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Mit dem Kopf in den Wolken
18 Geschichten, mal traurig, mal tragisch, mal lustig und amüsant. Mal wehmütig und nachdenklich machend.
18 Erzählungen, die alle aus der selben Feder stammen und doch so unterschiedlich sind, wie es Geschichten nur sein können.
Erzählungen, so bunt wie das Leben selbst.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
- Totenklage
- Mit dem Kopf in den Wolken
- Lieb Vaterland
- Die Zärtlichkeit von Rot
- Sobibor - Fragmente einer vergessenen Flucht
- Gedanken an gestern
- Träumen durch fremde Hand
- Die schönste aller Reisen
- Schattenwelt
- Bonjour mon Fils
- Menschenkind
- Landluft mit Beule
- Sechs Jahre sind kein Tag
- Reise zum roten Stern
- Mut
- Cordula
- Als er fort ging
- Was vom Leben bleibt
Warum war ich nicht gegangen?
Warum hatte ich nicht einfach meine Sachen gepackt, ihr den Rücken zugekehrt und war gegangen?
Ich weiß es nicht. So lange, so oft hatte ich darüber nachgedacht. Über den Gedanken waren die
Tage, waren die Jahre verstrichen. Wie Sand durch meine Finger geronnen.
Dieses war mein zu Hause, warum sollte ich gehen, mich vertreiben lassen. Von ihr?
War ich ein Mörder?
Ich fühlte mich nicht wie einer.
Aber wie fühlt sich ein Mörder. Nie zuvor hatte ich getötet, wie konnte ich da wissen, wie es in einem Mörder aussah.
Nein, ich war kein Mörder.
Ich hatte mich gewehrt. Es hatte sich gewehrt, denn alles geschah, ohne mein zutun, wie von allein.
Ich tat es. Und doch war es nicht ich, der es tat.
Wie hätte ich es erklären sollen, nachdem es geschehen war?
Niemand hätte mich verstanden. Nicht unsere Freunde, viel weniger die Polizei.
Mir hätten die Worte gefehlt, es ihnen verständlich zu machen. Ich wusste, ich hätte geschwiegen, wenn sich die Handschellen klickend geschlossen hätten.
Ich hätte geschwiegen, wenn sie mich vor Gericht schleppten. Ich hätte geschwiegen, wenn sich hinter mir die Gefängnistüren geschlossen hätten.
Ich hätte geschwiegen, weil mir die Worte fehlten und weil das Schweigen schon lange ein Teil meiner selbst geworden war.
Ich dachte zurück an diese Nacht. Diese eine Nacht, als es geschah.
Wieder war ich durch die Straßen gelaufen, wie so oft in letzter Zeit.
War geflüchtet vor ihren Blicken, ihren Vorwürfen und ihrem Lachen. Ein Lachen voller Hohn und Spot.
Ein Lachen, wie springendes Glas, dessen Splitter tief in mich eindrangen, mir die Seele zerfetzten.
Früher einmal hatte sie versucht mich aufzuhalten, wenn ich nach einem Streit hinaus wollte. Sie hatte sich vor die Wohnungstür gestellt, hatte mich weinend um Verzeihung gebeten. Hatte mich
angefleht, nicht zu gehen.
Und ich war geblieben.
Hatte zärtlich die Arme um sie gelegt, hatte ihr das tränennasse Gesicht geküsst und gespürt, da war noch Liebe in uns.
Aber früher, da hatte ich selbst noch Worte gefunden, wenn wir uns stritten.
Heute blieb mir nur das Schweigen.
Irgendwann hatte ich aufgehört, mich zur Wehr zu setzten.
Hatte ihre Vorwürfe, ihren Spot, wortlos ertragen.
Einen Verlierer schimpfte sie mich. All meine kleinen Siege galten nicht für sie.
Ihre Worte prasselten auf mich nieder. Worte voller Vorwürfe. Voller Hohn, voller Spot. Voller Hass.
Nein, nicht voller Hass.
Selbst um jemanden zu Hassen musste man in ihm etwas sehen, was diesen Hass wert war.
Für sie aber war ich wertlos geworden.
Nicht Hass war es, den sie mir entgegenschleuderte.
Abscheu und Ekel lagen in ihren, so verletzenden Worten.
In mir brannte es, wühlte und zerfraß mich.
Bis ich wortlos ging.
Die Tür hinter mir zuschlug, denn ich wollte ihr diese Genugtuung nicht geben, wenn sie merkte, wie sehr sie mir wehtat.
Wie schwach ich war und wie stark sie.
Sie versuchte nicht, mich aufzuhalten und kurz bevor die Tür sich hinter mir schloss, hörte ich noch ihre höhnischen Worte, die sich mir in den Rücken bohrten.
Stundenlang irrte ich durch die nassen Straßen unseres Dorfes. In meinem Kopf schwirrten
Gedanken umher. Unkontrolliert, planlos, schmerzhaft.
Noch immer brannte es in meinem Herzen. Qualvoll, unerstikbar.
Dann die Gewissheit. Ich ertrug es nicht mehr.
Sie war schon zu Bett gegangen, als ich zurück ins Haus trat, doch ich wusste, sie schlief nicht.
Sie würde im Bett liegen und auf meine Geräusche lauschen. Bereit, mir ihre schmerzenden Worte wieder entgegenzuschmettern.
Ich ging in die Küche. Schaltete das Licht an und blickte mich um, fast so, als würde ich diesen Ort zum ersten Mal betreten.
Der Tisch in der Mitte des Raumes, die Stühle, die um ihn herumdrapiert waren. Die Einbauküche. Der Fußboden und die weiß gestrichenen Wände, dass kalte Neonlicht. All das kam mir vor, wie eine Theaterkulisse, nicht als wenn hier Menschen lebten.
Ein Schauspiel, bereit zum letzten Akt.
Mein Blick wanderte zur Spüle hinüber. Ertastete den Korb, mit dem abgespültem Geschirr.
Wie zufällig erblickte ich das Messer. Im Licht blitzend lag es dort, schien mir auffordernd
Entgegen zu starren.
Ich wandte mich ab. Langsam ging ich in Richtung Schlafzimmer.
Nein, ich hatte es geahnt, sie schlief noch nicht. Der dünne Lichtstreifen unter der Tür verriet es mir.
Langsam und fast geräuschlos öffnete ich die Tür.
Dort lag sie. Die Nachttischlampe tauchte sie in sanftes licht, welches ihre harten Züge, weich
werden ließ. Ein warmer Schimmer umfloss ihre dunklen Haare. Sie war noch immer schön,
durchfuhr es mich. Ein Hauch von längst vergessen geglaubter Zärtlichkeit machte sich in meiner Brust breit, als ich langsam auf sie zuging.
Sie ließ das Buch, in dem sie bis jetzt gelesen hatte, langsam auf die Bettdecke sinken, hob den Kopf und blickte mich an. Dann schaute sie an mir hinunter. Ich folgte ihrem Blick und erschrak ein wenig.
Ich hatte nicht gewusst, dass ich danach gegriffen, es mitgenommen hatte. Doch jetzt spürte ich, wie meine Hand den Griff fest umklammerten, so fest, dass meine Knöchel an meiner rechten Hand weiß hervorstanden. So fest, dass ich den leisen Schmerz spüren konnte, den mir der Griff des Messers verursachte.
Sie schaute hoch. Ihre Lippen verformten sich zu einem spöttischen Kräuseln. In ihren Augen sah ich Hohn. Langsam öffnete sie den Mund, um mir ihre Worte entgegenzuschleudern.
Kein Wort mehr, kein Wort von ihr, hätte ich noch ertragen können.
Ich war kein Mörder. Nur der tatenlose Zuschauer.
Ich sah, wie ich den rechten Arm erhob, wie dieser nach vorne schnellte. Es war so leicht. Ein
einziger, kräftiger Schnitt genügte schon.
Die Haut an ihrem Hals öffnete sich, wurde zu einer klaffenden Wunde.
Blut spritzte hervor, ergoss sich über ihr weißes Nachthemd, durchtränkte die Bettdecke. Floss an ihrem Hals entlang abwärts und drang in das Kopfkissen ein, schließlich in das Laken unter ihr, wo es langsam versickerte.
Sie wollte schreien, öffnete den Mund, doch nur ein gurgelnder Laut drang aus ihrer Kehle,
begleitet von, aus der rot klaffenden Wunde heraustretenden Luftblasen, die lautlos zerplatzten.
Sie starrte mich an. Unglaube, Entsetzen und Angst lag in ihrem Blick.
Sie versuchte, den Arm zu heben, doch mit leisem, kraftlosem Zittern, sank dieser zurück auf die Laken.
Was mir eben noch unmöglich war, dass tat ich nun. Ich öffnete langsam meine rechte Hand, bis mir das Messer entglitt und polternd zu Boden fiel.
Langsam umrundete ich das Bett, legte mich dann neben sie.
Es war so ruhig. Nur mein eigener, gleichmäßiger Atem war zu hören.
Noch einmal wandte ich meinen Blick ihr zu. Die Wunde an ihrem Hals hatte fast aufgehört zu
bluten. Nur ein dünnes, rotes Rinnsal, drang noch aus ihr hervor. Ihre weit aufgerissenen Augen starrten an die Decke über ihrem Kopf, schon längst hatten sie ihren Glanz verloren, waren leblos und Tod.
Nur das Entsetzen war in ihnen zurückgeblieben.
Wirre, nicht greifbare Gedanken geleiteten mich hinüber in den Schlaf.
Nun mein Schatz, nun lieb ich dich, denn ich bin gewiss, du lachst nie wieder über mich!
Ich bin kein Mörder, und doch hatte ich getötet. Hatte mich zur Wehr gesetzt, weil ich es nicht mehr ertragen konnte.
Ich bin kein Mörder. Aber wie sollte ich es erklären? Die Worte hätten mir gefehlt.
Es war so einfach gewesen. Planlos und doch, als hätte ich es durchdacht.
Am nächsten Morgen wachte ich neben ihr auf.
Ihr Blut war geronnen, das Rot war einem rostigen Braun gewichen.
Noch immer standen ihre Augen weit offen. Noch immer war das Entsetzten und die Erkenntnis des kommenden Todes darin zu erkennen. Ich ertrug diesen Blick nicht und versuchte ihr die Augen
zuzudrücken, doch schaffte ich es nicht. Aus dem Bad holte ich ein Handtuch, legte es ihr über den Kopf. Endlich war ich diesem Blick entronnen.
Dann suchte ich Sachen von ihr zusammen. Dinge, von denen ich annahm, dass sie eine Frau
mitnahm, wenn sie im Begriff war, ihren Mann zu verlassen.
Ein wenig ihres Make-up, die Schatulle mit ihrem Schmuck und einige Kleidungsstücke. Selbst an ihren Ausweis dachte ich. Das alles verstaute ich in einer Reisetasche, die ich hinten im
Kleiderschrank fand. Dann vergrub ich diese hinter unserem Haus, im angrenzendem Wald.
Ich erinnerte mich an die schweren Betonsteine in unserem Schuppen. Auch die, schon vom alter rostig gewordenen Eisenketten fand ich. Nie hatte ich herausgefunden, wozu sie einmal gedient
haben könnten, nie, wer sie dort hinlegte, vor langer Zeit, in eine Ecke des Schuppens, wo sie
langsam verrosteten und der Staub der Jahre sich auf ihnen niedergelassen hatte. Nie hätte ich
geglaubt, diese jemals gebrauchen zu können.
Ich wartete bis tief in die Nacht hinein. Dann ging ich los. In den Wald. Die Steine und Ketten hatte ich in einen alten Sack gestopft, den ich mir über die Schulter geworfen hatte. Schweiß rann mir über das Gesicht und mein Atem ging schwer und rasselnd, als ich nach einer guten Stunde endlich das Ufer des Sees erreicht hatte.
Es war nicht leicht, in dieser Dunkelheit das kleine Ruderboot zu finden, von dem ich wusste, das es hier irgendwo, versteckt im Schilf, am Ufer lag.
Aber ich fand es schließlich, schleppte es ins Wasser und vertäute es.
Dann packte ich meinen Sack aus und ließ Steine und Ketten ins Boot gleiten.
Vor Einbruch der Dämmerung musste ich alles erledigt haben. So machte ich mich sogleich auf den Rückweg.
Es widerstrebte mir, sie zu berühren, doch musste ich tun, was getan werden musste.
Ich wickelte sie in eine Decke und legte mir den schlaff gewordenen Körper über die Schulter. Dann verschwand ich auch mit ihr in der Dunkelheit.
Versuchend, so wenig Geräusche wie möglich zu machen, ruderte ich auf die Mitte des Sees hinaus.
Erst als ich diese erreicht hatte, begann ich die eisernen Ketten und die Steine miteinander zu
verbinden.
Dann wickelte ich die Leiche aus und legte das andere ende der Ketten um ihre Beine.
Noch einmal sah ich sie an, wie sie dort, vor mir auf dem Boden des Bootes lag.
Das sanfte Licht des Mondes spiegelte sich in ihren Augen und fast war es mir, als wäre das
Entsetzte und die Angst aus diesen verschwunden, hätten platz gemacht für den, mir so bekannten, kalten Ausdruck. Fast war es mir, als würden ihre kalten, toten Augen mir noch einmal ihren
ganzen Spot entgegenschleudern.
Ich wischte diesen Gedanken beiseite.
Langsam ließ ich die Steine über den Rand des kleinen Bootes ins Wasser gleiten. Leise rasselnd
zog ihr Gewicht die Ketten hinter sich her. Ich musste mich anstrengen, die Leiche meiner Frau so über den Rand gleiten zu lassen, dass es mich nicht selbst nach unten zog. Aber es gelang mir, und als sie langsam in der kühlen Tiefe versank, blickte ich ihr hinterher.
Ihr Nachthemd bauschte sich auf, bevor es sich mit Wasser vollsog. Ihr Körper versank, wobei ihre Arme nach oben, Richtung Oberfläche gedrückt wurden und leicht hin und her schaukelten. Fast als würde sie mir noch einmal zuwinken. Doch unbarmherzig nahm der See besitz von ihr. Zog und zerrte, bis auch diese versanken. Noch ein kurzer Blick in ihre kalten Augen, dann schlugen die Wellen den Mantel des Todes über sie. Die kalte, feuchte Dunkelheit hatte sie vollends
umschlossen. Nur wenige Luftblasen stiegen noch empor und zerplatzten leise an der
Wasseroberfläche. Dann wurde es ruhig. Das Wasser lag da, glatt und still.
Es war nichts geschehen.
Zu Hause zurückgekehrt säuberte ich das Schlafzimmer. Entfernte Laken und Bettzeug. Putzte und schruppte fast den ganzen Tag, bis nichts mehr verriet, was vor nur wenigen Stunden zuvor
geschehen war.
Erschöpft schlief ich traumlos ein.
Erst am nächsten Tag rief ich all unsere Freunde an. Erkundigte mich nach meiner Frau. Am Tag darauf ging ich zur Polizei, um eine Vermisstenanzeige zu machen, so wie es unsere Freunde mir geraten hatten.
Nein, niemand verdächtigte mich.
Es kam so oft vor, dass man sich Stritt, sich auseinanderlebte, dass einer von beiden ging.
Unsere Freunde kamen mich Besuchen. Sie wird schon wiederkommen, meinten sie. Sie wird
irgendwann erkennen, was sie an dir gehabt hat und zu dir zurückkehren. Einige legten mir
mitleidig ihre Hände auf die Schulter.
Doch bald wusste ich, wie ich es immer schon gewusst hatte, es waren nicht unsere Freunde. Es
waren einzig ihre Freunde. Zu oft hatte ich mit angehört, wenn sie ihnen am Telefon von mir
erzählte, wenn sie ihre Lügen über mich verbreitet hatte. Auch damals hatte ich mich nicht gewehrt.
Ich konnte ihr falsches Mitleid nicht ertragen. In ihren Augen konnte ich es lesen. Sie hat Dich
Verlassen und nur Du bist schuld daran!
Ihre Besuche wurden seltener, blieben irgendwann ganz aus.
Ich war allein.
Auch ins Dorf ging ich nur noch ungern.
Ich spürte die Blicke in meinem Rücken, hörte das leise tuscheln und wusste, dass es mir galt.
Sie hat ihn verlassen und wird sicher ihre Gründe dafür gehabt haben.
Nein, niemand Verdächtigte mich. Und doch war ich ein Geächteter.
Die Zeit verging und immer, immer musste ich an sie denken.
Bald wird es vergehen, sagte ich mir, bald wirst du sie vergessen haben.
Sie und das, was du tatest.
Die Zeit verstrich, doch Vergessen konnte ich nicht.
Ihre Augen verfolgten mich und manchmal schrak ich zusammen, glaubte ich doch ihre Stimme hinter mir zu hören.
Glaubte, auch heute noch, die Vorwürfe, ihren Hohn und ihren Spot ertragen zu müssen.
Es war still um mich geworden. Still wurde mein Leben, still wurde es im Haus. Eine Stille, die
Ohrenbetäubend wurde.
In allem sah ich nur sie.
Aus jedem Raum, jedem Gegenstand, starrte sie mich an. Ja, selbst wenn ich in den Spiegel
schaute, blickte sie mir aus diesem entgegen.
Ich wollte dem Kerker entkommen und hatte mich doch selbst eingekerkert. Ein Gefängnis ohne Schlüssel, mit offenen Türen, dem ich aber doch nicht entfliehen konnte.
Sie war da, immer, in jedem Augenblick. Bei jedem Atemzug konnte ich ihre Nähe spüren. Sie
beobachtete mich, ergötzte sich an meiner Seelenqual.
Ich war kein Mörder und doch hatte ich getötet.
Warum war ich nicht einfach gegangen, damals, als es noch möglich war?
Dann begannen die Träume.
Dort, am Ufer des Sees fand ich mich in ihnen wieder.
Es war Dunkel, Nebel stieg von der kalten, schwarzen Wasseroberfläche empor. Drang mir in die Kleidung. Durchnässte diese. Fröstelnd blickte ich über den See ans andere Ufer hinüber. Dort, auf der anderen Seite, sah ich eine Feuerstelle. Wärmende, flackernde Flammen züngelten empor.
Frierend schlang ich die Arme um meinen Oberkörper. Ich sehnte mich so sehr nach dessen Wärme.
Ich tat einen Schritt nach vorne, wollte den Flammen näher kommen, wollte ihre Wärme spüren.
Noch einen weiteren Schritt, und noch einen. Schon spürte ich das Wasser an meinen Knöcheln
emporsteigen. Doch nicht Kälte war es, sondern Wärme, die langsam an mir hochstieg. Mich
empfing, wie einen lang vermissten Freund.
Traumwandlerisch ging ich vorwärts, weiter und tiefer ins dunkle Wasser hinein.
Warm umspülte es mich, schon stieg es mir bis zu meinem Oberkörper. Bis sich schließlich die
Wellen über mir schlossen.
Unter meinen Füßen spürte ich den weichen Sand. Pflanzen umglitten, fast liebkosend, meine
Beine. Ein lang vergessenes Gefühl von Glück und Zufriedenheit durchströmte mich.
Langsam und tastend schritt ich vorwärts, fühlte mich dabei so leicht und beschwingt, dass ich glaubte, allein das mich umgebende, grünlich schimmernde Wasser, würde meine Schritte lenken.
Nur hier und da brach ein wenig Mondlicht durch die Oberfläche und einzelne Strahlen ließen die Dunkelheit aufleuchten, wie glitzernder Smaragd, ich fühlte in mir eine Geborgenheit
emporsteigen, wie ich sie als Kind das letzte Mal empfunden hatte. Damals, als ich noch unschuldig war.
Ich wusste, dass sie irgendwo hier unten war, und doch, als sie langsam aus der Dunkelheit vor mir auftauchte, erschrak es mich zu Tode. Für einen kurzen Moment spürte ich, wie mein Herz sich
zusammenzog und die kälte, welcher ich entflohen geglaubt war, wieder von mir besitz ergriff.
Nur allmählich tauchte sie vor mir auf. Wie ein Schattenwesen, erahnte ich doch zuerst nur ihre Umrisse.
Noch immer hielten sie die Ketten am Grund gefangen.
Aufrecht schwebte sie vor mir, ihren Körper sanft in den Wellen schaukelnd. Ihre Arme hielt sie ausgestreckt, sie schienen auf mich zu zeigen. Fast war es mir, als wolle sie mir entgegeneilen. Weiß schimmerten ihre Finger, ganz sanft bewegten auch diese sich, im unbekanntem Takt des
Wassers. Das weiß ihres Nachthemds umschloss die zarten Konturen ihres Körpers. Weich
umspülten ihre Haare ihr Haupt, welches sich mir hoch erhoben darbot. Wallend, fast wie eine
Wolke umschwebte es ihren Kopf. Kleine Fische spielten darin, glitten durch die Strähnen, waren für einen Augenblick in dieser Pracht verschwunden, nur um dann pfeilschnell wieder daraus
hervorzuschießen.
Noch immer waren ihre Augen weit geöffnet, starrten mich an. Anklagend und kalt.
Ihre Lippen waren geschlossen, doch etwas unterhalb dieser, sah ich diese Schwarze, klaffende
Öffnung. Wie ein, zu einem breiten, spöttischen Grinsen, geöffneter Mund.
Die Wunde, dessen Ränder weit auseinanderzustreben schienen, ließ ihren Kopf in Absurder weise taumeln. Mal starrte sie mich unverwandt an. Dann schien es mir, als würde sie ihren Kopf in den Nacken werfen, wobei die Schwarzen Lippen an ihrem Hals, sich noch weiter öffneten und ein
Unhörbares, höhnisches Lachen von sich gaben. Dann wieder legte sie den Kopf leicht zur Seite. Lockend, auffordernd, verführerisch. Eine lautlose Melodie ließ sie leise im Wasser wiegen, vor und zurück schaukelnd, nur von den Ketten gehalten, die an ihren Füßen zerrten.
Unhörbar rief sie nach mir. Unhörbar und doch, ihr Ruf ließ das einst so stille Wasser aufwirbeln. Breitete sich im See aus, drang in meine Seele und der Widerhall ihres Rufs, schien meinen Kopf zersprengen zu wollen.
Schweißgebadet schreckte ich hoch. Glaubte noch immer, ihre Stimme in meinem Kopf zu hören, glaubte, meine nassen Laken wären getränkt von dem Wasser des Sees. Spürte das angstvolle Pochen meines Herzens und das Entsetzen in meiner Brust. Spürte das Zittern meines Körpers und die Unfähigkeit, vergessen zu können.
Meine Tage wurden einsam, voller Gewissheit, über das grauen der unvermeidlich
hereinbrechenden Nacht. Die Nächte verbrachte ich voller Qual, versuchte dem Schlaf und den Träumen zu entrinnen. Oft vergeblich.
Ihr Bild, dort drunten im See, brannte sich mir in die Eingeweide. Ihr Ruf, lockend und doch so voll des Hasses gegen mich, schall in meinem Kopf. Tag für Tag, Nacht für Nacht.
Ich spürte, auch dieses Mal würde sie gewinnen, war ich wehrlos gegen ihre Worte. So wie ich es immer gewesen war.
Der Tag war Grau und kühl, als ich meine Schritte Richtung See lenkte. Langsam ließ ich mich an seinem Ufer nieder, setzte mich in das feuchte Moos, schaute über das Wasser hinweg.
Nebelschwaden glitten sanft über die dunkle Oberfläche. Es war so still, so voller Frieden.
Der Schmerz in meiner Seele brannte und ich sah sie. Mein Blick durchbrach das dunkel des
Wassers, glitt hinunter zum Grund, wo ich sie erblickte. Sich sanft wiegend, schaute sie zu mir
empor, versprach mir, auch ich würde Stille und Frieden finden, würde den Schmerz in meiner
Seele vergessen lernen.
Langsam richtete ich mich auf. Sicher und ohne Angst ging ich dem Wasser entgegen. Setzte einen Schritt vor den anderen. Kühl umfing mich das Nass, kühl, freundlich und ohne Pein.
War ich ein Mörder?
Ich fühlte mich nicht wie einer.
Nein, ich war kein Mörder.
Ich hatte mich gewehrt. Es hatte sich gewehrt, denn alles geschah, ohne mein zutun, wie von allein.
Ich hatte es getan, und doch war es nicht ich, der es tat.
Wie hätte ich erklären können, wo mir doch die Worte fehlten?
Warum war ich nicht gegangen, damals, als es dafür noch nicht zu spät war?
Ich habe einen Traum …
Nicht den Weltfrieden, nicht die Ausrottung von Hunger und Krankheit erträume ich mir.
Nicht, dass wir alle uns die Hand reichen und zu Schwestern und Brüdern werden.
Einigkeit und Recht und Freiheit.
Für mich, für uns alle.
Nein, nicht das wünsche, erträume ich mir.
Lang schon habe ich gelernt, wenn Träume auch grenzenlos sind, ihr zerbersten an der
Unvollkommenheit des Menschen gebärt Trauer, Schmerz, Enttäuschung.
Ich bin jung genug für Wünsche, Träume und Illusionen, doch zu alt für Utopien.
Ein halbes Jahrhundert habe ich hinter mir, den wohl größten Teil meines Lebens gelebt.
Ich habe begriffen, der Rest meines Lebens beginnt jetzt, in diesem Moment und jeder gelebte
Augenblick ist unwiederbringlich verloren.
Wozu ein langes Leben, welches ohne Träume, in der Wertlosigkeit verkommt?
Wozu Gesundheit, ohne die treibende Kraft der Sehnsucht?
Träume. Sie sind, was uns erst zum Menschen werden lässt.
Sehnsüchte, die uns antreiben, um aus einem Leben das eine, besondere Leben zu machen. Unser Leben.
Dein Leben.
Wünsche und Illusionen. Unerreichbar fern und doch so greifbar nah, wenn wir es nur zulassen zu gestatten, dass sie erst den Umweg über unser Herz nehmen, bevor sie in unserem Kopf zu bunten, lebendigen Farben werden.
*****
Ich schließe die Augen und sehe es vor mir. Sehe mich selbst, wie ich dahinrase. Den Wind in den Haaren, Sonnenstrahlen auf meiner, vom Wetter gegerbten Haut.
Wie ich dahin brause, in meinem feuerroten Ford Mustang, Cabriolet, Baujahr 1968.
Ich fühle, wie die Unebenheiten des Asphalts unter mir zitternd durch meinen Körper gleitet.
Spüre den druck, wenn ich hastig die Kurven der Serpentinen durcheile. Höre das gleichmäßige wummern des Motors.
Ich sehe das grün am Straßenrand, wie es, im Augenblick verschwimmend, an mir vorbeihastet.
Und dort unten, am Rande der Klippen, erblicke ich das Meer, dessen tosende Wellen dem Ufer
entgegeneilen. Sich ihm mit wütender Macht entgegenstemmen und dann doch, Gischt speiend, an ihm zerbrechen, nur um es trotzig, gleich noch einmal zu versuchen.
Ja, fast ist es mir, als würde ich den Duft in der mich umgebenden Luft einatmen können. Würde das Salz des Meeres, die Würze der Landschaft auf meiner Zunge schmecken, die knisternde Hitze des Tages auf meiner Haut spüren.
Fast ist es mir, als würde ich sie in meinen Träumen erkennen. Als wäre sie schon von Anbeginn der Zeit, ein Teil meiner selbst. Als wären wir schon lange eins. Diese Landschaft, an einem Ort, der mir doch unbekannt ist.
Ich lasse die Augen geschlossen, zu schön sind die Bilder, welche sich vor mir Auftürmen und
welche das Leben im Diesseits so kalt erscheinen lassen.
Und dort, in der Ferne, sehe ich dich. Du tauchst auf, aus dem Nebel der Sehnsucht.
Ich kenne dich nicht und doch erkenne ich dich.
Ich erblicke dein Lächeln und weiß, es gilt alleine mir.
In deinem Blick liegt all die Wärme, welches das Eis auf meiner Seele zum Schmelzen bring.
Zaghaft, und doch wie selbstverständlich, nehme ich dich bei der Hand, streichel über deine zarten Finger, spüre deine Nähe und die Intensität des Lebens, die von dir ausgeht.
Vorsichtig, als könnte ich dich zerbrechen, als würde ich sonst meinen eigenen Traum
unwiederbringlich zerstören, lege ich meine Arme um dich.
Sanft ziehe ich dich an mich, lege meinen Kopf auf deine Schulter, spüre das Klopfen deines
Herzens, höre das betäubende rauschen des Blutes, welches durch deine Adern fließt.
Die Zärtlichkeit des Augenblickes raubt mir die Sinne.
Sanft küsse ich dich auf den Nacken, streichele über deine nackte, warme, weiche Haut.
Fühle deine Hände, die tastend über meinen Körper wandern.
Glück, wärme und Liebe.
Sehnsucht ist unheilbar!
Ich getraue mich nicht, meine Augen zu öffnen. Spüre ich doch noch immer deine Hand in der
meinen. Gemeinsam wandern wir durch die Welt. Erblicken das Grün in den Tälern, erklimmen die höchsten Gipfel. Tauchen hinab in die unendliche Weite des Meeres. Ziehen durch Wüsten, klopfen uns den Staub von den Kleidern und tauchen unsere Füße in klares, kühles Quellwasser.