6,99 €
Es begann vollkommen harmlos. Pat hatte Mrs. Trefoile nie getroffen, aber ihre Briefe entsprachen genau dem, was man von einer älteren Dame der besseren Gesellschaft erwarten durfte. Die Einladung, ein paar Tage bei ihr zu verbringen, hatte allerdings einen dezenten Anflug von Dringlichkeit.
Wie hätte Pat - diese warmherzige, charmante junge Amerikanerin - ahnen können, dass sie im Begriff war, eine hilflose Gefangene im Traum einer Wahnsinnigen zu werden?
Anne Blaisdell ist eines der Pseudonyme der US-amerikanischen Schriftstellerin Elizabeth Linington (* 11. März 1918 in Aurora, Illinois; † 05. April 1988 in Arroyo Grande, Kalifornien).
Mit Blut geschrieben erschien erstmals im Jahr 1961; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1962. Der Roman wurde für den Edgar-Allan-Poe-Award nominiert.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
»Von der ersten Seite dieses Buches an wusste ich, dass dies genau das Richtige für mich ist - diese Mischung aus Schrecken und englischer Behaglichkeit. Ich habe das Buch an einem einzigen Abend durchgelesen... ein wirklich großartiger Thriller!«
- Nancy Hale
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
ANNE BLAISDELL
Mit Blut geschrieben
Roman
Apex Crime, Band 117
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
MIT BLUT GESCHRIEBEN
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Es begann vollkommen harmlos. Pat hatte Mrs. Trefoile nie getroffen, aber ihre Briefe entsprachen genau dem, was man von einer älteren Dame der besseren Gesellschaft erwarten durfte. Die Einladung, ein paar Tage bei ihr zu verbringen, hatte allerdings einen dezenten Anflug von Dringlichkeit.
Wie hätte Pat - diese warmherzige, charmante junge Amerikanerin - ahnen können, dass sie im Begriff war, eine hilflose Gefangene im Traum einer Wahnsinnigen zu werden?
Anne Blaisdell ist eines der Pseudonyme der US-amerikanischen Schriftstellerin Elizabeth Linington (* 11. März 1918 in Aurora, Illinois; † 05. April 1988 in Arroyo Grande, Kalifornien).
Mit Blut geschrieben erschien erstmals im Jahr 1961; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1962. Der Roman wurde für den Edgar-Allan-Poe-Award nominiert.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
»Von der ersten Seite dieses Buches an wusste ich, dass dies genau das Richtige für mich ist - diese Mischung aus Schrecken und englischer Behaglichkeit. Ich habe das Buch an einem einzigen Abend durchgelesen... ein wirklich großartiger Thriller!«
- Nancy Hale
Der Regen allein wäre ja noch nicht so schlimm gewesen. Aber der stürmische Westwind peitschte ihn pfeifend gegen die Scheiben und in weißen Schwaden vor ihr über die Straße, so dass die Sicht beinahe so diesig wie bei Nebel war. Es war ein mühsames Vorwärtskommen.
Pat verringerte die Geschwindigkeit in einer Kurve abermals. Aufs Neue verwünschte sie es, dem albernen Gefasel des Alten in Clun Glauben geschenkt zu haben. »Das Wetter ist nur hier so, Miss - Sie werden sehen, nach wenigen Kilometern ist es schon wieder ganz klar.« Nur hier so! Oh! Langsam, aber stetig, hatte es sich verschlechtert. An das Gasthaus durfte sie überhaupt nicht zurückdenken. Wenn sie sich ausmalte, wie sie jetzt dort vor einem gemütlichen Kaminfeuer sitzen, heißen Tee trinken und herrliche, frische Muffins dazu essen könnte! Hätte sie geahnt, was für eine Fahrt durch den böigen Regen ihr bevorstand, noch dazu auf unbekannten Straßen, würde sie nach ihrem späten Mittagessen in Clun geblieben sein. Zum Teufel, diese Einheimischen sollten ihr Land doch wirklich gut genug kennen - welchen Sinn hatte es, durchreisenden Fremden mutwillig kindische Lügen zu erzählen! Fremden, die zuvorkommend genug waren, diese merkwürdige kleine Insel zu besuchen.
Beim Gedanken an die großzügige Versicherung des Alten, die sie wahrscheinlich dem Umstand zu verdanken hatte, dass sie Amerikanerin war - seinem Bestreben, sie davon zu überzeugen, dass es in England nicht ausschließlich regnete knirschte sie mit den Zähnen. Sie verwünschte die schmalen, verzweigten Straßen... Du lieber Himmel, drei Fahrbahnen nebeneinander bezeichneten sie hierzulande schon als Autobahn! Ihr fiel ein, oh, ja, wie unmöglich es war, irgendwo eine anständige Tasse Kaffee zu bekommen. Die eigentümlichen Hotels, in denen es auf jeder Etage nur ein einziges Bad gab! Diese unverständliche Währung, die sich willkürlich auf Einheiten von zwölf und zwanzig aufbaute, statt, wie es logisch gewesen wäre, auf dem Dezimalsystem. Eiswasser schien hier vollkommen unbekannt zu sein. Und nicht zuletzt diese stupide Bestimmung, dass man auf der verkehrten Straßenseite zu fahren hatte. In ihrem Grimm gingen ihr der Reihe nach all diese verdrehten und lästigen Eigenarten der Engländer durch den Kopf. Diese Angewohnheiten, die sie so grundlegend von den Amerikanern unterschieden. Und über die sich auch schon jeder Amerikaner, der einmal in England gewesen war, je nach Mentalität beklagt oder lustig gemacht hatte.
»Oh, diese Engländer!«, seufzte Pat erbittert auf. Die Scheibenwischer taten tapfer ihre Pflicht, aber sie vermochten nur wenig gegen diese Sintflut auszurichten. Zugegeben, es hatte sie niemand gezwungen, auf den alten Bauerntölpel zu hören. Es war ihr eigener Entschluss gewesen weiterzufahren. Sie hatte es einfach hinter sich bringen wollen. Nun, es war eben nicht zu ändern. Außerdem war der heutige Tag der erste, der die Freude dieser Ferienreise trübte, die Pat schon so lange ersehnt und vorausgeplant hatte. Wie dem auch immer war, bald würde sie es geschafft haben. Und so schlimm war ja alles auch wieder nicht.
Eines musste man den Engländern allerdings lassen - sie verstanden es, Autos zu bauen. Liebevoll glitten ihre Finger am Steuerrad ihres Jaguars entlang. Er war ein Luxusauto, zweifelsohne. Und die Fracht nach den Staaten, ungefähr so hoch wie der Zoll, war auch nicht unbeträchtlich. Aber andererseits brauchte sie sich nun auf Jahre hinaus keinen neuen Wagen anzuschaffen. Und außerdem - ein zwingender Grund, ihre Extravaganz zu entschuldigen - hatte sie sich immer schon einen Jaguar gewünscht. Und jetzt besaß sie das Geld dafür.
Im Moment hatte es keinen Sinn - wie war doch die Redensart -, wider den Stachel zu locken. Sie hatte bisher wunderschöne Tage verlebt. Als einzige düstere Wolke hatte der Besuch bei Stephens Mutter über ihrem Haupt geschwebt. Es war ein Vergnügen gewesen, den Jaguar zu fahren. Und das Wetter war die ganze Zeit während ihrer gemächlichen Trödelei von London bis hier traumhaft schön gewesen. Sie hatte sich nicht gehetzt, einmal weil sie nur einfach spazieren fahren wollte, alles sehen, alleine, ohne Zwang oder Erläuterungen. Und dann, weil sie sich erst an die englische Fahrweise gewöhnen musste. Inzwischen hatte sie den Dreh heraus und war mächtig stolz auf sich selbst. Nach drei Wochen war dies das erste Mal, dass sie mit irgendwelchen Unannehmlichkeiten zu kämpfen hatte. Wozu also jammern! Es war nun einmal nicht zu ändern. Aber trotz- und alledem würde sie am nächsten Ort, der so aussah, als ob er ein annehmbares Gasthaus hätte, haltmachen.
Das Traurige war nur, dass es bisher keinerlei Anzeichen dafür gab, dass bald eins kommen würde. Die ganzen letzten fünfundzwanzig Kilometer, während der Regen sich in einen Wolkenbruch verwandelte, war keins mehr zu sehen gewesen. Seit Clun musste sie ungefähr hundert Kilometer zurückgelegt haben. Und jetzt befand sie sich irgendwo in Brecknockshire. Das wusste sie, aber das war auch alles. Sie hatte das ungute Gefühl, irgendwo von der Hauptstraße abgekommen zu sein: Selbst die rückständigen Engländer konnten dies doch wohl kaum als Straße erster Ordnung bezeichnen! Oder etwa doch? Pat hatte die Karte, wie meist, nur höchst oberflächlich studiert. Sie wollte England nicht in einer Reihe von Gewalttouren durchqueren: Heute muss ich bis Tunbridge kommen, heute bis zum Mittagessen in Truro sein. Wenn sie etwas entdeckte, was sie interessierte, hielt sie an, und notfalls übernachtete sie eben dort. So war sie oft Nebenstraßen entlanggefahren.
Vor etwa acht Kilometern hatte sie bei einem Wegweiser angehalten, aber obwohl sie sich schier den Hals verrenkte, war es ihr unmöglich gewesen, durch den Platzregen etwas zu entziffern. Auszusteigen, und wie eine nasse Ratte wieder unter die Menschheit zu treten, verspürte sie nicht die geringste Lust. Die zwei Hüte, die sie besaß - einen derben für schlechtes Wetter und einen zum Kirchgang -, waren in ihrem Gepäck im Kofferraum bestens verstaut. Nein, nicht Kofferraum, in diesem unbegreiflichen Englisch nannte man das ja - Gepäckkasten.
Sie verließ sich - wie übrigens auch Alice - darauf, dass schließlich alle Straßen irgendwohin führen müssen. Sie hatte ja schon in der Schule gelernt, dass sich die englische Landschaft aus Ortschaften zusammensetzt, die höchstens zehn Kilometer voneinander entfernt liegen. Nur zu Hause, in Amerika, konnte man einen ganzen Tag lang fahren, ohne etwas anderes als Kühe und Kornfelder zu sehen.
Immerhin war sie seit dem letzten Dorf gute fünfundzwanzig Kilometer gefahren. Einen Augenblick hatte sie überlegt, ob sie anhalten sollte - obwohl der Regen noch nicht so Sintflut-ähnliche Ausmaße angenommen hatte wie jetzt. Aber es war ein schmutziges, unbeschreiblich winziges Dorf gewesen, und das einzige Gasthaus hatte nicht sehr verlockend ausgesehen.
»Man soll niemals aufgeben!«, sprach sie sich laut Mut zu. »Es wird schon bald ein anderes Dorf kommen.« Dort würde sie absteigen, immer vorausgesetzt, dass sie auch aufgenommen würde.
Pat kam entsetzlich langsam voran, im Fünfundzwanzig-Kilometer-Tempo. Sie fuhr mit eingeschaltetem Licht. Trotz ihres dreiwöchigen Trainings neigte sie immer noch dazu, nach rechts auszuweichen, wenn irgendetwas unerwartet vor ihr auftauchte. Und als jetzt ein dunkler Schatten drohend aus dem diesigen Nebel aufragte, bog sie seitlich aus, trat auf die Bremse und würgte den Motor ab, wie ein blutiger Anfänger.
Der Schatten entpuppte sich als ein anderer Wagen, der unbeweglich am Straßenrand stand. Pat kurbelte das rechte Seitenfenster herunter. Eine Panne?
Eine ungewisse dunkle Masse kam aus dem dunklen ungewissen Umriss des Wagens hervorgekrochen. Sie hörte die Tür zuknallen.
Dicker, feuchter Nebel drang durch das Fenster herein und schlug ihr ins Gesicht; er schmeckte salzig und nach grünen Wäldern und Wiesen. »Gott sei Dank!«, sagte der dunkle Schatten. »Eine menschliche Gestalt in dieser Einöde. Ich hoffe zumindest, dass Sie kein Geist sind? Oho, ich beglückwünsche mich - ein Jaguar! Ich scheine einem Vertreter der oberen Zehntausend in die Hände gefallen zu sein, nicht einem gewöhnlichen Mitglied der breiten Masse in einem M. G. oder Hillmann.«
»Haben Sie eine Panne?«, fragte Pat. »Und das bei diesem Wetter! Am besten steigen Sie ein, und ich nehme Sie mit bis zum nächsten Ort.« In den Staaten würde man gezögert haben, solch eine Aufforderung auszusprechen, aber in England war es wahrscheinlich vollkommen ungefährlich. Außerdem hatte die Stimme wie die eines gebildeten Mannes geklungen.
Er tastete an der Tür herum, dann schob er sich hastig auf den Nebensitz. »Und von einer Dame gerettet! Es sieht so aus, als ob ich heute einen Glückstag hätte. Seit einer Stunde warte ich in dem alten Kasten und bete, dass jemand hier vorbeikommen möge. Meine eigene Schuld - man hat mich gewarnt, dass die Batterie schwach ist. Aber von Motoren verstehe ich nicht das Geringste. Wenn der Wagen stehenbleibt, steige ich aus und gehe zu Fuß. Aber nicht zu Zeiten der Sintflut. Ich bin Ihnen zu ewigem Dank verpflichtet.«
»Nicht im geringsten«, erwiderte Pat und ahmte seine manierierte Sprechweise nach. »Ich werde Ihnen im Gegenteil zu unauslöschlichem Dank verpflichtet sein, wenn Sie mir verraten können, wo wir uns augenblicklich befinden. Ich habe das ungute Gefühl, von der Hauptstraße abgekommen zu sein.«
»Oh, Sie sind Amerikanerin! Ja, das kann ich Ihnen sagen - ich pflege nämlich Landkarten zu lesen. Dies ist eine Nebenstraße, und wir sollten acht bis zehn Kilometer von einem Ort namens Tregarth entfernt sein. Ich bitte um Entschuldigung, ich hätte mich schon lange vorstellen sollen - mein Name ist Alan Glentower.«
Pat hatte den Wagen inzwischen gestartet, jetzt ließ sie die Kupplung kommen und gab langsam Gas. Während sie nach dem Schalthebel griff, sah sie den Mann namens Glentower von der Seite an. »Tatsächlich? Man stelle sich vor! Einen berühmten Mann wie Sie so einfach aus einem Wolkenbruch aufzulesen. Ich bin Pat Carroll.«
»Guten Tag«, sagte Glentower düster. »Wenn Sie mich jetzt um ein Autogramm bitten, schreie ich.«
Pat lachte. »Dazu bin ich im Augenblick viel zu beschäftigt. Außerdem habe ich mir Ihr Buch gar nicht gekauft, sondern nur geliehen, um ehrlich zu sein.«
»Eine aufrichtige Amerikanerin«, meinte Glentower. Er war klatschnass, sogar von den wenigen Schritten von einem Wagen zum andern. Der Jaguar schien plötzlich geschrumpft zu sein, seit er neben ihr saß. »Es ist sozusagen eine Art Maßstab für meine geistige Einstellung, wenn ich Sie bitte, nicht über mein Blich mit mir zu reden. Die meisten Schriftsteller sind egoistische Dummköpfe. Im Allgemeinen genießen wir solche Sachen. Aber ich habe es mehr als satt, zu hören, wie gut Tom, Dick und Harry das Buch gefallen hat.«
»Aber mir hat es gefallen!« Die Zauberinsel war wirklich ein ausgezeichnetes Buch, wenn man gründlich fundierte, gutgeschriebene und spannende geschichtliche Romane liebte; und das taten eine Menge Leute.
»Nun ja, es hat mir eine Menge Geld gebracht«, sagte der Mann an ihrer Seite. »Die finanzielle Seite der Angelegenheit macht mir Spaß. Aber immer und immer wieder kommen Reporter und wollen Interviews für den Rundfunk und das Fernsehen haben. Und dann diese grauenhaften Tees zu Ehren des bekannten Autors. Die Cocktail-Parties, die nur arrangiert werden, damit man stundenlang lächelnd Autogramme zu verteilen hat. Wie die meisten Schriftsteller liebe ich es nicht, die Menschen en masse zu genießen. Die wenigsten von uns sind brillante Redner, wissen Sie. Und wir sind schüchtern und zurückhaltend, wenn wir es auch nicht gern zugeben. Eine - ambivalente Situation, wie man so sagt. Vorsicht! Sie kommen zu dicht an den Zaun!«
»Was meinen Sie mit ambivalent?«
»Nun, wie ich schon betonte, sind wir alle Egoisten. Die Idee, über uns selbst zu sprechen, ist immer sehr verlockend für uns, aber gleichzeitig diese entsetzliche, lähmende Schüchternheit! Ich bin dem allen einfach entflohen. Ich habe ihnen wichtigtuerisch erklärt, dass ich verreisen müsste, um an Ort und Stelle Eindrücke für ein neues Buch zu sammeln - was natürlich Unsinn ist. George hat mir gesagt, dass die ganze verdammte Bande tief beeindruckt war.« Er hatte einen angenehmen Bariton.
»Ist das da vorn ein Licht?«, fragte Pat. »Ich glaube, ja.«
»Tatsächlich! Gott sei Dank! Ich rieche die Muffins direkt schon«, meinte Glentower verträumt. »Und eine Menge Tee. Aber zuerst nehmen wir einen Drink.«
»Das klingt wundervoll!«
Noch fünf Minuten, die sich endlos dehnten, und der unbestimmte Schein verwandelte sich in einzelne verstreute Lichter. Ein winziges Dorf. Pat fuhr langsamer, starrte durch die verschmierte Scheibe und hielt nach einem Gasthaus Ausschau.
»Hier, das sieht ganz so aus - ja, es ist eins, da ist ein Schild. Und es hat sogar ein Dogtrot! Wie schön! Da werden wir nicht einmal nass!«
»Was, um Himmels willen, ist ein Dogtrot?«
Sie lachte. »Oh, Verzeihung! Eine Einfahrt!«
»Nun, ich bin sowieso schon pudelnass. Ich frage mich nur, warum ich meinen Koffer nicht mitgenommen habe.«
Ihr Zufluchtsort sah recht ansprechend aus. Pat hielt im Schutz des Torbogens an, sie stiegen aus und gingen hinein.
In der erleuchteten Eingangshalle stellte Pat fest, dass Glentower das lebendige Ebenbild der Photographie auf dem Schutzumschlag seines Buches Die Zauberinsel war - groß, sehr schlank, dunkelhaarig, mit einem humorvollen, zerfurchten Gesicht, einer Adlernase und schwarzen, buschigen Augenbrauen. Er nahm seinen Hut ab, ein uraltes, verwittertes Ding. Dabei kam sein dichtes, struwweliges Haar zum Vorschein.
»Von einer Göttin errettet«, stellte er fest, nachdem er sie betrachtet hatte. »Also nochmals, guten Tag!«
Dann tauchte ein Hausbursche, oder so etwas Ähnliches - gab es heutzutage denn überhaupt noch welche? - in der Halle auf. Glentower erklärte ihm, dass er mit seinem Wagen liegengeblieben sei. Woraufhin ihm der Bursche eifrig versicherte, dass Tom Shipley bestimmt Bob hinschicken würde, um den Wagen wieder flott zu machen. Gegen einen entsprechenden Zuschlag, versteht sich, da es ja jetzt nach Feierabend sei. Falls der Herr beabsichtige, diese Nacht noch weiterzufahren...
»Nein, sicher nicht«, unterbrach ihn Glentower mit Nachdruck. »Jedenfalls nicht, wenn es möglich ist, hier zu übernachten. In diesem Fall, Miss Carroll - Miss ist doch richtig? - erlaube ich mir, Sie zum Tee und zum Abendessen einzuladen.«
»Ich fürchte, es sieht eher so aus, als ob beides zusammenfiele!«, meinte Pat mit einem bedeutsamen Blick auf die Uhr auf dem Kaminsims. Es war bereits zehn vor sechs.
Sie erkundigten sich beim Wirt nach den Übernachtungsmöglichkeiten und wurden herzlich willkommen geheißen. Selbstverständlich waren Gastzimmer vorhanden und frei. Martha wurde sofort losgeschickt, die Betten zu richten. Auf Glentowers Frage nach einem Sherry erhielt Betty entsprechende Anweisung und eilte davon, während aus dem rückwärtigen Schankraum vernehmlich nach Jenny gerufen wurde. »Genug Personal scheinen sie jedenfalls zu haben«, murmelte Glentower. Pat bat den Hausdiener, ihr Gepäck aus dem Wagen zu holen. Dann ging sie ins Bad in der ersten Etage hinauf, um sich nach der langen Fahrt etwas frisch zu machen. Das etwas knapp bemessene Badezimmer war offensichtlich erst nach Fertigstellung des übrigen Hauses nachträglich abgeteilt worden.
Als sie wieder herunterkam, ging sie in die Schankstube hinüber. In dem großen, holzgetäfelten Raum saßen nur drei oder vier Männer. Glentower hatte einen Tisch in der Nähe des Kamins ausgewählt, in dem ein mächtiges Feuer gemütlich knisterte, und goss ihr sofort einen Sherry ein. Pat seufzte wohlig auf, setzte sich bequem in ihrem lederüberzogenen Lehnstuhl zurück und nippte genussvoll an ihrem Glas.
»Und was machen Sie in England? Herumreisen und Sehenswürdigkeiten besichtigen?«
»Ja, und zwar ganz allein und auf eigene Kosten«, nickte sie. »Vielleicht ist diese ganze Reise nicht gerade sehr vernünftig von mir. Denn es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass ich ein zweites Mal in meinem Leben etwas erben werde. Aber diesmal war mein Legat ganz beachtlich - zehntausend Dollar, von einer Großtante. Und jetzt bin ich dabei, alles auf einmal in Bausch und Bogen auszugeben. Ich habe es mir immer schon gewünscht, einmal ganz allein kreuz und quer die Britischen Inseln zu durchstreifen. Vor ungefähr einem Monat bin ich angekommen und zunächst eine Woche in London geblieben, um meinen Wagen zu kaufen - später will ich noch einmal dorthin zurück und es mir in Ruhe ansehen.«
»Das klingt wundervoll. Es gibt Landstriche, die ich auch noch nie gesehen habe - vielleicht folge ich eines Tages Ihrem Beispiel.«
»Zuerst bin ich nach Gloucester gefahren, weil meine Großmutter da geboren wurde - aber jetzt wohnen keine Verwandten mehr dort. Ich glaube, ich habe überhaupt keine lebenden Verwandten mehr, nachdem jetzt auch noch meine Tante gestorben ist - meine Eltern sind schon vor zehn Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und seitdem bin ich bei meiner Tante aufgewachsen. Nun gut, nach Gloucester habe ich mir Stafford ein wenig angeschaut und mich dann westwärts gewandt. Jetzt bin ich auf dem Weg nach Cardigan, um dort jemand zu besuchen. Sie sehen, es geht alles ein wenig im Zickzack! Und anschließend habe ich vor, durch ganz Wales bis nach Cornwall hinaufzufahren und dann die Küste entlang bis zur Ostseite hinüber. Ich habe so viel Zeit zur Verfügung wie ich will - ich reise, solange mein Geld reicht. Alle sagen, ich wäre verrückt, meine gute Stellung aufzugeben - ich arbeite seit beinahe fünf Jahren in einer Bank - und all mein Geld auf diese Weise durchzubringen. Aber ich bin da anderer Meinung! Ich finde es sinnlos, jahrelang zu sparen und erst auf Reisen zu gehen, wenn man zu alt ist, um es zu genießen. Wenn man womöglich Arthritis oder irgendwelche chronischen Herzbeschwerden oder sonst etwas hat.«
Er musste lachen. »Ich finde, dass Sie sehr klug gehandelt haben - toujours gai, wie man so sagt. Man kann nie wissen - entweder man legt sein ganzes Vermögen in Aktien an und verliert dabei alles auf einen Schlag, oder man wird beim Überqueren der Straße überfahren, ehe man Gelegenheit gehabt hat, den Gewinn auf den Kopf zu hauen. Haben Sie vor, sich länger in Cardigan aufzuhalten? Ich will nach Newcastle. Carmathen ist meine Heimatgrafschaft, ich könnte Sie dort ein wenig in der Gegend herumführen und Ihnen alles Sehenswerte zeigen. Sie sollten sich unbedingt die Kachelofen-Frauen ansehen und die Carmathen-Eiche - ach und was sonst noch alles.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, dankte Pat. »Ich bin - ehern, nur noch nicht so ganz sicher, wie lange ich bleiben muss. Du lieber Himmel, wie das klingt! Es ist nicht ganz so bös gemeint, aber - sehen Sie, es ist so eine Art Pflichtbesuch, den ich da vorhabe. In einem kleinen Ort namens Llandudno. Ich bin mit einem Engländer verlobt gewesen. Seine Mutter lebt dort. Stephen war bei der Royal Air Force, bei einer Art Testeinheit, die auf amerikanischen Stützpunkten stationiert war - so sind wir uns begegnet. Er ist vor fast einem Jahr bei einem Versuchsflug abgestürzt.«
»Oh, ich verstehe«, meinte Glentower voll Mitgefühl. »Solche Dinge können qualvoll sein. Alles wird noch einmal aufgewühlt. Sie müssen sich noch einmal grämen, und es wird auf sentimentale Weise immer wieder besprochen.«
Pat verzog das Gesicht. »Oh, ja, so stelle ich es mir auch vor. Aber es ist nun einmal nicht zu umgehen.«
Eines der Mädchen kam an ihren Tisch und erkundigte sich, ob sie kaltes Rindfleisch mit Bratkartoffeln oder Wurst und Eier zum Abendessen wünschten. Bei dem bloßen Gedanken an kalten Braten schüttelten sich beide und entschieden sich für Wurst und Eier.
»Sie haben mir zu viel Sherry auf nüchternen Magen zu trinken gegeben«, sagte Pat. »Ich habe viel zu viel von mir gesprochen.«
»Aber, keineswegs! Kommen Sie, trinken wir die Flasche aus. Es ist gerade noch für jeden ein Glas drin. Man kann zwar nicht gerade behaupten, dass der Sherry besonders gut wäre, aber er enthält immerhin ein wenig Alkohol. Wenn ich schon auf Reisen gehen muss, um meiner Publicity zu entfliehen, warum, um Gottes willen, bin ich dann nicht gleich bis nach Frankreich gefahren?«, fragte Glentower trübsinnig. »In französischen Gasthäusern hat man erheblich größere Aussichten, eine wirklich gepflegte Mahlzeit zu bekommen. Speziell in den Gebieten, wo Wein angebaut wird. Mir fällt da ein kleines Wirtshaus in der Nähe von Aurillac ein, Le Chat Noir heißt es Er seufzte tief und kummervoll.
Aber die Wurst war nicht schlecht, Hausmannskost, und das Omelett war schön leicht und goldbraun. Dazu gab es Kopfsalat, warmen Toast und reichlich frische Landbutter und hinterher eine vorzügliche Apfelpastete. Alles in allem konnten sie mit ihrem Domizil recht zufrieden sein.
Der Kamin wurde nachgelegt. Nach und nach flüchteten sich immer mehr Männer aus dem strömenden Regen in die warme Schankstube; das unvermeidliche Pfeilwurf spiel begann. Pat und Glentower saßen entspannt da, schläfrig von der Wärme und dem ausgiebigen Abendessen - ihre Unterhaltung geriet ins Stocken. Schließlich raffte Glentower sich auf und rekognoszierte die Bar. Er entdeckte eine ungeöffnete Cognacflasche und ließ sie sich vom Wirt aushändigen. »Das ist genau das Richtige, um einen solchen Abend gemütlich zu beschließen. Mein Gott, hören Sie bloß, wie es draußen gießt. Ich möchte nur wissen, ob Bob meinen Wagen wohl inzwischen abgeschleppt hat? Hoffentlich kommt irgendjemand auf die Idee, mir meinen Koffer hierherzubringen.«
Gegen neun erschien Bob mit dem Koffer. Mr. Shipley ließe sagen, richtete er aus, dass er eine neue Batterie einsetzen müsse. Es lohne nicht mehr, die alte noch mal aufzuladen.
»Na gut, setzen Sie eine ein. Können Sie das bis morgen schaffen?«
Bob sah ihn verachtungsvoll an. Das sei doch weiter keine Sache, erklärte er mitleidig, eine Batterie auszuwechseln. Natürlich wäre der Wagen bis morgen fertig. »Also schön, dann tun Sie das. Besten Dank! - Hier, das ist für Sie, trinken Sie ein Bier dafür... Verdammt noch mal!«, explodierte Glentower, zu Pat gewandt, »wieso muss ich denn unbedingt etwas von Autos verstehen, nur weil ich ein Mann bin? Warum, zum Teufel, hält das jedermann für selbstverständlich und sieht mich an, als ob ich ein Idiot wäre, wenn ich etwas Dummes sage? Das ist nun die Kehrseite der sogenannten Überlegenheit des starken Geschlechts!«
»Man hat es als Frau viel leichter«, stimmte Pat ihm zu. »Die Leute rennen sich ja förmlich gegenseitig um, nur um einem helfen zu dürfen.« Glentower gefiel ihr. Sie verspotteten sich gegenseitig und waren unbemerkt in einen unbeschwerten Ton verfallen, als ob sie schon jahrelang befreundet wären. Sie hatte inzwischen herausgefunden, dass er tatsächlich ein schüchterner Mann war, wie er vorhin selbst zugegeben hatte; seine kleinen Aufschneidereien und seine forcierten Meinungsäußerungen waren nur Tarnung. Er hatte einen bemerkenswerten Charme, wie ihn nur ganz wenige Leute besitzen. Man spürte, dass er sich selbst nicht zu wichtig nahm. Sie fühlte, dass er von Natur aus ein gutmütiger Mensch war, der sich nicht leicht mit jemandem anfreundete, sondern sich im Allgemeinen vor Menschen in sich selbst zurückzog. Er war ein Mann, der Herr über sich selbst war.
Die Cognacflasche war halb leer. Die Gäste verließen nach und nach die Bar. Die Polizeistunde rückte näher. Pat gähnte. »Ich glaube, ich gehe jetzt besser schlafen. Wenn es zu spät wird, finde ich morgen früh nicht aus dem Bett, und dann komme ich nicht in einem Tag bis Llandudno. Ich bin von der richtigen Straße abgewichen und muss hier viel zu südlich, schon fast in Glamorgan sein.«
»Oh, wenn es sich bis morgen aufklärt, schaffen Sie es bequem. Sagten Sie nicht, dass es irgendwo in der Nähe von Plynlimon liegt? Bis dahin dürften es knapp hundertfünfzig Kilometer sein.«
»Ja. Wenn nichts dazwischen kommt, könnte ich zum Mittagessen da sein... Also gut, noch ein Glas. Aber das ist das unwiderruflich letzte.«
Glentower schenkte ihr ein. »Sehen Sie«, begann er plötzlich unvermittelt, während er sein eigenes Glas füllte, »Sie brauchen doch nicht länger als ein paar Tage bei der alten Dame zu bleiben! Ich fahre nach Newcastle, um mir dort in der Gegend ein paar Häuser anzusehen - ich habe mir schon immer ein Haus in Carmarthen gewünscht, und jetzt habe ich das Geld, um mir eins zu kaufen. Heute haben wir Donnerstag, nicht wahr? Wollen Sie mich, sagen wir, kommenden Donnerstag in Newcastle treffen? Bitte! - Im Schwarzen Löwen in der High Street. Er wird Ihnen gefallen - und ich fahre Sie dann ein wenig herum und zeige Ihnen alles Schöne.«
»Ein wundervoller Vorschlag! Ich würde es so gern tun. Nur - es ist einfach so, dass ich nicht weiß, wie schnell ich dort wieder fortkomme.« Pat trank einen Schluck. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen«, fuhr sie nach einer kleinen Pause fort, »wie ungern ich dort hinfahre.« Es kam so vieles zusammen - der gute Cognac, ihre warme, gemütliche Ecke am Kamin nach der anstrengenden Fahrt durch den Regen, ein eigenartiges Gefühl der Vertrautheit mit diesem Mann, den sie doch erst vier Stunden kannte -, all das löste ihr ein wenig die Zunge. »Ich habe die Vorstellung, dass sie eine recht schwierige Frau sein muss. Natürlich hat sie mir schon Briefe geschrieben - als ich mich verlobte, und als Stephen abgestürzt war. Es waren sehr steife, formelle Briefe. Sie ist entsetzlich fromm.«
»Sie Ärmste!«, sagte Glentower mitfühlend.
»Ach ja, ich fürchte, es wird mühsam werden. Stephen hat mir nie viel von ihr erzählt. Aber irgendwie habe ich aus dem wenigen, was er gesagt hat, den Eindruck gewonnen, als ob er - nun, als ob er irgendwie vor ihr fortgelaufen wäre. Verstehen Sie, wie ich das meine? Er war...« Sie brach ab und zögerte; nein, es war unmöglich, sie konnte sich doch nicht mit Glentower über Stephen unterhalten. Das wäre nicht anständig gewesen, wirklich nicht. Sie konnte doch unmöglich zu ihm sagen: Ich würde Stephen letzten Endes niemals geheiratet haben. Armer Stephen. Stephen, der so beängstigend schwerblütig gewesen war - so ernsthaft und verinnerlicht -, sie fand keine anderen Worte, um ihn zu beschreiben. Schon bevor er starb, war sie langsam zu der Überzeugung gekommen, dass ihr Empfinden für ihn mehr Mitleid war als etwas anderes. Es war ein - ein mütterliches Gefühl gewesen, das sicherlich nicht für eine wirklich gute Ehe ausgereicht haben würde. »Sein Vater starb, als Stephen noch ein Baby war, und ich glaube, dass sie - wie Mütter es in solchen Fällen meistens tun - ihn zu sehr umhegt und zur Unselbständigkeit erzogen hat, wissen Sie. Er war das einzige, was ihr geblieben war...«
»Oh, ja, ich verstehe. Das macht es jetzt noch komplizierter für Sie.«
»Das Schlimme ist, dass sie weiß - ich habe ihr gleich geschrieben, als ich wusste, dass ich reisen würde -, dass sie weiß, ich habe genug Zeit. - Sie weiß, dass es nichts gibt, was mich drängt und weswegen ich meinen Besuch bei ihr abkürzen müsste. Vielleicht wird sie«, fügte Pat nachdenklich hinzu, »mich gar nicht so lange dabehalten wollen - weil ich sie zu sehr an ihn erinnere. Aber ihr Brief klang gar nicht danach. Er hörte sich vielmehr so an, als ob sie erwarte, dass ich mich für ein Weilchen bei ihr niederließe und gemeinsam mit ihr ganz in Ruhe jede Phase seines Lebens noch einmal vorbeiziehen lassen würde. Sie erwähnte da irgend so etwas, wie: Der walisische Sommer ist vom Juni bis zum September märchenhaft schön, und ich freue mich schon auf die vielen, ausgiebigen Unterhaltungen mit Dir.«
»Herrjeh!«, stöhnte Glentower.
»Es ist sehr hässlich von mir, mich so darüber lustig zu machen, nicht? Die alte Dame tut mir ehrlich leid! Und ich habe Stephen auch keineswegs vergessen, oder - oder irgend so etwas. Aber es war im letzten Jahr schon vorbei. Ich bin - versuchen Sie mich zu verstehen, bitte -, ich bin inzwischen damit fertiggeworden... Ich fürchte, dass es sehr schwierig werden wird, bestimmt. Aber vielleicht kann ich entfliehen, indem ich sage, dass ich noch einmal zurückkomme. Und kann es dann mit Briefen im Sande verlaufen lassen. Oder ich schiebe Sie als Entschuldigung vor, indem ich vorgebe, dass ich mich mit irgendjemand verabredet habe, der nur zu diesem Zeitpunkt aus London fort kann. Also gut, sagen wir nächsten Donnerstag in Newcastle. Und tausend Dank. Und jetzt gehe ich unwiderruflich zu Bett. Du lieber Gott, ich hoffe, dass es sich bis morgen früh aufklärt!«
Aber oben, in dem hohen, kalten Schlafzimmer musste sie, während sie zu Bett ging, an Stephen Trefoile denken. Wie schon so oft in den letzten Wochen. Es war immer leichter, Dinge objektiv zu betrachten, wenn man einen gewissen Abstand gewonnen hatte. Und wenn sie jetzt an ihre Verlobungszeit mit Stephen, die drei Monate gedauert hatte, zurückdachte, ernüchterte und beunruhigte es sie zugleich.
Nein, sie hatte schon, bevor er abstürzte, eingesehen, dass sie ihn niemals heiraten könnte. Wenn er nun aber nicht gestorben wäre, würde sie dann töricht genug gewesen sein, ihn zu heiraten, nur weil sie nicht die Kraft besaß, ihn zu verletzen? Armer Stephen! Er war ihr immer wie ein kleiner Junge vorgekommen, der unwissentlich einen Fehler gemacht hat, und fortwährend dafür um Entschuldigung zu bitten schien. Bis man ihn besser kannte, hielt man das für eine Art besonders anziehender Schüchternheit, für eine bestimmte Zurückhaltung. Aber nur so lange, bis man herausfand, dass sich hinter der Fassade des hochgewachsenen, schlanken, gutaussehenden jungen Mannes wirklich nur ein furchtsamer, kleiner Junge verbarg.
Er besaß nicht einen einzigen wirklichen Freund unter all den Kameraden, mit denen er zusammen im Einsatz stand. An seiner Tätigkeit, die irgendetwas mit der Ausarbeitung eines Nachrichtennetzes zu tun hatte, schien er nur sehr geringfügig interessiert zu sein. Als Pat seine Unreife und seine Mängel klar geworden waren, hatte sie zunächst Entschuldigungen dafür gesucht und gefunden. Er war nie auf eine öffentliche Schule gegangen, wie er sagte, sondern stets zu Hause unterrichtet worden; manchmal von dem Dorfpfarrer und ein anderes Mal von einem Privatlehrer. Aus diesen Erzählungen hatte sie geschlossen, dass seine Familie recht wohlhabend sein müsste. So hatte er also nie Gelegenheit gehabt, mit Gleichaltrigen zu spielen, hatte nie einen Begriff von Kameradschaft bekommen. Von seiner Mutter war er stets verzogen worden - oder hatte sie ihn nur einfach nie aus ihrer Gewalt lassen wollen? Jedenfalls war er - gefügig gewesen.
Aber sie konnte nicht immer weiter für alles eine Entschuldigung finden. Als er abstürzte, war sie gerade so weit gekommen, sich selbst einzugestehen, dass sie ihr Leben nicht an diesen schwachen und unfertigen Mann ketten konnte. Was sie jetzt quälte, war die Tatsache, dass sie schließlich einmal mit ihm verlobt gewesen war; impulsiv, ohne ihn lange genug zu kennen, hatte sie sich entschlossen und es aufrichtig gemeint. Sie war immer der Ansicht gewesen, dass sie keine jener Frauen war, die sich auf Grund ihres eigenen starken Willens zu schwächeren Männern hingezogen fühlen. Aber man konnte es wohl nie erklären, warum zwei Menschen zueinander- finden. Und Männer wie Stephen fühlten sich unwiderstehlich und unvermeidlich zu Frauen, die dominierend waren, hingezogen.
Es war kein schöner Gedanke! Pat musterte kritisch ihr Ebenbild in dem fleckigen Spiegel des Badezimmers und schnitt sich eine Grimasse. Sie sah gar nicht nach solch einer Frau aus, fand sie. Aber es stand diesen Frauen ja auch nicht unbedingt ins Gesicht geschrieben. Und dann stellte sie plötzlich fest, dass sie dabei war, diese Patricia Carroll lebhaft zu bewundern: ihre schlanke, zierliche und doch weich gerundete Gestalt, das wellige, glänzende dunkle Haar, ihren zarten Teint und die haselnussbraunen Augen. Und sie ertappte sich bei der Frage, ob Alan Glentower sie wohl ebenso anziehend finden würde wie sie selbst in diesem Augenblick.
Sie lachte. Ich muss auf Abwege geraten sein, dachte sie. Wenn ich schon dem Wahn verfalle, dass jeder Mann, der mir begegnet... Aber er ist nett. Ich mag ihn. Und allein deswegen, weil ich ihn aus dem Regen aufgelesen habe, wäre er ja nicht gleich verpflichtet gewesen anzubieten, mir die Gegend zu zeigen...
Wie es auch sein mochte, Pat, die sich erheblich älter und reifer vorkam, würde es sich sehr gründlich überlegen, ehe sie sich noch einmal verlobte. Obwohl sie andererseits fest davon überzeugt war, und von ganzem Herzen hoffte, dass sie es eines fernen Tages doch noch einmal tun würde. Denn sie war keineswegs eine jener Frauen, die ihr Leben damit verbrachten, ganz in irgendeinem öden Beruf aufzugehen. Aber ebenso wenig hatte sie die Absicht, irgendjemand zu heiraten, der sich nachher womöglich als genau solch ein Schwächling wie Stephen entpuppte.
Sie war immer überzeugt von ihrer Menschenkenntnis gewesen!
Aber was sollte das! Es war vorbei, abgeschlossen; und sie war auf dem Weg zu der alten Mrs. Trefoile. Sie würde ein paar Tage lang liebenswürdig, höflich und sentimental mit ihr sein. Und dann war sie frei und konnte ihre märchenhaften Ferien fortsetzen. Vielleicht einen kleinen Teil davon gemeinsam mit Alan Glentower.
Und eines Tages - vielleicht im nächsten Jahr oder im übernächsten - würde sie jemanden kennenlernen, der gerade zu ihr passte und würde heiraten und ein neues Leben beginnen. Ein wenig seltsam, mit siebenundzwanzig oder achtundzwanzig Jahren damit anzufangen... Pat ging zu Bett und schaltete das Licht aus. Sie musste achtgeben, nicht alles nur von ihrem eigenen Blickwinkel aus zu betrachten. Sie durfte nicht immer alle Entscheidungen nur allein treffen. Sie wusste, sie war ebenso selbständig wie Alan Glentower. Und auch aus dem gleichen Grund. Sie stand schon so lange allein da; denn Tante Tilda, die Lehrerin gewesen war, hatte ihre fünfzehnjährige Nichte, die nun einmal in ihrem Haus aufwuchs, wie einen erwachsenen Gast behandelt. Pat war während ihrer Schulzeit nicht allzu beliebt gewesen - sie hatte zu gut gelernt, zu gern gelesen und fast alle Sportarten ohne große Passion betrieben. Sie hatte zwei, drei Freundinnen gehabt, mit denen sie ihre eigenen Interessen teilte, und hatte sich mit ihnen abgesondert. Nach der Schule besuchte sie zwei Jahre lang das College und kam dann zur Bank.
Glentower hatte nicht viel von sich erzählt. Aber aus dem wenigen schloss sie, dass es ihm ähnlich ergangen sein musste. Er war, wie sie, einziges Kind gewesen, und, da er lange an den Folgen eines rheumatischen Fiebers gelitten hatte, erst mit zwölf Jahren auf eine öffentliche Schule geschickt worden. Und weil er ein stilles, nachdenkliches Kind war, seinem ganzen Wesen nach zurückhaltend, war er nicht der Typ, dessen Freundschaft von den anderen Jungs gesucht wurde. Er hatte flüchtig Cambridge erwähnt. Und irgendwann gesagt: Als ich beim Herald war..., also musste er Journalist gewesen sein. Da er nicht über den Krieg gesprochen hatte, war er vermutlich noch zu jung gewesen, ihn mitzumachen. Obwohl er wie fünfunddreißig aussah - aber diese dunkelhaarigen Männer mit ihren scharf geschnittenen Gesichtern hielt man ja häufig für älter als sie waren.
Es war wirklich albern von ihr... Es wäre bei Gott vernünftiger, endlich zu schlafen. Sie hatte morgen eine lange Fahrt vor sich. Wenn es so weiterregnete, wie im Augenblick, wäre es dann besser gewesen, weiterzufahren? Ja, wahrscheinlich - auch wenn es scheußlich war, und sie nicht sehr rasch vorwärts kommen würde. Aber sie fühlte plötzlich den dringenden Wunsch, Llandudno und Mrs. Trefoile erledigt zu haben. Sie sehnte sich danach, zu erfreulicheren Dingen überzugehen.
Mitten in ihren Überlegungen schlief sie über dem Rauschen des Regens ein.
Gott sei Dank, am Morgen hatte es sich aufgeklärt! Glentower war schon längst auf, als sie herunterkam. Er berichtete, dass man ihm seinen Wagen für neun Uhr versprochen hätte.
»Oh, dann fahre ich noch vor Ihnen ab. Ich will versuchen, bis zum Mittagessen da zu sein. Was für ein herrlicher Morgen, nach dem Regen!«
Sie frühstückten gemeinsam. Zunächst gab es dieselbe Wurst wie am vergangenen Abend. Dann wurde auf einem riesigen Holzteller etwas serviert, das von Glentower mit einem lauten Freudenschrei begrüßt wurde.
»Echte Wafers, bei Gott! Ich nehme alles zurück, was ich jemals an Nachteiligem über die Küche dieses reizenden Gasthauses gesagt habe. Es hat einen exzellenten Koch. Ich hätte nicht geglaubt, dass sich noch irgendjemand erinnert, wie sie gebacken werden.«
»Wieso! Ist das denn etwas Besonderes?«, fragte Pat mit zweifelerfüllter Stimme.
»Sie werden nach einem uralten Rezept zubereitet. Diese Wafers, wie wir diese Art Waffeln nennen, werden bei uns in England seit dem zwölften Jahrhundert gebacken. Versuchen Sie eine davon! Man isst sie wie Toast. Tun Sie sich noch etwas mehr Butter drauf, wenn sie auch - genau genommen - schon dick genug gestrichen sind. Sie brauchen nicht so misstrauisch zu sein. Unter dem vollkommen falschen Namen Waffle sind sie Ihnen bestimmt bekannt.«
»Oh, nein, Waffles sind etwas ausgesprochen Amerikanisches«, sagte Pat, während sie kostete. »Aber sie schmecken trotzdem ganz ähnlich.«
»Sie sind keineswegs eine amerikanische Erfindung. Die Mayflower hat eine stattliche Anzahl Waffeleisen über den Ozean getragen. Ihr habt da drüben ganz einfach nur das richtige Wort dafür vergessen und eure Waffeleisen zu groß gemacht. Achten Sie auf das eingepresste Karomuster! Das älteste Rezept, das mir über den Weg gelaufen ist«, erklärte Glentower wehmütig, »lautet folgendermaßen: Man nehme feines Weizenmehl, vermenge es mit sahnig gerührtem Eigelb, füge Gewürz hinzu und schlage alles gründlich; dann wärme man die Eisen
»Das klingt ganz, als ob Sie solch ein entsetzlicher Mensch, ein Gourmet wären«, stöhnte Pat. »Ich bin mir nicht so sicher, ob ich nach Newcastle kommen werde, wenn ich das so höre. Wenn Sie womöglich einer jener Männer sind, die vom Kochen mehr verstehen wollen als jede Frau. Einer, der sich lauter kleine Raffinessen selbst zubereitet.«
»Ich koche gar nicht selbst - ich bin das anerkennende Publikum.
Ich genieße und sammle die hervorragendsten Menüs. Glücklicherweise habe ich einen jener bevorzugten Körper, die einem erlauben zu essen, soviel man will: Ich nehme niemals ein Pfund dabei zu. Gewiss bin ich ein Feinschmecker. Bitte, reichen Sie mir doch noch einmal die Waffeln. Danke! Essen Sie nicht gerne gut?«
»Nicht in diesem Maße - ist es denn so wichtig, was man isst?«
»Du lieber Gott! Sie haben noch viel zu lernen. Hatte ich Ihnen nicht den Schwarzen Löwen empfohlen? Ja? Nun, dort werden Sie eine ausgezeichnete Quittencreme bekommen, wenn es auch ein modernes Rezept ist. Aber was sie ganz hervorragend zubereiten, ist Muschelragout. Dann muss ich Sie unbedingt nach Llanelly mitnehmen - da ist ein kleines Gasthaus. Der ertrunkene Mann heißt es, wo Sie noch richtigen, guten alten Haddyanegg bekommen können.«
»Du lieber Himmel! Was ist denn das?«
»Frischer Schellfisch, in Butter und Milch gedämpft, mit einem verlorenen Ei obendrauf. Das Ei muss im Sud des Fisches gekocht sein, sonst hat es nicht den ausgeprägten Geschmack.«
»Ich werde es mir merken. Aber jetzt muss ich starten. Wir können den Unterricht ja nächste Woche fortsetzen!«
Er begleitete sie zu ihrem Jaguar hinaus. Ganz plötzlich, als sie den Motor anließ, wurde er sehr ernst und eindringlich. »Also, vergessen Sie nicht, der Schwarze Löwe in Newcastle, nächsten Donnerstag. Ich warte dort auf Sie.«
»Ich vergesse es bestimmt nicht«, sagte Pat und sah lächelnd zu ihm auf. »Bis dahin.« Sie stellte bei sich fest, dass sie letzte Nacht doch nicht nur geträumt hatte: Er wollte sie tatsächlich gerne wiedersehen. Und sie hatte ihn gern. Oh, ja. Aber ihre instinktive Reaktion war: Nur nichts übereilen. Darum war ihr Lächeln nicht so strahlend, so glücklich, wie es hätte sein können, sondern lediglich liebenswürdig.
Er stand einen Augenblick, mit der Hand am Türgriff, da. »Also gut - abgemacht? Gute Fahrt!«, sagte er dann und trat zurück. Pat hob ihre Hand, winkte ihm das übliche Lebewohl zu und fuhr an.
Sie wandte sich heute fast genau in nördlicher Richtung; denn sie war gestern, als sie die falsche Straße erwischte, zu weit südlich abgekommen. Die frische Morgenluft war noch feucht vom gestrigen Regen. Die Sonne schien strahlend. Und sie kam gut voran. Zunächst bis Brecknock, wo sie nach Nordwesten auf die Grenze von Cardigan zu fuhr. Die Landschaft war nicht besonders abwechslungsreich. Vielleicht lag es nur an dem eigenartigen Licht heute, aber die Wiesen kamen ihr blass und farblos vor, und die Hügel - die sich zu ihrer Linken erhoben - liefen in monotonen Wellenlinien dahin. Ab und an sah sie vereinzelt grasende Schafe, die sich wie helle Tupfen von dem eintönigen Grau-Grün der Wiesen abhoben.
Als sie einige Kilometer hinter Brecknock wieder durch eine kleine Ortschaft kam, verlangsamte sie ihre Fahrt. Die Häuser standen weit auseinandergezogen, alte, verfallene Hütten, kahler, als sie sie irgendwo zuvor gesehen hatte, aber jede hatte einen winzigen Vorgarten. Eine Kirche mit hohem Turm und einem Pfarrhaus daneben. Ein Wirtshaus. Hier und da arbeitete eine Frau in ihrem Vorgärtchen, die sich aufrichtete und Pat müde nachblickte, als diese in ihrem funkelnden, knallroten Jaguar vorbeifuhr. Ein kleiner Junge starrte ihn mit dem sehnsüchtigen Ausdruck an, den die meisten kleinen Jungs beim Anblick blinkender Autos bekommen. Pat winkte ihm lächelnd zu. Sein kleines sommersprossiges Gesicht verzog sich zu einem strahlenden Grinsen.
Dann lag wieder das offene Land vor ihr. Auf Kilometer kein Ort mehr. So viel sie wusste, war Wales ein sehr einsamer Landstrich - sehr bäuerlich. Die gleichen grauen Silhouetten der Hügel wie vorher - und die gleichen farblosen Weiden.
Auf ihrem Tachometer stellte Pat fest, dass sie nahezu achtzig Kilometer gefahren war. Also musste sie sich bereits in Cardigan befinden. Die Landschaft hatte sich nicht verändert. Sie war durch einige Dörfer gekommen, alle winzig klein. Und wo die Straße sich langsam bergauf und über die Hügel wand, konnte sie in der Feme verstreute Bauernhöfe einsam daliegen sehen.
Und überall Schafe. Einmal war ihr auf der Straße eine ganze Herde entgegengekommen, von einem schwarzen Schäferhund wachsam umkreist und unter lautem Gebell vorangetrieben. Der Schäfer trottete gemächlich hinterher. Pat hielt an, weil sie wusste, wie dumm Schafe sich mitunter verhalten, und ließ sie an sich vorbeiströmen. Der Schäfer berührte dankend seinen verwitterten Hut, und sie lächelte zurück.
Es war bereits elf Uhr; auf den ungewohnten, kurvigen Straßen kam sie nicht so schnell voran wie zu Hause. Außerdem fand sie das Linksfahren immer noch ziemlich mühsam. Als sich vor ihr wieder eine Ortschaft ausbreitete, entschied sie, dort Rast zu machen und sich zu orientieren. Eventuell würde sie eine Tasse Tee trinken und sich etwas ausruhen.
Das Dorf hieß Rhydor, erklärte ihr der Wirt in seinem singenden walisischen Akzent, an den sie sich nun schon fast gewöhnt hatte. Oh, ja, natürlich befand sie sich hier bereits in Cardigan. Sie wollte also in den Norden, ins Gebirge hinauf, ja? Sie hatte sich für die Fahrt ein herrliches Wetter ausgesucht. Er fand es nett, einmal einer Amerikanerin zu begegnen, die sich die Zeit und Mühe nahm, bis nach Wales hinein zu fahren. Die meisten amerikanischen Touristen kamen nicht über die Midlands hinaus, oder sie machten einen kurzen Tagesabstecher, um sich die Seelandschaft anzuschauen. Das war dann alles, was sie von Wales kennenlernten.