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Warum lieben Leser allerorten Brunetti wie einen Freund, mit dem man durch dick und dünn gegangen ist? Wohl weil er ebenso Philosoph ist wie Polizist. Unermüdlich versucht er seine Mitmenschen zu verstehen. Als Italiener, Genießer und Familienmensch glaubt er an das gute Leben, trotz aller Widernisse und Schurken um uns her. Dieses Buch versammelt die besten Gedanken des bekanntesten, klügsten und sympathischsten Commissario: ein abc der Lebenskunst.
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Seitenzahl: 196
Mit Brunetti durchs Leben
Brevier für nachdenkliche Optimisten
Herausgegeben von Gabriella Gamberini Zimmermann
Diogenes
Wer würde nicht davon träumen, Brunetti im berühmten Caffè Florian zu begegnen?
Lassen wir diesen Traum wahr werden.
Das Hinterzimmer des Florian – ohne Blick auf den Markusplatz – ist mit seinen alten, goldgerahmten Spiegeln genau der richtige Ort für ein Gespräch über Gott und die Welt. (Brunetti kommt auch gerne hierher, wenn er fernab von der Questura Zeugen entspannt befragen möchte.)
An ebendiesem Ort lädt dieses Buch, liebe Leserin, lieber Leser, Sie ein, für einmal die Rollen zu tauschen. Nun sind Sie an der Reihe. Stellen Sie Brunetti alle Fragen, die Sie ihm schon immer stellen wollten. Er gibt Ihnen Antworten darauf, ebenso weise wie witzige. Diese sind aus den dreißig Fällen herauskristallisiert, die der Commissario bisher gelöst hat, und alphabetisch angeordnet: Brunettis Weisheit von A bis Z.
In seiner langen Laufbahn hat der Commissario so mancherlei erlebt: Drogendeals und Morde, Erwachsenenadoption und sterbende Bienen, Kunstraub und Blutdiamantenschmuggel. Und dennoch: Trotz all der Verbrechen versucht Brunetti unbeirrt, sich den Glauben an das Gute zu bewahren und ein gutes Leben zu führen. Als sorgfältiger Leser der Klassiker folgt der Commissario dem Beispiel seines Lieblingsphilosophen Marc Aurel und erweist sich als warmherziger Stoiker.
Nehmen Sie Platz auf den roten Samtsofas des Florian, um dem Kenner des menschlichen Herzens in aller Ruhe zu lauschen. Kosten Sie seine Erkenntnisse genüsslich aus, die Ihnen bei der Verbrecherjagd womöglich entgangen sind.
In seiner dreißigjährigen Dienstzeit ist der weltweit bekannteste Polizist nicht nur Paola treu geblieben, sondern auch seinen eigenen Werten und Idealen.
Bei einem Espresso gibt er Einblick in seine geheimsten Gedanken. Wir entdecken ihn als Italiener, Venezianer, Genießer und nicht zuletzt als Familienmensch. In originellen Stimmungsbildern fängt er seine Heimatstadt ein und erinnert sich an seine besten Gespräche mit Paola.
Die Idee zu diesem Buch kam mir, als ich Brunetti ins Französische zu übersetzen begann. Eine spannende Aufgabe, die mir neue Horizonte erschloss: Als Zugereiste sah ich Venedig mehr und mehr mit Brunettis Augen und vermochte hinter die Kulissen der Serenissima zu blicken. Das größte Geschenk aber waren seine unvergesslichen Aussprüche, die mich seitdem auf Schritt und Tritt begleiten, wenn ich in der schönsten Stadt der Welt unterwegs bin.
Dieses Buch ist ein Schatzkästlein. Es enthält Brunettis kostbarste Gedanken zum Hineinschnuppern. Es bietet dreißig Bücher in einem, wobei die zitierten Fälle jeweils mit Kapitel und Seite vermerkt sind. Es möchte eine Hommage sein an diesen vielbewunderten Mann und seine vielbewunderte Stadt.
Gabriella Gamberini Zimmermann
Einmal war Paola bei einem Spaziergang stehen geblieben und hatte Brunetti gefragt, woran er gerade denke, und die Tatsache, dass sie der einzige Mensch auf der Welt war, dem gegenüber es ihm nicht peinlich war, es laut auszusprechen, überzeugte ihn, wie schon tausend andere Dinge zuvor, dass sie die Frau war, die er heiraten wollte, die er heiraten würde.
Venezianische Scharade 5/57–58
Brunetti überlegte, ob sie eine Tertullian-Ausgabe im Haus hatten und er nachher im Bett ein wenig darin lesen sollte. Aber dann müsste er seine momentane Lektüre beiseitelegen, La guerra bianca, eine Geschichte des Dolomitenkriegs, in dem sein Großvater gekämpft hatte, was ihn gereut hätte. Dann doch lieber die gusseiserne Dummheit des Generals Cadorna, der elf aussichtslose Schlachten am Isonzo geschlagen hatte, der die Idee der alten Römer wiederaufgriff und jeden zehnten Mann eines Bataillons, das einem Kampf ausgewichen war, hatte hinrichten lassen, der General, der für nichts und wieder nichts eine halbe Million Männer in den Tod geführt hatte. Brunetti fragte sich, ob es Paola trösten würde, dass Cadornas Grausamkeit fast nur Männer zum Opfer gefallen waren, kaum Frauen. Wahrscheinlich nicht.
Tod zwischen den Zeilen 5/63–64
Einige Stunden später kündigten die Sirenen das erste acqua alta dieses Herbstes an, verschärft durch eine heftige Bora, die von Nordosten hereinwehte.
Ausgerüstet mit Schirm, Hut, Stiefeln und Regenmantel erschien ein missmutiger Brunetti in der Questura, wo er nach eigener Schätzung una brutta figura abgab, als er am Eingang stehen blieb und sich schüttelte wie ein Hund sein nasses Fell. Hinterher blickte er sich um und sah, dass das Wasser mindestens einen Meter weit in jede Richtung gespritzt hatte. Schweren Schrittes und ohne nach rechts oder links zu schauen, stieg er die Treppen zu seinem Büro hinauf.
Oben angekommen, klemmte er den Schirm hinter die Tür. Sollte er ruhig auf den Holzfußboden tropfen: Dort in der Ecke würde es niemand sehen. Den Regenmantel hängte er in den armadio und warf seinen durchgeweichten Hut auf die Ablage. Dann ließ er sich auf einen Stuhl fallen und zog die Stiefel aus. Als er endlich hinter seinem Schreibtisch saß, war er verschwitzt und seine Laune auf dem Nullpunkt.
Lasset die Kinder zu mir kommen 24/319–320
Viele der Anwesenden waren Brunetti bekannt, aber eher aus zweiter Hand. Auch wenn er ihnen nie vorgestellt worden war, kannte er doch ihre Skandale, ihre Geschichten und ihre Affären, rechtliche wie romantische. Teils hing das mit seinem Beruf als Polizist zusammen, hauptsächlich aber damit, dass sie eigentlich in einer Provinzstadt wohnten, in der Klatsch der wahre Kult war und in der die herrschende Gottheit, hätte es sich nicht wenigstens dem Namen nach um eine christliche Stadt gehandelt, sicher »Gerücht« geheißen hätte.
Venezianisches Finale 12/148
Der Arzt schüttelte den Kopf wie über einen unausgesprochenen Gedanken. Brunetti fragte: »Was ist?«
»Je mehr man sich mit dem menschlichen Körper beschäftigt, desto mehr hält man ihn für ein Wunder. Und wenn man Leute wie ihn untersucht, die jahrelang getrunken haben, vielleicht ihr ganzes Leben lang, und wenn man sieht, was das Trinken aus ihnen gemacht hat und dass sie trotz allem noch gelebt haben, dann weiß man, dass es wirklich ein Wunder ist.«
Ewige Jugend 18/208–209
Chiara wollte etwas sagen, aber Paola hob die Hand und fuhr fort: »Und ich kann hier reinkommen und mir ein Glas Wein oder ein Glas Grappa holen oder mir Kaffee oder Tee machen oder einfach ein Glas Wasser trinken und muss mit niemandem reden und für niemanden etwas tun. Und dann kann ich wieder mein Buch nehmen, und wenn ich müde bin, gehe ich ins Bett und lese dort.«
»Und das möchtest du?«, fragte Chiara mit einer Mäuschenstimme.
»Ja, Chiara«, antwortete Paola, nun mit mehr Wärme. »Als Ausnahme, ab und zu einmal, möchte ich das.«
(…)
Chiaras Weltbild war soeben auf den Kopf gestellt worden, insofern die Planeten nicht länger um sie selbst als Mittelpunkt kreisten, sondern ihren eigenen Bahnen folgten.
Endlich mein 24/247–248
Signora Toso hätte ebenso gut dreißig wie fünfzig sein können. Ihr Gesicht war nur noch Haut und Knochen. Und dennoch ahnte man zwischen den Ruinen noch Spuren ihrer früheren Schönheit. Dunkelbraune Augen blickten aus tiefen Höhlen. (…) Brunetti wandte den Blick ab, dann sah er wieder hin. Abgemagert, runzlig, ausgezehrt von der Krankheit, der sie bald erliegen würde, sah sie viel älter aus als er, dabei war sie noch keine vierzig. Wie gern hätte er sie getröstet, ihren Schmerz gelindert über das, was sie zurücklassen musste.
Geheime Quellen 3/28–35
Im Lauf der Jahre hatte Brunetti gelernt, dass die meisten beruflichen oder gesellschaftlichen Situationen viel Ähnlichkeit mit Wasser auf unebenem Untergrund hatten: Früher oder später glättete sich alles. Im Allgemeinen akzeptierten die Leute mit der Zeit, wer Alpha und wer Beta war. Manchmal half ein höherer Rang dabei nach, aber nicht immer. Letztlich hatte er wenig Zweifel, dass die Kommissarin Tenente Scarpa irgendwann in den Griff bekommen würde, aber genauso sicher war er sich auch, dass der Tenente einen Weg finden würde, ihr das heimzuzahlen.
Schöner Schein 7/88
Hinter dem Ladentisch stand Brunettis ehemalige Klassenkameradin und erste fidanzata, Beatrice Rossi. Ihr Gesicht erstrahlte, als sie ihn erkannte, wie jedes Mal, wenn sie sich im Lauf der Jahre begegnet waren. »Na, wer kommt denn da?«, rief sie.
Beatrice lief ihm entgegen, und sie umarmten sich, zwei glücklich Verheiratete, die vor Jahren, vor Jahrzehnten, geglaubt hatten, dies könne ihr gemeinsames Schicksal sein. Er schaute sie an und sah hinter den Fältchen um Mund und Augen das reizende Mädchen, das sich am ersten Tag im liceo im Geschichtsunterricht neben ihn gesetzt hatte.
»Immer noch die Bösen jagen?«, stellte sie ihre Standardfrage.
»Immer noch Drogen verkaufen?«, lautete die seine.
Heimliche Versuchung 21/218
Unterwegs ließ Brunetti seine Erinnerung zurückschweifen in die Zeit vor mehr als zwei Jahrzehnten, als er mit Franca gegangen war. Ihm war bewusst, wie schön er es gefunden hatte, seine Arme wieder um diese erfreuliche Figur zu legen, die ihm einmal so vertraut gewesen war. Dabei fiel ihm ein langer Spaziergang ein, den sie in der Nacht des Redentore-Festes am Lido gemacht hatten. Da musste er siebzehn gewesen sein. Das Feuerwerk war längst beendet, da waren sie noch Hand in Hand am Strand spaziert, hatten auf das Morgengrauen gewartet und nicht gewollt, dass die Nacht zu Ende ging.
Aber die Nacht war zu Ende gegangen, wie so vieles andere zwischen ihnen, und nun hatte sie ihren Mario und er seine Paola.
Feine Freunde 17/199
Der Priester machte ein paar Stufen vor dem Treppenabsatz halt, atmete zweimal tief durch und grüßte lächelnd, als er sah, dass man ihn beobachtete. (…) Er war nicht nur dünn, sondern regelrecht ausgezehrt, und seine Backenknochen sprangen so stark vor, dass die hohlen Wangen darunter zwei straff gespannte, dunkle Dreiecke bildeten. Antonins Hand am Geländer griff ein Stück weit vor, und mit gesenktem Kopf, die Füße fest im Blick, erklomm er die letzten Stufen. Brunetti blieb nicht verborgen, wie er sich bei jedem Schritt am Handlauf emporzog. Oben angekommen, rang der Priester abermals nach Luft, bevor er Brunetti die Hand entgegenstreckte. Der war erleichtert, dass Antonin keine Anstalten machte, ihn zu umarmen oder ihm gar den Friedenskuss zu entbieten.
»Ich kann mich«, sagte der Priester, »offenbar nicht mehr an Treppen gewöhnen (…)«
Als Antonin sich immer noch nicht rührte, begriff Brunetti, dass der Kommentar über die Treppen dem Priester als Vorwand gedient hatte, um Atem zu schöpfen.
»Wie lange warst du eigentlich fort?«, fragte Brunetti, um ihm eine längere Verschnaufpause zu gönnen.
Das Mädchen seiner Träume 3/27–28
Brunetti sah ihren Blick ganz verträumt werden, wie immer, wenn sie von Henry James sprach. Hatte es einen Sinn, eifersüchtig zu sein?, überlegte er. Eifersüchtig auf einen Mann, der sich nach allem, was Paola über ihn erzählt hatte, offenbar nicht nur nicht entscheiden konnte, welcher Nationalität er war, sondern sogar welchen Geschlechts?
Das ging nun seit zwanzig Jahren so. Der Meister hatte sie auf ihrer Hochzeitsreise begleitet, war im Krankenhaus bei der Geburt beider Kinder dabei gewesen und schien sich in jedem Urlaub an sie zu hängen. Hartnäckig, phlegmatisch und von einem Erzählstil besessen, der für Brunetti undurchschaubar war, sooft er ihn auf Englisch oder Italienisch zu lesen versucht hatte, schien Henry James demnach der andere Mann in Paolas Leben zu sein.
Acqua alta 6/82
Da lag er nun in den Armen seiner Frau und dachte an eine andere, aber weil er sich sagen konnte, dass es ihm nur um deren Sicherheit zu tun war, unternahm er keinen Versuch, den Gedanken zu verdrängen.
Das Gesetz der Lagune 17/187
»Aber«, holte Paola ihn auf die Erde zurück, »wenn Signorina Elettra in Gefahr gerät?«
(…)
Brunetti wusste nicht, wie seine Frau es aufnehmen würde, wenn er ihr seine Empfindungen für eine andere erklärte, also versuchte er sich erst gar nicht zu verteidigen.
»Es wäre furchtbar, wenn ihr etwas passierte«, sagte Paola.
Brunetti verschwieg ihr lieber, dass es ihm das Herz brechen würde, und griff nach seinem Calvados.
Das Gesetz der Lagune 7/76
Brunetti war mit einer Doppelsichtigkeit gesegnet – oder geschlagen –, die ihn zwang, in jeder Situation mindestens zwei Standpunkte zu sehen, und darum wusste er, wie absurd sein Verdacht jedem erscheinen musste, der ihn nicht teilte.
Feine Freunde 9/96
»Was werden Sie jetzt tun?«, fragte Signorina Elettra.
Brunetti wandte sich schulterzuckend ab und schaute aus dem Fenster. Es ging wie das in seinem Büro auf den Kanal hinaus, war aber am anderen Ende des Gebäudes, auf einem anderen Stock. Und das änderte alles: Er sah dasselbe, aber von hier aus wirkte es vollkommen anders. Kreon hatte Antigone erklärt, Befehl sei Befehl und müsse befolgt werden, ganz gleich ob groß oder klein, recht oder unrecht.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er.
Heimliche Versuchung 23/245–246
Italien ist ein Land, in dem man viele Gesetze an einem Tag erlässt, nur um sie am nächsten wieder aufzuheben.
Und es ist auch nicht weiter verwunderlich, dass in einem Land, in dem selbst der simpelste Zeitungsartikel oft nicht zu verstehen ist, manchmal beträchtliche Unsicherheit hinsichtlich der genauen Bedeutung eines Gesetzes besteht.
Die sich daraus ergebenden, vielfachen Auslegungsmöglichkeiten schaffen ein äußerst günstiges Klima für Anwälte, die für sich in Anspruch nehmen, die Gesetze zu verstehen. Zu diesen also gehörte Avvocato Carlo Trevisan.
Weil er ebenso fleißig wie ehrgeizig war, ging es Avvocato Trevisan ausgezeichnet. Da er sich vorteilhaft verheiratete, nämlich mit der Tochter eines Bankers, konnte er mit vielen der erfolgreichsten und mächtigsten Industriellen und Banker des Veneto verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Umgang pflegen. Seine Praxis wuchs in gleichem Maße wie seine Taille, und bis zu dem Jahr, in dem er fünfzig wurde, beschäftigte Avvocato Trevisan in seiner Kanzlei sieben angestellte Anwälte, von denen keiner ein Teilhaber war.
Vendetta 3/15–16
Paola verdrehte die Augen und klagte der Lampenfassung an der Decke ihr Leid: »Wie konnte das nur passieren? Ich habe einen Mann geheiratet, und nun lebe ich mit einem wandelnden Magen an meiner Seite.«
Blutige Steine 10/131
Da er seine Uhr nicht trug, fragte er: »Wie spät ist es?«
»Halb neun.«
»Heißt das, das Essen ist fertig?«
Paola vergrub ihr Gesicht in den Händen. »Dass du immer nur an das eine denken kannst, Guido.«
»Das wäre?«, fragte er mit Unschuldsmiene.
Sie schüttelte lachend den Kopf. »Ich kenne keinen, dem Essen so wichtig ist wie dir.«
Geheime Quellen 14/163
Brunetti ließ sich vorsichtig nieder und sah sich um. Überall waren die Zeichen bitterster Armut zu erkennen: an dem Betonspülstein mit nur einem Wasserhahn, am Fehlen von Kühlschrank oder Herd und den Schimmelflecken an den Wänden. Er roch die Armut mehr, als dass er sie sah, roch sie in der abgestandenen Luft, dem Gestank nach Fäulnis, der fast allen Erdgeschosswohnungen in Venedig anhaftete, dem Geruch nach Salami und Käse, die offen und ohne Kühlung aufbewahrt wurden, und in dem säuerlichen Dunst, der aus den Decken und Schals im Sessel der alten Frau zu ihm herüberdriftete.
Venezianisches Finale 14/191
Brunetti erinnerte sich an den lateinischen Spruch, der auf einer Karte aus dem sechzehnten Jahrhundert die Grenze abendländischer Forschung in Afrika versinnbildlichte: Hic scientia finit – Hier endet die Erkenntnis. Wie arrogant wir doch waren, dachte Brunetti, und immer noch sind.
Blutige Steine 10/119–120
»Ich habe in letzter Zeit oft über die Bibel nachgedacht«, sagte Paola, sehr zu Brunettis Verwunderung, denn er kannte sie als den areligiösesten Menschen überhaupt.
»Die Sache mit dem Auge um Auge«, fuhr sie fort. Er nickte, und sie sprach weiter: »Früher habe ich das als das Schlimmste angesehen, was dieser furchterregende Gott zu sagen hat, diesen Ruf nach Vergeltung, diesen Blutdurst. (…) Aber in letzter Zeit ist mir der Gedanke gekommen, dass er vielleicht das genaue Gegenteil von uns verlangt.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte er.
»Dass da gar nicht ein Auge und ein Zahn gefordert wird, sondern nur eine Grenze gezeigt werden soll; das heißt, wenn wir ein Auge verlieren, dürfen wir nicht mehr als ein Auge dafür verlangen, und wenn wir einen Zahn verlieren, können wir dafür nur einen Zahn bekommen, nicht etwa eine Hand oder« – hier hielt sie wieder inne – »ein Herz.«
Nobiltà 27/300–301
Brunetti war deutlich irritiert.
Brusca hüllte sich längere Zeit in Schweigen, bevor er sagte: »Ich dachte, du hast vielleicht eine Idee, was man unternehmen könnte. Und ich hatte gehofft, du reagierst mit Empörung.«
»Das wäre zu viel gesagt«, sagte Brunetti.
»Na schön, na schön, also keine Empörung. Dann eben Hoffnung. Vielleicht ist es das, was ich an dir bewundere: dass du immer noch hoffen kannst, alles könnte sich zum Guten wenden und der Augiasstall ausgemistet werden.«
Auf Treu und Glauben 4/39
Paola nahm die Tassen und stand auf. »Zeit, dass du deinen Besen nimmst und in den Augiasstall zurückgehst.«
Schöner Schein 6/85
Brunetti wusste, dass die Lorenzonis ihren Stammbaum bis in die graue Vorzeit zurückverfolgen konnten, wo Geschichte und Mythos miteinander verschmolzen. Wie mochte es sein, das Ende dieser Linie abzusehen? Wenn er sich recht erinnerte, hatte Antigone gesagt, das Schrecklichste am Tod ihres Bruders sei, dass ihre Eltern keine Kinder mehr bekommen könnten und die Familie mit den Leichen, die vor Thebens Mauern verwesten, aussterben werde.
Nobiltà 18/196
Es wäre übertrieben, sagen zu wollen, dass Brunetti Paolas Eltern, den Conte und die Contessa Falier, nicht mochte, aber ebenso übertrieben zu sagen, dass er sie mochte. Sie waren für ihn ebenso rätselhaft wie ein Kranichpaar für jemanden, der gewohnt ist, den Tauben im Park Brotkrümel zu streuen. Sie gehörten zu einer seltenen und eleganten Spezies, und Brunetti hegte, nachdem er sie fast zwei Jahrzehnte kannte, zugegebenermaßen gemischte Gefühle über die Unvermeidbarkeit ihres Aussterbens.
Venezianisches Finale 10/119–120
Manchmal hatte Brunetti das Gefühl, Venedig werde zu einer Hure gemacht, die sich zwischen verschiedenen Freiern zu entscheiden hatte: Zuerst bekam die Stadt als Blickfang einen phönizischen Glasohrring verpasst, tausendfach als Poster reproduziert, das nur allzu rasch durch ein Tizian-Porträt ersetzt wurde, dieses wurde wiederum von Andy Warhol vertrieben, den dann schnell ein silberner keltischer Hirsch ersetzte. Die Museen beklebten jede freie Fläche in der Stadt und buhlten mit allen Mitteln um die Aufmerksamkeit und die Eintrittsgelder der durchreisenden Touristen. Was kam wohl als Nächstes? Leonardo-T-Shirts? Nein, die gab es bereits in Florenz. Er hatte jedenfalls schon so viele Ausstellungsplakate gesehen, dass es ihm für ein ganzes Leben in der Hölle reichte.
Acqua alta 5/64
In einer Mischung aus Zorn und Verzweiflung, den einzigen aufrichtigen Gefühlen, die den Bürgern noch geblieben waren, schob er die Decke zurück und stieg aus dem Bett. Er blieb lange unter der Dusche und genoss den Luxus, sich dort zu rasieren, ohne sich Gedanken über die Wasser- und Energieverschwendung zu machen, oder auch darüber, dass er einen Wegwerfrasierer benutzte. Er hatte es satt, ständig an den Planeten zu denken: Sollte der sich zur Abwechslung mal selbst um sich kümmern.
Tierische Profite 18/157
»Das muss ja eine Horde von basabanchi sein, wenn Sie mich fragen.«
Mit diesem urvenezianischen Ausdruck, der sich über Leute lustig machte, die in der Kirche so tief gebeugt niederknieten, dass sie das Gestühl küssen konnten, stellte Vianello wieder einmal die Findigkeit ihres gemeinsamen Dialekts sowie seinen eigenen gesunden Menschenverstand unter Beweis.
Venezianische Scharade 11/125
Als Brunetti die Riva degli Schiavoni hinaufging, kam von fern die von Sansovino gebaute Bibliothek in Sicht, und wie immer erfreute ihre architektonische Ungebärdigkeit sein Herz. Die großen Baumeister der Serenissima hatten nur Menschenkraft zur Verfügung gehabt: Flöße, Seile und Flaschenzüge; und doch hatten sie ein Wunder wie dieses zu erschaffen vermocht. Er dachte an so manches scheußliche Bauwerk, mit dem die heutigen Venezianer ihre Stadt verschandelt hatten: das Hotel Bauer Grünwald, die Banca Cattolica, den Bahnhof – und beklagte nicht zum ersten Mal die Folgekosten menschlicher Habgier.
Sanft entschlafen 17/248
Seine Frau, mit der er seit über zwanzig Jahren glücklich verheiratet war, hatte ihn mit einem Ansturm amourösen Verlangens überrascht, der ihn so erregte, dass diese zwei Jahrzehnte wie ausgelöscht waren.
Lasset die Kinder zu mir kommen 3/25
Bei Biancat blieb Brunetti stehen, um die Blumen im Schaufenster zu betrachten. Signor Biancat erkannte ihn durch die riesige Glasscheibe, lächelte und nickte, woraufhin Brunetti hineinging und zehn blaue Iris verlangte. Während Biancat sie einwickelte, erzählte er von Thailand, wo er gerade eine Woche zu einer Konferenz von Orchideenzüchtern gewesen war. Merkwürdig, mit so etwas eine Woche zuzubringen, fand Brunetti, aber dann überlegte er, dass er schon in Dallas und Los Angeles gewesen war, um an Polizeiseminaren teilzunehmen. Wie konnte er darüber urteilen, ob es merkwürdiger war, eine Woche über Orchideen zu reden als über die Häufigkeit von Sodomie bei Serienmördern oder die verschiedenen Gegenstände, die bei Vergewaltigungen benutzt wurden?
Endstation Venedig 9/134–135
Brunetti dachte darüber ein Weilchen nach und dachte auch über die Angewohnheit der Banker nach, das Wort »Geld« zu vermeiden, dachte an die breite Palette von Wörtern, die sie erfunden hatten, um diesen schnöden Ausdruck zu umgehen: Vermögen, Finanzen, Investitionen, Liquidität, Guthaben, Kapital. Gewöhnlich waren Euphemismen krasseren Dingen vorbehalten: dem Tod und den Körperfunktionen.
Venezianische Scharade 17/201–202
In anderen Kulturen hätte man Giuliano Marcolini vielleicht einfach als dick bezeichnet. Den Italienern hingegen, deren Sprache so reich an Beschönigungen ist, galt ein Mann wie er als »robusto«.
Lasset die Kinder zu mir kommen 21/281
Eine alte Frau brauchte seine Hilfe, und er leistete sie ebenso selbstverständlich, wie er sie auffangen würde, sollte sie die Treppe hinunterfallen. Er hatte seine Mutter mit demselben Beschützerinstinkt stark und unverbrüchlich geliebt wie seine Frau und seine Kinder: Im Grunde hatte er gar keine Wahl.
Dass er die Contessa in diesem Moment nach der Flasche greifen sah, versetzte seiner Entschlossenheit einen Dämpfer.
Ewige Jugend 4/52
Brunetti musste an etwas denken, worauf Paola ihn einmal aufmerksam gemacht hatte, kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten, etwas, was ihm vorher nie aufgefallen war, nämlich dass italienische Männer ständig ihre Genitalien berührten, befummelten, ja schon beinah liebkosten. Er wusste noch, dass er ungläubig und höhnisch gelacht hatte, als sie das sagte, aber vom nächsten Tag an hatte er darauf geachtet, und binnen einer Woche war ihm klar, wie recht sie hatte. Nach einer weiteren Woche begann es ihn zu faszinieren, und er war überwältigt davon, wie oft Männer auf der Straße mit der Hand suchend an diese Stelle fuhren, wie um sich zu vergewissern, dass ihre Geschlechtsteile noch da waren.
Venezianische Scharade 5/57
Brunetti nahm das Buch aus dem Regal, ging ins Wohnzimmer und begann zu lesen. Als Paola eine halbe Stunde später nach Hause kam, war er erst wenige Seiten weit gekommen und bei Poseidons Worten stehengeblieben: »Töricht, wer Städte und Tempel in Trümmer stürzt und Gräber verwüstet, die der Toten heilige Stätten sind, wo er doch selbst vergänglich ist.«
Wie viele kluge Menschen waren über die Jahrtausende hinweg nicht müde geworden, diese Mahnung zu wiederholen – und dennoch schicken wir nach wie vor behelmte Männer in den Krieg, auf der Suche nach Vergeltung. Und Beute.
Ein Sohn ist uns gegeben 11/112–113
Raubzüge und kriegerische Auseinandersetzungen treffen Unschuldige. Männer ziehen los und spielen die Helden; Frauen werden zu Witwen oder vergewaltigt, sehen vor ihren Augen die eigenen Kinder sterben, werden nach Lust und Laune ermordet und beseitigt. Männer ziehen um des Ruhms willen in die Schlacht; Frauen bleiben zu Hause und warten. Wir lesen das seit zweieinhalbtausend Jahren, dachte Brunetti, und immer noch stürzen wir uns mit Jubelgeschrei in den Krieg.
Ein Sohn ist uns gegeben 16/173
»Menschen zu verstehen ist wichtiger, als ihnen zu verzeihen.«
Offenbar hatte Paola soeben entdeckt, warum Sigmund Freud Christus ersetzt hatte, dachte Brunetti.
Tod zwischen den Zeilen 11/133–134