7,99 €
Schwarzbunte Geschichte
Ein Kindermörder und das Unverständnis über seine Taten.
Über Erinnerungen an einen geliebten Menschen und den Verlust der Unschuld.
Eine Erzählung über die Vergangenheit und die Gegenwart.
Über verpasste Liebe und die Würde des Menschen und darüber, ein Versprechen einzulösen.
Die Geschichte eines Polizisten, welcher seinen Sohn schützen wollte und über Alice, die sich im Wunderland auf die Suche nach einem verlorenen Schlüssel begibt.
Über die Begegnung mit dem Tod und einer verlorenen Hoffnung und viele weitere Erzählungen die mal schwarz, mal grau, mal so bunt sind, wie das Leben selbst.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
- Ein netter Mann. Anatomie eines Mörders
- Abschied
- Das Ende der Unschuld
- Blick zurück ins jetzt
- Nachgetragene Liebe
- Ein wahrer Held
- Die Würde des Menschen
- Begegnung im Moor
- Hass
- Großstadtdschungel
- Hinter der Tür
- Freiheit, mehr als nur ein Wort
- Schwarz - ein Souvenir aus Afrika
- Die letzte Reise
- Verpiss dich Bulle!
- Novembernebel
- Kiwa oder wenn die Hoffnung stirbt
Anatomie eines Mörders
Draußen klatschte der Regen an die Fensterscheibe, schon seit drei Tagen, nur stetiger Regen. Es war grau dort draußen, grau waren auch meine Gedanken. Als ich heute Morgen in den Spiegel schaute, stellte ich fest, auch mein Gesicht war grau geworden, grau und müde.
Selbst das Büro, in dem ich saß, wirkte grau. Das Neonlicht an der Decke verlieh allem einen unnatürlichen Schleier. Die blassgelben Wände, der Gummibaum in der Ecke und selbst der Schreibtisch vor mir, wie mit einem Schleier von Staub benetzt. Die Wärme in diesem Raum war ungemütlich, zu trocken, zu verbraucht die Luft um mich herum. Ich spürte ein Kratzen im Hals, sicher würden bald die Kopfschmerzen unangenehm in meinem Schädel pochen.
Ich hatte mir noch einige Minuten Zeit ausgebeten, bevor sie ihn zu mir hereinführen sollten. Erst einmal musste ich meine eigenen Gedanken sammeln. Die letzten Jahre in meinem Kopf Revue passieren lassen.
Am liebsten wäre ich aufgestanden, hätte die Akte, die geschlossen auf meinem Schreibtisch lag, einfach beiseitegeschoben. Meinen Mantel von der Garderobe genommen und gegangen. Hinaus in den Regen. Ich war so müde. Fast drei Jahre. Drei Jahre meines Lebens, die dort in der Akte vor mir auf dem Schreibtisch lagen.
Drei Jahre und ich konnte mich nicht daran erinnern, in dieser Zeit auch nur einmal ausgeschlafen zu haben. Drei Jahre. Die Tage voller Recherchen, Diskussionen, Untersuchungen. Hinterherhetzen nach sinnlosen Informationen und mich wieder und wieder dafür rechtfertigen müssen, dass es immer noch keine Ergebnisse gab. Und die Nächte? Saß ich über den Akten, las Protokoll um Protokoll, Zeugenaussage um Zeugenaussage, immer und immer wieder. Weil ich dachte, hoffte, irgendetwas übersehen zu haben. Ein kurzer Satz, ein kleines, aber entscheidendes Wort. Ich hoffte so sehr darauf.
Wenn ich nicht über den Akten saß, schaute ich mir die Fotos an. Kaum, dass ich es ertragen konnte, und doch durfte ich die Bilder nicht vergessen, musste sie mir immer wieder aufs Neue in Erinnerung rufen. Nur diese Bilder ließen mich weitermachen.
Und zwischen alldem, kurze, viel zu kurze Phasen, in denen ich schlief. Niemals war mein Schlaf ruhig und erholsam. Ich war zu erschöpft, um ruhig zu schlafen. Die Bilder kreisten ständig in meinem Kopf. Selbst all der Alkohol half nicht, diese zu verscheuchen. Wenn ich dann aufwachte, fühlte ich mich noch kaputter als vor dem Einschlafen. Schweißgebadet und mit hämmerndem Schädel, schleppte ich mich dann unter die Dusche. Dann ins Büro, wo alles von vorne begann - Diskussionen, Untersuchungen, Überprüfungen, Vorwürfe. Drei Jahre, die ich am liebsten fortgewischt hätte. Drei Jahre, die mich mehr gekostet hatten als nur drei Mal dreihundertfünfundsechzig Tage. Ich wollte am liebsten alles hinschmeißen, doch ich wusste, ich musste es zu Ende bringen.
Statt aufzustehen und einfach zu gehen, hinaus in den Regen, drückte ich auf den Knopf der Sprechanlage, die vor mir auf dem Schreibtisch stand. "Führt ihn herein!".
Kaum zwei Minuten später öffnete sich die Tür. Ein Beamter in Uniform führte ihn in den Raum. Seine Hände waren mit Handschellen auf dem Rücken fixiert. Mit einem Kopfnicken gab ich dem Beamten Zeichen, ihn an meinen Schreibtisch zu führen. "Machen Sie ihm die Handschellen ab und dann gehen Sie bitte", sagte ich. Einen Moment später war ich mit ihm allein.
Da stand er vor mir. Siebenundsechzig Jahre alt, wie ich aus seinen Personalien wusste. Eine schlanke Gestalt, sportlich, trotz seines Alters. Schwarzer Anzug, korrekt gebundene Krawatte. Sehr gepflegt und auffallend schlanke und schöne Hände. Immer noch stand er vor mir, während ich ihn musterte. Ein schüchternes Lächeln lag um seinen Mund. Er wirkte ein wenig verlegen als er mir, mit einer kleinen, angedeuteten Verbeugung, einen schönen guten Abend wünschte. Ja, es war schon Abend geworden. Ich wusste nicht, wie spät es war, meine Armbanduhr war mir schon vor Wochen abhandengekommen und wozu eine Neue kaufen? Die letzten drei Jahre gab es keinen Unterschied für mich, ob Tag, Abend oder Nacht war. Es gab nur hell oder dunkel. Aber Zeit? Sie verschwamm in der Jagd nach ihm, nach ihm, der dort vor mir stand.
Noch immer sagte ich kein Wort, was ihm augenscheinlich unangenehm war, denn nun strich er sich fortwährend mit seiner rechten Hand über sein grau meliertes Haar.
Mit einer Handbewegung gab ich ihm zu verstehen, sich zu setzen.
Wieder glitt ein Lächeln durch sein Gesicht, noch einmal deutete er eine leichte Verbeugung an, bevor er sich auf dem Stuhl mir gegenüber niederließ.
Ich betrachtete ihn. Suchte in seinen Augen irgendetwas, dass mir sagen würde "Ja, er ist es!"
Es wird behauptet, man könnte Verbrecher nicht erkennen, dass Verbrechen nicht in ihren Gesichtern sehen. In ihren Gesichtern nicht, aber in ihren Augen hatte ich in den fast dreißig Jahren, die ich nun schon diesen Job machte, gelernt es zu lesen. Ich konnte sie mir ansehen, diese Augen. Konnte hinter den Schleier blicken und das, was ich zu sehen bekam, erschreckte mich oft. Aber ich hatte auch gelernt, wenn hinter dem Schleier das Opfer lag. Das Opfer, welches erst erduldete, oft lange Zeit, und erst dann zum Täter wurde.
Das Feuer lag tief in den Augen verborgen, das Funkeln, welches den Mörder erkennen ließ. Ich hatte dieses Funkeln schon so oft gesehen, nicht nur bei denen, die in den vielen Jahren vor mir gesessen hatten. Auch bei Bekannten und Freunden hatte ich es manches Mal erkennen können. Ja, selbst bei dem Mann, der mir aus dem Spiegel entgegen starrte, hatte ich es schon erblickt.
Nicht jeder wird gleich zum Mörder, aber die Wut und die Fähigkeit zum Töten liegen in diesem Blick.
Doch in seinen Augen sah ich es nicht, als ich seinen Blick zu erforschen suchte.
Klar und offen schaute er mich an. Versuchte nicht einmal, meinem Blick auszuweichen, wenn ich ihm direkt in die Augen sah.
Ich musste keine Beweise mehr sammeln. Als sie ihn in seiner Wohnung verhafteten, gab er alles unumwunden zu. Die Kleidungsstücke, die man bei ihm fand, von jedem seiner Opfer eines, taten ein Übriges ihn zu überführen. Selbst seinen Koffer hatte er schon gepackt, als die Polizisten an seiner Wohnungstür klingelten. Er erwartete, dass man ihn holen würde. Er war bereit dafür, schon seit Wochen, wie er den Polizeibeamten erzählte, als er sich bei ihnen für die Mühe entschuldigte, die er ihnen gemacht hatte, bis sie ihn fanden.
Ich kannte die Akte, die vor mir auf dem Schreibtisch lag. Jedes Wort hatte ich gelesen. Tausend Mal hatte ich sie gelesen, immer und immer wieder. Hatte mir die Fotos von den Opfern angesehen und konnte es nicht begreifen.
In der Presse hatten sie ihn "Die Bestie, das Monster" genannt. Hatten immer wieder mit großen Lettern heraus gebrüllt: "Die Bestie tötet weiter und was tut unsere Polizei?" Aber ich wusste, sie meinten nicht "Die Polizei", sie meinten mich. Ich war der verantwortliche Leiter der Sonderkommission. Ich war der, den sie meinten, wenn sie von dem Versagen der Polizei sprachen.
Bei den vielen Pressekonferenzen hätte ich es ihnen gerne gesagt, was ich tat. Nein, nicht gesagt, ich hätte es am liebsten heraus geschrien. Hätte ihnen von den vielen Hundert unnützen Informationen erzählt, die wir Tag für Tag aus der Bevölkerung erhielten. Hätte ihnen von dem Denunziantentum erzählt, welches unter der Bevölkerung herrschte. Von den vielen Anschuldigungen denen wir nachgehen mussten und bei denen wir dann feststellten, nur ein unliebsamer Nachbar, den man gerne los geworden wäre, wurde denunziert. Hätte ihnen gerne erzählt, wie mich das alles anekelte. Und ich hätte ihnen gerne erzählt, wie mich die Verkäuferin in dem Kiosk, der gleich um die Ecke von meiner Wohnung lag, immer ansah, wenn ich die nächste Flasche Whisky kaufte, weil ich ohne Alkohol die Bilder nicht mehr aus meinem Kopf bekam. Hätte ihnen von meinen Albträumen erzählt, die mich plagten und schweißgebadet aufschrecken ließen, wenn ich es dann doch endlich schaffte einzuschlafen. All das hätte ich ihnen am liebsten ins Gesicht geschrien, wenn sie wieder dort vor mir saßen und vorwurfsvoll fragten "Was tut die Polizei?" und doch nur mich mit dieser Frage meinten.
Aber ich schrie nicht. Erzählte all das nicht, sondern antwortete ruhig und sachlich. Benutzte die üblichen Floskeln, berichtete von den Spuren und Hinweisen aus der Bevölkerung, denen wir nachgingen. Musste immer wieder zugeben, dass wir dem Täter immer noch nicht näher gekommen waren.
Ich machte ihnen keine Vorwürfe, den Journalisten, die vor mir saßen und vorwurfsvolle Fragen stellten. Sie taten ihren Job, so wie ich den meinen und die Menschen da draußen hatten Angst.
Nein, Beweise brauchte ich nicht mehr. Wir hatten mehr als genug davon und er würde für lange Zeit, für den Rest seines Lebens, hinter Gitter kommen.
Aber ich musste es wissen. Ohne seine Antwort würde ich auch in Zukunft nicht schlafen können, wäre der Fall für mich niemals abgeschlossen.
Nur deshalb hatte ich ihn noch einmal kommen lassen, nur, um ihm diese eine Frage zu stellen: "Warum?"
Er schaute mich aus seinen klaren Augen an, blickte unverwandt direkt in die meinen.
"Weil sie lachten", antwortete er mir dann mit einem Lächeln, welches man einem Kind schenkte, welches eine dumme Frage gestellt hatte. Noch immer spielte das feine Lächeln um seine Augen, während ich ihn anstarrte. Ich konnte sein Gesicht, ihn, nicht mit dem in Einklang bringen was dort in der noch immer geschlossenen Akte, die vor mir lag, stand. Sein Lächeln und sein offener Blick zeugten von Intelligenz. In seinen Augen lag nichts Böses, nichts Hinterhältiges. Nur Güte schienen diese Augen zu kennen.
Wohl auch deshalb hatten wir ihn so lange vergeblich gejagt, hatten Psychologen es so schwer gehabt, ein Täterprofil zu erstellen.
Ich konnte sie verstehen, die Kinder, dass sie bereitwillig mit ihm gegangen waren.
Nichts an diesem Mann schien böse zu sein, und doch hatte er sie getötet.
"Haben sie Sie ausgelacht, haben die Kinder über Sie gelacht“, stellte ich ihm die nächste Frage. "Über mich?", fragte er verwundert. "Nein, nicht über mich, sie haben einfach gelacht, weil sie glücklich waren." Immer noch schaute ich ihn unverwandt an, schaute ihm direkt in seine Augen "Und das mochten Sie nicht, dass Lachen glücklicher Kinder?"Er schien zu überlegen. "Doch, das mochte ich", sagte er dann. "Aber warum, warum haben Sie sie dann getötet?"Ich wollte es, ich musste es wissen. "Weil sie glücklich waren", antwortete er. "Ich konnte es nicht ertragen, ihr Lachen und all ihr Glück. Sie sollten ruhig sein, ich konnte es nicht ertragen." Als er das sagte, schaute er mir direkt in die Augen.
Nun öffnete ich die Akte, entnahm ihr die Bilder. Die Fotos der toten Kinder.
In den vielen Jahren, die ich nun schon Polizist war, hatte ich vieles gesehen, hatte gesehen, wie grausam der Mensch in all seiner Perversion sein konnte. Hatte geschundene, misshandelte, getötete Leiber anschauen müssen. Aber nie hat mich das Morden so tief berührt, wie der Anblick dieser Kinder.
Sie wirkten so friedlich, wie sie dort saßen, wenn wir sie fanden. Nichts zeugte auf den ersten Blick von der Gewalt, die ihnen angetan worden war. Schlafend sahen sie aus. Angelehnt an den Stämmen von Bäumen, mit geschlossenen Augen. Die Hände in den Schoss gelegt. Viele hielten noch ihr Spielzeug, das letzte, mit welchem sie in ihrem jungen Leben spielen sollten, in ihren kleinen Händen. Immer wenn ich an solch einen Tatort gerufen wurde, spürte ich es. Der Tod gehörte nicht hierher, gehörte nicht zu diesen Kindern. Der Tod war so perfide und das Morden so unverständlich.
Jedes dieser Kinder war erwürgt worden. Mit bloßer Hand wurden die kleinen Kehlen zugedrückt, so lange, bis der Kehlkopf brach. Immer gingen mir dieselben Gedanken an diesen Tatorten durch den Kopf. Der Tod passte nicht hier her, passte nicht zu diesen Kindern. Es war so falsch und unwirklich.
Ich betrachtete ihn. Sah auf seine Hände nieder. Diese schlanken, gut gepflegten Hände, mit denen er gemordet hatte.
Ein Foto nach dem anderen entnahm ich der Akte, legte sie säuberlich in einer Reihe vor ihm auf den Schreibtisch. Eine lange Reihe. Jedes tote Kind ein Foto. Elf Bilder, elf ermordete Kinder.
"Warum?", fragte ich wieder.
Nein, er schaute nicht mich an, blickte nur in meine Richtung, schaute durch mich hindurch. Irgendwohin, dorthin wo ich ihm nicht folgen konnte.
"Ich habe selbst einmal Kinder gehabt", sagte er leise. "Sven und Daniela". Ein leichtes, sanftes Lächeln glitt für einen Moment über sein Gesicht. "Wir waren glücklich, eine glückliche Familie.“ Fast unhörbar waren seine Worte.
"Heike, meine Frau. Daniela, Sven und ich. Wir waren glücklich", flüsterte er. Ich konnte sehen, wie ihm eine Träne die rechte Wange herunterlief. Er machte keine Anstalten diese wegzuwischen, sprach einfach weiter, ebenso leise wie zuvor. "Es ist so lange her. So lange schon, als wäre es in einem anderen Leben gewesen. Wir waren jung, Sven und Daniela noch klein, erst sechs und sieben Jahre alt. Es ging uns so gut. Niemals hätte ich daran gedacht, dass das alles einmal zu Ende gehen würde. Ich verdiente gut und kurz nach unserer Heirat konnten wir es uns schon leisten, ein Haus zu bauen. Ein Haus mit einem großem Garten darum. Bald kam unsere Tochter Daniela auf die Welt. Schon das machte uns so wahnsinnig glücklich. Ein Jahr später wurde Sven geboren. Es war alles so, so perfekt." Leise und zögerlich sprach er. Nicht an mich waren seine Worte gerichtet. An irgendwen, der weit entfernt, nicht in diesem Raum saß, hatte er sich gewendet.
Ich schwieg, wollte ihn einfach erzählen lassen.
"Abends, wenn ich von der Arbeit heim kam, sprangen sie mir fröhlich und glücklich entgegen, meine Kinder. Die Wochenenden vergingen wie in einem endlosen, glücklichen Traum. Wir machten Ausflüge, oder spielten gemeinsam im Garten. Unser Haus war immer angefüllt mit Lachen. Ich wusste damals doch nicht, dass alles plötzlich einfach vorbei sein wird." Er schluckte, seine schlanken Hände hatte er nun ineinandergeschoben, ich konnte das Weiß der Fingerknöchel erkennen, als er begann, sich die Hände unruhig zu massieren. So als müsste er sich selbst von etwas zurückhalten.
"Als sie dann eines Morgens wegfuhren, konnte ich es doch nicht wissen, dass es das letzte Mal sein würde, dass ich sie sehen würde. Das letzte Mal, dass ich meine Frau in die Arme schließen und meinen Kindern fröhlich nachwinken würde. Immer noch höre ich ihr glückliches Lachen, sehe ihre strahlenden Gesichter und ihre Freude darauf, einen Tag bei ihren Großeltern verbringen zu dürfen. Ich sehe sie noch winken, als sie fortfuhren. Sie hatten mir doch versprochen wieder zu kommen. Alle drei wollten doch wiederkommen, das hatten sie mir versprochen!" Fast vorwurfsvoll sah er mich an. Seine letzten Worte hatte er fast herausgeschrien. "Was ist passiert?", fragte ich ihn leise, in dem Versuch ihn zu beruhigen. "Sie kamen nicht wieder. Sie hatten es mir aber doch versprochen", flüsterte er. Sein Blick war nun gesenkt, unverwandt starrte er auf seine Hände, die in seinem Schoss lagen und die er immer noch heftig knetete. Tränen rannen nun über sein Gesicht, tropften auf seine Knie. Das Sprechen fiel ihm sichtlich schwer. Ich öffnete die oberste Schublade meines Schreibtisches, holte eine Packung Papiertaschentücher hervor, die ich ihm entgegen schob. Zaghaft nahm er die Packung, entnahm ihr eines der Tücher und wischte sich damit übers Gesicht. Vergeblich versuchte er, den Tränenfluss zu stoppen.
Mitleid stieg in mir auf. Doch zwischen ihm und mir lagen immer noch die Bilder auf dem Schreibtisch. Die Fotos von elf toten Kindern.
Ich sagte nichts, ließ ihn sich erst einmal beruhigen. Wartete, bis er von sich aus weiter sprach. Minuten vergingen. Minuten, in denen nur sein heftiges Schlucken und das Summen der Neonröhre über unseren Köpfen zu hören waren.
Als er dann weitersprach, hatte er sich wieder etwas gefasst. "Sie kamen nicht wieder, obwohl sie es doch versprochen hatten. Ich wartete, den ganzen Tag über wartete ich, den ganzen Abend und die halbe Nacht. Aber sie kamen nicht wieder. Als es dann an der Haustür klingelte, war ich einen Moment so froh, dachte nur, sie hätten den Schlüssel vergessen. Doch vor der Tür standen nicht sie. Draußen standen zwei Polizisten, die mir sagten, sie würden nicht wiederkommen, nie wieder. Ein Unfall, ein verdammter Unfall!" Er hatte seinen Kopf wieder erhoben, schaute mir geradewegs in die Augen "Es war so unfair. Sie wollten doch wieder kommen, hatten es doch versprochen. Warum waren sie dann nicht gekommen, warum haben sie mich alleine gelassen?" Er sah mich an und ich spürte, er erwartete eine Antwort von mir. Eine Antwort, die ich ihm nicht geben konnte.
"Warum?", fragte ich ihn wieder. "Und warum jetzt? Das alles ist doch schon so viele Jahre her." Er zuckte mit den Schultern. "Ich habe so lange gewartet, immer hatte ich die Hoffnung, sie würden doch noch kommen, alles wäre nur ein Irrtum. Als ich begriff, dass es kein Irrtum war, stürzte ich mich in meine Arbeit. Ich arbeitete hart und konnte dabei all den Schmerz vergessen, der in mir war. Über die Jahre konnte ich ihn fast völlig begraben und manchmal ertappte ich mich dabei, dass ich fast schon ihre Gesichter vergessen hatte." Wieder hob er seine Schultern, den Anflug, seine Arme auszubreiten konnte ich in dieser Bewegung erkennen. "Als ich dann in Pension geschickt wurde, wurde alles so leer und plötzlich war alles wieder da. Wie damals, als die beiden Polizisten vor meiner Tür standen und mir sagten, dass sie niemals wieder kommen würden. Niemals mehr." Seine letzten Worte gingen fast in einem Flüstern unter. "Ich hielt es zu Hause nicht mehr aus, ging viel spazieren. Alles um mich herum war so leer geworden, so sinnlos." Wieder stellte ich ihm diese eine Frage. "Warum?"
"Ich wollte sie nicht töten. Ich wollte es wirklich nicht. Aber als ich bei meinen Spaziergängen an diesen Spielplätzen vorbei kam und das Lachen hörte ..." Wieder schaute er mich mit seinen klaren Augen an. "Sie waren so glücklich, die Kinder dort. Sven und Daniela würden niemals so glücklich sein. Ich wollte sie nicht töten. Ich wollte doch nur, dass sie aufhörten zu Lachen. Es tat so weh, sie so glücklich zu sehen. Ich wollte doch niemals einem der Kinder weh tun, nur ruhig sollten sie sein." Wieder liefen ihm die Tränen über die Wangen.
Ich schwieg lange. Erst nach Minuten betätigte ich die Sprechanlage, um einen Beamten hereinzubitten.
Vorsichtig sammelte ich die Fotos ein, welche immer noch auf dem Schreibtisch lagen, und legte sie in die Akte.
Als der Beamte eintrat, erhob sich mein Gegenüber. Auch ich erhob mich und wir schauten uns an. Ich sah in das freundliche Gesicht, eines älteren Herren, dessen offener Blick nun Tränenverhangen war. Ein scheues Lächeln huschte über dieses Gesicht, als er mir seine Hand zum Abschied reichte. Fast hätte ich sie in die meine genommen und ihm aufmunternd auf die Schulter geklopft. Doch letztendlich zog ich meine Hand doch zurück, blickte ihm nur in die Augen und kommandierte mit lauter und kräftiger Stimme: "Abführen!"
Als ich wieder alleine im Raum war, setzte ich mich, schob die Akte beiseite. Die Staatsanwaltschaft und die Psychologen würden sich nun mit diesem Fall befassen. Für mich war er abgeschlossen.
Hatte ich meine Antwort bekommen?
Die Antwort auf die Frage nach dem Warum?
Ich wusste es nicht.
Draußen war es dunkel geworden. Es musste schon spät sein. Ich würde mir in den nächsten Tagen wohl doch eine neue Uhr kaufen müssen.
Ich nahm meinen Mantel vom Garderobenhaken. Verließ das Büro. Trat hinaus in die Dunkelheit. Es regnete noch immer. Ich schlug den Mantelkragen hoch, steckte die Hände in die Taschen und machte mich auf den Heimweg. Der Regen klatschte mir ins Gesicht und ich spürte, dass ich krank werden würde.
Abschied ist die Geburt der Erinnerung.
Salvador Dali
Als Kind war meine Liebe zu dir bedingungslos, reichte bis weit hinter die Unendlichkeit.
Du warst da, immer. Egal ob ich krank war und du sorgenvoll und tröstend an meinem Bett gesessen hast. Egal ob ich in der Schule versagte, immer standest du an meiner Seite. Liebevoll, ohne Vorwürfe.
Du glaubtest an mich, auch dann, wenn niemand anderes an mich glauben wollte.
Wenn du mich zärtlich an dich drücktest, spürte ich, das, was uns verbindet, ist gültig für die Ewigkeit. Für immer unerschütterlich.
Was auch immer du sagtest, ich wusste, du hattest recht, mit allem. Deine Ansichten, deine Überzeugungen, wurden zu den meinen. Durch deine Augen schaute ich auf die Welt.
Meine Kindheit war fröhlich, war angefüllt mit glücklichem Lachen. Eine Kindheit, wie die wärmenden Strahlen der Sonne. Nur selten warfen dunkle Wolken Schatten auf meine Welt. Und wenn dieses doch einmal geschah, so sorgtest du dafür, dass diese Schatten verschwanden, sich auflösten wie ein kurzer, bedrückender Traum.
Erst als ich älter wurde, begriff ich, du warst nicht die Heilige, für die ich dich als Kind hielt.
Irgendwann verlor ich den Blick durch deine Augen und begann die Welt mit meinen eigenen zu betrachten.
Ich erkannte, nicht alles, was du mir beigebracht hattest, war die eine, unerschütterliche Wahrheit.
Nicht alles, was du tatest, war das einzig, immer Richtige.
Du versuchtest aus diesem kleinem Jungen, der ich einst war, einen Mann zu machen. Stark und Selbstbewusst sollte ich werden. Ich sollte austeilen können, aber auch wissen, wann es besser war einzustecken. Ich sollte wissen, wo die Grenze zwischen Unrecht und Recht lag. Ich sollte das Gute vom Bösen trennen können. Du versuchtest, mir all dieses beizubringen. Und doch, bald erkannte ich, dein Blick auf diese Welt war doch so eingeschränkt. Zu viel gab es dort draußen, zu vieles, was du nicht kanntest, nicht verstandest, nicht toleriertest.
Du versuchtest, mich zu erziehen. Mit Liebe, Zärtlichkeit, Verständnis und Ohrfeigen, die, wie du behauptetest, noch nie jemandem geschadet hatten.
Ich hätte dir gerne gesagt, doch, deine Ohrfeigen haben mir geschadet. Auch wenn ich nicht weiß wie sehr, so weiß ich doch, es ist nicht leicht, jemanden zu hassen, den man doch liebt. Nicht leicht für einen Erwachsenen und um so viel schwerer für das Kind, das ich war.
Ein Junge weint nicht, hast du oft zu mir gesagt. So oft, bis ich sie verlor, die Fähigkeit zu weinen. Nein, du bist nicht schuld daran, wusstest du doch nicht, wie quälend Schmerz und Trauer ohne Tränen sind.
Ich habe niemals verstanden, warum selbst noch in hohem alter, die Begeisterung zum Bund deutscher Mädchen so flammend in dir loderte. Nie habe ich es nachvollziehen können, warum du nicht begriffen hast, was man damals aus dir machen wollte - Soldatenfrau, Soldatenmutter, Gebärmaschine. Du warst zu jung, um das Mutterkreuz zu bekommen, aber hättest du es erhalten, gewiss hättest du es mit Stolz getragen. Nie würdest du es verstanden haben, welch ein Verrat dieses gewesen wäre. Den Verrat einer Mutter, zu der liebe ihres Kindes.
So wie die Liebe zu dir unerschütterlich schien, so war auch die Liebe zu Gott, welche du mir beibrachtest, unumstößlich.
Ich kann mich an deine Enttäuschung erinnern, als ich dir sagte, dass ich Atheist geworden bin. Die Welt da draußen und das, was sie mir zu zeigen bereit gewesen war, hatte meinen Glauben an Gott erlöschen lassen. Deine Enttäuschung war groß, umso kleiner war Dein Verstehen.
Du hattest mich gelehrt, jeder ist nicht nur für sich selbst verantwortlich, sondern auch für seinen Nächsten.
Als ich begann mich für meine ausländischen Kollegen einzusetzen, rietest du mir davon ab. Zu viel würde für mich auf dem Spiel stehen. Ich könnte meinen Arbeitsplatz verlieren.
Damals war es an mir, enttäuscht von dir zu sein.
Auch als ich begriff, für wie abscheulich und gotteslästerlich du die gleichgeschlechtliche Liebe hältst, war ich enttäuscht von dir. Ich war froh, nicht schwul zu sein. Du hättest mich verstoßen.
Du versuchtest, mir Toleranz beizubringen, und warst doch selbst so weit davon entfernt.
Ich weiß nicht, ob du jemals verstanden hast, warum es mich hinauszog. Hinaus in die Welt, die mit so vielem auf mich wartete. Hinaus, weg von diesem kleinbürgerlichem leben. Weg auch von dir.
Ich weiß nicht, ob du das Warum verstanden hast. Doch du hast mir niemals Steine in den Weg gelegt, warst sogar ein wenig Stolz auf mich, auch wenn ich wusste, es bereitete dir Furcht, mich zu verlieren.
Dafür bin ich dir unendlich dankbar.
Du hast mir die liebe zur Literatur näher gebracht. Du hast mir gezeigt, welch ein Wunder diese sechundzwanzig Buchstaben sind. Ziffern, welche uns Abenteuer erleben lassen und uns all das da draußen erklären, selbst erleben und zu verstehen helfen.
Du hast mir die Fähigkeit gegeben, meine Gedanken und Gefühle in Worte zu fassen. Wenn auch nur auf dem Papier.
Auch hierfür bin ich dir unendlich dankbar.
Als ich erwachsen wurde und deine Ansichten, deine Gedanken und Überzeugungen, nicht mehr die meinen waren. Du vieles von dem, was mich bewegte, nicht mehr verstehen konntest, gab es trotzdem nie ein böses Wort zwischen uns.
Dafür bin ich dir dankbar.
Und als ich dir damals, vor so vielen Jahren diesen Brief schrieb. Den Brief, in dem ich versuchte all das, was uns verband, in Worte zu fassen. In dem ich versuchte dir zu erklären, dass ich dich noch immer Liebe, auch wenn du es mir nicht immer leicht gemacht hast, dich zu lieben.
Diesen Brief, in dem ich dir all das schrieb, was ich mich nie getraut hätte zu sagen. Den Brief, welcher mit den Worten endete, ich danke dir. War dieses, dieser Brief, dass wohl Wichtigste, was ich je zu Papier brachte.
Damals, als du diesen Brief last, hast du verstanden.
Auch dafür bin ich dir dankbar.
Heute bin ich froh darüber, dass ich den Mut hatte, dir all das zu schreiben, als es dich noch gab.
Für deine kleinen Unzulänglichkeiten war ich dir niemals böse, wusste ich doch, du warst ein Kind deiner Zeit, so wie ich das der meinen bin.
Als dann der Anruf kam, hätte ich gerne geweint, doch selbst das weinen um dich war mir nicht möglich. Du hattest es geschafft, mir selbst diese Tränen weg zu dressieren.
Wolltest du dieses?
Nur mein Zittern begleitete das Begreifen, dass es dich von nun an nicht mehr gab. Dass dieses nun der Abschied war, ein Abschied für immer.
So viele Jahre ist dieses nun her. Aber noch immer denke ich an dich.
Ich bin froh und weiß, welches Glück ich gehabt habe, dass gerade du meine Mutter warst.