15 Eisen bis zum Himmel - Ralf von der Brelie - E-Book

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Ralf von der Brelie

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Beschreibung

15 Eisen bis zum Himmel

 

Geschichten, geschrieben vom Leben selbst:

Über Kindersklaven und einen Amoklauf. Verbrechen und kaltblütigen Mord. Über Krieg und die Frage danach, was Hass ist. Erinnerungen an meine eigene Schulzeit und einen ziemlich verrückten Lehrer.

Über die Liebe, die Sehnsucht danach und die Hoffnung und über ein Kind, welches viel zu früh sterben musste und viele weitere Erzählungen.

 

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Ralf von der Brelie

15 Eisen bis zum Himmel

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Innhaltsverzeichnis

 

 

 

- 15 Eisen bis zum Himmel

 

- Engelstränen

 

- Ein totsicheres Ding

 

- Denen man nicht vergibt

 

- Was ist Hass?

 

- Große Pause

 

- Sehnsucht nach Sepia

 

- Mit Schraubenzieher, Schulterklopfen und einer Schippe Mehl

 

- Zeit zum Aufstehen

 

- Weihnachtskind

 

- Richard

 

- Sommerflausen

 

- Wer den Wind sät ...

 

- Der letzte König

15 Eisen bis zum Himmel

 

 

 

Ich presse meinen Kopf in das feuchte, nach Schimmel riechende Stroh. Das Brennen in meiner Lunge ist kaum zu ertragen und ich weiß, wenn ich jetzt dem Drang zu husten nachgebe, würde flammender Schmerz daraus entstehen.

Langsam richte ich mich auf, lehne meinen Rücken an die klamme Wand hinter mir. Umschließe mit den Armen meine nackten Beine, die ich fest an meinen Körper gezogen habe.

In der schummrigen Dunkelheit starre ich auf die schwere, verschlossene Eichentür, die mir den

Zugang zu der Welt dort draußen versperrt.

Wird sie sich jemals wieder für mich öffnen?

Werde ich je die Sonne wiedersehen, die Nähe des Himmels spüren dürfen?

 

Ich schließe meine Augen und in meinem Inneren sehe ich, wie sich die Tür langsam vor mir auftut. Wie sie knarrend nachgibt und ein schmaler Lichtschein in meine Einsamkeit hinein fällt.

Breiter und breiter wird dieser schmale Streifen. Erreicht endlich meine nackten Füße, klettert

langsam meine Waden hinauf, bis er mein Gesicht berührt und mich in wohlige Wärme taucht.

"Nein, öffne Deine Augen nicht. Noch nicht, nicht jetzt", flüstere ich in die Dunkelheit hinein. Zu schön ist dieser Traum, zu tröstend die trügerische Wärme, die meinen Körper umfängt.

Die Tür öffnet sich vollends und gibt den Blick auf den Himmel meiner Heimat frei. Der Duft frisch geschnittenen Grases durchströmt für einen Augenblick all meine Sinne.

Wiesen erstrecken sich bis zum Horizont, auf denen bunte Wildblumen all ihre Pracht entfalten und mich friedvoll empfangen.

"Du bist daheim", scheinen mich, die sich leicht im Sommerwind dahin wiegenden Blüten zu

begrüßen.

Von ferne höre ich den Klang meckernder Ziegen, die fröhlich unter der Sonne herumtollen.

Ich schaue den Pfad entlang, der sich in leichten Kurven, die Anhöhe hinaufwindet, hinter der sich unsere ärmliche Hütte verbirgt.

Leichten Schrittes folge ich dem Weg, den ich in der Vergangenheit so unzählige Male entlang

geschritten bin.

Unter meinen bloßen Füßen kitzelt mich der Sand. An meinen Beinen streichen sanft hohe, saftige Gräser entlang und alles, alles in dieser Welt scheint mich willkommen zu heißen.

Kein quälender Husten unterbricht meine beschwingten Schritte. Kein Brennen in den Augen

verschleiert mir den Blick auf all diese Pracht, von der ich weiß, dass ich ein Teil von ihr bin.

Leicht, fast vogelgleich erreiche ich die Kuppe der Anhöhe und schaue von dieser hinunter.

 

Als ich dort unten meine Mutter erblicke, fällt es mir schwer, nicht dem Drang nachzugeben,

sogleich hinunterzustürmen. Ihr mit weit ausgebreiteten Armen lachend um den Hals zu fallen. Ihr mit vor Glück erstickender Stimme begreiflich zu machen "ja, ich bin wieder zurück, endlich

daheim!"

Doch noch will ich widerstehen. Möchte das, was ich sehe, in mich aufsaugen. Es in meine Seele, in mein Herz hineinlassen, um es niemals wieder zu vergessen.

 

Ich schaue mich um, sehe meinen Vater, wie er gleich dort vorne, neben dem kleinem Schuppen, Holz hackt.

Seine starken, von all den Jahren schwerer Arbeit schwielig gewordenen Hände, packen einen Scheit nach dem anderem. Mit kräftigem Hieb lässt er das Beil hernieder sausen und das Holz

zerbirst unter der Wucht seines Schlages.

 

Dann höre ich das Lachen meiner Geschwister. Drei Mädchen, drei Jungen, von denen ich, mit

meinen 9 Jahren das älteste Kind bin.

Ihr fröhliches, unbeschwertes Lachen dringt zu mir hinauf und ich sehe wie sie fröhlich schreiend mit den Ziegen um die Wette laufen. Wie ihre nackten Füße kaum das Gras berühren auf dem sie

eilig hin und her hasten, mal den Ziegen ausweichend, mal sie einfangen wollend.

Ein Spiel, dessen Sinn ich nicht verstehe, dessen ausgelassene Fröhlichkeit aber die Sehnsucht in mir erwachen lässt, mittun zu dürfen.

 

Ich hebe meinen Kopf, schaue in den Himmel empor, der mir wieder so nahe ist, wie schon seit

langer Zeit nicht mehr.

Tief atme ich die würzige Luft ein, fühle, wie mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Wie sich meine Seele in mir auszudehnen beginnt, so frei und weit wie das Blau des über mir

dahinziehenden Firmaments selbst.

Ich breite meine Arme aus, fühle dieses unbeschreibliche Glück in mir, wieder dort zu sein, wo ich zu Hause bin.

 

Nun kann ich mich dem Drang nicht länger erwehren und will schon hinunterlaufen. Den schmalen Pfad entlang stürmen, um sie endlich wieder alle in die Arme zu schließen. Sie, die ich so lange nicht gesehen habe und denen ich jetzt, in diesem Moment, so nahe bin, wie noch nie zuvor in

Meinem, erst so kurzem Leben.

Doch da sehe ich, wie sich über mir der Himmel verdunkelt. Wie sich eine fast schwarze Wolke vor die Sonne schiebt und sich das eben noch so lebendige Licht in dunkle Schattenbilder wandelt.

 

Ich höre das leise Klirren, als die wenigen, glänzenden Münzen auf die grobe Tischplatte fallen.

Sehe, wie auch das letzte, fast beiläufig dahingeworfene Geldstück zur Ruhe kommt. Spüre die

bedrückende Stille, die darauf folgt.

Ich blicke auf, schaue in das ernste Gesicht meines Vaters, in die traurigen Augen meiner Mutter und schließlich in das kalte Lächeln des Fremden, der soeben zufrieden die wenigen Franken auf unseren ärmlichen Küchentisch hat fallen lassen.

Ich höre das leise Wimmern meiner Geschwister, die zu unseren Füßen auf den Dielen sitzen und die noch zu klein sind, um zu verstehen, was geschieht, aber doch begreifen, dass es etwas

Bösartiges ist und das ihnen Angst einjagt.

Ja, ich selbst begreife es nicht.

Wie konnten sie es tun. Wie war es nur möglich, dass meine eigenen Eltern mich für einige, wenige Taler, an diesen Fremden verkauften?

Endlos scheinende Augenblicke vergehen, bis mein Vater zögernd seinen Arm ausstreckt und die wenigen Münzen verlegen grunzend an sich nimmt und damit mein weiteres Schicksal besiegelt.

 

Vor mir sehe ich meine Mutter, wie sie sich schluchzend und weinend die Schürze vor das Gesicht hält. Nicht fähig, mir bei unserem Abschied in die Augen zu blicken.

Mein Vater, der einige Schritte auf mich zugeht. Seine Arme hebt, um mich ein letztes Mal

umarmen zu wollen. Diese dann aber wieder sinken lässt und beschämt zu Boden schaut.

Meine Geschwister, die sich im Hintergrund fest umklammert halten und noch immer nichts von

alledem begreifen können.

Dann spüre ich, wie der Fremde an meiner Jacke zieht. Drängend, fordernd. Wie er mich schließlich mit sich zerrt, um für ewig Sklave zu sein.

 

Krachend schlägt die Eichentür zu, fällt der schwere Riegel von außen davor.

Werde ich aus der eben noch leuchtenden Freiheit zurückgeschleudert in das dunkle, schmerzhafte Jetzt.

Ich sitze da, reglos, und starre in das mich umgebende Nichts.

Fast zwei Jahre ist das alles nun her.

Zwei Jahre, in denen aus mir, einem damals 9-jährigem Jungen ein 11-jähriger Greis geworden ist.

Ich versuche in der Dunkelheit die Gesichter meiner Geschwister wieder zu finden. Versuche

vergebens, in meinen Traum zurück zu fliehen.

Doch statt meiner Schwestern und Brüder, tauchen vor mir die Gesichter meiner Eltern auf.

Ich blicke in die ernsten Augen meines Vaters, sehe hinab auf die Schwielen seiner Hände. Schaue in die traurigen Augen meiner Mutter und weiß, dass ich nicht länger hassen kann.

Ich schmecke Salz zwischen meinen Lippen, sehe selbst hier, in der Dunkelheit, wie langsam aber stetig, ein Tropfen nach dem anderen auf meine nackten Oberarme fällt, die ich noch immer fest um meine Knie geschlungen habe.

Es wundert mich, dass ich, trotz allem, noch immer weinen kann.

 

Wie an jedem Morgen, wird die schwere Tür geöffnet und ich werde von meinem Meister

herausgezerrt.

Ja, die Tür öffnet sich, doch in meinem Herzen bleibt sie für immer verschlossen.

Fußtritte begleiten meine mühsamen, Schmerz bereitenden Bewegungen. Schimpfworte prasseln auf mich herab, gegen die ich mich schon lange nicht mehr zur Wehr setze.

Wortlos folge ich dem Meister hinaus auf die Straße. Stumm trabe ich hinter ihm her.

Unser Weg führt uns durch enge Gassen, verwinkelte Wege und über breite Straßen in einer Stadt, deren Namen mir vor kurzer Zeit noch völlig unbekannt war.

Mailand. Groß und mächtig in all ihrem Glanz, der für mich aber aus nichts anderem als

Schornsteinen und in den Augen brennendem Ruß besteht.

Der Meister geht voraus, dabei unablässig unsere Dienste anbietend.

"Schornsteinfeger!", ruft er mit lauter und dröhnender Stimme, die selbst den Lärm der

erwachenden Stadt übertönt.

"Schornsteinfeger!"

 

Wenn ich seinen weit ausholenden Schritten nicht folgen kann, zerrt er mich an den Armen, stößt mich vorwärts oder schlägt mir mit den Knöcheln seiner, zur Faust geballten Hand auf den Kopf.

Ich weiß nicht, wohin wir gehen. Schaue nicht auf. Halte meinen Kopf gesenkt und folge nur den zwei ledernen Stiefeln, die vor mir weggehen.

Irgendwann halten wir an und ich höre, wie der Meister mit einer älteren Dame feilscht.

Wie er meine Fähigkeiten in den höchsten Tönen und mit ausladenden Bewegungen lobt.

Die Dame nickt schließlich und weist uns den Weg in ihr Haus.

 

Wir stehen vor einem großen Kamin in der Küche.

Schon seit Stunden ist dieser erloschen und doch, noch immer entsteigt seinem Schlund glühende Hitze.

Ich weiß, was mich erwartet. So viele Male schon bin ich hinaufgeklettert. Habe diese fremde Stadt nur durch all seine Kamine und Schornsteine kennengelernt, habe schließlich irgendwann die Angst verloren vor der Enge, der Dunkelheit, der Hitze und dem, in meiner Lunge brennendem Ruß.

 

Der Meister legt mir einen Strick um die Taille, bandagiert meine Hände mit Leinentüchern und legt mir schließlich ein ebensolches, feuchtes Tuch über den Mund, welches er hinter meinem Kopf mit festem Knoten zusammenschnürt.

Es soll mich vor dem Einatmen des Staubs schützen, macht aber das Atmen selbst fast unmöglich.

Er drückt mir eine Stahlbürste in die Hand und stößt mich schließlich vorwärts. Ich erklimme die Kaminbrüstung, stecke meinen Kopf in den heißen Schlund und erblicke das erste Steigeisen im

Inneren des Schornsteins, an dem ich mich langsam hochziehe.

Um mich herum herrscht fast absolute Dunkelheit. Nur ganz dort oben, weit über meinem Kopf,

erkenne ich das kleine, helle Quadrat, welches mir das Ende des Schornsteins weist.

 

Mit der Bürste versuche ich den festsitzenden Ruß von der Innenseite des Kamins zu lösen.

Staub wirbelt auf, brennt in meinen Augen, durchdringt auch den feuchten Lappen vor meinem Mund. Mit meiner freien Hand umklammere ich das Eisen. Noch immer ist es heiß und trotz meiner bandagierten Hände, spüre ich, wie meine Haut verbrennt. Wie der Schmerz von den Handflächen langsam durch meinen Körper kriecht und mir die Sinne vernebelt.

Ich beiße fest die Zähne zusammen, greife das nächste Eisen, das schwarz und drohend über mir aus der Wand ragt.

Heiße Luft dringt in meine Lungen und mit ihr beißender Ruß, der sich in meinem Innersten wie ein bösartiges Tier festkrallt.

Ich versuche dem Drang nicht nachzugeben, muss mich ihm aber schon nach kurzer Zeit ergeben und ein heftiger Hustenanfall durchpeitscht meine Lungen. Lässt die glühende Luft in mir, zu

feurigen Bällen explodieren, die sich in mir ausbreiten und meinen Brustkasten scheinbar zum

Zerbersten bringen wollen.

Tränen steigen in mir auf. Tränen des Schmerzes und der Verzweiflung. Brechen aus meinen Augen hervor, laufen mir die Wangen hinunter und hinterlassen in meinem rußgeschwärztem Gesicht helle Streifen.

Während ich weiter mit der Bürste die Wände bearbeite, greife ich zum nächsten Eisen. Dann noch eines und noch eines.

15 Eisen, dann öffnet sich über mir der Himmel.

 

Ich schiebe meinen Kopf aus dem Kamin, reiße mir den schmutzigen, noch immer feuchten Lappen vom Gesicht und spüre, wie mir die klare, kühle Luft hier oben langsam die Tränen trocknet. Wie ein leichter Wind durch meine Haare fährt, wie sich meine Lungen ganz allmählich mit sauberer Luft füllen und ich endlich wieder atmen kann.

 

Von unten höre ich die Stimme des Meisters. Er ruft irgendetwas empor zu mir, doch seine Worte prallen an mir ab.

Hier oben habe ich keine Angst mehr vor ihm, der mir nicht folgen kann. Hier oben, über den

Dächern von Mailand bin ich dem Himmel so nahe, wie ich es nur früher war. Damals, in einem

anderem, so fernem Leben.

Plötzlich fühle ich mich leicht, fühle allen Schmerz von mir abfallen, spüre die Leichtigkeit des

Augenblickes und weiß mit einem Mal, dass ich nie wieder einen der Schornsteine dieser Stadt

erklimmen werde müssen.

 

Ich klettere vollends aus dem Schornstein hinaus, löse den Knoten des Seils, welches mir der

Meister um meine Taille gebunden hat. Lasse die Bürste, die ich eben noch fest umklammert hielt, einfach meiner Hand entgleiten. Entferne die Bandagen von meinen Händen und lasse auch diese achtlos fallen. Ich werde sie nicht mehr brauchen. Nie wieder!

Vorsichtig lasse ich mich von dem Rand des Schornsteins auf den Dachfirst nieder.

Unter mir erblicke ich die unzähligen Dächer der Stadt, sehe all die vielen Schornsteine, von denen ich in den vergangenen Jahren so viele schon bestiegen habe.

Ich schaue in den Himmel über mir. Erblicke das unendliche Blau, folge mit meinen Augen den

wenigen weißen Wolken am Himmel und frage mich, ob sie wohl dahin treiben werden, wo mein Zuhause ist.

 

Ich sehe meine Geschwister, meine Eltern vor mir. Erkenne, wie auch sie jetzt, in diesem

Augenblick, in den Himmel schauen und sehen, was ich sehe.

Wärme steigt in mir auf und ich spüre, es ist nicht die quälende Hitze einer der vielen Schornsteine, sondern die wohlige Wärme, wenn Glück durch die Adern fließt und das Herz weit und offen macht.

 

Ich lächle, als ich meine Beine leicht anwinkele und mich vom Dach abstoße.

Ich sehe wie sich die schwere Tür mit einem einzigem Ruck unter mir öffnet. Atme den Duft des frisch geschnittenen Grases, schmecke die würzige Luft, höre das fröhliche Meckern der Ziegen,

sehe die bunte Pracht der Blumen auf den Wiesen und wie mir diese wohlwollend zunicken. Ich

höre das Lachen meiner Geschwister und schaue in die Augen meiner Eltern, die nicht mehr ernst und traurig blicken, sondern fröhlich und liebevoll meine Rückkehr erwarten.

Ich falle, stürze hernieder und unter mir öffnet sich der Himmel.

 

 

 

 

Epilog

 

 

 

 

Es gibt viele Formen der Sklaverei.

Die Versklavung von Kindern ist aber wohl die grausamste.

 

Noch bis ins Jahr 1950 wurden 6 bis 12-jährige Buben aus dem Tessin aus Not von ihren Familie verkauft, um als Kaminkehrer in Mailand zu arbeiten.

Die Arbeit war hart und ungesund.

Hunger, Kälte, Krankheit, Spott und Einsamkeit waren ihre ständigen Begleiter.

Viele von ihnen überlebten diese Torturen nicht.

Noch heute treffen sich jedes Jahr im Herbst, in Val Vigezzo/Italien, Kaminfeger aus der ganzen Welt; im Andenken an die Kaminfeger-Kindersklaven.

Diese Erzählung ist all diesen unzähligen Kindern gewidmet.

Den Überlebenden, wie den Toten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Engelstränen

 

 

 

Leise lächelnd ging er die Straße entlang. Es war das erste Mal, dass allererste Mal in seinem

Leben, dass er sich so frei, so leicht, so unbeschwert fühlte.

Heute, heute endlich würde er es tun.

 

Die letzten Jahre waren die Hölle gewesen, und wenn er so recht darüber nachdachte, war denn sein ganzes bisheriges Leben nicht eigentlich die Hölle?

Nein, früher einmal, bevor das alles begann, musste es besser gewesen sein, glaubte er sich zu

entsinnen.

Er konnte sich doch daran erinnern, an sein Lachen, an glückliche, fröhliche Tage. Tage, in denen er geglaubt hatte, nichts könnte ihm geschehen und es würde immer so weitergehen.

Aber früher einmal, das war so lange her.

Früher einmal. Da war er noch ein Kind gewesen.

 

Wann hatte es begonnen?

Wann war es das erste Mal, das sie ihn verspottet hatten?

Über ihn lachten, ihn in den Pausen, auf dem Schulhof drangsalierten oder, wenn es für ihn gut lief, einfach nur mieden.

Selbst während des Unterrichts spürte er ihre Häme. Fühlte ihre Ablehnung, den Spott in ihren

Stimmen und die Blicke, die sich in seinen Rücken bohrten und so weh taten.

Ja, war er sich sicher, selbst seine Lehrer hassten ihn.

Sie mussten es doch merken, wie man sich über ihn lustig machte, wie sie, die anderen, über ihn

redeten. Aber sie taten nichts, schauten weg weil, so glaubte er, sie ihn genauso verabscheuten, wie alle anderen es taten.

 

Und er, er wusste nicht warum.

Wie oft hatte er es sich gefragt.

Warum nur?

Warum hassten ihn alle nur so sehr?

Er hätte es so gerne gewusst, damit er sich hätte ändern können.

Alles anders machen, Freunde finden und einer von ihnen werden.

 

Manchmal hatte er sich zu Hause im Badezimmer eingeschlossen, sich vollständig entkleidet, um sich im Spiegel zu betrachten.

War er hässlich?

Hässlicher als die anderen?

War das der Grund dafür, dass sie ihn nicht mochten?

Er hatte sich betrachtet, seinen Körper mit den Augen abgetastet. Zentimeter für Zentimeter war er an ihm entlanggewandert.

Solange bis er zu erkennen glaubte, dass nichts schönes an ihm war.

 

Wann hatte es begonnen?

War es nicht gleich, mit beginn seines Schuleintrittes gewesen, dass sie ihn mieden?

Oder war es erst später, als er das dritte Schuljahr wiederholen musste und deshalb in eine neue Klasse kam.

Älter als die anderen, größer und eigentlich auch stärker, traute er sich doch nicht, sich gegen sie zur Wehr zu setzen.

"Sitzenbleiber!", riefen sie ihm nach.

"Sitzenbleiber!"

Und er? Er schwieg.

Er war der Neue unter ihnen. Schüchtern und still setzte er sich an seinen zugewiesenen Platz.

Spürte, wie sie ihn heimlich betrachteten, hörte das leise Tuscheln und merkte, wie sie ihn

abzuschätzen, zu taxieren versuchten.

"Sitzenbleiber, Versager, Loser!", riefen sie ihm dann irgendwann nach, als sie sich einig darüber waren, wie er wohl darauf reagieren würde und sich endlich trauten, in dem wissen, er, er würde es sich gefallen lassen.

Ja, er ließ es sich gefallen.

Senkte den Blick, hörte ihre Worte und tat so, als würden sie nicht ihm gelten.

Versuchte seine Ohren taub, seine Augen blind und sein Herz frei von Schmerz zu machen.

Vielleicht hätte er damals noch eine Chance gehabt, sich ihnen entgegenzustellen. Hätte schreien und zuschlagen sollen um dem allem ein Ende zu setzten, bevor es noch so richtig beginnen konnte.

Doch er traute sich nicht, ließ es sich einfach gefallen und schimpfte sich selbst einen Feigling.

Er hatte Angst.

Angst vor ihnen, Angst auch vor seiner eigenen Wut, Angst davor, einem anderem wehzutun.

Angst, bis es irgendwann zu spät war, sich noch zu wehren.

Bis er irgendwann alle gegen sich hatte.

Bis es für ihn keinen Weg zurück mehr gab.

 

Die Zeit verging, er wurde älter und mit ihm wurden auch die anderen älter.

Irgendwann begannen sie ihn nicht nur mehr mit Worten zu verletzten. Schubsten ihn in den Pausen auf dem Schulhof umher. Bildeten einen Kreis um ihn. Stießen ihn hin und her, verhöhnten ihn,

bespuckten ihn gar und irgendwann traf ihn die erste Faust.

 

Ab da gab es keine Ruhe mehr für ihn, ab da, als er sich auch nicht getraute, sich gegen die Schläge zur Wehr zu setzen, lauerten sie ihm selbst außerhalb der Schule auf.

Fuhren spottend mit ihren Rädern an ihm vorbei, spien ihn an, ließen ihre Räder achtlos fallen, um sich dann über ihn herzumachen.

Faustschläge, Tritte, Ohrfeigen.

Ihr Speichel, auf seiner Kleidung, auf seinem Gesicht.

Ihre Worte, die wie Messer waren.

 

Zu Hause erzählte er nichts von alledem.

Er wollte nicht auch zu Hause noch der Versager sein.

Waren seine Verletzungen doch einmal nicht zu verstecken, suchte er nach Ausreden.

Gestolpert, gestürzt, hingefallen.

Und sie, seine Eltern glaubten es.

Ein Tollpatsch eben.

Die wenige male, die er es doch nicht zu vertuschen vermochte, dass sie ihn geschlagen hatten, nahm seine Mutter ihn in die Arme.

Versuchte ihn zu trösten. Sagte ihm, es sei gut das er gegangen war, ohne sich zu wehren.

"Wer Charakter hat, dreht sich um und geht. Man schlägt sich nicht, nur die Dummen tun dieses".

Verstand sie doch nicht, wie weh es in der Seele tat.

 

So oft träumte er davon. Sah sich selbst stark und selbstbewusst, wie er den anderen entgegentrat.

Sah, wie seine eigene Faust hervorschoss, wie diese das Gesicht traf, welches ihn eben noch

hämisch angegrinst hatte, aus dem gerade all die verletzenden Worte hervorgesprudelt waren.

Sah das Blut seines Gegners, blickte in dessen überraschte, ungläubige Augen, die nicht begreifen konnten, dass er endlich kämpfte.

Spürte das Schulterklopfen und hörte die bewunderten Worte der anderen, die ihn gestern noch

gemieden hatten und heute seine Freundschaft suchten.

So oft träumte er vom Sieg und wusste doch, nur die Straße der Verlierer stand ihm offen.

 

Auch Angst war es wohl, die ihn vor wenigen tagen hat mitgehen lassen. Angst Nein zu sagen und die Gewissheit, sie würden ihn ja doch kriegen.

Neulich, zu diesem alten Haus, welches schon längst abgerissen sein sollte, dass aber immer noch stand. Verlassen, eine leere Ruine.

Als ihn die Jungs aufforderten, ihnen zu folgen, traute er sich nicht Nein zu sagen und bald schon standen sie alle unten, vor dem Eingang.

Eine schwere Kette versperrte die Tür, doch oben, gleich im erstem Stock, war ein Fenster

zerbrochen. Sicher eingeworfen, von herumstreunenden, gelangweilten Jungs, wie sie selbst welche waren.

Gemeinsam strichen sie um das Gebäude herum, auf der suche nach einem weiterem Eingang,

vielleicht einem Fenster, in dem das Glas zerborsten war.

 

Beinahe hätten sie die Leiter übersehen.

Gras hatte sie schon fast vollständig überwuchert und beinahe wären sie über sie hinweg gestolpert.

Die Leiter schien alt und im erstem Moment glaubten sie, nicht nur alt, sondern brüchig, morsch und unbrauchbar. Aber schon ein kurzer Blick genügte, um zu wissen, sie würde ausreichen um in den ersten Stock, bis hinauf zu dem zerbrochenem Fenster zu gelangen.

 

Er sollte der erste sein, der hinaufsteigen würde, befahlen sie ihm.

Langsam und vorsichtig erklomm er ängstlich eine Sprosse nach der anderen.

Knarrend und knarzend beschwerten sich diese, als sie sein Gewicht spürten. Aber sie hielten.

Der Geruch nach Staub und feuchter Luft zog ihm in die Nase, als er, oben angekommen, durch das Fenster ins Innere schaute.

Der Boden aus Holz, dessen Bretter sich im laufe der Jahre geworfen hatten.

An den Wänden Schmierereien, wie in Eile darauf gemalte Kritzeleien. Wörter und Sätze in

Fäkalsprache.

Ganz hinten, in einer Ecke des ansonsten leeren Raumes, eine schmutzige Matratze, um die sich herum allerlei Unrat angesammelt hatte - Papier, leere Flaschen, achtlos ausgedrückte

Zigarettenkippen.

 

Von unten kam die Anweisung hineinzuklettern. Sie, die den Befehl gaben, würden ihm schon

folgen. Nur er, er müsste erst einmal drinnen sein.

Er wusste es, doch trotzdem kletterte er durch das zerbrochene Fenster nach innen. Kaum hatte er dort den Fußboden berührt, hörte er ihr Lachen, hörte das schrammende Geräusch, als die Leiter weggezogen wurde. Ja, er hatte es gewusst, sie würden ihn hier alleine lassen wollen und doch war er ihnen gefolgt, war die Sprossen der Leiter hinaufgestiegen und hinein geklettert.

Warum?

Aus Angst und der Unfähigkeit, ihnen widersprechen zu können.

 

Nun stand er hier, in dem baufälligen Gebäude und atmete die nach Moder riechende Luft ein.

Vorsichtig setzte er einen Schritt vor den anderem. Traute er den rissigen Fußbodendielen doch nicht und befürchtete, sie könnten unter ihm nachgeben.

Er durchquerte den Raum und gelangte schließlich an eine Treppe, die nach unten führte.

Auch hier morsches, brüchiges Holz, aber was blieb ihm anderes übrig als die Stufen zu betreten, wenn er hinaus wollte?

Vorsichtig mit den Füßen tastend, nahm er eine Stufe nach der anderen und gelangte schließlich

heile unten an.

Ehemals weiße, durch die Jahre, dass alter und den Staub, grau gewordene Türen gingen von hier ab.

Er ging auf die nächstbeste der Türen zu, legte eine Hand auf deren Klinke und drückte diese

nieder.

Nein, verschlossen war sie nicht und so öffnete er sie vollends.

Vor sich sah er eine weitere Treppe, welche ebenfalls nach unten führte.

Fahles Licht fiel von draußen durch die, mit dicker Staubschicht bedeckten Fensterscheiben. Nur schwach konnte er in diesem Licht die Stufen erkennen und trotzdem ging er sie hinunter.

Hier unten war die Luft noch feuchter, roch noch abgestandener als oben.

Er wusste, dass er sich nun im Keller befand.

Hier unten herrschte mehr Schatten als Licht und so tastete er sich langsam an den Wänden entlang.

Dort vorne, ein schwacher Lichtschein aus einem der Räume.

Er folgte diesem und stand nun im Kohlenkeller.

Er schaute um sich. Dort oben, eine kleine Luke, die nach draußen führte. Kein Fenster, kein Gitter versperrte diese. Nur hinaufkommen müsste er, um in die Freiheit zu gelangen.

Suchend schaute er sich um.

In einer Ecke des Raumes lagen noch Reste von Kohlen, daneben einige Holzscheite.

Er müsste nur das Holz unter die Luke stapeln, dachte er, und es würde gewiss ausreichen, um den Rand der kleinen Öffnung mit den Händen erreichen zu können und sich daran hochzuziehen.

Nach und nach nahm er die Scheite, trug diese dorthin, wo die Luke ihm die Freiheit versprach.

Hier stapelte er die Holzstücke an der Wand empor.

 

Beinahe hätte er das kleine Päckchen übersehen.

Unter dem Holzhaufen lag es und zuerst wollte er es mit dem Fuß wegkicken. Aber seine Neugier war stärker, so hob er das, was er gerade fast achtlos beiseitegestoßen hätte, mit den Händen auf.

Ein in dünnes Leinentuch gewickelter Gegenstand.

Vorsichtig wickelte er das wohl ehemals helle, nun aber grau und staubig gewordene Tuch von dem Gegenstand ab. Darunter kam Ölpapier zum Vorschein.

Irgendetwas fiel ihm vor die Füße. Er bückte sich danach. Ein weiteres, noch kleineres Päckchen hielt er in den Händen. Es musste aus dem größerem herausgefallen sein.

Langsam entfernte er zuerst das Papier von dem größerem Ding.

Selbst hier, im fahlem Licht, welches von draußen hereinfiel, konnte er erkennen, was er nun in der Hand hielt.

Noch nie hatte er eine in der Hand gehalten und es wunderte ihn, wie schwer sie war.

Langsam umschloss seine rechte Hand den Griff des Gegenstandes. Es fühlte sich gut an.

Schwarz und glänzend lag die Pistole nun in seiner Hand. Stärke, Glück und ja, Macht durchströmte ihn.

Ein Gefühl, so leicht, wie er es nie zuvor gekannt hatte.

Schnell wickelte er auch das kleinere Päckchen aus und, fast hatte er es geahnt, eine Handvoll

messingglänzernder Patronen kam aus diesem zum Vorschein.

Sein Herz schlug rasend gegen seine Brust. Hatte er jemals etwas ähnlich Schönes in den Händen gehalten?

Vorsichtig, fast zärtlich strich er mit den Fingern über das schwarz glänzende Metall. Andächtig, mit leuchtenden Augen, die selbst die ihn umgebende Dunkelheit nicht zu verbergen mochten,

betrachtete er das, was in seinen Händen lag.

Warum fühlte er sich mit einem Mal so glücklich?

Woher kam diese seltsame Leichtigkeit, die all die erlittene Pein der vergangenen Jahre fast

vergessen machte?

Die Antwort auf diese Fragen kam mit einer Gewissheit, die ihn wie ein heftiger Schlag traf.

`Freiheit! ´, dachte er `Freiheit und Frieden und das Ende aller Schmerzen´ durchfuhr es ihn.

 

 

******

 

 

Nie hat man ihn so glücklich gesehen. Selten ein so leises, sanftes Lächeln erblickt. Selten in Augen geschaut, die so tief und abgründig waren, wie die seinen.

Das würden die wenigen Leute später sagen, die ihm auf seinem kurzem Weg begegneten.

Er sah sie nicht, fühlte nichts, spürte nur den kühlen Stahl unter seiner Jacke.

Er hatte nichts beschlossen, hatte nicht selbst eine Entscheidung gefällt.

Er ging, weil ES wollte, dass er diesen Weg beschritt.

 

So oft hatte er den Schulhof schon betreten und doch war es, als wäre es das erste Mal in seinem Leben.

Er wusste nicht, dass er die Waffe lange schon gezogen hatte, als er durch die große schwere Tür schritt.

Er hörte die Schüsse nicht, nicht die Schreie. Sah die fallenden Körper nicht, roch nicht das

herausströmende Blut.

Erst den Blick in den Lauf der Pistole nahm er wieder war. Spürte dessen Wärme, als er sich diesen an die Schläfe setzte. Hörte das Rauschen, als er in die Dunkelheit fiel.

Tief und Jenseits allen Schmerzes.

 

Waren es die falschen Spiele, die er spielte, die falschen Filme, die er sah?

War es gar Musik, die ihm den Kopf verdrehte?

Es waren falsche Worte, falsche Taten, dass falsche Leben, welches ihn zum Täter machten.

Es war der Schmerz in seinem Herzen, das brechen seiner Seele, die Qual Tag ein, Tag aus, die ihn zum Opfer werden ließen.

Auch Engel können Weinen, Tränen rot wie Blut.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ein totsicheres Ding

 

 

 

Die erste Fuhre war abgeladen. Die Mittagssonne stand hoch am Himmel, Schweiß rann mir über das Gesicht, meine Klamotten klebten mir am Körper und das, obwohl ich sowieso nur ein

Unterhemd und meine, durch den Kalk grau gewordene, dünne Arbeitshose trug.

Ich hasste diesen Job.

Ich hasste den Vorarbeiter, einen fiesen Typen, der glaubte, sich durch ständiges herumnörgeln

profilieren zu können.

Ich hasste auch meine Kollegen.

Sie machten diesen beschissenen Job schon seit Jahren und glaubten deshalb, dass recht auf ihrer Seite zu haben, wenn sie mich aufzogen und drangsalierten, nur weil ich der Neue war.

Ich hasste sie alle!

Na ja, nicht ganz. Miky war eigentlich ein ganz cooler Typ und der einzige, mit dem ich mich so

einigermaßen verstand.

 

"Nimm den Finger aus`m Arsch. Blumen Pflücken kannst`e später!" Brüllte mich der Polier an.

Drecksau, dachte ich. Spukte auf den Boden, wischte mir mit der flachen Hand den Schweiß von der Stirn und hievte mir den nächsten Sack auf die schmerzende Schulter.

Den ganzen Morgen schon hatte ich einen Zementsack nach dem anderem geschleppt.

Den ganzen Morgen schon mir die verfickte Fresse des Poliers anschauen müssen, wie er da