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Wie gut kennen wir die Menschen, die wir lieben? Der Psychothriller »Misstrauen – Schatten der Vergangenheit« von Ines Buck jetzt als eBook bei dotbooks. Janes idyllisches Familienleben in Irland gerät in Gefahr, als sie von einem schrecklichen Gerücht erfährt: Ihr Mann Thomas soll in seiner Jugend einen kaltblütigen Mord begangen haben. Die nötigen Beweise hat die Polizei allerdings nie vorgelegt. Und Thomas schwört, dass er unschuldig ist. Aber kann Jane ihm noch glauben? Wie sicher sind sie und ihre kleine Tochter bei diesem Mann, der ihr plötzlich grauenvoll fremd erscheint? Jane hält die Ungewissheit nicht mehr aus. Sie stellt Nachforschungen an, reist in ein abgelegenes Dorf in den East Midlands und in die Vergangenheit ihres Mannes. Was dabei ans Tageslicht kommt, übertrifft ihre dunkelsten Vorstellungen. Und plötzlich muss Jane um ihr eigenes Leben bangen. Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der packende Thriller »Misstrauen – Schatten der Vergangenheit« von Ines Buck wird alle Fans der Bestseller von Val McDermid begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Über dieses Buch:
Janes idyllisches Familienleben in Irland gerät in Gefahr, als sie von einem schrecklichen Gerücht erfährt: Ihr Mann Thomas soll in seiner Jugend einen kaltblütigen Mord begangen haben. Die nötigen Beweise hat die Polizei allerdings nie vorgelegt. Und Thomas schwört, dass er unschuldig ist. Aber kann Jane ihm noch glauben? Wie sicher sind sie und ihre kleine Tochter bei diesem Mann, der ihr plötzlich grauenvoll fremd erscheint?
Jane hält die Ungewissheit nicht mehr aus. Sie stellt Nachforschungen an, reist in ein abgelegenes Dorf in den East Midlands und in die Vergangenheit ihres Mannes. Was dabei ans Tageslicht kommt, übertrifft ihre dunkelsten Vorstellungen. Und plötzlich muss Jane um ihr eigenes Leben bangen.
»Misstrauen – Schatten der Vergangenheit« erscheint außerdem als Hörbuch und Printausgabe bei SAGA Egmont, www.sagaegmont.com/germany.
Über die Autorin:
Ines Buck lebt mit ihrer Familie im Taunus, vor den Toren der Mainmetropole Frankfurt. Sie arbeitet als Journalistin und schreibt leidenschaftlich gerne, am liebsten spannende Psycho-Thriller.
Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihren Psychothriller »Misstrauen – Schatten der Vergangenheit« als eBook.
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eBook-Ausgabe Mai 2023
Copyright © 2022 Ines Buck, 2022 SAGA Egmont
Copyright © der eBook-Ausgabe 2023 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Karol Kinal unter Verwendung von Bildmotiven von Shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ah)
ISBN 978-3-98690-637-5
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Ines Buck
Misstrauen – Schatten der Vergangenheit
Psychothriller
dotbooks.
Leicestershire, England, damals
Colin Sanders blickte auf seine Hände hinab. Sie zitterten. Er war nicht in der Lage, sich zu rühren. Komm schon, dachte er und bewegte seine Hände ein wenig. Und tatsächlich gehorchten sie ihm, obwohl sie nicht zu ihm zu gehören schienen.
Er konnte seinen Körper nicht spüren, es war, als würde er schweben. Über dem abgelaufenen Teppich mit dem altmodischen Muster und all dem Blut. Über dem Sofa, an dem das Blut heruntertropfte. Dem Couchtisch aus Kirschbaumholz, auf dem eine halbvolle Schale mit Kartoffelchips und zwei leere Gläser standen.
Vermutlich hatte er einen Schock. Davon hatte er schon gehört, und es war die einzige sinnvolle Erklärung für den seltsamen Schwebezustand.
Polizei. Er musste die Polizei verständigen. Er zwang sich, den Blick von dem Blut im Wohnzimmer abzuwenden, und ging durch den kleinen Flur zurück zur Haustür.
Im Flur waren Blutspuren am Boden und an den Wänden, als wäre etwas – oder jemand – hier entlanggeschleift worden. Er streckte die Hand aus und öffnete die Tür. Mit Schrecken stellte er fest, dass er das Blut am Türknauf übersehen hatte. Das Zittern wurde wieder stärker. Er wischte das Blut, das an seiner rechten Hand klebte, an der Hose ab.
Nachdem die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war und er frische Luft einatmete, fühlte er sich etwas besser.
Er stieg auf sein Fahrrad, das an der Hauswand neben dem Eingang lehnte. Wenn er sich beeilte, wäre er noch vor dem Nachmittag auf dem Polizeipräsidium in Leicester.
An der Ecke St. Catherines Street/Main Street begegnete ihm ein Polizeiwagen. Er wurde langsamer und kam schließlich zum Stehen. George Anderson lehnte sich aus dem Fenster.
»Alles in Ordnung, Colin?«
Seine Hände zitterten so sehr, dass er kaum den Lenker halten konnte. Er deutete in Richtung Forsells End.
»Rose ...«, brachte er mühsam hervor.
»Was ist mit Rose?«
»Da ist Blut ... in ihrem Haus ...« Es gelang ihm nicht, einen vollständigen Satz hervorzubringen.
Andersons Augen verengten sich. Er öffnete die Fahrertür und stieg langsam aus.
»Du stellst dein Fahrrad jetzt hier ab und steigst zu mir in den Wagen«, sagte er, während er auf Colin zukam. »Dann sehen wir nach, was passiert ist.«
Colin schüttelte den Kopf, gehorchte aber trotzdem. Er wollte auf keinen Fall zurück in Rose’ Haus. Gleichzeitig wusste er, dass es unvermeidlich war, sich mit der Situation auseinanderzusetzen.
Kerry, Irland, heute
Die Abendsonne tauchte die Steilküste im äußersten Westen Irlands in ein warmes Licht, als Jane ihren Wagen vor dem kleinen, weiß getünchten Cottage parkte. In der Ferne erkannte sie Meredith, die am Rande der Felsen stand und auf den Atlantischen Ozean hinausblickte. Sie hörte das Rauschen der Brandung, die Schreie der Möwen und atmete tief ein.
»Lily«, rief sie und ging durch den kleinen Vorgarten zum Haus.
Die blaue Farbe an Haustür und Fensterläden blätterte bereits ab, obwohl sie erst vor ein paar Jahren neu gestrichen worden waren. Dem rauen Wind, der vom Atlantik herüberwehte, hielt keine Farbe lange stand.
»Lily«, rief sie noch einmal und trat ins Haus.
Drinnen war es still. Sie ging durch die kleine Küche und das Wohnzimmer wieder hinaus ins Freie.
Sanfte grüne Hügel schwangen sich von hier bis auf die Klippen hinauf. Tief unter den Klippen donnerten die Wellen des Atlantischen Ozeans an die Felsen.
Lily tobte mit ihrer Hündin Cassy auf den Wiesen hinter dem Haus. Die schwarz-weiße Border-Collie-Hündin überschlug sich beinahe vor Freude, als sie Jane erblickte. Sie stürmte auf Jane zu und begrüßte sie übermütig. Lily folgte ihr.
»Ist ja gut.« Lachend wehrte Jane die Hündin ab, die immer wieder an ihr hochsprang.
»Mum.« Lily landete außer Atem in Janes Armen.
Jane küsste ihre Tochter auf die wirren Haare. Lily war für ihre acht Jahre recht groß. Ihr langes dunkelbraunes Haar trug sie wie üblich offen. Jane bemerkte, dass ihr die Jeans und der rote Pullover bereits wieder zu kurz wurden. Dabei hatte sie beides erst vor einem halben Jahr gekauft.
»Ich brauche unbedingt etwas zu essen«, sagte Jane. »Hast du auch Hunger?«
»Und wie«, antwortete Lily.
»Dann lauf und hol Grandma, ich mache etwas zu essen.«
Auf dem Weg zum Haus wandte sich Jane noch einmal um und sah nachdenklich zu den Felsen hinauf. Meredith schien sich nicht gerührt zu haben. Ihr graues Haar wehte im Wind, der vom Atlantik her über das Land blies. Sie wirkte wie eine der Statuen, die Jane schon öfter an Hafeneingängen gesehen hatte.
Lily rannte mit der Border-Collie-Hündin an ihrer Seite in Richtung der Felsen. Jane beobachtete, wie Meredith sich umdrehte, als Lily ihr etwas zurief und ihr langsam entgegenging. Sie erahnte das warme Lächeln in Merediths Gesicht, das immer dann zum Vorschein kam, wenn sie mit Lily zusammen war.
Sie war froh, dass sie sich entschieden hatten, hier draußen bei Meredith zu leben. Thomas und ihr blieb neben der Arbeit viel zu wenig Zeit für Lily, während Meredith sich hingebungsvoll um ihr einziges Enkelkind kümmerte. Dafür nahm Jane die Stunde Autofahrt auf der Landstraße von Dunquin zum St. Marys Hospital in Tralee gerne in Kauf. Sie wusste, dass Thomas sich nur Lily und ihr zuliebe darauf eingelassen hatte, hier draußen zu leben. Er hatte darauf bestanden, die Wohnung in Tralee am Pat Healy Park zu behalten, in der sie in den Monaten vor Lilys Geburt gelebt hatten. Jane musste zugeben, dass es praktisch war, eine Wohnung in Nähe des Krankenhauses zu besitzen, gerade wenn die Schichten ungünstig lagen oder bei Bereitschaftsdiensten. Außerdem schätzte sie es, einen Rückzugsort für sie beide zu haben, ein Luxus, den sich nicht viele Ehepaare mit Kindern leisteten.
Während Jane das Abendessen zubereitete, blickte sie durch das Küchenfenster nach draußen in den kleinen Vorgarten. Die ersten Rosen blühten bereits, viele der Knospen würden sich in den nächsten Tagen öffnen. Im Sommer verströmten die Rosen einen betörenden Duft, und ihre unzähligen Blüten und Ranken umrahmten das kleine Cottage.
Sie stellte Brot, Käse, Obst und einen Krug Wasser auf ein Tablett. Thomas hatte Spätdienst, also würde sie mit Meredith und Lily allein zu Abend essen.
Es war ein milder Frühsommerabend, und vom Atlantik wehte nur eine leichte Brise herüber, sie würden auf der Terrasse hinter dem Haus essen können. Sie stellte das Tablett auf den Tisch, ließ sich auf den Stuhl am Kopfende fallen und schloss die Augen. Erst jetzt merkte sie, wie müde sie war.
Für einen Moment nickte sie ein, dann wurde sie von Cassys nasser Schnauze und den fröhlichen Stimmen von Lily und Meredith wieder geweckt.
»Grandma sagt, dass ich an meinem Geburtstag so viele Kinder einladen darf, wie ich will.« Lily steckte sich ein Stück Käse in den Mund.
Jane goss Wasser in die Gläser und sah ihre Mutter fragend an.
»Ach, lass sie doch.« Meredith lachte. Sie wischte sich eine graue Haarsträhne aus dem Gesicht, die der Wind nur einen Moment später wieder zurückblies.
»Mum, wir müssen unbedingt meinen Geburtstag planen«, drängelte Lily.
»Das machen wir ja auch«, beschwichtigte Jane sie.
»Heute.« Lily war noch nicht bereit aufzugeben.
»Heute ist es spät, und ich bin müde. Und du auch.«
Janes Kopf begann zu schmerzen, und sie wollte ins Bett. Schmollend akzeptierte Lily es und kuschelte sich auf ihren Schoß.
»Liest du mir noch eine Geschichte vor?«, fragte sie.
»Natürlich.«
Das würde sie trotz der Kopfschmerzen noch schaffen. Dieses Abendritual liebten sie beide, und Jane ließ es nur äußerst ungern ausfallen.
»Dann geht nach oben, ich räume auf.«
Meredith stellte bereits die leeren Teller zusammen.
»Danke Mum.« Jane erhob sich. »Und gute Nacht.«
Meredith küsste Jane und Lily, wie jeden Abend. Jane legte den Arm um ihre Tochter und ging mit ihr ins Haus.
Nach der Geschichte schlief Jane erschöpft ein. Lily hatte sich in ihren Arm gekuschelt und atmete leise. Wie üblich schlief sie bei Jane im Bett ein, wenn Thomas nicht da war.
Jane erwachte, als Thomas Lily vorsichtig aus dem Bett hob und in ihr Zimmer hinübertrug. Ohne aufzuwachen, rollte sie sich in ihrem Bett zusammen und schlief weiter. Thomas küsste sie auf die Stirn, dann ging er leise zurück ins Schlafzimmer und legte sich neben Jane. Durch das geöffnete Fenster drang der kühle Nachtwind herein, der vom Atlantik herüberwehte. Jane legte ihren Kopf auf Thomas’ Brust und drängte sich nah an seinen warmen Körper. Er legte den Arm um sie, und sie lauschte seinem Herzschlag, während sie wieder einschlief. Die Kopfschmerzen waren verschwunden.
***
Obwohl Jane länger geschlafen hatte als üblich, hatte sie sich noch eine Tasse Kaffee gegönnt und war deshalb erst spät losgefahren. Sie trommelte ungeduldig mit den Fingern aufs Lenkrad. Kurz vor Tralee hatte es einen Unfall gegeben, und ein verunglückter Lastwagen versperrte die Straße. Soweit sie das aus ihrer Position beurteilen konnte, war niemand verletzt, trotzdem dauerte es unglaublich lange, bis der Lastwagen abgeschleppt wurde und die Polizei die Straße wieder freigab. Stockend kam der Verkehr in Fahrt. Jane fuhr die restliche Strecke nach Tralee viel zu schnell, sie wollte auf keinen Fall zu spät kommen.
Sie parkte ihr Auto in der Tiefgarage der Klinik und eilte in den Konferenzraum. Erleichtert stellte sie fest, dass die Veranstaltung noch nicht begonnen hatte.
In dem holzvertäfelten Konferenzsaal hatte sich ein Großteil der Klinikbelegschaft versammelt, entsprechend laut war der Geräuschpegel. Auf den Tischen standen Tabletts mit Sektgläsern. Jane nahm sich ein Glas und blickte sich suchend um. Sie entdeckte William Dickenson und Thomas, der schon vor ihr in Dunquin losgefahren war, am anderen Ende des Raumes und stellte sich zu ihnen.
»Da bist du ja endlich, meine Liebe«, begrüßte Dickenson sie nervös. Thomas lächelte ihr zu. Die Freundschaft zwischen William Dickenson und Jane hatte schon bestanden, bevor er vor knapp zehn Jahren ins St. Marys Hospital nach Tralee gewechselt war. Dickenson hatte ihm Jane damals vorgestellt. Kurz darauf hatten sie geheiratet.
Dr. Lancaster von der Klinikleitung schlug mit einem kleinen Löffel an sein Sektglas, um für Ruhe zu sorgen und den Beginn seiner Rede anzukündigen.
»Lieber William, lieber Prof. Dickenson, in all den Jahren an diesem Krankenhaus haben Sie unzählige ...«
William Dickenson neigte den Kopf ein wenig in Janes Richtung.
»Ich kann diese Art von Reden nicht ausstehen«, flüsterte er.
Jane lächelte.
Sie kannte Dickenson, seit sie vor fünfzehn Jahren als Assistenzärztin im Krankenhaus in Tralee angefangen hatte. Schon damals war er Chefarzt der Chirurgischen Abteilung gewesen, bekannt für seine harte, aber erfolgreiche Führungsweise. Für Jane war er über die Jahre zu einem vertrauten Ansprechpartner in beruflichen und privaten Fragen geworden. Die beiden verband trotz des beachtlichen Altersunterschiedes eine tiefe Freundschaft.
Mit der heutigen Feier wurde Dickenson in den wohlverdienten Ruhestand verabschiedet, und Jane war klar, dass sich auch ihr Alltag dadurch radikal ändern wurde. Die Klinikleitung hatte sich dafür entschieden, die Chefarztstelle an Thomas zu vergeben, ein großer Schritt in seiner Karriere, dem er lange entgegengefiebert hatte. Sie wusste, dass er des Öfteren darüber nachgedacht hatte, Tralee zu verlassen, um in einer höheren Position einer größeren Klinik zu arbeiten und seine Karriere voranzutreiben. Chancen dafür hatten sich genug geboten. Letztendlich hatte er sich immer wieder dagegen entschieden, da er es nicht übers Herz gebracht hatte, sie und Lily zu verlassen – und sei es nur vorübergehend gewesen. Sie hingegen war nicht bereit, Thomas in eine andere Stadt zu folgen, da sie Lily nicht aus ihrer gewohnten Umgebung reißen wollte. Vor allem aber wollte sie Lily nicht von ihrer Großmutter trennen.
»... der neue Chefarzt unserer Chirurgischen Abteilung ist Dr. Thomas Graham, den wir alle seit vielen Jahren kennen und schätzen.« Dr. Lancaster von der Klinikleitung war beinahe am Ende seiner Rede angekommen.
Dickenson leerte sein Glas mit einem Zug, stellte es ab und ging nach vorne. Lancaster trat einen Schritt zur Seite, um ihm den Platz zu überlassen.
In knappen Worten verabschiedete er sich und bedankte sich für die Zusammenarbeit in den vielen Jahren, die er am St. Marys Hospital verbracht hatte.
In den Minuten danach schüttelte Dickenson Hände und tauschte Förmlichkeiten aus, bevor die meisten Kollegen wieder zurück an die Arbeit eilten.
»Wollen wir noch etwas essen gehen?«, fragte Dickenson Jane.
»Gerne.« Jane hatte sich den Tag freigenommen und war nur wegen seiner Verabschiedung nach Tralee gefahren.
Sie entschieden sich für einen kleinen Pub namens O’Briens in der Nähe der Klinik, in dem sie schon öfter gemeinsam zu Mittag gegessen hatten. In den Gastraum fiel trotz des sonnigen Tages wenig Licht, die altmodischen Möbel machten einen leicht verstaubten, aber gemütlichen Eindruck. Über den dunklen Holztischen hingen schwere Lampen aus Messing. Die Wände schmückten Gemälde der irischen Atlantikküste und von Schiffen auf rauer See.
Sie nahmen auf grün gepolsterten Stühlen an einem Tisch für zwei Personen direkt am Fenster Platz, bestellten etwas zu essen und dazu Guinness. Es war erst halb zwölf und der Gastraum noch relativ leer.
»Wie geht es Lily?«, begann Dickenson das Gespräch, nachdem sie sich gesetzt hatten.
»Es geht ihr gut.«
»Und Meredith?«
»William, du willst dich mit mir doch nicht über Lily und Meredith unterhalten«, entgegnete Jane. »Was hast du auf dem Herzen?«
Dickenson seufzte und begann in der ledernen Aktentasche zu kramen, die er neben dem Tisch abgestellt hatte. Er zog einen braunen Umschlag heraus und schob ihn über den Tisch zu Jane.
»Was ist das?«
»Schau es dir an.«
In dem braunen Umschlag befand sich ein Röntgenbild. Jane betrachtete es eingehend.
»Was ist das?«, fragte sie erneut.
»Das ist die Röntgenaufnahme des Thorax eines fünfjährigen Jungen.«
»Das meine ich nicht. Was ist das?«
Jane deutete auf einen großen dunklen Bereich unterhalb des linken Rippenbogens.
»Das weiß ich nicht.« Dickenson runzelte die Stirn. »Ich hatte gehofft, dass du darauf eine Antwort hast.«
»Hat er Schmerzen?«
»Seit ein paar Tagen.«
»Andere Symptome?«
»Nichts.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah sie ratlos an. Seine langen Finger trommelten ungeduldig auf den Tisch. Jane bemerkte, dass sich erste Altersflecken auf seinen Händen gebildet hatten.
»Was auch immer das ist«, sie deutete auf den dunklen Fleck auf der Röntgenaufnahme, »es muss entfernt werden.«
»Ganz genau.« Dickenson nickte zustimmend. »Und du wirst operieren.«
»Der Junge ist kein Patient im St. Marys Hospital«, gab sie zu bedenken.
»Noch nicht.«
Jane sah ihn fragend an.
»Warum willst du unbedingt, dass ich das mache?«
»Weil du es kannst. Ich habe keine Ahnung, was das ist und was bei der Operation oder danach auf uns zu kommt.« Er machte eine kurze Pause.
»Und ich kenne die Eltern«, fügte er hinzu.
Jane versprach darüber nachzudenken. Wenn der Junge ins St. Marys Hospital in Tralee eingeliefert werden sollte, wäre sie ohnehin die zuständige Ärztin. Wie sie Dickenson kannte, hatte er das bereits geplant und informierte sie lediglich darüber.
Nach dem Essen tranken sie eine Tasse Kaffee, dann verabschiedete sich Jane und machte sich auf die Rückfahrt nach Dunquin. Sie freute sich darauf, den freien Nachmittag mit Lily zu verbringen. Dennoch konnte sie ihre Gedanken nicht von der Röntgenaufnahme lösen, die Dickenson ihr gezeigt hatte. Wenn es sich bei dem schwarzen Fleck um einen Tumor handelte, hätte der Junge schlechte Karten. Andererseits hätte sich ein Tumor in dieser Größe längst bemerkbar gemacht. Sie konnte sich einfach nicht erklären, was auf diesem Röntgenbild zu sehen war. Und sie hatte ein äußerst ungutes Gefühl dabei, zu operieren, wenn sie nicht wusste, mit was sie es zu tun hatte.
Cassy, die Border-Collie-Hündin, stürmte zum Auto, als Jane auf der Straße vor dem kleinen Cottage parkte. Lily folgte ihr auf den Fersen. Meredith war im Vorgarten und schnitt die Rosen. Sie trug einen großen Strohhut, unter dem ihr graues Haar hervorwehte, und ein blaues Sommerkleid. Als sie Jane sah, richtete sie sich auf und winkte ihr zu. Jane winkte zurück und holte die Tüte mit dem frischen Gemüse für das Abendessen aus dem Kofferraum. Außerdem hatte sie die kleinen Hefebrötchen besorgt, die Lily so gerne mochte.
»Mum, ich will zum Geburtstag ein Pony«, rief Lily ihr entgegen.
Jane drückte ihre Tochter lachend an sich und begrüßte sie mit einem Kuss.
»Ganz sicher nicht.«
»Grandma sagt aber, ich bekomme eins.«
Jane warf ihrer Mutter einen Blick zu.
»Das habe ich sicher nicht gesagt, Liebes«, rief Meredith herüber. In ihren Augen funkelte es, und Jane vermutete, dass sie etwas ganz Ähnliches gesagt hatte.
»Lily, sei doch vernünftig«, versuchte Jane zu beschwichtigen. »Wo sollte das Pony denn wohnen?«
»Natürlich auf der O’Sullivan-Farm.«
Lily war ganz offensichtlich zufrieden damit, eine Lösung für das Problem anbieten zu können. Jane konnte nicht leugnen, dass das tatsächlich eine gute Lösung wäre. Die O’Sullivan-Farm lag nur wenige Meilen von Dunquin entfernt und war für Lily mit dem Fahrrad problemlos zu erreichen. Außerdem hatten die O’Sullivans selbst einige Pferde, auch wenn sie hauptsächlich Schafe hielten.
Früher war Meredith oft mit einem der O’Sullivan-Pferde ausgeritten, in den vergangenen Jahren war das jedoch kaum mehr vorgekommen. Jane selbst hatte auf der O’Sullivan-Farm Reiten gelernt. Sie erinnerte sich daran, wie viel ihr als Mädchen die Zeit mit den Pferden bedeutet hatte und wie sehr sie die Ausritte genossen hatte.
Sie seufzte.
»Ich denke darüber nach.«
Lily hüpfte vor Freude und schlang ihr die Arme um den Hals.
»Danke, Mum.«
»Lily, ich habe nur gesagt, ich denke darüber nach«, erinnerte Jane ihre Tochter an ihre Worte.
»Ich weiß.«
Lily schlenderte mit Cassy davon. Jane entging nicht, wie sie Meredith im Vorbeigehen einen verschwörerischen Blick zuwarf. Sie schnappte die Tüten und ging ins Haus, um das Essen zuzubereiten.
Meredith folgte ihr.
»Lass mich das machen.«
Sie nahm Jane die Tüten ab.
»Ruh dich aus, du siehst müde aus.«
Jane übergab ihr dankbar die Verantwortung für das Abendessen und ging wieder nach draußen, um Lily und Cassy zu suchen. Sie fand die beiden hinter dem Haus, wo sie die Schafe der O’Sullivan-Farm beobachteten, die heute ungewöhnlich nah am Cottage weideten.
»Wir gehen hinauf zu den Klippen«, rief Jane zu Lily hinüber. »Auf geht’s.«
Augenblicklich sprangen Lily und Cassy auf und rasten auf Jane zu. Lily legte ihre Hand in die von Jane, was in der letzten Zeit immer seltener vorgekommen war, schließlich war Lily schon fast neun. Unermüdlich erzählte sie von dem Pony, das sie sich wünschte, während der schwarz-weiße Border Collie sie schwanzwedelnd umrundete. Jane spürte die kleine Hand ihrer Tochter in der ihren und hörte ihr aufmerksam zu. Über dem Atlantik zogen sich dunkle Wolken zusammen, möglicherweise würde es bald ein Gewitter geben.
Sie erreichten die Klippen und sahen eine Zeitlang hinaus auf die tobenden Wellen, die mit gewaltiger Kraft gegen die Felsen schlugen.
Auf dem Rückweg beeilten sie sich, und gerade als sie das Cottage erreichten, fielen die ersten Regentropfen vom Himmel herab. Innerhalb kürzester Zeit war es dunkel geworden, der Wind stürmte gnadenlos um das kleine Cottage herum, und das Krachen des Donners kam immer näher.
Im Cottage war es warm und gemütlich. Thomas war inzwischen nach Hause gekommen, und Meredith hatte den Tisch in der Küche gedeckt. Lily langte beim Abendessen ordentlich zu, und auch Jane hatte nach dem Spaziergang an der frischen Luft Hunger.
***
Jane warf einen Blick auf ihren Pager und eilte in die Notaufnahme. Sanitäter und Notarzt schoben eilig eine Liege mit einem Patienten durch den Flur. Sie lief neben der Liege her und ließ sich auf den neuesten Stand bringen.
»Alles klar«, sagte sie, als der Notarzt seinen Bericht beendet hatte, »OP 2«.
Sie gab Anweisung, die Notoperation vorzubereiten, und machte sich selbst fertig. Sie wechselte einige kurze Worte mit Thomas, während sie sich in der Umkleideschleuse die OP-Kleidung überzog. Sie hatte ihn in dieser Woche so wenig gesehen, dass sie sich sogar über die Aussicht freute, mit ihm gemeinsam am OP-Tisch zu stehen. Auch wenn ihr ein Spaziergang auf den Klippen in Dunquin mit den tosenden Wellen des Atlantiks tief unter ihnen oder ein ungestörtes Abendessen in ihrer Wohnung am Pat Healy Park lieber gewesen wäre.
»Du vermutest eine Aortendissektion?«, fragte Thomas kurz angebunden. Er sah müde aus und war als Letzter des Teams in den OP-Bereich geeilt.
Sie nickte.
»Alle Symptome deuten darauf hin.«
»Trotzdem ist es riskant, die Diagnose allein aufgrund der Symptome zu stellen«, gab er zu bedenken.
»Thomas«, sagte Jane, »fünfundzwanzig Prozent der Patienten mit einer Aortendissektion sind bereits tot, bevor sie eine Klinik erreichen, und viele weitere sterben innerhalb der ersten achtundvierzig Stunden. Wir haben keine Zeit für eine lange Diskussion.«
Einen Moment lang sah er sie prüfend an, dann nickte er.
»Also gut, aber ich leite die Operation.«
Jane wollte etwas erwidern, überlegte es sich aber anders. Sie hatten keine Zeit zu verlieren.
Sie steckte ihre Haare hoch, zog die OP-Haube über und legte den Mundschutz an. Dann betrat sie den OP-Bereich und begann mit der chirurgischen Händedesinfektion. Thomas tat es ihr gleich.
Die OP-Schwester richtete noch die Instrumente, dann zog sie Thomas den sterilen Kittel an. Jane hielt die Hände auf Brusthöhe und wartete, bis sie an der Reihe war. Schließlich hielt ihr die OP-Schwester den Kittel auf, sodass sie mit den Armen hineinschlüpfen und die Hände in die Ärmel schieben konnte.
Der Patient war bereits vorbereitet worden und lag auf dem OP-Tisch. Der Anästhesist hatte soeben mit der Narkose begonnen. Sobald der Patient narkotisiert war, begann Thomas den Brustkorb zu öffnen, Jane assistierte ihm dabei.
Als sie ihm die Pinzette reichte, sah er ihr direkt in die Augen. Sein Blick war klar und durchdringend, seine Augen waren eisblau. Es war dieser Blick, dem Jane sofort verfallen war, als sie Thomas vor über zehn Jahren kennenlernte. Sie zwang sich, ihre Gedanken ausnahmslos auf den Patienten zu fokussieren. Dank der jahrelangen Routine gelang es ihr problemlos.
Die Operation verlief ohne Komplikationen, und nach einer knappen Stunde konnte der Patient in den Aufwachraum gebracht werden. Jane zog den OP-Kittel und die Haube aus und wusch sich die Hände. Sie trocknete sich gerade ab, als Thomas den Raum betrat und sie auf die Stirn küsste.
»Wie geht es unserer Prinzessin?«
Nach einer Woche voller Spätdienste und Überstunden vermisste er Lily und die Ruhe draußen in Dunquin. Auch wenn er sich anfangs nicht vorstellen konnte, dort draußen zu leben, so fehlte ihm der kühle Wind, der vom Atlantik über die Klippen herüberwehte, wenn er zu viel Zeit in der Stadt verbrachte.
»Es geht ihr gut. Sie wünscht sich zum Geburtstag ein Pony.«
Er runzelte die Stirn.
»Ich wette, deine Mutter hat ihr längst versprochen, dass sie es bekommt.«
Sosehr er die Ruhe draußen in Dunquin auch genoss, so wenig konnte er sich daran gewöhnen, mit Meredith unter einem Dach zu leben. Dr. Thomas Graham war nicht der Typ Mann, der mit seiner Schwiegermutter zusammenlebte. Jane hatte hart argumentiert und ihn schließlich überzeugt. Er wusste, dass sich niemand besser um Lily kümmerte als Meredith. Dass Jane ihre Arbeit aufgab, um sich ausschließlich um das Kind zu kümmern, war für sie nie eine Option gewesen. Und er hätte es nie von ihr verlangt. Also hatte er sich arrangiert. Trotzdem war er froh, die Wohnung am Pat Healy Park als Rückzugsort für sich und Jane zu haben.
»Ich muss unbedingt etwas essen.« Jane beschloss, nicht auf Thomas’ Bemerkung einzugehen, zumal sie vermutete, dass er damit recht hatte. Sie hatte seit dem Frühstück nichts mehr zu sich genommen, und auch das hatte nur aus einer Tasse Kaffee und einem halben Hefebrötchen bestanden. »Kommst du mit?«
»Geht nicht.« Thomas schüttelte bedauernd den Kopf. Sie hatte den Eindruck, er wäre wirklich gerne mitgekommen, außerdem hätte ihm ein warmes Essen gutgetan. »Ich muss noch ein paar Formalitäten erledigen. Wir sehen uns um vierzehn Uhr im Konferenzraum.«
In der Kantine standen Gulasch mit Kartoffeln und französische Gemüsesuppe auf dem Speiseplan. Jane entschied sich für die Suppe. Sie setzte sich an einen Tisch am Fenster und tunkte ein Stück Weißbrot hinein. Es war kurz vor halb zwei, und der Speisesaal hatte sich bereits geleert. Einige wenige Kollegen saßen noch bei einer Tasse Kaffee und diskutierten, die meisten hatten das Mittagessen bereits hinter sich. Jane nickte einem Kollegen aus der Chirurgischen Abteilung knapp zu und widmete sich der Zeitung, die sie neben ihrem Teller ausgebreitet hatte.
Nach dem Essen fuhr sie mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock und ging durch den langen Flur in den Konferenzraum. Die meisten Kollegen waren bereits versammelt, Thomas hielt eine kurze Rede anlässlich seines Antritts als leitender Chefarzt auf der Chirurgischen Abteilung von Tralee. Da ihn ohnehin alle Kollegen kannten und sich wenig ändern würde, weil er in den letzten Jahren mit Dickenson Hand in Hand gearbeitet und ihn bei allen Belangen unterstützt hatte, fiel die Rede recht kurz aus. Jane freute sich für Thomas und nahm sich fest vor, wieder mehr Zeit für sie beide einzuplanen. Nach den vielen Jahren, die sie verheiratet waren, fühlte sich vieles so alltäglich an, und die gemeinsamen, wertvollen Stunden waren immer weniger geworden.
Nach dem Nachtdienst am nächsten Dienstag fuhr Jane bis ans andere Ende der Insel nach Watergrasshill, um sich ein Pony für Lily anzusehen. Sie konnte ihrer Tochter den Wunsch einfach nicht abschlagen, auch wenn sie zunächst nicht begeistert von der Idee gewesen war. Anstatt das Pony dauerhaft auf der O’Sullivan-Farm unterzubringen, würde sie den kleinen Schuppen neben dem Cottage als Stall herrichten. Er eignete sich gut und wurde im Moment kaum genutzt.
Die Nacht war ziemlich ruhig gewesen, und so war sie weniger müde, als sie befürchtet hatte. Unterwegs machte sie an einem Schnellrestaurant halt und genehmigte sich einen großen Kaffee und ein Croissant. Im Restaurant war es ruhig. Es war mitten am Vormittag, und die meisten Leute waren bei der Arbeit oder zu Hause. Sie biss hungrig in das Croissant und nahm einen großen Schluck aus dem Kaffeebecher. Der Kaffee war viel zu heiß. Sie verbrannte sich die Zunge und fluchte leise. Schnell verschlang sie den Rest des Croissants und setzte sich wieder ins Auto. Den Kaffee trank sie während der Fahrt.
Als sie die Donovan-Farm erreichte, war es bereits Mittagszeit. Das Wetter war herrlich, Schwalben flogen durch den blauen Sommerhimmel über den Stallungen, es roch nach warmer Erde und Pferden.
Ein Mann in blauer Arbeiterhose und kariertem Hemd kam zielstrebig auf Jane zu, nachdem sie den Wagen vor den Stallgebäuden geparkt hatte. Er hatte die Ärmel hochgekrempelt, und Jane fiel auf, dass er eine lange Narbe am linken Unterarm hatte. Er streckte ihr die Hand entgegen.
»John Donovan«, stellte er sich vor.
»Jane Graham.«
Er hatte einen angenehm festen Händedruck.
»Wir haben telefoniert.«
Er nickte und bedeutete ihr, ihm zu folgen.
»Wir haben zwei Ponys, die noch eingeritten werden müssen, und fünf, die schon eingeritten sind. Die sind natürlich teurer.«
»Natürlich.«
Sie interessierte sich nur für ein Pony, das bereits eingeritten war. Das hatte sie Donovan am Telefon schon erklärt. Allein der Gedanke daran, dass Lily sich beim Reiten verletzen könnte, bereitete ihr Bauchschmerzen. Donovans Pferde hatten einen ausgezeichneten Ruf. Die Donovan-Farm war bekannt für ihre hervorragend ausgebildeten Pferde. Das hatte natürlich seinen Preis, aber das war es Jane wert. Schließlich war sie deshalb quer über die ganze Insel gefahren.
Sie folgte John Donovan hinter die Stallungen zu einer der vielen Koppeln. Er öffnete das Gatter und stieß einen Pfiff aus. Einige Ponys kamen gemächlich herangetrabt, während er das Gatter hinter Jane und sich wieder schloss. Jane wusste sofort, welches Pony sie für Lily wollte. Es war außergewöhnlich groß, ganz weiß und hatte einen schwarzen Vorderfuß. Zutraulich schnupperte es mit seinen weichen Nüstern an Janes Hand.
»Ich nehme dieses hier«, sagte sie.
Donovan lachte.
»Das ging ja schnell. Das ist Denver. Sie ist dreieinhalb Jahre alt, sehr friedlich und läuft ausdauernd.«
Jane klopfte dem Pony den Hals, strich ihm übers Maul und durch die Mähne. Denver warf den Kopf zurück und wieherte leise.
Donovan beobachtete sie interessiert.
»Sie scheint Sie zu mögen. Wussten Sie, dass bei Pferden der erste Eindruck entscheidend ist?«
Jane schüttelte den Kopf. Nein, das hatte sie nicht gewusst, und sie bezweifelte es ernsthaft, aber es war ein schöner Gedanke.
»Ich zeige Ihnen noch die anderen«, bot Donovan an.
»Nicht nötig.«
Jane hatte sich bereits entschieden. Sie streichelte Denver noch einmal über die Nüstern und ging dann mit John Donovan zum Haus, um das Geschäftliche zu regeln. Nachdem alle Dokumente unterschrieben waren, verabschiedete sie sich, stieg in ihren Wagen und machte sich auf die Heimfahrt. In ein paar Tagen würde sie mit O’Sullivans Pferdeanhänger wiederkommen und Denver abholen.
***
Als Jane nach Hause kam, lag Lily in ihrem Bett und schlief. Ihre Wangen waren außergewöhnlich rot. Jane legte ihr prüfend die Hand auf die Stirn und stellte fest, dass sie Fieber hatte. Sie strich Lily vorsichtig eine Haarsträhne aus dem Gesicht, küsste sie auf die Wange und verließ auf Zehenspitzen das Zimmer. Jane war kein ängstlicher Mensch, aber um Lily machte sie sich schon bei der geringsten Kleinigkeit die größten Sorgen.
Sie suchte nach Meredith und fand sie in die Arbeit vertieft an ihrem Schreibtisch aus Birnbaumholz. Jane mochte die gelbliche Farbe und die besondere Maserung des Tisches. Ihrer Meinung nach passte er perfekt zu Meredith. Es war ein Tisch für eine Schriftstellerin.
Meredith war so in ihre Arbeit versunken, dass sie Jane nicht hörte, als sie das Zimmer betrat.
»An was schreibst du?«
Meredith zuckte leicht zusammen.
»Ein neues Buch, es ist fast fertig. Willst du es lesen?«
»Jetzt nicht.«
Jane war müde. Nach der Nachtschicht und der Fahrt zur Donovan-Farm wollte sie einfach nur ins Bett. Sie hatte unzählige Bücher von Meredith gelesen, und alle ähnelten sie einander. Romanzen, die tragische Wendungen erfuhren, zuletzt aber gut endeten. Meredith schrieb diese Bücher seit vielen Jahren und hatte sich damit einen Namen als Autorin und ein gutes Einkommen geschaffen.
»Lily hat Fieber«, sagte Jane.
»Ich weiß. Sie fühlte sich schon heiß an, als sie heute Mittag aus der Schule kam.«
»Mach dir keine Sorgen«, fügte Meredith schnell hinzu. »Es ist sicher nur ein harmloser Infekt.«
»Ich mache mir keine Sorgen.« Jane fühlte sich ertappt.
Sie überließ Meredith wieder ihrer Arbeit, machte sich in der Küche ein Sandwich und ging damit in ihr Zimmer. Seit Thomas die Leitung der Chirurgischen Abteilung übernommen hatte, verbrachte er noch mehr Zeit im Krankenhaus als zuvor. Er fehlte ihr hier zu Hause, und sie hoffte inständig, sein neuer Posten würde sie nicht dauerhaft ihrer ohnehin knappen und wertvollen Familienzeit berauben. Sie hatte ihm von ihren Befürchtungen erzählt, und er hatte sie lächelnd beruhigt. Seine klugen blauen Augen hatten sie voller Liebe angesehen, und er hatte ihr versichert, dass sich alles einspielen würde. Und dann, so dachte sie insgeheim, wäre es an der Zeit, über ein Geschwisterchen für Lily nachzudenken.
Sie setzte sich mit dem Sandwich und einer Tasse Tee vorsichtig neben Lily aufs Bett, um sie nicht zu wecken.
Während sie ihr Sandwich aß, betrachtete sie die Röntgenaufnahme, die Dickenson ihr gegeben hatte, aufs Neue. Sie glich das Bild gedanklich mit allem ab, was sie bisher gesehen hatte, und konnte sich aber nicht erklären, was sie sah. Noch immer hielt sie es für unwahrscheinlich, dass es sich um einen großen Tumor handelte, zumal das Blutbild des Patienten unauffällig war und er bis auf die Schmerzen im Bauchbereich keinerlei Einschränkungen hatte. Sie mussten operieren, das war klar. Aber ohne zu wissen, welche Erkrankung hinter der Wucherung steckte, war Jane nicht wohl dabei. Zumal sie es hier mit einem Kind zu tun hatten.
Lily atmete leise und drehte sich um. Ihre Stirn war heiß vom Fieber, und die Haare hingen ihr als feuchte Strähnen ins Gesicht. Jane strich ihr vorsichtig die Haare zurück und legt die Decke zur Seite.
Sie setzte sich auf, nahm den letzten Schluck Tee aus ihrer Tasse und warf noch einen Blick auf das Röntgenbild. In diesem Augenblick wurde ihr klar, was sie da sah.
***
Jane hatte kurz überlegt, ob sie sich den Tag freinehmen sollte, um sich um Lily zu kümmern. Da es Lily aber besser zu gehen schien, hatte sie sich dagegen entschieden, und überließ es Meredith, für Lily zu sorgen.
Sie hatte kurz nach neun ihren Dienst im St. Marys Hospital angetreten, und seitdem war hier die Hölle los. Seit fünf Stunden war sie im Dienst und hatte bisher kaum Zeit gehabt durchzuatmen, geschweige denn etwas zu essen oder eine kurze Pause zu machen.
Sie stand schon zum dritten Mal am OP-Tisch, und der nächste Patient wurde bereits vorbereitet. Da es sich um keine lebensnotwendige Operation handelte, hatten sie den OP-Termin um eine Stunde verschoben, und Jane hoffte, endlich einen Happen essen zu können.
Sie wusch sich die Hände und zog den OP-Kittel aus.
»Wir treffen uns in fünf Minuten in der Kantine«, schlug Thomas vor, der die letzte Operation geleitet hatte.
Sie nickte und ging nach draußen, um Meredith anzurufen und sich zu erkundigen, wie es Lily ging. Es ging ihr nicht besser. Das Fieber war wieder gestiegen, und sie hatte Bauchschmerzen. Jane versprach, so bald wie möglich nach Hause zu kommen.
Thomas wartete bereits in der Kantine, er hatte zwei Schnitzel mit Pommes bestellt. Offensichtlich das Einzige, was um diese Uhrzeit vom Mittagessen noch übrig war.
»Entschuldige die Menüwahl«, sagte er, als Jane sich zu ihm an den Tisch setzte. »Ich würde dich liebend gerne wieder einmal zu einem anspruchsvolleren Gericht einladen. Wie wäre es, wenn wir morgen Abend zusammen essen gehen? Vorausgesetzt natürlich, es geht Lily besser. Hast du in Dunquin angerufen?«