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Wie Du mit deinen Fotos zum Storyteller wirst Zwei Profis zeigen, wie Du mit Fotos Geschichten erzählst Geschichten auf Reisen oder vor der eigenen Haustür das Buch zur Website www.abenteuer-reportagefotografie.de Menschen lieben seit jeher Geschichten. Wir begreifen, erleben und ordnen unsere Welt mit Hilfe von Geschichten. Die Methodik des Storytellings auf die Fotografie zu übertragen, ist heute ebenso relevant wie spannend. Professionelle Fotografen, Regisseure oder Influencer bzw. Werbetreibende setzen die Storytelling-Techniken bereits erfolgreich ein. Die Autoren möchten diese Methodik für alle greifbarer machen. Jeder ist ein Geschichtenerzähler, auch Hobbyfotografen. Ihr Ziel ist es, die Methoden der Reportagefotografie und des Storytellings bewusst auf den Alltag zu übertragen. Damit sollen Fotografierende unabhängig von Niveau und Ausrüstung in die Lage versetzt werden, in ihrem Umfeld die Geschichten visuell zu erzählen, die für sie wichtig sind. Ob in der Familie, im Beruf, in der Freizeit oder auf Reisen. Mit diesem Buch geben Dir die Autoren die erforderlichen Storytelling-Werkzeuge an die Hand, mit denen Du zu visuell und emotional fesselnden Bildern gelangst. Du lernst, die Themen zu finden, die für Dich relevant sind, und eine eigene Bildsprache zu entwickeln. Mit den Werkzeugen der Bildgestaltung wirst Du in die Lage versetzt, Deine Fotos mit Gefühl und Spannung aufzuladen. So erschaffst Du Bilder, die mit Erlebnissen und Emotionen verknüpft sind. Die Autoren zeigen, wie visuelle Geschichten sowohl mit Einzelbildern als auch mit Bildstrecken erzählt werden können. Du erfährst, wie das Bildmaterial eines Fotoshootings gesichtet, editiert und eine stimmige Bildstrecke erzeugt wird. Dabei spielt die software-gestützte Bildverwaltung eine entscheidende Rolle. Eine saubere Struktur, mit der du Bilder schnell findest, erleichtert alle Prozesse rund um deine Fotografie.
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Seitenzahl: 371
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Kai Behrmann hat lange als freier Fotojournalist in Südamerika gelebt. Zu den unvergesslichen Momenten zählt die WM 2014 in Brasilien. Nah an den Menschen dokumentierte er die Stimmung außerhalb der Stadien zwischen Fußball-Begeisterung und Protesten gegen soziale Ungleichheiten. Zuletzt arbeitete er als Sportreporter bei der WELT in Hamburg. Seit Anfang 2020 lebt er im Rheingau. Er betreibt den Podcast GATE7 (www.gatesieben.de) über visuelles Storytelling.
Thomas B. Jones wagte 2016 den Sprung in die Berufsfotografie. Nach dem anfänglichen Fokus auf Business- und Hochzeitsfotografie, ist mittlerweile die Reportagefotografie an erste Stelle gerückt. Thomas hat 2020 sein erstes Buch »22 JPEG-Rezepte für FUJIFILM Kameras« und 2021 seinen Bildband »Israel – Zwischen Glaube und Geschichte« veröffentlicht. Seit 2021 ist er auch offizieller FUJIFILM-X-Photographer. Er betreibt den Podcast »Die Photologen« (www.photologen.de) sowie einen eigenen YouTube-Kanal.
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Kai Behrmann • Thomas B. Jones
Wie du Storytelling gezieltin deiner Fotografie einsetzt
Kai Behrmann • Thomas B. Jones
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www.gatesieben.de
www.photologen.de
Lektorat: Rudolf Krahm
Lektoratsassistenz: Anja Ehrlich
Copy-Editing: Karin Wempe, https://karinwempe-textkorrektur.de
Satz: Petra Strauch, just in print
Herstellung: Stefanie Weidner, Frank Heidt
Umschlaggestaltung: Helmut Kraus, www.exclam.de, unter Verwendung eines Fotos von Kai Behrmann
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN:
978-3-86490-944-3
978-3-96910-894-9
ePub
978-3-96910-895-6
mobi
978-3-96910-896-3
1. Auflage 2023
Copyright © 2023 dpunkt.verlag GmbH
Wieblinger Weg 17
69123 Heidelberg
Bildnachweis:
Wenn nicht anders angegeben, sind die Urhebernachweise für die Fotografien in den Bildunterschriften oder am Bildrand vermerkt. Die mit KB gekennzeichneten wurden von Kai Behrmann, die mit TJ gekennzeichneten von Thomas B. Jones aufgenommen.
Hinweis:
Dieses Buch wurde mit mineralölfreien Farben auf FSC®-zertifiziertem Papier aus nachhaltiger Waldwirtschaft gedruckt. Der Umwelt zuliebe verzichten wir zusätzlich auf die Einschweißfolie. Hergestellt in Deutschland.
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Einleitung
Werde zum Geschichtenerzähler vor der eigenen Haustür
1Die Reportagefotografie
1.1Was ist eine Reportage?
1.2Welche Arten der Reportage gibt es?
Menschen: Wer macht etwas?
Fokus auf den Charakter und die Eigenschaften
Orte: Wo passiert etwas?
1.3Aktivität: Was wird gemacht?
Alles ist eine Frage der Perspektive
1.4Berühmte Fotografen und bemerkenswerte Essays
Henri Cartier-Bresson
Alfred Eisenstaedt
Steve McCurry
Martin Parr und Tom Wood
W. Eugene Smith
Éric Valli
Vivian Maier
2Storytelling
2.1Warum erzählen wir Geschichten?
2.2Was sind die Zutaten für eine packende Geschichte?
Schatz, wie war dein Tag?
Aufbau von packenden Geschichten: Die Heldenreise
2.3Beispiel Harry Potter, Herr der Ringe, Star Wars
2.4Story vs. Narrativ – Geschichte vs. Erzählung
2.5Die Wahl der Perspektive
Fotografie ist gut darin, Dinge zu zeigen – aber schlecht darin, sie zu erklären
2.6Attributklammern
2.7Kommunikation und Storytelling
Lasswell-Formel
Eisberg-Modell
Shannon-Weaver-Modell
Werkzeuge der Kommunikation
2.8Storytelling in Einzelbildern und Bildstrecken
Einzelbilder
Bildstrecken
3Methodik in der Reportagefotografie
3.1Die Drei-plus-Eins-Formel
Establisher
Body bzw. Mittelteil
Closer
Keyshot bzw. Schlüsselbild
Beispiele für die Drei-plus-Eins-Formel
3.2LIFE-Formula
Establisher
Medium Shot
Close-up
Porträt
Interaktion
Der entscheidende Moment
Sequenz
Closer
Beispiel für die LIFE-Formula
Methoden sind keine Gesetze
4Finde deine Erzählstimme
4.1Autorschaft: Der eigene Stil
4.2Du bist der Regisseur
4.3Mentoren
Das »Sehen« muss kontinuierlich trainiert werden
4.4Inspiration versus Kopieren
4.5So schärfst du deinen fotografischen Blick
Neugier
Unkonventionelles Denken
Mut zur eigenen Meinung
Intuition
Flexibilität
Blick ins eigene Archiv
5Bildgestaltung
5.1Unsere Wahrnehmung: Grundkonzepte der Bildgestaltung
Fibonacci-Folge
Goldener Schnitt und Drittelregel
Farbe
5.2Werkzeuge der Bildgestaltung
Die Geometrie der Bildgestaltung
5.3Belichtung Low Key und High Key
5.4Licht und Schatten
5.5Kontrast
5.6Bewegung und Zeit
5.7Fokus und Schärfentiefe
5.8Weißflächen und negativer Raum
5.9Reduktion
5.10Abstraktion
5.11Perspektive
5.12Spiegelungen
5.13Rahmen und Subframing
5.14Verdecken
5.15Atmosphäre schaffen
Spürbarkeit
Umgebung
Emotion und Moment
Ränder sauber halten
Nur eine Geschichte erzählen
5.16Technische Hilfsmittel
Spiegel
Acrylglas
Mobiltelefon
Prismen
Split Diopter
Filter
Drohnen
Die Menge macht das Gift
6Von der Idee zur Umsetzung
6.1Themenfindung
6.2Recherche
Planung versus Improvisation
6.3Kontaktaufnahme
Wer sind die Ansprechpartner? Was weißt du über sie?
Pitch: Die richtige Ansprache finden
Auf fremde Menschen zugehen
6.4Vor Ort
6.5Beispiele und Fallstudien aus unserer Praxis
Weinlese im Weingut »Peter Jakob Kühn«
Alex Maier: Die Wahl zum jüngsten Oberbürgermeister Deutschlands
Junge Brauer bringen frischen Wind ins Bier – Braurevolution
Die Fußballweltmeisterschaft 2014 in Brasilien zwischen Euphorie und Protest
Jenseits der bunten Fassaden: Raue Realität in La Boca
7Die Bilder sind gemacht – und was nun?
7.1Bildverwaltung und Datenmanagement
Fallstudie Kai
Fallstudie Thomas
7.2Bildauswahl durch die Brille des Storytellings
Allgemeine Gedanken zum Workflow
Editieren – die Kunst der richtigen Bildauswahl
7.3Bildbearbeitung durch die Brille des Storytellings
Beispiele für Bildbearbeitung in der Reportagefotografie
8Präsentation: Wie zeigst du deine Bilder
8.1Welcher Kanal für welches Publikum?
8.2Fotobuch
8.3Eigenes Magazin
8.4Ausstellung
8.5Social Media
8.6Website
8.7Artikel
8.8Slideshow und Präsentation
9Rechtliches
9.1Gastbeitrag: Rechtliches zur Personen- und Streetfotografie
Einwilligungen, Einwilligungen und noch mehr Einwilligungen
Die rechtliche Lage ist heikel – Straßenfotografie jedoch nicht unmöglich
Auswirkungen der DSGVO spürbar, aber nicht erschütternd
Im Fall der Fälle kann es ungemütlich werden
Einwilligungen vorher einholen
9.2KunstUrhG
9.3KunstUrhG §22
9.4KunstUrhG §23
9.5KunstUrhG §33
Die Berücksichtigung der Kunstfreiheit
9.6Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO)
9.7Model-Release-Verträge
9.8Paragrafen sind wichtig, aber …
10Equipment
10.1Kamera
10.2Festbrennweiten oder Zoomobjektive
10.3Objektive
35 mm
50 mm
20–28 mm
Das 24–70-mm-Zoomobjektiv
Das 70–200-mm-Zoomobjektiv
Blitzlicht
Das Smartphone als Kamera
10.4Ein Blick in unsere Taschen
Kais Kameratasche
Thomas’ Kameratasche
11Dein nächster Schritt: Erzähl die Geschichten deines Lebens
11.1Roger Salzmann
Zur Person
Sein Bezug zur Reportagefotografie
11.2Roland Ulbrich
Zur Person
Sein Bezug zur Reportagefotografie
11.3Thomas Winter
Zur Person
Sein Bezug zur Reportagefotografie
11.4Anne-Kathrin Claes
Zur Person
Ihr Bezug zur Reportagefotografie
11.5Jeannine Witt-Jentsch
Zur Person
Ihr Bezug zur Reportagefotografie
11.6Rainer Wiemers
Zur Person
Sein Bezug zur Reportagefotografie
11.7Marcel Mayer
Zur Person
Sein Bezug zur Reportagefotografie
Quellen und weiterführende Literatur
Danksagung
Über die Autoren
Foto: Kai Behrmann
»Nicht, was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen.«
Gabriel García Márquez
Reportage. Das Wort war für uns lange eng verknüpft mit fernen, unbekannten Orten. Mit Exotik und Abenteuer. Der Wunsch, unsere Welt besser zu verstehen, führte uns sowohl privat als auch beruflich in die USA, nach Israel, Argentinien oder Brasilien. Die Kamera war ein Ticket, um auf Entdeckungsreise zu gehen und Geschichten aus aller Welt visuell zu erzählen. Mit ihr folgten wir unserer Neugier und wurden Zeugen von Konflikten, sozialen Ungleichheiten – aber auch von Menschlichkeit und Hoffnung.
Zwar stammen viele Beispiele in diesem Buch von genau diesen Reisen. Denn wen das Fernweh einmal gepackt hat, den lässt es nie wieder ganz los. Doch je weiter wir reisten, desto deutlicher erkannten wir: Vor der eigenen Haustür gibt es genauso viel zu entdecken. Die Schauplätze mögen zunächst banaler erscheinen. Das Gewohnte nehmen wir mit der Zeit immer weniger wahr. Routine lässt den Blick erschlaffen. Die Zutaten für packende Geschichten sind indes überall vorhanden.
Ob Dürrlewang oder Neu-Delhi – trotz aller kulturellen Unterschiede und individuellen Ausprägungen sind wir Menschen uns erstaunlich ähnlich, wenn es um die großen Fragen des Lebens geht. Sprich die Dinge, die uns begeistern, uns zu Tränen rühren oder vor Sorgen nachts nicht schlafen lassen. Wir müssen nur lernen, wieder aufmerksamer hinzuschauen. Denk nur mal an die Comedy-Serie Stromberg mit Christoph Maria Herbst in der Rolle eines pedantischen Abteilungsleiters in einer Versicherungsgesellschaft. Selbst im trübsten Büro passieren Dinge, die schreiend komisch sind.
Auf den folgenden Seiten möchten wir dir die Augen für die vielen Geschichten in deiner Umgebung öffnen, die es wert sind, erzählt zu werden. Das kann das Plätzchenbacken mit deinen Kindern sein. Der Familienausflug in den Wald zum Pilzesammeln. Omas 80. Geburtstag. Oder eben der ganz normale Wahnsinn an deinem Arbeitsplatz.
Egal, auf welchem fotografischen Niveau du aktuell stehst, mit welchen Absichten du fotografierst und über welche Ausrüstung du verfügst: Packende Geschichten in Bildern lassen sich mit jeder Kamera und bei jeder Gelegenheit erzählen.
Zwar geben wir dir auch Tipps für das passende Equipment. Viel wichtiger ist aber die Frage, was und wie du es erzählen möchtest. Die stärkste Wirkung entfalten Themen, wenn du einen persönlichen Bezug zu ihnen hast. Schließlich geht es um dein Leben. Woran möchtest du dich später erinnern? Wir helfen dir dabei, genau die Bereiche zu identifizieren, in denen du mit voller Leidenschaft zum visuellen Storyteller wirst. Ob in Einzelbildern oder mit mehreren Fotos als Serie oder Reportage.
Wir sind der Meinung, dass Reportage und Storytelling nicht nur etwas für Profis sind. Die Methodik erfolgreicher Fotojournalisten und Autoren lässt sich genauso gut im Alltag anwenden. Wir alle sind ständig damit beschäftigt, unsere eigene Welt und deren Wahrnehmung in Geschichten zu verpacken. Wir geben dir Tipps an die Hand, wie du die Betrachter deiner Bilder visuell und emotional fesseln kannst.
Quer durch das Buch findest du konkrete Aufgaben und Themenideen. Diese helfen dir bei der selbstständigen Umsetzung der Inhalte.
Die Welt ist voll von faszinierenden Geschichten. Egal, wo du bist. Lerne sie zu fotografieren und werde zum visuellen Storyteller.
Los geht’s.
Wir sind uns der Thematik um das Gendern bewusst. Sprache verändert unser Denken und Handeln. Wir unterstützen eine offene und tolerante Gesellschaft, in der keiner aufgrund seiner geschlechtlichen Identität ausgeschlossen oder diskriminiert wird. Als Autoren wenden wir uns ausdrücklich an alle Menschen. Gleichzeitig stellt uns das Thema vor die Herausforderung, das Gendern und die Lesbarkeit des Textes in Einklang zu bringen. Wir haben uns letztlich dafür entschieden, nicht jeweils sowohl die männliche als auch die weibliche Form zu verwenden, da dies diverse Menschen ausschließen würde. Wir verwenden das generische Maskulinum und wenden uns an alle Menschen gleich welchen Geschlechts. Wir hoffen, dass wir damit allen gerecht werden und sich der Text flüssig lesen lässt.
Foto: Kai Behrmann
Bevor wir uns damit beschäftigen, was eine Geschichte fesselnd macht und welche Methoden es gibt, sie mit emotionalen Bildern zu erzählen, widmen wir uns zunächst dem Begriff Reportage. Was macht diese Erzählform so besonders? Und wie kannst du sie in der Fotografie effektvoll einsetzen?
»Nichts ist phantastischer als die Wirklichkeit.«
Egon Erwin Kisch
Gleichzeitig möchten wir die Reportage, die oft als Königsdisziplin unter den nicht fiktionalen Erzählformen gilt, von ihrem Sockel holen und für jeden greifbar machen. Sie ist keineswegs nur Profis und Ausnahmekönnern vorbehalten. Sie steht allen offen, die zu besseren Geschichtenerzählern werden möchten. Noch ein kurzer Hinweis: Wenn wir in diesem Buch von einer Fotoreportage sprechen, ist damit im weitesten Sinne das Erzählen von Geschichten in mehreren Bildern gemeint. Die Grenzen zu Dokumentationen, Essays oder Serien sind oft fließend.
Das Wort »Reportage« stammt von dem lateinischen Verb »reportare«, das »berichten« oder »melden« bedeutet. Der Reporter begibt sich an Orte und erzählt stellvertretend, was er dort gesehen und erlebt hat. Das kann mit Worten geschehen. Im Fall der Reportagefotografie aber auch mit Bildern. Ziel einer Reportage ist es, jemandem einen möglichst lebhaften Bericht von einem Ereignis zu liefern, bei dem er nicht anwesend war. Der Rezipient sollte sich in die Situation hineinversetzen können. Im besten Fall schafft es eine Fotoreportage, nicht nur visuell stimulierend zu sein, sondern beim Betrachter auch andere Sinneseindrücke zu wecken.
Wikipedia definiert Reportage wie folgt: »Dem Reporter ist es – im Gegensatz zum Verfasser von Nachrichten oder Berichten – erlaubt, Fakten durch eigene Eindrücke zu ergänzen, die er – oft bei Anwesenheit am Ort des Geschehens – gesammelt hat. Idealerweise erzählt er, ohne dabei zu werten oder zu kommentieren, auch nicht durch Weglassen. Er beschränkt sich auf eine narrative Funktion.«1
In Reportagen mischen sich demzufolge Fakten mit persönlichen Eindrücken und Empfindungen. Eine gewisse subjektive Färbung lässt sich also nicht vermeiden. Das fängt mit der Wahl des Motivs an und zieht sich durch jede Entscheidung des Reporters, wie er die Ereignisse gewichtet, zueinander in Beziehung setzt und letztlich präsentiert.
Gerade im Journalismus wird der Anspruch an eine objektive Berichterstattung hochgehalten. In der Praxis ist dies allerdings ein kaum zu erreichendes Ideal. Wichtiger ist daher die Redlichkeit des Reporters. Er ist sich bewusst, welchen Einflüssen er unterliegt, und macht diese transparent.
Magnum-Fotograf David Hurn hat sein Selbstverständnis wie folgt formuliert: »I think of myself as a reportage photographer. (…) It implies a personal account of an observed event with connotations of subjectivity but honesty. It is eye-witness photography.«2
Eine Reportage ist eine durch die Sinne des Reporters wahrgenommene und gefilterte Geschichte. Je unmittelbarer er im Geschehen steckt, desto besser. Von Robert Capa stammt der in diesem Zusammenhang oft zitierte Satz: »Wenn deine Bilder nicht gut genug sind, warst du nicht nah genug dran.« Stürz dich also ins Leben. Hab keine Scheu. Deinen Bildern wird man jeden Schritt anmerken, den du dich näher an deine Motive herangetraut hast. Nähe kann sich dabei nicht nur auf die physische Distanz beziehen, sondern auch emotionaler Natur sein. Je stärker dein persönlicher Bezug zu einem Thema ist, desto leidenschaftlicher wirst du dies auch in deinen Bildern umsetzen.
Henri Cartier-Bresson definierte die Fotoreportage als eine »Zusammenarbeit von Intellekt, Auge und Herz«3. Wir brauchen demzufolge einen scharfen Verstand, wache Sinne und ein Thema, das uns emotional packt. Aus diesem Dreiklang entstehen Bilderstrecken, die nicht nur das Interesse anderer wecken, sondern auch einen besonderen Platz in unserer eigenen Erinnerung an wichtige Ereignisse in unserem Leben einnehmen werden.
Die spannendsten Geschichten schreibt das Leben selbst. Oft genügt ein wacher Blick auf die kleinen Dinge des Alltags, um uns neugierig zu machen und interessante Themen für eine Reportage zu finden. Doch leider nimmt diese Sensibilität ab, je vertrauter uns die Abläufe und Menschen sind, mit denen wir regelmäßig zu tun haben. Das bedeutet aber nicht, dass sie deswegen weniger Aufmerksamkeit verdienen. Im Gegenteil. Die Reportagefotografie kann dir helfen, deine direkte Umgebung wieder bewusster und intensiver wahrzunehmen. Schalte den Autopiloten aus und registrier Momente bewusst in ihrer Schönheit – so schlicht sie zunächst auch erscheinen mögen.
Lass dich von der Wirklichkeit verzaubern. Du brauchst dazu keine blühende Fantasie. Scharfe Sinne genügen, um das aufzusaugen, was um dich herum passiert. Mit der Reportage erzählst du Geschichten, die das Leben selbst schreibt. Dafür musst du nicht an exotische Orte reisen oder dich in Krisengebieten Gefahren aussetzen.
Die großen, weltpolitischen Themen und diejenigen, die davon berichten, dominieren zwar die Schlagzeilen und prägen damit unsere Wahrnehmung. Dadurch dürfen wir jedoch nicht blind für unsere unmittelbare Umgebung werden. Denn dort spielt sich unser Leben ab. Auch vor deiner Haustür warten packende Geschichten darauf, erzählt zu werden. Die Kamera ist ein wunderbares Werkzeug, den Fokus wieder stärker auf den Nahbereich zu richten.
In diesem Buch erfährst du, wie du solche Geschichten erkennst und mit den Methoden der Reportage und des visuellen Storytellings umsetzt.
Hast du deine Familie schon einmal beim Sonntagsfrühstück fotografiert? Oder beim Pilzesammeln im Wald? Einen schnellen Schnappschuss zu machen ist das eine. Etwas anderes ist es, den ganzen Prozess zu dokumentieren und eine Geschichte in mehreren Bildern zu erzählen. Statt flüchtige Aufnahmen schaffst du mit Reportagen oder kleinen Bildserien nachhaltige Erinnerungen. Mit jeder einzelnen Bildserie entwerfen und formen wir die Wahrnehmung von uns und unserem Leben.
Um das Erlebte möglichst lebhaft wiederzugeben, bedient sich der Reporter den Elementen des Storytellings. Am einfachsten ist ein zeitlich linearer Verlauf mit klar definierten Abschnitten – Anfang, Mitte und Ende. Das muss aber nicht so sein.
1–1Familienausflug in den Wald zum Pilzesammeln: Die Kamera ist bei Unternehmungen zwar oft dabei, häufig kehren wir aber mit einer Reihe von losen Aufnahmen nach Hause zurück. In der Rückschau wird die Erinnerung mit zunehmenden Jahren immer löchriger, wenn sie sich auf zusammenhangslose Schlaglichter stützt. Versuch daher mal, einen Ausflug in den Wald als Geschichte in mehreren Bildern zu erzählen. Als Narrativ mit einer Dramaturgie. Wer war dabei? Wer war wofür zuständig? Wie verlief die Suche? Wie groß war die Ausbeute? Und was passierte hinterher mit den Pilzen? (TJ)
Eine Reportage folgt keinesfalls immer einem hierarchischen oder logischen Aufbau. Der Inhalt der Geschichte bestimmt die Form, sprich die Dramaturgie. Davon handelt das folgende Kapitel 2 über Storytelling (siehe ab Seite 47). Zunächst lass uns aber schauen, welche unterschiedlichen Arten der Reportage es gibt.
Es gibt in der Reportage eine große Vielfalt an Erzählformen. Die Grenzen verlaufen dabei oft fließend. Auch der thematische Rahmen einer Reportage variiert. Je nachdem, welchen Fokus und welche Perspektive du wählst, ergeben sich unterschiedliche Kategorien. Der englische Fotojournalist und Autor Michael Freeman zum Beispiel listet in seinem Buch Die fotografische Story4 folgende acht Reportagearten auf:
Menschen
Ort
Making-of
Güter und Rohstoffe
Aktivität
Sammlung
Institutionen, Organisationen, Verbände
Konzept
Entscheidend ist, welche Perspektive du einnimmst. Steht der Mensch im Zentrum deiner Reportage? Oder geht es eher um den Prozess, wie etwas gemacht wird – wie etwa die Herstellung eines Produkts? Denkbar wäre auch eine abstraktere Herangehensweise mit einem Ort als Protagonisten. Du könntest dann die dort vorherrschende Atmosphäre visuell herausarbeiten sowie die Spuren sichtbar machen, die Menschen dort hinterlassen haben.
Die unterschiedlichen Kategorien können dir als Leitfaden dienen. Sie geben eine Struktur vor, in der du dich entfalten kannst. Wichtig ist, dass du dir überlegst: Worauf liegt der Fokus? Und welche Perspektive nimmst du ein? Ein Thema lässt sich immer auf vielfältige Weise darstellen. Sei dir dessen bewusst. Nutz deinen schöpferischen Spielraum.
Es kann sicherlich helfen, schon eine gewisse Vorstellung von der Reportageart zu haben, wenn du dich ins Geschehen stürzt. Fokussier dich beim Fotografieren dennoch eher auf die Methodik, die du in Kapitel 3 ausführlich kennenlernst (ab Seite 77). Gehe zunächst vom Inhalt und nicht von der Form aus. Was ist es, das du erzählen möchtest? Warum ist es dir wichtig? Wenn du dir über das »Was« und das »Warum« klar geworden bist, kannst du dir – speziell in der Phase des Editings – immer noch Gedanken über das »Wie« machen und dir die passenden Werkzeuge suchen. Am Anfang kommt es darauf an, genügend abwechslungsreiches Bildmaterial zu sammeln.
Anknüpfend an die acht Reportagearten, die Michael Freeman vorstellt, haben wir die Kategorien etwas enger gefasst und an W-Fragen ausgerichtet:
Wer?
Es geht um Menschen (oder Tiere), die etwas tun oder erleben. Die Geschichte wird entlang der Protagonisten erzählt. Ziel ist es, ihr Wesen und ihren Charakter herauszuarbeiten.
Wo?
Auch ein Ort mit seiner eigenen Atmosphäre kann zum Thema einer Reportage werden.
Was?
Menschen sind beteiligt. Entscheidender ist aber die Tätigkeit, der Gegenstand einer Handlung oder das Ergebnis eines Prozesses. Auch die Art und Weise, wie etwas gemacht wird, kann in den Mittelpunkt des Interesses rücken.
Abschließend noch der Hinweis: Reportagen können sehr zeitintensiv sein. Der Umfang ist nicht klar definiert. Wo fängst du an? Was bildest du ab? Wo hörst du auf? Diese Fragen kannst nur du beantworten. Finde das richtige Maß. Geh mit realistischen Erwartungen an die Aufgabe heran. Hast du nur eine Chance oder gibt es die Möglichkeit, noch einmal zurückzukehren? Es ist ein Unterschied, ob du zwei Stunden, einen Tag, eine Woche oder ein Jahr für deine Reportage zur Verfügung hast.
Diese Entscheidungen zu treffen und die kreative Freiheit als Chance zu begreifen, ist deine Aufgabe als Geschichtenerzähler. Vertraue deinem Instinkt. Tauch ein ins Leben. Beobachte, interpretiere, reflektiere. Und such dir dann die richtige Erzählform.
»I think the best stories always end up being about the people rather than the event, which is to say character-driven.«
Stephen King
Menschen interessieren sich für Menschen. Deswegen sind Geschichten mit starken Charakteren auch die, die uns am meisten in ihren Bann ziehen. Von der Kommunikationsexpertin Petra Sammer stammt der Satz: »Glatt ist unglaubwürdig. Storys brauchen Ecken und Kanten.«5
Was damit gemeint ist: Menschen, denen alles gelingt und die sich nie bewähren müssen, sind langweilig. Menschen, die beim Überwinden von Hindernissen hinfallen, sich blaue Flecken holen und dennoch immer wieder aufstehen, sind indes deutlich spannender. Wir wollen mitleiden und mitfiebern. Emotionen und Menschen, die diese zeigen, sind die Würze packender Geschichten.
1–2Mildes Lächeln, stoppeliger Bart und faltige Hände: Der Körper dieses Kubaners erzählt Geschichten und verrät viel über seine Erfahrungen und Erlebnisse. (KB)
Im Rahmen einer Reportage gilt es, den Protagonisten in all seinen Facetten darzustellen. Ziel ist es, ein möglichst vollständiges Profil einer Person zu zeichnen. Die Herausforderung besteht darin, den Charakter visuell zum Ausdruck zu bringen. Wie kann das gelingen?
Gibt es markante Eigenschaften an der Person? Ist das Gesicht vom Alter gezeichnet? Oder strahlt es frische Jugendlichkeit aus? Schau genau hin. Wie wirkt der Körper des Menschen vor deiner Kamera auf dich?
Trägt die Person Ohrringe, Brille, Halsketten, Piercings oder Uhren? Ist der Schmuck dezent oder markant? Solche Accessoires geben Hinweise auf den Geschmack deiner Protagonisten und darauf, ob sie eher schrill oder schüchtern sind.
1–3Kunsthandwerk um die Hüfte: Dieser argentinische Gaucho trägt traditionellen Silberschmuck am Gürtel. (KB)
Wie wir uns kleiden, verrät viel über unseren Charakter oder über die Stimmung, in der wir uns gerade befinden. Bunt und fröhlich? Oder grau und unauffällig? Stilvoll oder pragmatisch? Passend oder bewusst gegen den Strom?
1–4Gegensätze: Wer mit Weste und Krawatte samt Krawattennadel auf eine Demonstration geht, möchte möglicherweise aus der Menge hervorstechen. (TJ)
Es gibt Menschen, die kommunizieren mit Händen und Füßen. Sie unterstreichen ihre Worte mit ausdrucksstarken Gesten. Achte auch auf die Mimik. Was zeichnet sich im Gesicht ab?
1–5Gestenreich: Auf seinen Stock gestützt, erklärt dieser Nordire, wie es dazu kam, dass sein Grundstück zum Drehort der Kultserie Game of Thrones wurde. (KB)
Wo befindet sich die Person? Kontext ist wichtig. Was kann die Umgebung zur Charakterisierung beitragen?
1–6Zu jedem Gaucho gehört ein Pferd: Dieser Argentinier sitzt vor dem Stall. Auch wenn sein Vierbeiner nicht im Bild ist, wird der Bezug dennoch durch den Steigbügel hergestellt. (KB)
1–7Bei Umgebungsporträts geht es nicht nur darum, zusätzliche Informationen ins Bild zu bekommen. Manchmal macht es auch Sinn, Elemente nicht mit ins Bild zu nehmen. In diesem Fall das Poster an der Wand hinter dem Mann am Fenster. Durch eine tiefere Perspektive gelingt es, diese Ablenkung zu beseitigen. (KB)
Reportagen mit Menschen im Zentrum sind meist zeitintensiv. Der Charakter entfaltet sich langsam. Nicht alle Eigenschaften sind auf Anhieb sichtbar. Oft sind es auch Gegensätze oder Widersprüche, die eine Geschichte richtig ins Rollen bringen. Zu glatt ist öde. Kein Mensch ist perfekt. Deshalb identifizieren wir uns auch eher mit Menschen, die Fehler nicht kaschieren.
Die Grenzen zu anderen Reportagearten sind nicht klar gezogen. Sie sind in alle Richtungen durchlässig. Die Perspektive und Herangehensweise unterscheiden sich allerdings. Dazu ein Beispiel: Wenn du deinen Partner beim Kochen fotografierst, kannst du den Prozess in seinen unterschiedlichen Schritten darstellen – sprich ein Making-of machen. Dann wäre die Geschichte, wie aus einzelnen Zutaten eine leckere Mahlzeit entsteht. Wenn du den Menschen allerdings in den Mittelpunkt der Reportage rückst, zeigst du, mit wie viel Sorgfalt er das Gemüse schnippelt, wie konzentriert sein Gesichtsausdruck ist oder welche Kleidung er trägt.
Etwas abstrakt, aber dennoch denkbar: Nicht nur Menschen oder Tiere, auch Gegenstände können zu Protagonisten deiner Reportage werden. Zu einigen Dingen entwickeln wir eine starke emotionale Beziehung und assoziieren gar Charaktereigenschaften mit ihnen. Steht bei dir vielleicht ein schmucker Oldtimer in der Garage? Statt dich als stolzen Besitzer in den Fokus zu rücken, kannst du auch den Wagen porträtieren.
Die blank polierte Karosserie, das edle Interieur, glänzende Armaturen, gepflegte Ledersitze. Abwechslungsreiche Motive gibt es reichlich. Totale, Halbtotale, Nahaufnahme, Sequenz – die Methodik der Reportagefotografie, um die es in Kapitel 3 ab Seite 79 geht, lässt sich auch hier wunderbar anwenden. Alles ist eine Frage der Perspektive, aus der heraus du deine Geschichte erzählst.
WEINLESE ALEX
Alex Saltaren Castro stammt aus Kolumbien. Nach dem erfolgreichen Abschluss einer Sommelier-Schule in Buenos Aires kam er 2014 nach Oestrich-Winkel im Rheingau. Dort machte er eine Ausbildung zum Winzer. Neben seiner Arbeit im Weingut Peter Jakob Kühn bewirtschaftet er seit 2020 drei gepachtete Weinberge, in denen er seine naturnahe Philosophie des Weinmachens umsetzt.
1–8Worauf muss geachtet werden? Welche Trauben werden aussortiert? Bevor es zur Lese in den Weinberg geht, stimmt Alex die Gruppe ein. Für ihn ist es ein besonderer Moment: Wird alles klappen? Die Nervosität ist ihm anzusehen.
1–9Auf geht’s: Mit der Bütte auf dem Rücken startet Alex im Herbst 2020 zur ersten Lese seines eigenen Weins. Die Anspannung weicht nun der Vorfreude auf einen leckeren Jahrgang.
1–10Die Trauben in der kleinen Parzelle im Mittelheimer Sankt Nikolaus (Oestrich-Winkel) sind reif. Die 30 Jahre alten Rebstöcke stehen nur wenige Meter vom Rheinufer entfernt auf sandigem Löss und kalkhaltigem Lösslehmboden.
Alle Fotos: KB
1–11Mit Freunden im Weinberg: Bei strahlender Sonne werden die Trauben vom Rebstock geschnitten. Der Schweiß fließt, aber alle genießen die gemeinsame Zeit bei der Arbeit.
1–12Mit viel Sorgfalt prüft Alex die Qualität der Trauben und schneidet diejenigen heraus, die nicht seinen Ansprüchen genügen.
1–13Die Trauben werden zunächst in einem kleinen Eimer gesammelt.
1–14Wenn die kleinen Eimer voll sind, werden sie in die große Bütte entleert.
1–15Mit einem Transporter werden die Trauben zur Pressung ins Weingut gebracht.
1–16Zurück zu traditionellen Methoden: Der Wein wird mit Muskelkraft in einer restaurierten Korbkelter gepresst.
1–17Der erste Jahrgang reift im Fass: Edilia ist der Name von Alex’ Großmutter, die eine prägende Rolle während seiner Kindheit gespielt hat. Es ist sowohl eine Hommage an sie als auch eine Anspielung auf die Geschichte der »Pachamama« (Mutter Erde), einer Göttin der indigenen Völker seiner Heimat Lateinamerika. »La Pachamama« schenkt uns das Leben, sie schützt und nährt uns und gibt uns ein Zuhause – genau wie die Großmutter Edilia es tat, als Alex klein war.
AUFGABE
»Ein Tag, eine Woche im Leben von …«: Setz dir einen zeitlichen Rahmen als Gerüst für deine Reportage und begleite eine Person. Zeig nicht nur, was sie tut, sondern auch, wie sie es tut. Arbeite den Charakter in all seinen Facetten heraus. Gerade weil diese Art der fotografischen Studien sehr zeitintensiv sind, bietet es sich an, Menschen zu begleiten, mit denen du ohnehin oft und lange zusammen bist – sprich Familie, Freunde und Bekannte. Ein Beispiel: Konzentrier dich beim nächsten Besuch der Großeltern darauf, wie diese mit ihren Enkelkindern agieren. Leuchten Omas Augen, wenn sie den Kleinen beim Spielen zuschaut? Vergisst Opa seine Arthrose in den Knien und krabbelt auf dem Boden durchs Wohnzimmer? Du kannst daraus auch ein langfristiges Projekt machen.
Ein Ort kann ebenfalls zum Protagonisten werden. Um eine große Wirkung zu entfalten, braucht eine Reportage nicht immer die (unmittelbare) Präsenz von Menschen im Bild. Menschen können eine Haupt- oder Nebenrolle spielen. Bei der Ortsreportage rücken oft die von ihnen hinterlassenen Spuren in den Mittelpunkt. Sie verleihen der Umgebung eine ganz besondere Aura. Diese gilt es, visuell sicht- und spürbar zu machen.
Ein möglicher Ausgangspunkt für eine Ortsreportage wäre die folgende Frage: Wie wurde ein Ort durch menschliches Handeln verändert bzw. geprägt? Wie äußert sich das?
Konkret könntest du früh morgens auf den Marktplatz in deiner Stadt gehen, wenn die ersten Händler anfangen, ihre Stände aufzubauen. Die Uhrzeit und der klar definierte Radius stecken den Rahmen der Reportage ab. Jetzt geht es darum, die Atmosphäre, Stimmung, Aktivitäten etc. einzufangen, die du dort fühlst und beobachtest.
Ein breiterer Ansatz wäre, sich auf einen bestimmten Aspekt zu konzentrieren. Du könntest zum Beispiel eine Reportage über öffentliche Parks in deiner Stadt machen. Oder einen typischen architektonischen Stil darstellen. Wie sehen die Türen und Fenster aus? Das wiederum kannst du geografisch eng oder weit fassen – beschränkt auf die ganze Stadt, auf ein bestimmtes Viertel oder nur eine Straße. Lass deiner Fantasie freien Lauf und folg deinen Sinneseindrücken. Jeder Ort verfügt über eine eigene Ausstrahlung, die sich in Licht und Farben visuell darstellen lässt.
Aus diesem Ansatz lässt sich gut ein Projekt entwickeln, an dem du fortlaufend arbeiten kannst. Auch im Urlaub. Ein weiterer Vorteil: Wenn du mal keinen Einfall hast, was du fotografieren sollst, fokussier dich einfach auf dein Serienthema. Du wirst merken, wie schnell du die kreativen Blockaden löst und wie viele spannende Details du entdeckst.
VALPARAISO: DIE PERLE AM PAZIFIK
Valparaiso. Schon im Namen der chilenischen Hafenstadt schwingt Musik und Fernweh mit. Dem Pazifik zugewandt, verzaubert sie mit ihrer Lage. Steile Hügel, die man mit Seilbahnen erklimmen kann. Dazu farbenfrohe Häuser, die die ankommenden Schiffe beim Einlaufen fröhlich willkommen heißen. Ein Labyrinth aus engen, verschlungenen Gassen, in dem dich hinter jeder Ecke ein neuer Ausblick auf die Stadt und das Meer erwartet. Dem rauen Charme von Valparaiso ist man schnell erlegen. Die Vergangenheit ist dabei auf Schritt und Tritt präsent. Auf Mauern und Fassaden erzählen kunstvolle Malereien von der wechselvollen Geschichte der 300.000 Einwohner zählenden Stadt. Ein allgegenwärtiger Kontrast zwischen Gestern und Heute. Diesen zu zeigen, war Ziel dieser Reportage. (Alle Fotos: KB)
MARADONA-WANDBILDER IN BUENOS AIRES
Auf dem Rasen war Maradona für viele Fußballfans der beste Spieler aller Zeiten. Ohne Ball allerdings oft eine tragische Figur, die den Versuchungen des Ruhms nie widerstehen konnte. Drogen, Affären, Alkohol oder Steuerhinterziehung. Diego Maradona polarisiert. Doch trotz aller Skandale ist und bleibt er ein Nationalheld in seiner Heimat Argentinien. Die »Hand Gottes« hatte immer auch eine sehr menschliche Seite. Die Trauer war riesig, als er am 25. November 2020 im Alter von 60 Jahren starb. Ein ganzes Land weinte. Heute lebt Maradona nicht nur in den Herzen der Argentinier weiter, sondern auch an den Fassaden vieler Häuser in Buenos Aires. Bei einem Spaziergang durch die argentinische Hauptstadt kann man die verschiedenen Stationen des genialen Mittelfeldspielers noch einmal Revue passieren lassen. Von den Anfängen bei den Argentinos Juniors, dem Wechsel zu den Boca Juniors, seinen Husarenstreichen im Dress der Nationalelf bei der Weltmeisterschaft 1986 in Mexiko, als er die Selección im Endspiel gegen Deutschland zum Titel führte, bis hin zu seiner unglücklichen Rolle als Nationaltrainer. Ein Leben wie ein Film. Die entscheidenden Szenen daraus lassen sich als Wandbilder bewundern – und als Thema für eine Reportage nutzen. (Alle Fotos: KB)
BIOT: DIE WAHRE GELASSENHEIT SÜDFRANKREICHS
Jeder Ort hat eine ganz eigene Ausstrahlung. Etwas, das ihn ausmacht und von anderen unterscheidet. Das südfranzösische Örtchen Biot zum Beispiel liegt malerisch auf einem kleinen Hügel. Viele Gässchen sind nicht mit dem Auto befahrbar. Was einerseits für die Bewohner eine logistische Hürde darstellt, wenn sie mit vollen Tüten vom Einkaufen kommen, trägt andererseits zur entspannten Atmosphäre bei. Hektik hat keinen Platz in Biot. Zwischen Kopfsteinpflaster und altem Mauerwerk ranken Pflanzen und sorgen für Farbtupfer. Wer doch ein bisschen mehr Trubel möchte, geht auf den zentralen Platz, um den herum es zahlreiche Cafés und Boutiquen gibt. Biot, ein beschaulicher Ort, der zum Schlendern und zur Entschleunigung einlädt. Hier sind es die kleinen Dinge, die verzaubern. Dieses Gefühl zu vermitteln, war Anlass für diese Reportage. (Alle Fotos: KB)
AUFGABE
Eine Stadt, ein Verein: Fußballfans markieren gerne ihr Revier. Je größer und leidenschaftlicher die Anhängerschaft eines Vereins in einer bestimmten Stadt ist, umso deutlicher wird sich das auch im öffentlichen Raum zeigen. Garagentore in den Farben des Vereinswappens, Fahnen im Vorgarten – oder Sticker an Verkehrsschildern und Straßenlaternen. Wenn du Fußballfan bist, schau dich auch mal vor Ort bei dir um: Wo ist dein Lieblingsklub im Stadtbild sichtbar? Was ist am Spieltag vor dem Anpfiff los, wenn Tausende von Fans zum Stadion ziehen? Und wie sieht es dort aus, wenn die Partie vorbei ist? Ein Beispiel findest du am Ende des Buches in den Gastbeiträgen: Thomas Winter hat aus seinem Projekt über Borussia Mönchengladbach ein Buch gemacht: Spuren in der Stadt (siehe Kapitel 11 ab Seite 300). Die Straße, in der du lebst: Erkunde einen der Orte, der dir am vertrautesten ist. Die Straße, in der du wohnst. Der Kern der Aufgabe liegt darin, im bekannten Umfeld Neues zu entdecken.Handlungen eignen sich hervorragend als roter Faden für eine Reportage. Du kannst darstellen, wie etwas entsteht. Im Rahmen einer Making-of-Reportage steht das (greifbare) Ergebnis einer Tätigkeit im Vordergrund.
Bei dieser Art der Reportage geht es darum, jemanden bei einer Tätigkeit, der Herstellung eines Produktes, einer Ware oder eines Gegenstandes zu begleiten. Der Fokus liegt auf dem Prozess. Die Fragen lauten:
Wie entsteht etwas? Wie wird etwas gemacht?
Welche Arbeitsschritte sind nötig?
Welche Werkzeuge kommen zum Einsatz?
Welche Zutaten oder Rohstoffe werden verarbeitet?
Idealerweise kannst du die Entstehung von Anfang bis Ende dokumentieren. Bei komplexeren Prozessen ist das jedoch nicht immer möglich. Wo du zeitlich mit der Reportage ansetzt, kann also fließend sein. Konzentrier dich dann auf einen Teilaspekt.
Bei dieser Reportageart gibt es viele Nuancen. Auch die Tätigkeit an sich, die eine – oder auch mehrere Personen – ausführt, lässt sich visuell darstellen. Ein klassisches Beispiel dafür ist die Sportreportage. Sieg oder Niederlage stellen in gewisser Weise zwar ebenfalls ein Ergebnis dar. Wichtiger ist aber die Aktion, die dazu geführt hat – Dribblings, Zweikämpfe, Fouls oder technische Kabinettstückchen. Begleite deine Kinder zum Training oder nimm die Kamera mit zu Punktspielen.
Auch eine Aktivitätsreportage könnte sein, dass du dich der Arbeit in Organisationen, Parteien, Verbänden, Betrieben oder Vereinen widmest. Allerdings liegt der Fokus dort nicht auf einer einzelnen, klar definierten Tätigkeit, sondern auf den Abläufen und Prozessen als Ganzes. Die Abgrenzung zur Menschenreportage ergibt sich zudem aus der Vielzahl der beteiligten Personen.
1–18Arbeitsteilung: Während einer der Arbeiter das Treppengeländer aus Stahl bearbeitet, schaut ihm der Kollege über die Schulter und steht mit Rat und Tat zur Seite. (TJ)
1–19Heute aus dem Wahlkampf nicht mehr wegzudenken: Selfies mit den Wählern. (TJ)
DER BARBIERE VON VENTIMIGLIA
Spontane Reportage in Italien. Dieser kleine Barbershop in Ventimiglia gehört Giuseppe Franco. Er war so freundlich, uns in seinem Laden seine Arbeit dokumentieren zu lassen. Eine kleine Reportage dieser Art macht aus einer zufälligen Begegnung, bei der nur ein Schnappschuss entsteht, eine kleine Geschichte, die auch für sich selbst stehen kann. (Alle Fotos: TJ)
ECONOMY STAINLESS – VERBORGEN IN BROOKLYN
In einer Seitenstraße Brooklyns liegt der kleine Betrieb Economy Stainless. Jeden Tag auf dem Weg zur U-Bahn sah ich die Männer am offenen Tor Treppengeländer aus Stahl schweißen und bearbeiten. Obwohl keiner von ihnen Englisch und ich kein Spanisch spreche, konnte ich sie mit Händen und Füßen davon überzeugen, eine kleine Fotostrecke bei ihnen in der Werkstatt fotografieren zu dürfen. (Alle Fotos: TJ)
AUFGABE
Handwerker, Künstler, Landwirte: Wer produziert etwas in deiner näheren Umgebung? Bei wem bist du vielleicht schon Kunde? Frage den örtlichen Schuhmacher, ob du ihm in seiner Werkstatt mit der Kamera über die Schulter schauen darfst. Oder gibt es eine Milchbäuerin in der Nähe, die selbst Käse herstellt?
Jedes Thema lässt sich auf vielfältige Weise erzählen. Überleg dir genau, für welche du dich entscheidest – und zieh es dann konsequent durch. Verlier nicht den Fokus.
Wie das in der Praxis aussieht, zeigen wir dir anhand des nachfolgenden Beispiels. Wir beide leben in traditionellen Weinanbaugebieten. Der eine im Rheingau (Kai), der andere in der Nähe von Esslingen (Thomas). In den vergangenen Jahren haben wir uns auf vielfältige Art und Weise damit beschäftigt, wie aus Trauben edle Jahrgänge reifen.
Fortgeschrittenen Fotografen gelingt es, aus dem gleichen Bilderpool zu einem Thema mehrere Reportagearten umzusetzen. Es ist alles eine Frage der Erzählperspektive, die du durch gezieltes Editing umsetzt.
1–20Generationen: Bei diesem Bild könnte es sich um eine allgemeine Reportage zum Thema »Weinanbau« handeln, aber auch um eine Geschichte des Generationswechsels in einem Weingut. Abgebildet sind hier Vater und Sohn bei der gemeinsamen Arbeit im Weinberg. (TJ)
Wir sehnen uns nach einer Vielfalt an Möglichkeiten. Wenn wir die Wahl haben, fühlen wir uns zunächst frei. Doch mit jeder weiteren Option fällt es uns paradoxerweise oft schwerer, eine Entscheidung zu treffen. Wenn wir auf A setzen, bleibt der Zweifel, ob B, C oder D nicht doch besser gewesen wären. Als Geschichtenerzähler müssen wir lernen, uns zu fokussieren. Je schwammiger wir mit unseren Bildern kommunizieren, desto unverständlicher wird unsere Botschaft für das Publikum.
Wir haben dir im vorangegangenen Kapitel zahlreiche Optionen aufgezeigt, aus welchen unterschiedlichen Blickwinkeln du Geschichten erzählen kannst. Nun bist du an der Reihe. Was machst du aus deinem gesammelten Material?
AUFGABE
»Mein Heimatort«: Betrachte dein näheres Umfeld mit der »Reportage-Brille«. Orientier dich an den vorgestellten Reportagearten. Such dir eine Variante aus und entwickle daraus ein Reportage-Idee. Du kannst auch Varianten kombinieren. Die Grenzen sind fließend, wie du bemerkt hast.»Wir backen!«: Oftmals wird nur das Ergebnis des Backens festgehalten, nicht aber der Prozess selbst. Und seien wir doch mal ehrlich: Das Backen selbst macht doch auch großen Spaß und sollte dokumentiert werden. Wenn du und deine Familie das nächste Mal den Backofen anwerft, schnapp dir deine Kamera und mach eine Making-of-Reportage.»Mein bester Freund oder meine beste Freundin«: Wir alle haben diese Menschen im Leben, hinter denen oftmals eine unglaubliche Geschichte steckt. Es lohnt nachzufragen und diese Geschichten und die Menschen darin in Bildern festzuhalten.»Great work is always the result of great labor.«
Garry Winogrand
Darauf, wie wichtig die Auseinandersetzung mit berühmten Fotografen ist, gehen wir noch ein, wenn es um die Entwicklung deines eigenen fotografischen Stils geht (siehe Kapitel 4, »Finde deine Erzählstimme«, ab Seite 107).
An dieser Stelle möchten wir den Vorhang schon ein bisschen lüften und dir einige große Meister mit der Kamera vorstellen. Zu jeder der gerade vorgestellten Reportagearten haben wir einen passenden Vertreter herausgesucht. Andere wiederum sind Grenzgänger.
Tauch ein in ihr Leben und Werk – und erfahr, was du von ihnen lernen kannst. Die Besten zu ignorieren, wäre ein großer Fehler, wie David Hurn betont: »Photographers should actively look for ideas, attitudes, images, influences from the very best photographers. You cannot learn in a vacuum. The whole history of photography is a free and open treasure trove of inspiration. It would be masochistic to deny its riches and usefulness.«6
Es geht nicht darum, einen bestimmten Stil zu kopieren. Doch wir sind der Meinung, dass die Beschäftigung mit anderen Ideen, Herangehensweisen und Biografien zentral für die Entwicklung eines eigenen Stils ist. Bei allen Unterschieden ist den Meistern eins gemein: Sie alle vertiefen sich mit voller Hingabe und Energie in ihre Arbeit. Wie schon der US-amerikanische Komiker und Broadway-Star Eddie Cantor richtig erkannt hatte: »It takes years to make an overnight success.«
»Fotografieren bedeutet, den Atem anzuhalten, wenn alle Fähigkeiten zusammenkommen, um die flüchtige Realität einzufangen. Genau in diesem Moment wird das Meistern eines Bildes zu einer großen körperlichen und intellektuellen Freude.«
Henri Cartier-Bresson
In dem Essay-Band Der Augenblick der Fotografie7 beschreibt der Autor John Berger ein kurzes Treffen mit Henri Cartier-Bresson. Die beiden unterhalten sich über das Wesen der Fotografie. Dabei verrät der legendäre französische Fotograf und Mitbegründer der Agentur »Magnum Photos« einige bemerkenswerte Details über seinen kreativen Prozess bei der Suche nach Motiven.
Henri Cartier-Bresson liefert unter anderem eine Erklärung dafür, was er mit »entscheidendem Moment« meint. Ein Begriff, den er selbst prägte und damit nichts weiter meint als »das Drücken des Auslösers zur richtigen Zeit«8. Klingt banal – oder? Dennoch ist die Feststellung ebenso richtig wie komplex.
Natürlich verbirgt sich hinter der einfach klingenden Definition von Henri Cartier-Bresson eine Menge mehr. An erster Stelle steht, dass du überhaupt in der Lage sein musst, den richtigen Moment zu erkennen und die Kamera bereit zum Auslösen zu haben. Die gute Nachricht ist, dass sich der fotografische Blick so schulen lässt, dass du den entscheidenden Moment kommen siehst oder zumindest erahnst.
Kein Zweifel, viele großartige Fotos sind das Resultat von spontanen, unvorhersehbaren Momenten, die sich vor der Linse des jeweiligen Fotografen abgespielt haben. In solchen Fällen ist eine Mischung aus Glück und flinken Händen der Schlüssel dafür, das flüchtige Geschehen einzufangen, bevor die Szene vorbei ist. Das gilt besonders für Streetfotografie und Reportagefotografie. Andererseits kannst du dich auf scheinbar lautlos vorbeihuschende Augenblicke vorbereiten, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, diese doch einzufangen.
Instinkt ist bis zu einem bestimmten Grad trainierbar. Zuallererst kannst du dich mit einem Ort im Vorfeld vertraut machen. Wenn du eine Umgebung entdeckst, die sich aus deiner Sicht als Bühne eignet, solltest du so viele Informationen wie möglich sammeln, bevor du überhaupt die Kamera in die Hand nimmst. Nutz deine Fantasie. Du wirst feststellen, dass es unendlich viele Möglichkeiten gibt, dem »entscheidenden Moment« auf die Sprünge zu helfen oder ihn sogar ein Stück weit zu kontrollieren.
Für die Komposition eines Bildes entscheidende Elemente sind Licht, Farbe, Form, Linien oder Texturen. Sie lassen sich wunderbar vorab analysieren, damit du dich im richtigen Moment auf das Drücken des Auslösers konzentrieren kannst. Wenn du spannende Orte gefunden hast, brauchst du nichts weiter zu tun als zu warten, bis sich alle Elemente im perfekten Moment fügen. Geduldig, wie eine Spinne im Netz.
Du siehst, dass es nicht immer einzig darum geht, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Glück und Zufall heißt jeder gute Fotograf natürlich willkommen. Allein davon abhängig ist er aber nicht. Außerdem gehört ein hohes Maß an Instinkt dazu, um herausragende Bilder zu machen. Es ist möglich, deinen fotografischen Blick so zu trainieren, dass du in der Lage bist, den »entscheidenden Moment« zu antizipieren – auf einer unterbewussten Ebene.
Es erfordert viel Übung, um diese Fähigkeit zu entwickeln. Aber es lohnt sich. Du wirst sehen, wie sich die Qualität deiner Fotos mit der Zeit deutlich verbessert. All deine Erfahrungen fließen in deine Aufnahmen ein – oder wie es Henri Cartier-Bresson in einem Interview mit John Berger ausdrückte: »Nothing is lost. All that you have ever seen is always with you.«9
Henri Cartier-Bresson betont die Bedeutung von Disziplin und kontinuierlichem Training des Auges. Jede Erfahrung und jedes Foto, das du machst, unterstützt den langen und niemals endenden Prozess hin zu einem eigenen und unverwechselbaren fotografischen Stil. Das Gute daran: Du musst nicht einmal immer eine Kamera zur Hand haben.
Ob in der U-Bahn, auf der Straße oder in Gesellschaft von Freunden – egal, wo du bist, versuch deine Umgebung fotografisch zu sehen. So, als würdest du mit deinen Augen durch den Sucher einer Kamera schauen.
Welchen Ausschnitt würdest du wählen?
Wann würdest du den Auslöser drücken?
Das ist ein spannendes Experiment, das dir dabei hilft, Motive um dich herum zu erkennen. Stelle dir immer wieder die Frage: Wie würde das aussehen, wenn ich davon ein Foto machte?
Das Leben von Meisterfotograf Henri Cartier-Bresson war reich an extremen Erfahrungen: Er streifte als Jäger durch den Dschungel, litt als Kriegsgefangener und gründete 1947 gemeinsam mit Robert Capa, David Seymour und George Rodger die mittlerweile legendäre Foto-Agentur »Magnum Photos«. Aber auch der Alltag ist reich an wundervollen Augenblicken, wie Henri Cartier-Bresson anhand zahlloser Beispiele zeigen konnte. In jedem Moment steckt etwas Zauberhaftes. Die Fotografie ist ein Werkzeug, dies zu erkennen und festzuhalten.