Miss Rockefeller geht zum Film - Artur Landsberger - E-Book

Miss Rockefeller geht zum Film E-Book

Artur Landsberger

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Beschreibung

Die Frau eines Diplomaten im Auswärtigen Amt entschließt sich nach einer Zufallsbegegnung für eine Karriere als Filmdiva, um Ihrem Mann beruflich auf die Sprünge zu helfen. Ein Klassiker voller Ironie und gesellschaftlicher Seitenhiebe.

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Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Ausblick

Erstes Kapitel

Der Hausmeister mit der dunkelblauen Mütze und dem über die Knie reichenden, enganschließenden Rock stand vor dem Portal des Auswärtigen Amtes; wie seit dreißig Jahren an jedem Abend, wenn die Abteilungsleiter sich von ihrem Schreibtisch erhoben und zu ihren Sekretären „gute Nacht“ sagten.

Er war derselbe geblieben, innerlich und äußerlich, wenn das Haar auch grau geworden war und der Rücken nicht mehr ganz so in der geraden Linie verlief wie früher. Aber die Menschen hatten sich, ihm sehr zum Schmerz, verändert.

Es war nicht nur das Fehlen der Bügelfalte und der schlechtsitzende Rock, der die Sekretäre und Räte des alten Regimes von dem heutigen unterschied. Es fehlte die Haltung. Und Haltung war ihm gleichbedeutend mit Würde. Sie sprachen mit ihren Vorgesetzten, die Hände in den Hosentaschen, trugen Bärte oder gingen gar unrasiert, kamen im Omnibus angefahren, von dem sie während der Fahrt absprangen, und trugen Mappen unter dem Arm, wie sie früher nicht einmal die Bürodiener trugen.

Konnte man diesen Menschen, die so schlecht Deutschlands Würde nach außen vertraten, mit Achtung begegnen? Er legte die Stirn in Falten, schüttelte den Kopf und sagte: nein! Und während er früher jeden, ganz nach dem Rang, den er bekleidete, freundlich, höflich oder devot begrüßt hatte, ließ er sie jetzt mit einem spöttischen Zug um den Mund und ohne Gruß an sich vorübergehen.

Nur in einer, und zwar der wichtigsten Abteilung hatte sich, allem Umsturz zum Trotz, diese Wandlung nicht vollzogen. Hier herrschte noch heute der einknöpfige Cutaway, die Bügelfalte und der hohe Hut, und ihre Träger waren der Herkunft und dem Geiste nach dieselben wie vor dreißig Jahren. Hier war der Hausmeister Mensch, hier durft’ er’s sein, denn er vergab sich nichts. Es waren für ihn die einzigen Momente am Tag, an denen sein Standesbewusstsein nicht litt, wenn er auf den Gruß „N’Abend, Herder!“ stramme Haltung annehmen und erwidern konnte: „Guten Abend, Herr Baron!“

Und wenn der Herr Baron oder der Herr Graf dann um die Ecke bog, lächelte Herder wohlwollend und befriedigt und dachte: ‚Ganz der Herr Papa!‘ oder ‚Als ob ich den Herrn Großvater vor mir sähe!‘ — Und wenn er sich des Abends die Decke über den Kopf zog, waren seine letzten Gedanken noch bei ihnen, und er schlief in dem Bewusstsein ein: ‚Die werden’s schon machen.‘

In dieser Abteilung kannte Herder sämtliche Personalien; jede Veränderung und Neubesetzung war für ihn ein Erlebnis. Und als eines Tages der Graf Matuschka seinen Abschied nahm und ein ganz gewöhnlicher Dr. Robert Deichler an seine Stelle trat, kam ihm nach einer schlaflosen Nacht zum ersten Mal der Gedanke, sich pensionieren zu lassen. Aber die Erwägung, wer dann an seine Stelle treten würde, erregte ihn derart, dass er die Absicht bald wiederaufgab. Um so mehr beschäftigte ihn die Frage, wie er sich zu diesem Doktor Deichler stellen solle. Er galt ihm als Eindringling, der den neuen Geist auch in diese Abteilung trug, deren unverändert gebliebener Charakter ihm Amt und Leben noch erträglich machten. Er beschloss, als Zeichen, dass er trotz dieses Schönheitsfehlers der Abteilung als solcher sein Vertrauen nicht entzog, ihn zu grüßen, im Übrigen aber ihm mit Vorurteil zu begegnen.

Freilich: Doktor Deichlers Äußeres sagte ihm zu. Dieser hochgewachsene, schlanke Mann mit dem bartlos-rassigen Gesicht, an dessen Kleidung und Manieren er nichts auszusetzen fand, machte auch in dieser Abteilung eine gute Figur. Und da die anderen, bis hinauf zum Staatssekretär, ihn respektierten, so überwand er auch seine Vorurteile und nahm ihn für voll. Er bemühte sich sogar um seine Herkunft, die der Gotha leider verschwieg, und brachte nicht ohne Mühe heraus, dass Papa Deichler zwar Akademiker, aber politisch nicht ganz einwandfrei gewesen war. Jedenfalls hatte er dem alten Bismarck Opposition gemacht, der Herders erster Chef gewesen war und den er wie einen Heiligen verehrte. Keine Wand in seiner kleinen Dienstwohnung, an der nicht das Bild des ersten Kanzlers hing.

Es war daher nur folgerichtig, wenn Herder einen gewissen Soupçon dem Doktor Deichler gegenüber nicht überwand und seine endgültige Stellungnahme von einer Unterredung abhängig machte, die er, an sich so wortkarg, nun krampfhaft herbeizuführen versuchte. Dass zwischen Doktor Deichler und den anderen Herren der Abteilung aber doch irgendein Unterschied bestand, das verriet schon sein Gruß. Denn auf sein: „Guten Abend, Herr Doktor!“ zog, im Gegensatz zu den anderen, Deichler regelmäßig den Hut und sagte beinahe höflich: „Guten Abend, Herr Herder!“

So nannten ihn die Gehilfen, Schreiber und Bürodiener auch.

* * *

Doktor Deichler war schon über sechs Wochen im Amt, ohne dass Herder Gelegenheit gefunden hatte, mit ihm zu sprechen. Zwar hatte er durch die Bürodiener und Schreiber erfahren, dass Doktor Deichler allgemein als einer der befähigtsten und zuverlässigsten Beamten der Abteilung galt und vom Abteilungsdirektor mit den wichtigsten Aufgaben betraut wurde. Er hatte auch Gelegenheit, die Angaben seiner Gewährsmänner, auf die kein absoluter Verlass war, persönlich nachzuprüfen, denn er genoss Vertrauen und hatte daher überallhin Zutritt. Ihm unterlag die Ordnung des Hauses, und dazu gehörte auch, dafür zu sorgen, dass die Akten nicht herumlagen. Das verursachte allabendlich Arbeit. Er tat sie gern, und wenn er auf den Schreibtischen der jungen Diplomaten das Tohuwabohu sah und Ordnung schaffte, lächelte er wohlwollend und befriedigt und dachte: ‚Ganz wie bei dem Herrn Papa‘ oder ‚Als wenn ich den Schreibtisch des Herrn Großvaters vor mir sehe!‘

Ganz anders bei Doktor Deichler. Die unerledigten Akten lagen hinter Glastüren in einem Schrank verschlossen, in dem der Vorgänger, Graf Matuschka, Zigaretten und Liköre aufbewahrte. Auf dem Schreibtisch lagen zwei verschlossene Mappen, darauf als Anweisung für den Bürochef ein Zettel mit der Aufschrift: ‚Herrn Legationssekretär von dem Bussche zu übergeben zwecks sofortiger Weiterleitung an Seine Exzellenz den Herrn Staatssekretär.‘ Demnach, so folgerte Herder, hatte dieser Doktor Deichler das Recht, dem Baron von dem Bussche Anweisungen zu geben. Wenn er das auch nicht billigte — denn die Freiherren von dem Bussche saßen länger als ein Menschenalter in diesem Amt — so machte es doch Eindruck auf ihn. Ihm sagte diese Begleitschrift zu der Mappe aber auch, dass Doktor Deichler das Vertrauen des Ministers besaß; also beschloss auch er, ihm sein Vertrauen zu schenken.

Da er ihm sofort ohne Vorurteil und mit Vertrauen begegnete, war es nur natürlich, dass er auch seine Frau, Margarete Deichler, für voll nahm. Und er hoffte, so oft er diese gutgewachsene, große, schlanke Frau mit dem feinen Gesicht und dem federnden Gang sah, dass sie nicht nur dem Äußeren, sondern auch dem Blut nach eine Aristokratin wäre.

Darüber hatte er sich noch keinen Aufschluss verschafft, als sie ihn eines Abends freundlich grüßte, ansprach und fragte: „Ist mein Mann noch oben, Herr Herder?“

„Jawohl, Frau Baronin!“, erwiderte er.

Sie sah ihn an, lachte, schüttelte den Kopf und sagte: „Sie verwechseln mich, ich bin die Frau von Doktor Deichler.“

„Verzeihung! Gewiss! Ich wusste. Aber gnädige Frau sehen der Baronin von und zu Esche so verblüffend ähnlich — vermutlich eine Verwandte.“

„Gott bewahre! Weder ‚von‘ noch ‚zu‘, sondern einfach Schindler, wenn es Sie interessiert; ohne einen Tropfen blauen Bluts!“ — Und als er sie darauf enttäuscht ansah, setzte sie hinzu: „Genau wie Sie“, zeigte ihre schönen Zähne und ging lachend die Treppen zu dem Korridor hinauf, auf dem das Arbeitszimmer ihres Mannes lag.

Herder war so verblüfft, dass er den Grafen Kleist, der gerade die Treppe hinunterkam und sich interessiert nach Frau Margarete Deichler umwandte, gar nicht bemerkte. Ihre Worte ‚Genau wie Sie‘ gingen ihm nicht aus dem Kopf. Darüber, dass auch er bürgerlich war, hatte er in den Jahren, während deren er an dieser Stelle stand, noch nie nachgedacht, das kam ihm erst jetzt zum Bewusstsein. Einesteils verstimmte es ihn; aber dann übten diese drei Worte doch die Wirkung, dass er in seinem Urteil milder wurde. — Der Diener meldete dem Doktor Deichler: „Herr Doktor! Ihre Frau Gemahlin!“

Er stand auf und sagte: „Bitte!“

Frau Margarete trat ins Zimmer, er ging ihr entgegen, sie begrüßten sich herzlich.

„Rudi“, sagte sie, „ich glaube an deine Karriere!“

„Nanu? So plötzlich! — Darf ich wissen, wieso?“

„Weil ich wie eine Gräfin aussehe.“

„Das könnte mich allerdings für einen Botschafterposten qualifizieren.“

„Siehst du! Jetzt sagst du es selbst!“

„Und wer hat dir dies Kompliment gemacht?“, fragte er etwas ironisch.

„Herder!“

„Der Hausmeister?“

„Ja! Er ist dreißig Jahre im Amt und kennt sich aus. Strafbar ist es nicht mehr. Wie wäre es also, wenn ich mich als Gräfin ausgäbe?“

„Um mir vorwärts zu helfen?“

„Ja! Wenn die Menschen doch nun einmal so dumm sind.“

Deichler klappte einen Aktendeckel zu und sagte: „Danke! Auf die Art nicht! — Im Übrigen, wie kommt dieser Herder dazu ...?“

„Er hat mich mit der Gräfin von und zu Esche verwechselt. Denk dir, die Ehre!“, erwiderte sie und lachte laut.

„Damit hat der schlaue Fuchs doch irgendeinen Zweck verbunden — Du hast ihn natürlich berichtigt?“

„Selbstredend.“

„Und gesagt, wer du bist?“

„Allerdings!“

„Nun also, dann weiß er ja, was er wissen wollte.“

„Du meinst ...?“

„Ich vermute. Hier schnüffelt alles an einem herum. Und wenn man nicht zum sogenannten Stamm gehört, nehmen einen selbst die Bürodiener nicht für voll.“

„Du hast Ärger gehabt, Rudi?“, sagte sie ihm auf den Kopf zu.

„Ja!“, erwiderte er.

„Durch wen?“

„Wir kommen nicht nach Tokio.“

„Sondern?“

„Wir bleiben hier.“

„Und wer kommt statt uns ...?“, fragte sie erregt.

„Graf Kleist.“

„Der Idiot!“, rief sie wütend. „Das ist eine Niedertracht!“

Deichler wies zur Tür und sagte: „Leise, bitte! Hier haben die Türen Ohren.“

„Mögen sie’s hören! Du hast die Zusage deines Chefs.“

Deichler zog die Schultern in die Höhe und sagte: „Sag’ es ihm!“

„Das werde ich tun!“

Er wandte sich zu ihr um und sagte erstaunt: „Was? — Du willst...?“

„Mit dem Minister sprechen!“, erwiderte sie bestimmt. — „Oder glaubst du, ich schäme mich? Wenn einer sich schämen muss, ist er es.“

„Das willst du ihm doch nicht etwa sagen?“

„Vielleicht! Vielleicht auch nicht. Das hängt von ihm ab und von dem, was er sagt.“

„Das ist ja doch Wahnsinn!“

„Mag sein! Aber Schuld an dem Wahnsinn haben nicht wir. — Vielleicht ist es ganz gut, wenn hier einer mal auftritt und die Wahrheit sagt.“

„Aber du! — Eine Frau!“

„Euch fehlt doch die Courage.“

Deichler dachte einen Augenblick nach; dann trat er an seine Frau heran, legte die Hände auf ihre Schultern und sah sie an.

„Was bedeutet das?“, fragte sie.

„Du hättest das Zeug dazu, Marga!“

„Das habe ich!“

„Und das Schlimmste, was dabei passieren kann, ist, dass sie auf meine Dienste verzichten.“

„Was wäre damit verloren? Wo sie dich doch nicht vorwärtskommen lassen.“

„Also Marga, wenn dir so ums Herz ist und es dich keine Überwindung kostet...“

„Es würde geradezu erleichternd auf mich wirken; deinet- und

meinetwegen; und dann auch um der Sache willen. Denn was dir heut’ geschieht, das geschieht morgen einem anderen. Und darum sollen sie wenigstens einmal wissen, wie man darüber denkt.

„Recht so!“, stimmte Deichler seiner Frau bei. „Meine Einwilligung hast du.“

Marga wandte sich zur Tür und gab dem Diener ihre Karte.

„Ist Exzellenz noch da?“, fragte sie.

Der Diener sah erstaunt erst sie, dann die Karte an. Und erst als Deichler energisch sagte: „Worauf warten Sie?“, verbeugte er sich und ging.

Es dauerte kaum eine Minute, da kam er mit einem Ausdruck, der ganz Untertan war, zurück und meldete: „Exzellenz lassen bitten.“

Frau Marga gab ihrem Mann die Hand und sagte: „Lass dir die Zeit nicht lang werden.“

Er nickte ihr zu und sagte: „Ich warte.“

* * *

Der Minister erhob sich, als Frau Marga ins Zimmer trat, reichte ihr die Hand und forderte sie auf, sich zu setzen.

„Ich will Ihre Zeit nicht lange in Anspruch nehmen, Exzellenz“, begann sie. „Sie werden zunächst erstaunt sein ...“

„Wenn Sie einen Tag lang auf diesem Sessel säßen“, und dabei wies er auf seinen Lederfauteuil, „so würden Sie begreifen, dass nichts mehr mich in Erstaunen setzen kann.“

„Um so besser! Dann darf ich also geradeheraus die Frage an Sie richten, wie es möglich ist, dass trotz Ihrer bestimmten Zusage statt meines Mannes der Graf von Kleist an die Botschaft in Tokio kommt.“

„Weil, wie ich Ihnen bereits andeutete, hier nichts unmöglich ist.“

„Ja, sind denn Exzellenz hier nicht maßgebend und verantwortlich?“

„Verantwortlich zweifellos; maßgebend nur bedingt.“

„Und wer hat, wenn ich fragen darf, hier zu bestimmen?“

Der Minister zog die Schultern hoch und sagte: „Das weiß keiner.“

Frau Marga sah ihn erstaunt an, worauf der Minister fortfuhr und sagte: „Ein einzelner jedenfalls nicht.“

„Sondern?“

„Das bemühe ich mich, seitdem ich hier sitze, vergeblich, zu ergründen.“

„Sonderbar!“

„Das finde auch ich ... Ich komme zum Beispiel des Morgens, nachdem ich während der ganzen Nacht über einen bestimmten Gegenstand nachgedacht habe, mit einem festen Entschluss hierher. Ohne dass neue Momente hinzugekommen wären, setze ich am Nachmittag desselben Tages meinen Namen unter ein Schriftstück, das genau das Gegenteil besagt.“

„Aus Schwäche?“

„Gott bewahre.“

„Aus Überzeugung?“

„Ja und nein! Hier übt das Milieu seine Wirkung, der man sich einfach nicht entziehen kann. Und zwar bedeutet Milieu in diesem Falle mehr als etwa nur das, was einen augenblicklich umgibt. Wie es Gesetze mit rückwirkender Kraft gibt, so gibt es auch Milieus mit rückwirkender Kraft. Hier zum Beispiel herrscht ein unsterblicher Geist, der bis in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückreicht, wenn nicht weiter. Von dem Geiste eines jeden, der hier einmal gewirkt hat, spüren Sie heute noch einen Hauch. Und da es immer Geist vom selben Geiste war, so hat sich dieser Hauch zu einem Luftzug verdichtet, der so stark durch alle Räume weht, dass es kein Schutzmittel dagegen gibt. Man klappt sich den Kragen hoch und steckt sich Watte in die Ohren, aber er dringt doch durch.“

„Da müsste man eben einmal reinen Tisch machen und von vorn anfangen.“

„Sie werden doch immer an dem, was war, anknüpfen müssen.“

„Aber eine starke Persönlichkeit, Exzellenz verzeihen, muss sich derartigen Einflüssen doch entziehen können.“

„Glauben Sie nicht, gnädige Frau, dass Sie beispielsweise einem Alkoholverbot während einer Nordpolfahrt mit anderen Gefühlen gegenüberständen als während einer Reise in den Tropen?“

„Das heißt ja doch nichts anderes“, erwiderte Frau Marga erregt, „als dass sich der Klüngel hier wie eine ewige Krankheit forterbt und dass jeder Versuch, dem kranken und senilen Körper frisches Blut zuzuführen, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist.“

„Man tut, was man kann, zumal sich hier und da doch einmal die Gelegenheit zur Zuführung frischen Blutes bietet.“

„Und wieso nicht in unserem Fall?“

„Auch das liegt in dem System begründet. Der Personaldezernent war meiner Zusage gemäß — eine feste Zusage war es übrigens nicht —“

„Sie haben meinem Mann Ihre Unterstützung zugesagt.“

„Sehen Sie! Meine Unterstützung, aber nicht die Stellung.“

„Wir mussten annehmen, dass das gleichbedeutend sei.“

„Ich glaube, Sie überzeugt zu haben, dass es das nicht ist. Jedenfalls kamen von dem Tag an, an dem Ihr Gatte auf der Liste des Dezernenten stand, täglich mehrmals Anfragen an mich, die mich schließlich bedenklich stimmten.“

„Gegen meinen Mann?“, fragte Frau Marga erstaunt.

„Nicht, wie Sie es fassen.“

„Die üblichen Intrigen. Da niemand ihm etwas nachsagen kann, so mutmaßen und erfinden sie. Aber sie haben bisher noch immer den Rückzug angetreten.“

„Sie irren! In diesem Fall handelt es sich nicht um Persönliches. Sehen Sie“ — und er entnahm einem Aktendeckel einige Bogen, — „hier wird zum Beispiel angefragt, ob Herr Doktor Deichler bereit wäre, die Villa seines Vorgängers, des Grafen Wendheim, in Tokio zu beziehen; Jahresmiete in deutscher Währung vor dem Krieg zweiunddreißigtausend Mark. — Ich fand es taktvoll, Ihrem Gatten das Schreiben gar nicht erst zu zeigen und antwortete: Nein! Daraufhin folgte eine Äußerung folgenden Inhalts: „Die europäische Aristokratie in Tokio, deren gesellschaftlicher Zusammenschluss enger ist als in den europäischen Großstädten, interessiert sich naturgemäß für den Nachfolger des Grafen Wendheim, den sie nur ungern scheiden sieht. Kann damit gerechnet werden, dass der Nachfolger den Rennstall des Grafen Wendheim weiterführt? Die schwarzweiße Jacke mit der roten Kappe erfreute sich hier bis in weite Volksschichten hinein großer Popularität. Die Fortführung liegt daher in politischem Interesse.“ — Ich antwortete: Nein! — An einem der nächsten Tage kam dieses: „Man bittet um Angaben, in welchen verwandtschaftlichen, resp. gesellschaftlichen Beziehungen der präsumptive Nachfolger des Grafen Wendheim zur hiesigen internationalen Aristokratie steht, um die Stimmung hier sondieren zu können.“ — Ich antwortete: „Weder, noch: der präsumptive Nachfolger des Grafen Wendheim steht in gar keinen Beziehungen zur dortigen Aristokratie.“ — Dann hieß es bald darauf: „Es wird darauf aufmerksam gemacht, dass sich das Leben in Tokio im Verhältnis zum Jahre 1914 um das Fünffache verteuert hat. Die hiesigen Vertreter auswärtiger Regierungen verbrauchen märchenhafte Summen für Repräsentationszwecke.“ — Und neben diesen Mitteilungen, die unverkennbar eine bestimmte Absicht verfolgen, liefen Berichte ein, die den Grafen Kleist geradezu als prädestiniert für den Posten erscheinen lassen.“

„Er hat ja wohl einen Zuchthengst“, erwiderte Frau Marga spöttisch, „der vor Jahren Union und Derby gewonnen hat. Wenn einer seiner Nachkommen also das japanische Derby gewinnt, dann wiegt das natürlich sämtliche Handels- und Meistbegünstigungsverträge auf, die unter Umständen mein Mann mit Japan in die Wege geleitet hätte.“

„Das klingt für Sie grotesk, gnädige Frau, ist es aber nicht. Denn über den gesellschaftlichen Verkehr — und als solchen fasse ich in diesem Falle auch den Sport auf dem grünen Rasen auf — werden wir viel leichter zu Handelsverträgen kommen als über den Schreibtisch.“

„Dann halten Sie meinem Mann einen Rennstall!“, parierte Frau Marga gewandt. „Der Vertrag, den er dann vorbereitet, wird um so viel günstiger für Deutschland sein als der des Grafen Kleist, dass die Kosten zehnfach dabei herauskommen.“

„Der Ansicht bin auch ich“, erwiderte der Minister. „Aber was, glauben Sie, würden die Unabhängigen toben! Nicht nur die, auch die anderen, wenn ich in der Nationalversammlung aufstehe und einen Rennstall für den Botschaftsrat in Tokio fordere.“

„Wenn die Auserwählten des Volks so beschränkt sind, dann muss man dem Minister einen Dispositionsfonds schaffen, über den er frei verfügen kann.“

Der Minister stimmte lächelnd zu, und Frau Marga fuhr fort: „Was nützt ein stubenreiner Graf, der politisch ein Tölpel ist? Vorteile aus dem gesellschaftlichen Verkehr werden allemal die anderen ziehen. Wie sie es Jahrzehnte hindurch getan haben.“

Der Minister hatte, ohne dass es Frau Marga sah, auf einen Knopf gedrückt. In der Tür erschien darauf ein sehr eleganter Herr, Anfang Vierzig, den ihr der Minister als Herrn Geheimrat von Stuck vorstellte.

„Sie können Frau Doktor Deichler vielleicht besser als ich über die Gründe orientieren, aus denen statt ihres Gatten der Graf von Kleist nach Tokio geht“, sagte der Minister mit einem leicht ironischen Zug um den Mund.

Herr von Stuck, der beim Anblick Frau Margas zuerst äußerst angenehm beeindruckt war, fühlte sich jetzt, wo ihm der Minister diese sehr peinliche Mission übertrug, geniert und sagte: „Mit Vergnügen.“

Der Minister verabschiedete sich von Frau Marga mit den Worten: „Ich habe nämlich um acht Uhr eine Sitzung.“

Als er draußen war, wies Herr von Stuck auf einen Stuhl und sagte: „Sie gestatten?“

Und Frau Marga erwiderte: „Bitte.“

„Ja“, begann Herr von Stuck, „die Gründe, aus denen Ihr von mir übrigens besonders geschätzter Gatte nicht nach Tokio geht, liegen einfach daran, dass man an maßgebender Stelle dem Grafen Kleist den Vorzug gab.“

„Wer ist diese maßgebende Stelle?“

„Der Minister.“

„Und wer hat ihn beraten?“

„Ich!“, platzte von Stuck heraus.

„Sie sind vermutlich ein Freund des Grafen von Kleist.“

„Ja! — Das heißt“, verbesserte er schnell, „bei der Besetzung des Postens spielt das selbstredend keine Rolle.“

„Was denn?“

„Das Interesse des Landes.“

„Welches Landes?“, fragte sie bissig.

Von Stuck sperrte den Mund auf und sah sie erstaunt an.

„Ja, Sie glauben doch nicht“, sagte er pikiert, „dass wir hier die

Geschäfte des Feindes besorgen?“ „Wissentlich sicher nicht.“

Von Stucks Gesichtsausdruck wurde nicht klüger. Frau Marga ließ ihn nicht aus den Augen. Das machte ihn unsicher.

„Ich gebe ja zu, Ihr Gatte ist klüger als Kleist, aber trotzdem, es ging nicht!“

„Wieso nicht?“

„Ja, fühlen Sie das denn nicht?“

„Nein!“

„Ja, sehen Sie, gnädige Frau, das ist es! Sie haben kein Diplomatenblut, das Ihnen, rein gefühlsmäßig, sagt: Es geht nicht! Es passt nicht!! Es ist unmöglich!!!“

„Ich begreife, dass diese Argumente den Minister bestochen haben“, erwiderte Frau Marga spöttisch. Und von Stuck, der es für ernst nahm, sagte befriedigt: „Na, sehen Sie! — Schon die Gräfin Kleist, eine geborene Reuß ...“ — Er stutzte, sah Frau Marga prüfend an und sagte: „Das heißt — ich muss gestehen — ich hätte gar nicht geglaubt — wahrhaftig! — Nicht nur, dass Gnädigste ihr ähneln — wenn ich mir die Freiheit nehmen darf, zu urteilen —“

„Sie dürfen.“

„Vom Standpunkt des Äußeren, der Repräsentation aus, würde ich Ihnen, Gnädigste, sogar den Vorzug geben.“

„Sehr schmeichelhaft“, erwiderte Marga, und von Stuck, der auch jetzt wieder nicht den Spott herausfühlte, fuhr fort: „Wenn wir uns früher begegnet wären.“

„Was wäre dann?“

„Vielleicht, dass ich dann doch — Ihnen zuliebe —“

Er stand auf und trat an Frau Marga heran. Dann sagte er: „Bei Gott! Als wenn ich der Prinzessin gegenüberstände!“

Frau Marga lächelte.

Von Stuck deutete es falsch und griff nach ihrer Hand.

Frau Marga sprang auf, wich ein paar Schritte zurück und sagte kühl und überlegen: „Also auch darin vieux-jeu! — Auf die Art nicht! — Sie müssen umlernen!“

„Verzeihung!“, sagte von Stuck und verbeugte sich. „Es war nicht meine Absicht ...“

„Geschenkt!“, fiel ihm Frau Marga ins Wort. „Im Übrigen: es war wohl Ihre Absicht. Aber ich nehme es Ihnen nicht übel. Es vervollständigt das Bild und gehört dazu. Ja, es würde geradezu etwas fehlen, wenn der Versuch unterblieben wäre.“

„Ich versichere Ihnen, Gnädigste ...“

„Ich weiß! Sie versichern mir Ihrer Hochachtung und sorgen im Übrigen dafür, dass mein Mann keine Karriere macht. Aber ich opfere mich nicht, und wenn der Preis ein Ministerposten wäre.“

„Ein Opfer hätte ich niemals angenommen. Wenn überhaupt davon die Rede gewesen wäre, so hätte es nur freiwillig geschehen können.“

„Kann aber nie geschehen!“, erwiderte Frau Marga bestimmt.

Von Stuck verbeugte sich und sagte: „Ich nehme es zur Kenntnis. Das schließt aber hoffentlich eine freundschaftliche Annäherung nicht aus.“

„Zu dritt gern“, erwiderte Marga.

„So war es gemeint.“

„Beweisen Sie es!“

„Wodurch?“

„Indem Sie mir verraten, wie es zu erreichen ist, dass mein Mann eine seinen Fähigkeiten entsprechende Karriere macht.“

Von Stuck fühlte neue Möglichkeiten.

„Darüber mit Ihnen zu sprechen, wird mir ein Vergnügen sein.“

„Würden Sie mir eine Frage beantworten.“

„Wenn ich dazu in der Lage bin, mit großem Vergnügen.“

„Aber ehrlich!“

„Ich verspreche es Ihnen.“

„Kann in Bezug auf Karriere ein großes Vermögen den Adel ersetzen?“

„Leider ja.“

„Wäre mein Mann, wenn er vermögend wäre, nach Tokio gekommen?“

Von Stuck zögerte.

„Sie hatten mir versprochen, meine Frage zu beantworten“, mahnte Frau Marga, und von Stuck erwiderte: „Vermutlich, ja.“

„Und was von Tokio gilt, das gilt auch von allen anderen Posten?“

„Von den meisten.“

„Somit hängt seine Karriere lediglich von der Erfüllung dieser materiellen Bedingung ab.“

„Die war ja wohl zugegeben?“

„In vollem Maße.“

„Sie versprechen mir demnach, nach Beseitigung des materiellen Hindernisses, die Förderung meines Mannes?“

„Das kann ich mit gutem Gewissen.“

„Und ich darf Sie von Zeit zu Zeit daran erinnern?“

„Das würde mir eine besondere Freude sein.“

„Hand darauf!“

Sie streckte ihm die Hand hin und er schlug freudig ein.

‚Also doch!‘ dachte er und sagte sich: ‚das habe ich wieder einmal fein gemacht!‘

Aber Frau Marga hatte ganz andere Gedanken. ‚Wie fangen wir es an, zu Geld zu kommen?‘ war die Frage, die sie beschäftigte, als sie jetzt in das Arbeitszimmer ihres Mannes zurückkehrte.

* * *

Doktor Deichler wäre am liebsten seiner Frau nachgestürzt und hätte sie, noch ehe sie das Zimmer des Ministers betrat, zurückgehalten. Nicht wegen des Eindrucks, den ihr Besuch auf den Minister machen musste, — den in eine unbequeme Situation zu bringen, bereitete ihm sogar Vergnügen. — Seine Bedenken galten Frau Marga. Die regte sich auf und ging in ihrem Gerechtigkeitsgefühl und ihrer Wahrheitsliebe womöglich zu weit. In einem Betrieb, in dem man das Wort meist dazu benutzte, um etwas zu verschweigen, in dem Aufrichtigkeit als Dummheit galt, konnte ihre simple Moral nicht auf Verständnis stoßen. Das Ergebnis musste für sie auf jeden Fall eine Enttäuschung sein; die hätte er ihr ersparen können. Und je länger Frau Marga blieb, umso größer waren die Vorwürfe, die er sich machte. Um so überraschter war er, als sie jetzt durchaus froh und zuversichtlich zurückkam.

„Nun?“, fragte er voller Neugier. „Was war? Wie hat er dich empfangen?“

Frau Marga lächelte und sagte: „Ich werde dir helfen!“

„Aber Marga, wie denkst du dir das?“

„Das weiß ich in diesem Augenblick selbst noch nicht.“

„Nun also.“

„So einfach ist es natürlich nicht.“

„Es haben sich andere schon vor uns den Kopf zerbrochen. Erreicht hat keiner etwas.“

„Um so mehr reizt es mich.“

Doktor Deichler schüttelte den Kopf.

Frau Marga trat an ihren Mann heran, legte ihre Hände auf seine Schultern und sagte: „Du hast es mir als Bräutigam ja selbst ins Stammbuch geschrieben.“

„Was?“, fragte er.

„Den Wahlspruch von Faustens und Helenas Sohn:

‚Das leicht Errungene widert mir —

Nur das Erzwungene ergötzt mich schier‘.“

„Trifft das etwa nicht auf dich zu?“, erwiderte Deichler.

„Gewiss. Aber ich muss nun einmal verbraucht werden, wie ich bin.“

Er zog sie an sich, küsste sie auf die Stirn und sagte: „Und gerade so gefällst du mir!“

Zweites Kapitel

Vom Amt aus ging Doktor Deichler mit seiner Frau die Straße „Unter den Linden“ hinunter zur Singakademie, um Mahlers neunte Sinfonie zu hören.

An der Passage belagerten dichte Menschenmassen die Kasse eines Kinotheaters. Draußen verkündeten kitschige Plakate:

Infolge der sich bis auf den Fahrdamm drängenden Menschen waren Deichlers gezwungen, stehen zu bleiben.

„Das sind die neuen deutschen Bildungsstätten!“, sagte Doktor Deichler und wies auf das Plakat. „Es beleuchtet mit einem Schlag die ganze Situation. An die Stelle Fichtes ist Nuja Naja getreten, und statt an seinen ‚Reden an die deutsche Nation‘ richtet sich das Volk heute an der ‚Dirnenbrut‘ auf.“

„Und lohnt es sich, für die Zukunft dieser Menschen auch nur einen Finger zu rühren?“, fragte Frau Marga.

„Sie sind wie die Kinder und lassen sich leiten und wissen nicht, was sie tun. Man muss nur verstehen, sie richtig zu nehmen.“

„Verstehst du das? Hast du überhaupt Fühlung mit ihnen? Kennst du diese Menschen?“ Und sie wies auf die Massen, die sich stießen und drängten und mit verklärten Augen, wie Gläubige zu einem Heiligenbild, zu dem expressionistisch-verzerrten Plakat Nuja Naja emporblickten.

„Ich bin seit Jahr und Tag in keinem dieser Verdummungsinstitute gewesen“, erwiderte Deichler, und seine Frau beendete den Satz und sagte: „Die sich mühelos in Bildungsstätten verwandeln ließen.“

Doktor Deichler machte ein nachdenkliches Gesicht.

„Und du meinst, dass dieselben Menschen ...“

„Ja, das meine ich“, fiel ihm Frau Marga ins Wort, „dieselben Menschen, die heute eine Nuja Naja anbeten, jubeln morgen einem Goethe zu. Es kommt nicht auf die Kost, nur auf die Zubereitung an. Dieser ganze Schwindel“ — und sie wies wieder auf das Plakat — „beruht ja doch nur auf Suggestion. Wenn du all die Menschen da fragst, was ihnen an dieser Nuja Naja denn so außerordentlich gefällt, so werden sie, um eine Antwort verlegen, auf das Plakat weisen und sagen, dass sie die ‚jüngste, eleganteste, schönste, gefeiertste, weltberühmteste‘ Künstlerin ist. Dass unzählige andere jünger, eleganter und schöner sind, sehen sie erst, wenn es ihnen einer sagt. Und zwar in einer Form und Sprache wie dieser.“

„Gehen wir hinein!“, sagte Doktor Deichler kurz entschlossen.

„Und die Mahlersche Sinfonie?“, fragte Frau Marga.

„Ein andermal! Ich fühle jetzt gerade das Bedürfnis, diesen Film und seine Wirkung auf die Menschen kennenzulernen.“

„Schaden kann es gewiss nichts. Am Ende verfallen wir auch der allgemeinen Suggestion.“

Als Doktor Deichler sich an die Kasse drängte, die noch immer voll von Menschen war, erhob ein kleiner schmächtiger Herr den Oberkörper durch die Kassenöffnung und hängte ein Plakat mit dem Aufdruck „Ausverkauft“ heraus.

Ein lautes Johlen der enttäuschten Menschen setzte ein. Der kleine schwarze Herr zog blitzschnell den Oberkörper wieder zurück und schloss hastig hinter sich die Scheibe. Nun, in Sicherheit, grinste er, die Hände in den Hosentaschen, vor sich die bis an den Rand gefüllte Kasse, die Menschen an, die ihn, ohne dass er sie verstand, mit Fragen bestürmten. Er zog von Zeit zu Zeit die Schultern in die Höhe, zeigte die unschönen Zähne, erriet, was die Leute draußen sprachen, und versuchte, sich mit den Händen verständlich zu machen. Und die Menschen verstanden ihn und wiederholten: „Nächste Vorstellung: zehn Uhr!“

Viele, denen Nuja Naja eine Angina aufwog, warteten trotz des kalten Wetters; die meisten vertrieben sich die Wartezeit in einem der umliegenden Lokale; verschwindend wenige brachten das Opfer des Verzichts und kehrten heim.

Doktor Deichler nahm eben Frau Marga unter den Arm und sagte: „Dann also schnell in die Singakademie!“ als eine Stimme hinter ihm laut: „He! Deichler!!“, rief.

Beide drehten sich um und sahen den kleinen schwarzen Mann mit den schlechten Zähnen, der eben noch hinter dem Kassenfenster gestanden hatte, mit beiden Armen winkend auf sich zu stürzen.

Doktor Deichler schüttelte den Kopf und sagte: „Nanu?“ und Frau Marga wollte eben fragen: „Wer ist das?“, als der kleine Herr ihren Mann auch schon bei den Armen packte und, auf Frau Marga weisend, sagte: „So stell’ mich doch deiner Frau vor.“

Jetzt erkannte ihn Deichler, musste lachen und sagte laut: „Heilmann!“

„Na natürlich!“, erwiderte der. „Claudo, divido, laedo, ludo ...“ „plaudo, rado, rodo, trudo“, fiel Deichler lachend ein.

„Ich kann es heut noch nicht und wäre ohne dich nie nach Obersekunda gekommen“, sagte der Kleine. „Aber was meinst du? — Karriere habe ich doch gemacht! — Sie gestatten ...“, wandte er sich an Frau Marga und zog den Hut, „Ernst Martin Heilmann, Direktor des Kinopalasts Unter den Linden — wollen Sie glauben, dass ich seit vier Wochen jede Vorstellung ausverkauft habe? Ein Jahr so weiter, und ich vergrößre mich bis zum Brandenburger Tor hin. Nun ja, verstehen Sie das? Die russische Botschaft steht seit vier Jahren leer! Bei den Mietspreisen! Zu zweihunderttausend Mark jährlich wäre sie zu vermieten. Eine nette Regierung! — Haben Sie Kohlen? Ich bin eingedeckt bis zum Frühjahr! — Herrgott! Mensch!!“, wandte er sich wieder an Deichler, „haben wir uns lange nicht gesehen! Schöne Zeiten waren das! Das heißt, ich sehn’ mich nicht nach der Penne zurück. Eine Künstlernatur muss sich ausleben, verträgt keinen Zwang. Meinen Sie nicht auch, Gnädigste?“

Aber ehe Frau Marga, die ganz entgeistert auf den kleinen beweglichen Mann mit dem schwarzen Haar und den schlechten Zähnen herabsah, noch etwas erwidern konnte, redete er schon wieder auf Deichler ein: „Gratuliere, Deichler! Alle Wetter!! Wusste gar nicht, dass du dich verheiratet hast. Obersekunda — warte mal! — Heut sind wir dreiunddreißig! Damals waren wir fünfzehn! Achtzehn Jahre lang haben wir uns demnach nicht gesehen! Da passiert allerlei. Überhaupt, heut’ soll man sagen; wer hat damals an ’nen Weltkrieg gedacht? Wenn ’n Junge auf der Straße mit ’ner Korkenpistole geschossen hat, hat man sich die Ohren zugehalten. Und man hat auch gelebt. Besser als heut’. Mir soll einer mit der eisernen Zeit kommen!“

Deichler streckte dem Schulfreund die Hand hin und sagte: „Auf Wiedersehen also!“

„Oh, Gott bewahre!“, erwiderte der und griff in die Tasche. „Ihr bleibt.“

Deichlers sahen sich an und verstanden nicht. Der kleine Herr Heilmann hatte inzwischen eine Karte hervorgezogen und reichte sie jetzt Frau Marga: „So! Ihr setzt euch jetzt in die Direktionsloge und seht euch an, was bei mir los ist!“

„Aber nein!“, wehrte Frau Marga ab.

„Wetten, dass?“, erwiderte Heilmann. „Wozu braucht ihr euch zu drängen und bis zehn Uhr auf der Straße zu stehen?“

„Wir wollten in die Singakademie!“

„Ausgerechnet! Was sind das für veraltete Sachen? — Singakademie! — Ich entsinn’ mich, als ich noch Kind war, dass mein Vater alle Montag Abende in die Singakademie ging. Er liebte Musik — brotlose Kunst! — Bei seinem Sohn ist, Gott sei gelobt, das Talent auf den Film geschlagen — Also redet nicht so viel und kommt!“

Dabei hängte er sich rechts bei Frau Marga und links bei Doktor Deichler ein und schob beide, die derart konsterniert waren, dass sie gar keine Abwehr fanden, an der Kasse vorbei in das Theater. Und als sie die Treppe hinaufstiegen, redete er noch immer auf sie ein: „Eine Goldgrube, sage ich euch. Was meint ihr, was das Haus pro Abend bringt? Na, ich werde euch nach dem Theater erzählen. Die Augen werden euch übergehen.“ — Er wandte sich zu Deichler und betrachtete ihn genau.

„Das heißt, du siehst auch nicht übel aus! Allerdings bei deiner Figur besagt das nicht viel. Was treibst du eigentlich? Ich hoffe, es geht dir gut. Du hast doch nicht etwa studiert?“

„Mein Mann hat einen ziemlich prominenten Posten im Auswärtigen Amt“, erwiderte Frau Marga.

Ernst Heilmann schüttelte wenig respektvoll den Kopf und sagte: „Auswärtiges Amt! Nun ja! Auch ganz schön. Direktor im Kinopalast ist mir lieber. — Übrigens, die Weisheit habt ihr da nicht gerade mit Löffeln gegessen. — Aber das brauchst ja nicht gerade du zu sein.“

Sie traten jetzt in die Loge und Frau Marga dachte: Gut, dass es so dunkel ist und er mein Gesicht nicht sieht.

Im selben Augenblick knipste Heilmann das Licht an, und alle Theaterbesucher, von der Leinwand abgelenkt, sahen zur Loge, in der jetzt Heilmann dicht neben der hübschen, schlanken Frau Marga stand. Die meisten kannten ihn und alle dachten, die beiden gehörten zusammen, ein Eindruck, den er noch dadurch zu erhöhen suchte, dass er sich zu ihr beugte und ihr den Zobel abnahm, den sie über den Schultern trug.

„Nicht doch!“, sagte sie leise und wehrte mit der Hand ab; aber im selben Augenblick erlosch das Licht in der Loge.

„Entschuldigt mich!“, sagte Heilmann. „Ich komme wieder.“

Und Doktor Deichler und Frau Marga, die sich so lange beherrscht hatten, lachten laut, als er draußen war.

Jetzt sahen sie zum ersten Mal zur Bühne. Der Monster-Zirkus- und Abenteuer-Film musste auf dem Höhepunkt der Handlung angelangt sein, denn auf der Leinwand verkündete der leuchtende Titel das nächste Bild mit den Worten: ‚Dunkle Wolken ballen sich am Horizont der Liebenden.‘ Und wie beschränkt der Horizont dieser Liebenden war, zeigte das Bild. — Vom Vorführer falsch eingespannt, sah man zunächst nur zwei gutgeformte Beine. Aber da es der dritte Akt war, so wusste das Publikum, dass diese Beine Nuja Naja gehörten. Es erhitzte sich also und juchzte vor Vergnügen. Richtig eingestellt zeigte das Bild ein prunkhaftes Boudoir. Geöffnete Fenster. Sternklare Nacht. Vollmond. Ein paar Backfische im Parkett seufzen schmachtend: „Ach!“

Auf dem Diwan wälzt sich im Halbschlaf Nuja Naja.

Das Boudoir rückt näher an den Mond heran. Nujas Unruhe wächst. Das Publikum holt tief Atem. Bildtitel: ‚Das Verhängnis naht.‘

Zunächst in Gestalt einer schwarzen Wolke, die auf Befehl am Horizont aufsteigt. Ihr folgt in einigem Abstand, steif, träumend und die Laute schlagend, ein Mann.

Bildtitel: ‚Prinz Nitri, der in Gedanken an Nuja keine Ruhe findet, lustwandelt Nachtens im Park.‘

Er nähert sich dem Fenster. Nuja wühlt in den Kissen; atmet schwer. Prinz Nitri hört’s, fährt auf, sieht zum Fenster empor, hebt die Laute, schlägt in die Saiten.

„Entzückend!“, flüstern die Damen im Parkett.

Bildtitel: ‚Neues Gewölk steigt auf.‘ Links über dem Prinzen marschiert eine Wolke schnurstracks auf den Mond zu. Der verzieht keine Miene.

Nuja Naja spielt Erwachen: sie rekelt und windet sich wie eine mit Strychnin Vergiftete, die mit dem Tode ringt. Prinz Nitri reißt den Mund auf, zeigt die Zähne.

Eine Dame im Parkett erläutert: „Er singt!“

„Was wohl?“, flüstert ein Backfisch.

Nuja wird munter.

Horcht.

Prinz Nitris Mund wird immer größer.

Nuja steigt in ein Paar seidene Pantöffelchen. Sehr langsam. Und lässt Sekunden lang — die Programme verkünden es — ihre preisgekrönten Füße bewundern.

Bildtitel: ‚Das Gewölk ballt sich zusammen.‘

Tatsächlich rücken die beiden Wolken, und zwar gleichmäßig — so dass der Mond in der Mitte bleibt — einander näher.

Und das Publikum, das an kein Atelier glaubt, flüstert bewegt: „Wie schön!“

Nuja sieht auf.

Wiegt sich in den Hüften.

Schwebt ans Fenster.

Nitris Mandoline rast.

Das Publikum zittert.

Nuja beugt sich herab, Nitri hinauf.

Nujas herabwallendes Haar und Nitris emporstrebender Mund berühren sich.

Eine Intellektuelle seufzt: „Maeterlinck!“

Und ihr langhaariger Nachbar ergänzt: „Pelleas und Melisande!“

Bildtitel: ‚Nahender Sturm.‘

Die beiden Wolken berühren den Rand des Mondes.

Nitri schwebt an Nujas Haaren empor.

Die Damen im Parkett führen die Hände unwillkürlich an Transformationen und Schlimmeres.

Bildtitel: ‚Gewitter.‘

Die beiden Wolken ziehen über den Mond.

Vereinigen sich.

Der Mond verschwindet.

Nacht!

Die Tür des Boudoirs.

Ein leichter Schimmer.

Ein Schatten.

Die Tür gleitet ins Zimmer.

Der Schatten wächst.

Ein Dolch blitzt auf.

Nuja läuft es kalt über den Rücken.

Schatten und Dolch in der Nähe des Fensters.

Ein Blitz.

Helle.

Die Gestalt des Schattens.

Eine Dame in der vordersten Reihe sagt ganz laut: „Mystik!“ Der Dolch durchschneidet Nujas Haar.

Nitri stürzt in die Tiefe. In den gekrampften Händen hält er Nujas Haare.

Nuja stürzt sich auf den Schatten.

Entreißt ihm den Dolch.

Stößt ihn sich in die Brust.

Wankt.

Sinkt.

Bauchtanz.

Krämpfe.

Atemnot — Sie stirbt — Im Publikum hysterisches Schluchzen.

Die Wolken ziehen wieder auseinander.

Mond.

Helle.

Sternklare Nacht.

Der Schatten beugt sich über Nuja.

Und deckt sie mit einem seidenen Tuch zu.

Bildtitel: ‚Wer viel geliebt, dem wird auch viel verziehen.‘

Nuja, seidenbestrumpft, fährt in den Himmel. An der Himmelspforte nimmt eine Schar von Engeln sie in Empfang und geleitet sie zu dem Thron Gottes. Nuja, zum ewigen Leben erwacht, kokettiert mit dem lieben Gott und — ziert sich.

Der Vorhang fällt. — „Kitschig!“, sagt Frau Marga und wendet sich zu ihrem Gatten. Der hat ein vergnügtes Gesicht, hält das Ganze für eine Parodie und erwidert: „Ulkig!“

Im Publikum erst atemlose Stille. Dann Tränen, Schluchzen und das Knistern von Taschentüchern. In der Direktionsloge legt sich eine Hand auf Doktor Deichlers Schultern und eine Stimme fragt scharf: „Und, was sagst du?“

„Ganz ulkig!“, wiederholt der.

„Du bist verrückt!“, erwidert Ernst Martin und knipst das Licht an.

Gleich darauf setzt die Musik aus, der Saal wird hell.

Das Publikum, eben noch eine einzige Masse, ein Riesenkörper mit einem Gehirn und einem Herzen, holt tief Atem. Ineinandergeschlungene Beine und Hände lösen sich. Vom Licht geblendet schließt man die Augen, führt man die Hände vor das Gesicht, sucht und findet man sich allmählich in die Wirklichkeit zurück.

Noch ist man stark beeindruckt und bewegt, als der bisher in der Versenkung unsichtbare Kapellmeister in die Höhe schnellt, die Künstlermähne schüttelt, die Arme hochreißt und den Taktstock schwingt. Trommelwirbel.

„Achtung!“, schreit schrill die Stimme Ernst Martins in den Saal und weist auf die leere Mittelloge im ersten Rang.

Wie ein Mann erhebt sich das gesamte Parkett und macht, Front zur Loge hin, kehrt.

Blaubefrackte Diener schleppen Blumenarrangements und stellen sie auf die Brüstung.

Ernst Martin hat Frau Marga rücksichtslos zur Seite gedrängt, steht vorn und klatscht in die Hände.

Das Publikum folgt automatisch.

Ernst Martin gibt den Takt an.

Die Arme des Kapellmeisters schweben noch immer in der Luft, die Cellisten und Violinen-Spieler haben den Bogen angesetzt, Flötenspieler und Hornisten holen noch einmal tief Atem, die Finger der Dame am Flügel liegen gekrümmt auf den Tasten — da brüllt eine helle Stimme im ersten Rang: „Jetzt!“

Mit einem Ruck, dass man denkt, sie fliegen vom Körper, flitzen die Arme des Kapellmeisters ins Orchester. Ein Tusch dröhnt durch den Saal und mit einem Riesentuff dunkelroter Rosen im Arm betritt Nuja Naja in Begleitung von ein paar befrackten Lebemännern die Loge.

Orkanartig tobt es durch den Saal. Man brüllt, klatscht, steigt auf die Sitze, schwenkt Tücher, wirft Blumen, trampelt mit den Füßen, zerrt sich gegenseitig in die Höhe und gibt, in der Begeisterung und Erregung völlig unbeherrscht, Laute von sich, die kaum noch an Menschen erinnern.

Zunächst nimmt Nuja die Huldigungen wie etwas Selbstverständliches entgegen. Sie lässt die Meute heulen und toben und nimmt kaum Notiz von ihr. Gravitätisch sitzt sie da und blickt über die Menschen hinweg, die sich immer toller gebärden. Wer gute Augen hat, sieht, ihre Blicke sind auf Ernst Martin unten in der Loge gerichtet.

Der steht zitternd, misst die Stimmung und zählt die Sekunden. Plötzlich gibt er mit dem Kopf zur Loge hinauf ein Zeichen. Im selben Augenblick verändert Nuja den Gesichtsausdruck und lächelt.

Das Publikum überschlägt sich.

Abermals gibt Ernst Martin ein Zeichen. Nuja Naja erhebt sich. Lächelnd steht sie da und grüßt die Menge. Die Kapelle rast. Tusch folgt auf Tusch. Ein Zeichen Ernst Martins zur Loge hinauf: Nuja wirft Rosen unter die Menge! Tausend Arme fliegen in die Höhe. Wer eine Rose oder nur ein Blatt ergattert, dem schlägt das Herz bis zum Hals hinauf. — Aber auch die Rosen nehmen ein Ende. Und nun wirft Nuja Kusshände unter die Menge.

Die erwidert die Zärtlichkeiten. Hier und da schmatzt ein breiter Kriegsgewinnler ganz laut. — Plötzlich erlischt auf ein Zeichen Ernst Martins hin das Licht, das Orchester verstummt, ein grelles Klingelzeichen schneidet durch den Saal, auf der Leinwand vorn tanzt irgendein Plakat, das besagt: ,Allein Prenzlauer Stiefelwichse gibt den Schuhen Glanz‘.

Die Menschheit sieht sich jäh ins Leben zurückgerissen, greift zum Programm und liest: „Die neue Meßter-Woche.“

„Komm!“, sagt Doktor Deichler zu seiner Frau und steht auf.

„Nicht komisch?“, fragt die und erhebt sich.

„Die Menschen schon. Wie ernst und feierlich sie alle dasitzen.“

„Dabei wette ich mit dir“, erwidert Marga, „wenn vorhin im Augenblick der dramatischen Höchstspannung ein Witzbold beherzt vor die Leinwand getreten wäre und die Bilder nur mit ein paar Sätzen satirisch glossiert hätte, statt der Tränen hätte es einen Heiterkeitserfolg ohnegleichen gegeben.“

„Da magst du recht haben. Es entscheidet eben, wie in allem, das ‚wie‘. In der Politik ist es genauso. Es kommt gar nicht darauf an, ‚was‘ man vertritt.“

Obwohl sie leise sprachen, forderten ein paar Stimmen im Parkett gebieterisch Ruhe.

„Ja, es gibt doch gar nichts zu hören“, entfuhr es ganz unwillkürlich Frau Marga. Nicht einmal die Musik spielte in diesem Augenblick.

Entrüstete Rufe nach der Loge hin waren die Antwort. In ihrem Kunstgenuss gestört, in ihren heiligsten Gefühlen beleidigt, überschüttete die andächtige Gemeinde Frau Marga so leidenschaftlich mit unfreundlichen Rufen, dass Doktor Deichler es für angebracht hielt, sie unter den Arm zu nehmen und hinauszuführen.

Draußen auf dem Flur stand der Direktor.

„Nu? Hab’ ich zu viel gesagt?“, fragte er und ging den beiden entgegen.

„Amüsant und lehrreich“, erwiderte Deichler.

Ernst Heilmann nickte, wies mit der Hand auf sich und sagte stolz: „Von mir persönlich zusammengestellt.“

„Was?“, fragte Deichler erstaunt.

Ernst Martin sah ihn groß an und sagte: „Frage! Das Programm! Was sonst?“

„Ich meinte ja die Menschen.“

„Was für Menschen?“

„Nur schade, dass der Zuschauerraum die meiste Zeit über dunkel ist.“

„Menschenskind!“, kläffte Ernst Martin. „’Ne Kinovorstellung ist doch kein Illuminationsfest. Aber das ist echt Auswärtiges Amt! Wenn du hier die Leitung hättest, dann würdest du den Zuschauerraum beleuchten und die Bühne dunkel lassen und dich wundern, wenn das Publikum nach Licht schreit.“

„Wir gehen so selten ins Kino“, verteidigte sich Deichler und stieß seine Frau an.

„Das ist es ja!“, erwiderte Ernst Martin. „Für den modernen und gebildeten Menschen ist das Kino eine Lebensbedingung wie Luft, Wasser und Brot.“

Deichler nickte und sagte: „Ja! Und damit ist ihm eine große Verantwortung in die Hand gegeben.“

„Was glaubst du, worauf das Volk lieber verzichtet: aufs Kino oder aufs Auswärtige Amt?“, fragte Ernst Martin.

Doktor Deichler und Frau Marga lachten, und Ernst Martin fuhr fort: „Ich warne dich vor einer Volksabstimmung; sonst könnt ihr morgen eure Koffer packen, und ich eröffne in euren Räumen eine Filiale.“ — Er nahm Deichler an den Arm und sagte: „Aber nun kommt!“

„Wohin?“, fragten beide.

„Wir bleiben natürlich heut’ Abend zusammen! Alle achtzehn Jahre einmal! Wenn wir uns das nächste Mal wiedersehen, habe ich Max Reinhardt gestürzt und du bist Reichskanzler.“

„Den Ehrgeiz hab’ ich nicht!“

„Aber ich! Unsere Zeit verträgt das viele Reden nicht mehr! Heut’ heißt es: handeln!“ — Dabei nahm er Frau Marga unter den Arm und sagte: „Vorwärts!“

„Wohin?“, fragten beide.

„Zunächst in mein Büro! Ohne Extraentree! Ihr werdet staunen!“

Gleich darauf traten sie in ein Zimmer, an dessen Tür stand: ‚Direktion‘. Wertvolle Perser, schwere Ledersessel, ein Riesenschreibtisch und an den Wänden bis hinauf zur verqualmten Decke die Fotos der bekannten Filmdivas.

„Nu, was sagt ihr? — Hab’ ich zu viel gesagt? Oder sieht’s bei dir im Auswärtigen Amt feiner aus?“ — Er sah Deichler überlegen an. „Ich möcht’ nicht tauschen. Hab’ ich recht? — Allein der Teppich“ — und er wies auf den Boden neben der breiten Chaiselongue, — „ist vierundsechzigtausend Mark wert — vierundsechzigtausend Mark!“, wiederholte er mit starker Betonung, „Von Sachverständigen taxiert. Hast du meinen seligen Vater noch gekannt? — Nee? Schade! Dessen Gesicht stell’ ich mir vor, wenn er den Teppich bei seinem Sohne sähe. So ein alter, abgeschabter hat bei uns im Salon gelegen. Dreimal haben wir uns die Schuhe säubern müssen, und wenn’s Wetter noch so schön war, eh’ wie durften unsre Füße draufsetzen. Und dann hat meine Mutter noch geschrien: ‚Müsst ihr denn immer auf dem teuren Teppich herumtrampeln, Jöhren? Geht doch auf dem Holz!‘“

„Es waren doch schöne Zeiten“, sagte Deichler und dachte an seine Jugend.

„Danke!“, erwiderte Ernst Martin. „Nicht geschenkt möcht’ ich in die beschränkten Verhältnisse zurück. Ich fühl’ mich heut’ wohler. Ich muss Betrieb haben, mich ausleben. Dafür bin ich Künstler.“ — Er wandte sich wieder an Deichlers, die inzwischen die Photographien an der Wand betrachteten.

„Der Mühe Lohn!“, sagte Ernst Martin stolz. „Ihr im Auswärtigen Amt behängt Euch mit Titeln und Orden. Platonische Freuden! Nichts für Vaters Sohn. In unserer Branche denkt man praktischer.“

Und dabei spreizte sich dieser kleine, hässliche Mensch wie ein Pfau auf und ließ mit dem Ausdruck des Siegers seine geröteten Augen über die Bilder gleiten.

Auf einem Bild, das vor Frau Marga hing, stand: ‚Dem verehrungswürdigen Herrn Direktor Ernst Martin zu lieber Erinnerung und unvergesslicher Zuneigung an schön verschwundene Stunden am Ostseestrande gewidmet von seiner Lola de Mons.‘

Frau Marga wandte sich um, um ernst zu bleiben, sah nun aber dem verehrungswürdigen Direktor gerade in das Siegerantlitz, konnte sich nicht länger beherrschen und lachte laut.

„Eine Bekannte?“, fragte Ernst Martin, der das Lachen falsch deutete.

„Wer?“

„Lola de Mons. Auf deutsch: Luise Müller. Prima Familie! Ihr Vater ist Stadtrat in Charlottenburg.“

Frau Marga wies auf die Widmung: „Und die schreibt ...“

„Was heißt: schreibt? Filmt! Die sollten Sie sehen! Im Film! Aber auf mich hält sie große Stücke. Man hat eben auch seine Protegés und spielt die eine mehr als die andere. Was glauben Sie, was die verdient? Seit drei Monaten beim Film und hat heut’ schon...“

„Aber das interessiert meine Frau ja nicht.“

„Doch, doch!“, widersprach Marga lebhaft, und Ernst Martin lachte spöttisch und erwiderte: „Die Frau möcht’ ich sehen, die Geld nicht interessiert; die muss erst geboren werden.“

Doktor Deichler wies auf seine Frau und sagte: „Die ist schon da!“

„Also sagen Sie schon, was sie verdient!“, drängte Marga.

„Nu?“, wandte sich Ernst Martin an Doktor Deichler. „Wer hat recht?“

„Ich begreife dich gar nicht?“, sagte Deichler und sah erstaunt seine Frau an.

„Ich bin für Gründlichkeit“, erwiderte Frau Marga. „In allem. Und da wir nun gerade beim Film sind, so sehe ich nicht ein, weshalb ich mich nicht orientieren soll.“

In diesem Augenblick kam in großer Erregung, ohne anzuklopfen, ein junger Mann in das Büro gestürzt.

„Mein Sekretär!“, erläuterte Ernst Martin schnell, und zu dem jungen Mann gewandt, fragte er: „Was is?“