es sich bei der maskierten Gestalt tatsächlich um unseren Mörder handelt – und ich stimme Ihnen zu, dass wir diese Vermutung wagen dürfen –, dann befinden sich nach allem, was Prudence mir berichtet hat, viele der Personen, die ein echtes Zerwürfnis mit dem Opfer hatten, hier im Haus. Verstehen Sie? Es wäre ein ziemlich gerissener Schachzug, sich als Festbesucher zu verkleiden. Anschließend hätte man nur Sekunden gebraucht, um sich des Kostüms zu entledigen, es im Wald zu verstecken und in gewöhnlicher Kleidung wieder zurückzukommen, bereit zur Chorprobe – als wäre nichts davon geschehen. Also, wenn Sie meine unbedeutende Meinung hören wollen, Inspector«, und Inspector Eidel schien zu begreifen, dass ihm diesbezüglich keine Wahl blieb, »würde ich den Wald in der Nähe jenes Ortes absuchen, wo Prudence und ich unserem maskierten Angreifer begegnet sind, und dort etwa nach Kleidung oder anderem suchen.«
Inspector Eidel wandte sich an seinen Untergebenen, der, Notizbuch in der Hand, auf der Kante einer Chaiselongue hockte. Sie verständigten sich wortlos. Der Dienstjüngere nickte. »Ich werde auf der Wache in Honnington Bescheid sagen und sehen, ob die ein paar von ihren Jungs erübrigen können.«
Eidel wandte sich wieder an Miss Marple. »In der Hand der Toten wurde ein Briefbogen gefunden.«
»Ich weiß. Ich habe ihn gesehen. Eine recht bedrohliche Nachricht.«
»Sie sind nicht hier aus der Gegend, oder, Miss Marple?«
»Nein, ich wohne in St. Mary Mead. Schon mal davon gehört? Der Ort ist nicht sehr bekannt. Ein kleines Dorf, ganz bezaubernd …«
»Nun«, unterbrach Eidel sie, »da Sie also nicht von hier sind, dürfte es Ihnen schwerfallen, eine Vermutung darüber anzustellen, wer ihn dem Opfer geschickt haben könnte.«
»Oh, aber natürlich weiß ich das. Niemand!«
»Wie bitte?«
Miss Marple legte wieder den Kopf zur Seite. »Der Briefumschlag sagt uns selbstverständlich alles.«
»Der Umschlag war unbeschriftet, Miss Marple.«
»Eben! Nicht nur unbeschriftet, sondern sogar blütenweiß. Er war unbenutzt. Woraus wir, wie ich glaube, folgern können, dass niemand ihn verschickt hat. Er hatte seinen Empfänger noch gar nicht erreicht. Das Opfer selbst hat den Brief geschrieben. Sie hat jemanden erpresst. Und sie wollte ihn gerade abschicken, als sie ermordet wurde.«
Es folgte ein längerer Moment des Schweigens. Miss Marple konnte hören, wie Eidel schwer durch den Mund atmete. Schließlich sprach er weiter.
»Da ist noch etwas. Einige der Anwesenden haben angegeben, Christopher Palfrey hätte gesagt …«
Er sah in Richtung seines Untergebenen, der sich räusperte und etwas aus seinem Notizblock vorlas: »›Sie ist tot, und ich habe sie umgebracht.‹«
Eidel wandte sich an Miss Marple. »Ist das …«
»Zutreffend? Ja, in der Tat. Er hat diese Worte gesagt.«
»Danke, Miss Marple.«
»Aber ich glaube nicht im Entferntesten, dass es ein Geständnis war. Diese Künstlertypen – mein Neffe Raymond ist auch so einer, wissen Sie –, sie neigen dazu, alles auf sich und ihr Werk zu beziehen.«
Eidel runzelte die Stirn. »Und wie genau kommen Sie auf all das?«
»Palfrey hatte Celia Beautemps unlängst eine Gedichtsammlung gewidmet. Eines der Gedichte trug den Titel ›Meine Lady von Shalott‹. Eine Anspielung auf Tennyson, denke ich – ich habe ja eine solche Schwäche für Tennyson, ich mag nun mal Gedichte, die sich tatsächlich reimen … damit entlarve ich mich wohl als die Viktorianerin, die ich in Wahrheit bin.« Miss Marple legte die Stirn in Falten. »Wo war ich stehen geblieben? Ach ja! In dieser alten Geschichte stirbt die Lady von Shalott, wie Sie sicher wissen. Ich glaube, das ist der Punkt, an dem Palfreys künstlerischer Egoismus ins Spiel kommt – zweifellos glaubt er, dass er, weil er sich Madame Beautemps in seinen Versen als tot ausgemalt hat, irgendwie die Schicksalsgöttinnen auf sie gehetzt hat. Das ist nun einmal die Arroganz der Künstlerseele, wissen Sie, mein Neffe hat sie auch, und das sage ich als liebevolle Tante.«
»Die Künstlerseele«, wiederholte Eidel etwas matt. »Die … Schicksalsgöttinnen?«
»Davon abgesehen kann Palfrey gar nicht unser Maskierter gewesen sein.«
»Und wieso nicht?«
»Wegen seines Herzens selbstverständlich.«
»Seines Herzens?«
»Als er wegen der Toten so außer sich war, erinnerte Annabelle Palfrey ihn an sein Herz. Ich habe, während wir auf unsere Befragung warteten, auch mit Colonel Woodage darüber gesprochen: Er meinte, Palfrey sei deshalb auch vom Militärdienst freigestellt worden. Folglich würde es mich sehr wundern, wenn er imstande gewesen wäre, derartig durch den Wald zu preschen.«
Wieder folgte langes Schweigen.
»Danke, Miss Marple«, sagte Eidel schließlich. »Ich glaube, das wäre dann alles. Schicken Sie mir doch bitte …«, er wandte sich an seinen Assistenten.
»Gordon Kipling«, ergänzte der andere.
Miss Marple gesellte sich zu der Gruppe im Esszimmer. Wie schon das Wohnzimmer – und im Grunde alle anderen Räume des Hauses, in die Miss Marple einen Blick geworfen hatte – machte es einen unbewohnten, provisorischen Eindruck. Im Gegensatz zur üppigen Ausstattung von Fairweather House zum Beispiel schien es für den ganzen Platz nicht genügend Möbel zu geben, es hingen auch kaum Bilder an den Wänden, und auf den blanken Holzdielen lag kein Teppich. Rings um den Tisch saßen Prudence, die Palfreys, Mrs Prufrock, Colonel Woodage, Gordon Kipling und das Dienstmädchen.
Christopher Palfrey wirkte noch genauso gequält wie in dem Moment, als er mit dem Anblick im Studierzimmer konfrontiert war. Kreidebleich und leicht zitternd hockte er schief und zusammengesackt da. Seine Frau, die kerzengerade neben ihm saß, schien ihn zu stützen und zu verhindern, dass er vom Stuhl kippte und zu Boden glitt.
Miss Marple setzte sich auf den Platz neben Prudence, und da niemand zu reden schien, nahm sie ihr Strickzeug heraus.
»Ich habe die Frau nicht gemocht«, sagte der Colonel unvermittelt in die Stille hinein. »Ich bin der Erste, der es ausspricht. Lege meine Karten auf den Tisch. Und zwar nicht, wie Sie jetzt alle glauben werden, weil sie Französin war. Nein, ich glaube sogar, dass sie ebenso Französin war, wie ich Franzose bin. An ihrem Akzent war irgendetwas faul. Waren ein paar dubiose Vokale drin. Nein, ich mochte sie nicht, weil sie etwas … Windiges an sich hatte, etwas Falsches.«
Miss Marple bemerkte, wie Mrs Prufrock, die ehemalige Chorleiterin, dies mit einem leichten Nicken quittierte. Sie musste an die Worte auf dem Briefbogen denken. Ich weiß, was Du wirklich bist. Doch wenn ihr Bauchgefühl sie nicht trog, was es niemals tat, dann hatte Celia Beautemps jemand anderen einer Täuschung bezichtigt. Colonel Woodage fuhr fort: »Ich mag es nicht, wenn Menschen sich verstellen. Ich habe der Frau nicht getraut. Doch den Tod habe ich ihr nicht gewünscht. Ich hoffe, Sie finden den Strolch, der das getan hat.«
»Sie hat drei meiner Hunde getötet«, sagte Gordon Kipling. »Da bin ich mir ganz sicher. Manch einer könnte vielleicht sogar behaupten, sie hätte nur die Quittung für …«
Er verstummte, als die Flügel der Esszimmertür aufschwangen.
Im Türrahmen stand der jüngere der beiden Polizisten.
»Wir würden gerne eine Durchsuchung Ihrer persönlichen Gegenstände durchführen«, sagte er etwas nervös – so, als sei es eher eine Frage als eine Aufforderung. »Wenn Sie sich damit einverstanden erklären. Sie müssen nicht zustimmen, aber … äh … Ihre Weigerung wird bei den Ermittlungen berücksichtigt werden.«
Miss Marple beugte sich zu Prudence hinüber. »Das bedeutet, sie haben das Kostüm gefunden, glaube ich. Im Wald. Nicht aber die Mordwaffe.«
»Wie meinst du das, Jane?«
»Oh, ich glaube, dass unser Mörder – und unser Angreifer – hier ist. Und ich denke, Eidel weiß es auch.«
Der Reihe nach wurden sie wieder ins Wohnzimmer gerufen. Miss Marple reichte den Polizisten ihre Handtasche und wartete, bis diese deren Inhalt durchgesehen hatten. Sie wusste, dass sich darin wenig mehr als ihr Strickzeug, ihre Brieftasche und etwas Riechsalz befand – als Spätviktorianerin hatte sie dies stets bei sich, schließlich wusste man nie, wann es sich einmal als nützlich erweisen würde –, doch sie empfand es tatsächlich als recht erniedrigend, wenn nicht gar verletzend, mitansehen zu müssen, wie diese Männer ihre persönlichen Gegenstände befingerten. Anschließend wartete sie draußen, während auch Prudence die Prozedur über sich ergehen lassen musste. Dann durften sie endlich gehen. Doch als sie gerade aus der Haustür traten, vernahmen sie ein seltsam gellendes Geräusch, halb Schrei, halb Heulen. »Fassen Sie mich nicht an! Wie können Sie es wagen! Lasst mich los, ihr Idioten! Was für eine Unverschämtheit!«
»Das ist Annabelle Palfrey«, meinte Prudence und machte auf der Schwelle halt.
Miss Marple neigte den Kopf. »Ja, ich nehme an, sie haben das Messer in der Handtasche gefunden und nehmen sie gerade fest.«
Prudence drehte sich zu ihr um. »Jane! Könnte Palfrey etwa das gemeint haben, als er sagte, er habe sie getötet? War ihm vielleicht klar geworden, dass seine Frau von der Affäre erfahren und seine Geliebte ermordet hatte?«
Miss Marple wollte gerade etwas erwidern, als das Licht zweier Autoscheinwerfer sie erfasste. Ein Wagen näherte sich schnell, drosselte das Tempo und hielt an. Prudence’ Tochter Alice blickte durch die Scheibe zu ihnen heraus, so hübsch, wie Miss Marple sie in Erinnerung hatte, das Inbild einer Gutsbesitzergattin mit Seidenschal, Perlen und schickem Tweedkostüm im Landhausstil. Prudence und Miss Marple traten vor, um sie zu begrüßen.
»Habe ich die Probe verpasst?«, wollte sie wissen. »Es tut mir ja so leid, dass ich zu spät bin, unsere Perserkatze hat sich an der Pfote verletzt …« Aus einem weidengeflochtenen Katzenkorb auf dem Rücksitz drang ein klägliches Maunzen.
Ihr Blick fiel auf die geparkten Polizeiautos – mittlerweile mehrere –, und ihre Augen weiteten sich. »Was um Himmels willen ist hier los?«
»Madame Beautemps ist tot aufgefunden worden«, berichtete ihr Prudence.
»Tot?«
»Eine furchtbare Sache«, sagte Prudence ernst.
»Und die Polizei …«, fragte Alice, »haben sie schon eine Vermutung, wer es gewesen sein könnte?«
»Es scheint, als hätten sie gerade Annabelle Palfrey festgenommen. Jane ist überzeugt, dass sie das Messer in ihrer Handtasche gefunden haben.«
In dem Moment wurde die Genannte aus dem Haus geführt, die Hände mit Handschellen auf den Rücken gefesselt und flankiert von zwei Polizeibeamten. Sie ging erstaunlich würdevoll und aufrecht, selbst noch als einer der Beamten ihr die Hand auf den Kopf legte, um sie auf den Rücksitz des Wagens zu bugsieren. Schweigend sahen die drei Frauen zu. »Annabelle Palfrey«, sagte Alice, als der Streifenwagen weggefahren war. »Stellt euch das vor! Aber irgendwie kann man sich das vorstellen, nicht? Sie hat etwas so … Skrupelloses und Berechnendes an sich. Etwas eher Männliches.« Dann forderte sie die beiden auf: »Steigt ein. Ich fahre euch zurück nach Fairweather House.«
»Nein, danke«, entgegnete Miss Marple. »Ich würde gern zu Fuß gehen. Um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.«
»Aber es ist so kalt! Und außerdem könnte immer noch ein Mörder frei herumlaufen!« Alice blickte erst ihre Mutter fragend an, dann wieder auf Miss Marple.
»Wenn Jane läuft, dann werde ich sie begleiten«, erklärte Prudence.
»Ich kann sehr wohl allein gehen«, versicherte ihr Miss Marple.
Prudence schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, ich muss darauf bestehen.«
Alice fuhr mit dem Wagen davon, und die beiden Frauen machten sich auf den langen Weg zurück, diesmal jedoch entlang der Hauptstraße. Da sie auf der anderen Strecke schließlich einem Mörder begegnet waren, wollten sie die Abkürzung durch den finsteren Wald diesmal nicht riskieren. Miss Marple hielt einige Male an, um die Bäume auf beiden Seiten des Weges zu studieren, während Prudence etwas ungeduldig dastand und auf sie wartete. Als sie in Fairweather House angekommen waren, nahmen sie ein leichtes Abendessen zu sich und gingen früh zu Bett. Doch Miss Marple schlief nicht. Stattdessen dachte sie die nächsten Stunden über nach, bis der matte Schein der Morgendämmerung die Vorhänge erhellte. Dann ließ sie sich zur Stärkung eine Kanne Tee aufs Zimmer bringen.
»Würden Sie diesen Brief bitte Inspector Eidel von der Polizei bringen?«, bat sie das Dienstmädchen, dasselbe, das tags zuvor neues Holz in den Kamin gelegt hatte. »Sagen Sie ihm, es sei dringend.«
»Es ist wirklich schockierend«, echauffierte Prudence sich beim Frühstück, während sie eine Scheibe Toast mit Butter bestrich und einen Klacks Marmelade darauf löffelte. »Zugegeben, ich habe mich nie so recht mit Annabelle Palfrey verstanden. Für eine Mörderin jedoch hätte ich sie nie gehalten. Du hattest recht, Jane! In kleinen Ortschaften geschehen tatsächlich böse Dinge.« Sie nahm ein akkurates Schlückchen Tee.
»In der Tat, meine Liebe.« Miss Marple strich sich behutsam Butter auf ihren Toast. »Doch glaube ich nicht, dass Annabelle Palfrey irgendetwas mit dem Tod dieser Frau zu tun hat.«
Prudence stellte ihre Tasse hin. »Und wieso nicht?«
Miss Marple runzelte die Stirn. »Erstens, nun, verstehe ich nicht, wieso sich jemand all die Mühe machen sollte, sich zu kostümieren und die Verkleidung dann im Wald zu verstecken und so weiter, nur um später die Mordwaffe in der Handtasche zu lassen. Ich nehme an, es wäre durchaus möglich gewesen, die Handtasche unter dem Umhang zu verbergen. Aber wieso hat sie dann nicht auch das Messer gleich im Wald entsorgt? Das alles kommt mir ziemlich töricht vor – und es passt so gar nicht zu der Frau, die ich gestern Abend kennengelernt habe. Dafür wirkt sie einfach viel zu intelligent.«
»Und was willst du damit sagen?«
»Ich glaube, ich sollte einen Schritt zurückgehen und besser mit dem Opfer selbst beginnen. Weißt du, schon als ich diese Fingernägel sah, wusste ich, dass etwas nicht stimmte.«
Prudence verzog angewidert den Mund. »Fingernägel?«
»Ich wusste, dass ich so etwas schon einmal gesehen hatte. Diese hässlichen, verdickten Nägel, diese gerötete Nagelhaut. Dann fiel mir ein, dass eines meiner Dienstmädchen an genau derselben Krankheit litt. Ich schickte sie zu Dr. Haydock. Es war Paronychie: eine sehr verbreitete Erkrankung unter Hausbediensteten, die ihre Finger oft in heiße Seifenlauge tauchen müssen. Unbehandelt kann sie chronisch werden, kann Jahre andauern. Unter berühmten Sopranistinnen, so würde ich glauben, ist die dagegen weit weniger verbreitet. Was aber, wenn Celia Beautemps ein anderes Leben geführt hatte, bevor sie Sängerin wurde? Was, wenn sie sich einst sogar als Hausangestellte verdingt hatte? Und ein großzügiger Wohltäter ihr die Studiengebühren bezahlt hatte? Zudem war da noch der Umstand, dass Celia Beautemps die Guildhall School of Music and Drama in London besucht hatte. Das allein kam mir seltsam vor – würde eine Französin ihr Handwerk nicht eher in ihrem eigenen Land erlernen? Die Franzosen sind doch so versnobt, ganz besonders in Bezug auf derartige Dinge.«
Prudence nahm die Tasse und trank einen weiteren Schluck Tee.
»Soll ich fortfahren?«, fragte Miss Marple.
Prudence neigte den Kopf.
»Folglich, weißt du, gehe ich davon aus, dass die Fassade der Französin Teil ihrer Tarnung war. Daher auch die Bemerkung des Colonels über ihre ›dubiosen Vokale‹. Und doch ist es viel einfacher, die eigene Herkunft aus der Arbeiterklasse mit einem französischen Akzent zu kaschieren als mit aufgesetztem Oberschichten-Englisch.
Ich glaube, Celia Beautemps – so dies denn ihr Taufname war, was ich nie auch nur eine Sekunde lang geglaubt habe – war eine Hausbedienstete, die ihre Kunst dank der Großzügigkeit eines reichen Förderers erlernte. Erwähntest du gestern nicht, dein Ehemann George habe sich auch einmal so freigiebig gezeigt, wenngleich er ansonsten durchaus knausrig sein konnte? Der Tochter der einstigen Haushälterin gegenüber, sagtest du. Und von Meon Maltravers aus, mit seiner schnellen Zugverbindung Richtung London, wäre es für ein Mädchen sicher doch recht einfach, in seiner Freizeit dorthin zu fahren.«
Prudence stellte ihren Tee wieder ab, wobei die Untertasse ein leises Klirren von sich gab. »Was genau möchtest du damit sagen, Jane?«
»Was ich damit sagen will, ist, dass ich glaube, Celia Beautemps war ein Geist aus der Vergangenheit. Aus deiner Vergangenheit, Prudence, um genau zu sein. Jemand, von dem du hofftest, dass er verschwunden war – insbesondere nach dem Tod ihrer Mutter. Doch als die Probleme mit den Stimmbändern ihrer Karriere ein vorzeitiges Ende bereiteten, war sie zurückgekehrt, in der Hoffnung, dir durch Erpressung ihren Lebensunterhalt abzunötigen. Dieser Brief in ihrer Hand? Etwas ganz Ähnliches habe ich gestern im Kaminfeuer gesehen. Und du schienst plötzlich so erpicht darauf, neues Feuerholz auflegen zu lassen – um zu verbergen, was ich, wie du hofftest, in den Flammen nicht bereits erspäht hatte.«
»Das ist absurd«, empörte sich Prudence in ihrer schrillsten Schulsprecherinnenstimme. »Wieso sollte mich denn jemand erpressen?«
»Oh«, versetzte Miss Marple, »weil du deinen zweiten Ehemann – und ihren ehemaligen Dienstherrn – umgebracht hast, nehme ich an.«
Prudence riss vor Entrüstung den Mund auf, Miss Marple aber fuhr unbeirrt fort.
»Als ich das Foto von euch dreien sah, fiel mir wieder ein, wie gebrechlich George gewirkt hatte. Die fleckige, fast schon blutunterlaufene Haut, die Verdauungsbeschwerden. Und schließlich das Herzversagen. Alles Anzeichen einer chronischen Arsenvergiftung.«
»Aber wie …«
»Kennst du noch diese gefärbten Blumen, die man sich früher an den Hut gesteckt hat? Ich weiß noch, wie ich den Hutmacher in Much Benham einmal gefragt habe, wieso es dieses hübsche grüne Blattwerk nicht mehr gab: Scheeles Grün, so nannte man die Farbe. Er erzählte mir von den armen Mädchen in den Fabriken, die die Dinger färbten und immer kranker wurden. Das Zeug hat sie langsam vergiftet. Die Flecken auf der Haut, die Magenbeschwerden, die Herzprobleme – genau wie bei George. Eine ehemalige Apothekerfrau! Du wusstest ganz genau, wie man das anstellen musste.
Und du meintest ja, dass du die Dienerschaft entlassen hast, als George krank wurde. Um dir die Führung des Haushalts zu erleichtern, sagtest du. Oder aber um potenzielle Zeugen loszuwerden.«
»Das ist lächerlich. Und willst du etwa auch noch behaupten, ich hätte etwas mit Celia Beautemps’ Tod zu tun? Du warst doch bei mir, als wir den Schrei gehört haben – als das arme Ding umgebracht wurde. Du hast gesehen, wie der Mörder mich zu Boden gestoßen hat!«
Miss Marple nickte. »In der Tat. Und ein Messer wäre nicht dein Stil, Prudence. Gift passt viel besser zu dir. Und wie clever von dir, jeglichen Verdacht von dir abzulenken! Dass du vom Mörder angegriffen wurdest – so schien jegliche Verbindung, die man zwischen dir und ihm hätte ziehen können, völlig ausgeschlossen. Doch diente dieser Angriff, so glaube ich, auch dazu, um die Übergabe der Mordwaffe zu bewerkstelligen. Du wolltest sie Annabelle Palfrey unterschieben. Du meintest doch, sie hätte dir im Gemeinderat widersprochen – oh, Prudence, ich weiß noch, wie du in der Schule warst, auch damals mochtest du keinen Widerspruch. Dadurch konntest du zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, sozusagen. Ich glaube, als diese maskierte Gestalt dich umgestoßen hat, da hat sie dir in Wahrheit nur das Messer übergeben – dessen du dich dann entledigt hast, als du im Esszimmer neben Annabelle Palfrey gesessen und auf die Befragung gewartet hast. Was war es denn für eins? Etwas hübsches Kleines – ich nehme an, ihr eigener Brieföffner.«
»Das ist blanker Unsinn …«
Aber Miss Marple war nun die Skrupellosigkeit in Person. »Und jetzt komme ich zu deinem Komplizen. Was hattest du noch mal über deine Tochter gesagt? ›Wir standen uns schon immer näher als die meisten Mütter und Töchter.‹ Alice ist groß gewachsen – ihre Statur passt gut zu der maskierten Gestalt, die uns im Wald begegnet ist und die du in deiner Beschreibung für die Polizei ausdrücklich als ›Mann‹ bezeichnet hast. Sie würde auch eine gute Mörderin abgeben – die Frau eines Schweinebauern, ob Gutsherr oder nicht, dürfte wissen, wie man eine Kehle aufschlitzt.«
»Alice ist erst mit dem Auto gekommen, als alles längst vorbei war!«
»Gewiss, sie ist mit dem Auto gekommen. Aber ich habe mir den Wald auf beiden Seiten der Auffahrt genau angesehen. Viele dunkle Einbuchtungen, wo sie sich, nachdem sie das Kostüm abgelegt hatte und zu Fuß durch den Wald zur Zufahrtsstraße gerannt war, im geparkten Wagen hätte verstecken können, mit ausgeschalteten Scheinwerfern und vor den Blicken verborgen. Es bestand ein Risiko – die Polizei, die das Kostüm gefunden hatte, hätte sie zufällig entdecken können. Aber sie parkte weit genug entfernt – und die Verkleidung war derart schlecht versteckt –, dass es nicht dazu gekommen ist. Und anschließend konnte sie die Zufahrt hinauffahren und uns die Geschichte mit der Katze auftischen, wohl wissend, dass man sie nicht genauer überprüfen würde.«
Miss Marple hatte jetzt alles gesagt.
Stille senkte sich über den Raum. Eine Stille, so tief, dass sie Form und Gewicht anzunehmen schien.
Dann stand Prudence von ihrem Stuhl auf. In der Hand das Messer, mit dem sie sich eben noch die Butter auf den Toast gestrichen hatte. Miss Marple saß ganz still da. Sie waren allein im Zimmer. Und Prudence beschäftigte nur so wenig Personal …
Jetzt ging Prudence, das Messer fest umklammert, um den Tisch herum. Ein Messer mochte nicht die Waffe ihrer Wahl sein, doch beschlich Miss Marple langsam der Verdacht, dass sie unter Zugzwang nicht ganz so wählerisch sein würde. Als Miss Marple aufstand und einen Schritt nach hinten machte, dämmerte ihr allmählich, dass sie womöglich etwas ausgesprochen Törichtes getan hatte.
Es läutete an der Tür. Dann der Singsang eines breiten Sussex-Dialekts im Flur. Prudence erstarrte. Miss Marple ließ die Luft entweichen, von der sie gar nicht wusste, dass sie sie angehalten hatte. Das Dienstmädchen öffnete die Tür zum Frühstücksraum und führte ihn herein.
»Guten Morgen, Mrs Fairweather.« Eidel zog den Hut und brachte das vor Brylcreem starrende Haar eines Film-noir-Helden zum Vorschein. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich Sie gern einladen, mich auf die Wache zu begleiten, um mir ein paar Fragen zu beantworten. Ihre Tochter sitzt bereits im Wagen. Und wenn Sie das bitte weglegen würden.« Dabei wies er mit einer lässigen Handbewegung auf das Messer.
Prudence straffte den Rücken. »Sie haben absolut keine Beweise«, sagte sie.
Jetzt ergriff Miss Marple das Wort: »Das Opfer selbst ist der Beweis. Ich habe keine Ahnung, wie ihr richtiger Name lautete, obwohl ich sicher bin, dass sie nicht Celia Beautemps hieß. Aber Beautemps bedeutet auf Französisch ›gutes Wetter‹. Ein Hinweis auf ihre Herkunft und auf das Gebäude hier: Fairweather House.«
»Alles wilde, haltlose Spekulationen«, fauchte Prudence.
»Und ich habe Alice’ Perlenohrring«, merkte Miss Marple an. »Ich habe ihn dort gefunden, wo sie ihn gestern Abend im Wald verloren hat, nachdem sie dich ›angegriffen‹ hatte.«
»Den könntest du überall gefunden haben!«, sagte Prudence. »Also wirklich, Jane, ich wusste ja schon immer, dass du in der Schule auf mich neidisch warst, aber das …«
»Ich hab den Brief an mich genommen«, sagte das Hausmädchen ganz unvermittelt. »Den, der im Feuer lag, den, den die französische Frau gestern Morgen hier vorbeigebracht hat.« Sie sah Prudence an. »Sie drohen mir immer damit, mich vor die Tür zu setzen, wenn ich mich nicht« – sie ahmte den schrillen Ton ihrer Dienstherrin nach – »›tüchtig am Riemen reiße, ich dummes Ding‹. Also hab’ ich ihn rausgefischt, bevor ich die neuen Scheite aufgelegt hab. Dachte mir, ich heb’ ihn auf, könnte sich ja mal als nützlich erweisen.«
Sie reichte den verrußten Fetzen dem Inspector, der ihn erst überflog und sich dann an Prudence wandte. »George Fairweather war Ihr Ehemann, nehme ich an? Wissen Sie, Ma’am« – die folgenden Worte sagte er mit dem leisen Hauch eines gedehnten amerikanischen Akzents, als würde er eine Textzeile aus einem Film zitieren –, »Sie können hier nicht einfach so nach Lust und Laune Leute umbringen.«
Zum ersten Mal schien es Prudence Fairweather die Sprache verschlagen zu haben.
»Nun, da siehst du’s, Prudence«, brach Miss Marple das Schweigen. »Wer seine Angestellten schlecht behandelt oder unterschätzt, tut dies stets auf eigene Gefahr. Aber ich hätte gedacht, du hättest deine Lektion bereits gelernt.«
Als Prudence abgeführt worden war, musste Miss Marple daran denken, dass das Böse gar nicht dort draußen bei den heidnischen Horden auf der Straße gelauert hatte. Nein, es war hier drin gewesen, in diesem gemütlichen, edel eingerichteten Wohnzimmer dieses mondänen Hauses. Jetzt kannte sie einen weiteren Grund, lieber nicht bei anderen Leuten zu übernachten. Der Fächerahorn war tatsächlich eine Pracht, alles in allem aber war er es nicht wert gewesen.
Val McDermid
Ein Mord im eigenen Pfarrhaus zeugt von Unglück; ein zweiter sieht doch sehr nach Nachlässigkeit aus, oder etwas Schlimmerem. Auch meine Einwände, dass das tote Dienstmädchen in der Küche gar nicht unser Dienstmädchen gewesen sei, waren allesamt vergebens. Der bedauerliche Umstand, dass sie diese Position einmal bekleidet hatte, genügte völlig, dass sich ganz St. Mary Mead das Maul zerriss, lechzend wie eine Hundemeute, die eben die Fährte eines Fuchses aufgenommen hatte.
Zu allem Übel hatte meine Frau aus unserer Freude über Marys Abschied aus unseren Diensten keinen Hehl gemacht. Meine liebe Griselda verfügt über viele großartige Eigenschaften, nur die Diskretion, die man gemeinhin von einer Pfarrersfrau erwartet, gehört nicht dazu. Fairerweise muss allerdings gesagt werden, dass jeder Gast, der je bei uns zum Dinner war, die wahrhaft teuflische Natur von Marys Kochkünsten bezeugen kann.
Einmal stellte sie einen Topf mit Eiern auf den Herd und vergaß ihn prompt. Das Wasser verdampfte, die Eier explodierten und erfüllten das gesamte Haus mit einem üblen schwefligen Gestank. »Ich könnte mir vorstellen, dass es so in den Vororten der Hölle riecht«, merkte unsere Nachbarin Miss Marple augenzwinkernd an, als sie kurz darauf zum Lunch vorbeikam. Drei Schichten Farbe waren nötig, um die Küchendecke wiederherzustellen.
Folglich hielt sich unsere Trauer auch in Grenzen, als Mary, sobald sie von Griseldas Schwangerschaft erfuhr, verkündete, sie werde uns verlassen. Zur Begründung gab sie an, dass sie Kinder nicht ertragen könne und Säuglinge schon gar nicht. Miss Marple, die einen ausgezeichneten Ruf genießt, wenn es darum geht, junge Frauen in häuslichen Diensten anzulernen, war unsere Rettung. Flora besitzt sämtliche Qualitäten, die Mary vermissen ließ. Sie ist zuverlässig, tüchtig und kümmert sich hingebungsvoll um unseren Sohn David. Sie kocht gute, schlichte Hausmannskost und backt sogar noch besser. Zudem meint Griselda stets, sie sei so ansehnlich wie ein alter Polizeistiefel, was lästige Verehrer abschrecken würde, die an unserer Hintertür herumlungerten, wie Bill Archer, der Mary bis zu seinem Tod vor einer Woche noch den Hof gemacht hatte.
Miss Hartnell zufolge, der fülligsten unserer alten Dorfjungfern, wurden Archer seine eigenen Missetaten zum Verhängnis. Dass er wilderte, war kein Geheimnis – andererseits lässt sich in einem Nest wie St. Mary Mead ohnehin so gut wie nichts geheim halten, und zwar dank des, wie Griselda es bezeichnet, »Rudels alter Katzen«, die Neuigkeiten schneller verbreiten als die BBC, wenn auch meist nicht ganz so faktentreu.
Aber ich schweife ab. Archer hatte sich aus einem von Colonel Bantrys Fasanen einen Eintopf zubereitet und ihn mit Waldpilzen gestreckt. Wiewohl er ein erfahrener Sammler war, musste es ihm irgendwie gelungen sein, genügend Giftpilze darunterzumischen, dass ihre Wirkung tödlich war. Ein vorbeikommender Landarbeiter bemerkte das angstvolle Bellen von Archers Jack Russell Terrier. Also lugte er durchs Küchenfenster und sah Archer auf dem Boden liegen, inmitten eines Scherbenhaufens aus Geschirr und einer zerschellten Bierflasche.
Trotz Archers wohlbekannter Neigung, sich an den Landerzeugnissen anderer Leute zu bedienen, nahm die örtliche Polizei seinen Tod nicht auf die leichte Schulter. Inspector Slack – der trotz seines Namens alles andere als träge war – kam mit der ihm eigenen großspurigen Selbstgefälligkeit aus Much Benham angefahren, scheuchte für den Großteil des Tages alle herum, sperrte dann Archers Cottage ab und versiegelte die Tür.
»Das wird ihm herzlich wenig nützen. Jeder Idiot kann in Minutenschnelle in Archers baufällige Bruchbude einbrechen«, stellte mein Neffe Dennis fest, der nach seiner einjährigen Probezeit als angehender Polizeibeamter nun Fachmann für so ziemlich alles war, was mit Verbrechen zu tun hatte.
Doch es schien, als könnte selbst Inspector Slack nichts finden, was auf eine Straftat hinwies. Erst heute Morgen hat mich Miss Marple angesprochen, als ich am Rande ihres Gartens vorbeilief. »Wissen Sie denn schon, für wann Archers Beerdigung angesetzt ist?«, erkundigte sie sich.
»Ich fürchte, seine Familie kann erst Pläne machen, wenn die Polizei den Leichnam freigibt.«
»Haben Sie es denn noch nicht gehört? Der Coroner ist zu dem Schluss gekommen, dass er eines natürlichen Todes gestorben ist. Gestern früh haben sie das Siegel von seiner Tür entfernt. Ich glaube, Mary war schon dort. Es war ihr freier Nachmittag.« Selbstverständlich kannte Miss Marple die Dienstzeiten aller Hausbediensteten des Dorfes auswendig.
Doch selbst Miss Marple hätte nicht vorhersehen können, dass ich nach unserem Gespräch in unsere Küche kommen und besagte Mary auf dem Fliesenboden liegen sehen würde, der Kopf in einer Lache Blut, eine gusseiserne Omelettpfanne neben ihr. Obwohl ich schon befürchtete, dass sie tot war, hockte ich mich neben sie und fühlte am Handgelenk nach einem Puls. Nicht allein, dass nichts mehr pochte, auch ihre Haut fühlte sich schon kühl an.
Ich richtete mich wieder auf und ging zum Telefon in der Diele. Sehr zum Missfallen von Mrs Price Ridley, Miss Hartnell und Miss Wetherby haben wir hier in St. Mary Mead keinen Dorfpolizisten. (Was auch gut so ist, meint Dennis, der sich jetzt schon ständig ihre Klagen anhören muss.) Folglich war ich gezwungen, in Much Benham anzurufen, wo Inspector Slack das Regiment führt. Ich hatte gehofft, er wäre unterwegs zu irgendwelchen Ermittlungen, sobald ich aber das Wort »Leiche« aussprach, verband man mich nach einer Abfolge von Knack- und Summtönen mit dem Inspector höchstpersönlich.
»Mr Clement?«, bellte er. »Was höre ich da über eine Leiche in Ihrer Küche?«
Ich erklärte, was ich entdeckt hatte. Erst folgte ein langes Schweigen, dann blaffte Slack mich schnaubend durch die Leitung an: »Ich hätte gedacht, für einen Mann Gottes wäre ein Mord im Pfarrhaus völlig ausreichend.« Er verstummte. Ich wusste nicht, was er von mir hören wollte, also schwieg auch ich. Schließlich seufzte er. »Fassen Sie nichts an. Wir sind gleich da.« Der Knall, als Slack den Hörer auf die Gabel donnerte, hallte schmerzhaft in meinem Schädel nach.
Slack hielt Wort und traf schon bald mit Dennis und einem weiteren uniformierten Constable im Schlepptau ein. Man scheuchte mich aus der Küche und ins Arbeitszimmer, wo Slack sich bald schon zu mir gesellte. »PC Hurst hat mir erzählt, die Tote hätte einst in Ihren Diensten gestanden«, begann er ohne Vorrede.