Mit den Ohren sehen - Viola Schmidt - E-Book

Mit den Ohren sehen E-Book

Viola Schmidt

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Beschreibung

Sprechen ist Teil unseres Verhaltens. Wenn wir sprechen, teilen wir uns anderen mit. Das gestische Sprechen geht von einem motivierten und intendierten Verhalten auf der Bühne aus. Es wurde aus dem von Bertolt Brecht beschriebenen Begriff des Gestus entwickelt und seither als Methode fortlaufend erweitert und aktualisiert. Die Sprechwissenschaftlerin Viola Schmidt hat die Methode des gestischen Sprechens entscheidend mitgeprägt und kann dabei auf eine langjährige wie internationale Erfahrung zurückgreifen. In diesem Praxishandbuch diskutiert sie die theoretischen Grundlagen des gestischen Sprechens und veranschaulicht diese durch verschiedene Spiele und Übungen. Ein unentbehrliches Buch nicht nur für Schauspieler und Sprecherzieher, sondern auch für Regisseure, Dramaturgen und alle, die das Sprechen auf der Bühne und im öffentlichen Raum interessiert. Mit zahlreichen Illustrationen von Philipp Kronenberg und einem Vorwort von Devid Striesow.

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Edition der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch

Für Tom und Bennet

Viola Schmidt

Mit den Ohren sehen

Die Methode des gestischen Sprechensan der Hochschule für SchauspielkunstErnst Busch Berlin

Inhaltsverzeichnis

Vorwort von Devid Striesow

Einleitung

Sprache als Zeichensystem – Sprechen als Handlung

Karl Bühlers Organonmodell

John L. Austin – Die Sprechakttheorie

Paul Watzlawick – Verhalten hat kein Gegenteil

Warum und wozu sprechen wir?

Was ist gestisches Sprechen?

Der Brecht’sche Gestusbegriff

Gestus und Geste

Wie funktioniert die Methode des gestischen Sprechens?

Die Realität des Theaters – wofür bilden wir aus?

Das hervorrufende Sprechen

Das handelnde Sprechen

Das formalisierte Sprechen

Das moderierende Sprechen

Wir wollen glauben, was wir hören

Sprechen im digitalen Zeitalter

Wie uns Konventionen beeinflussen und der Kopf den Körper kontrolliert

Spielen

Wenn wir im Flow sind

Blockierungen erkennen und lösen

Das Namenspiel

Sprechen aus der Körpermitte

Von der Rückenlage in die sitzende Position – das Dracula-Spiel

Im Schneidersitz – das Hallo-und-Adieu-Spiel

Von der gehockten in die hängende Position – das Hangover-Spiel

Die aufrechte Position – gemeinsam im Mittelpunkt

Wie wir zu einem guten Stand kommen

Körperspannung und Präsenz

Das Ballspiel 1

Das Ballspiel 2

Die Sprechatmung

Vorbereiten ist besser als kontrollieren

Wie wir dem Text Leben einhauchen

Atemreflexe nutzen – zu Luft kommen

Das Spiel mit Impulsen

Das Phänomen Stimme

Wie Stimmklang entsteht und uns verlässt

Wie wir uns sprechend einander aussetzen

Lustvolles Sprechen

Stimme im postdramatischen Theater

Die Materialität der Stimme

Fremde Sprachen klingen anders

Die durchlässige, tragfähige und durchsetzungsfähige Stimme

Wie wir Resonanzräume nutzen

Impedanz – der Widerstand des Raumes

Miteinander im Gegeneinander – von der Mühle zum Pendel

Wahrnehmung

Wie unsere Sinne zusammenarbeiten

Wie wir Wahrnehmungsreize verarbeiten

Wahrnehmungstäuschungen

Eindruck macht Ausdruck – Ausdruck macht Eindruck

Wie wir unsere Wahrnehmung erweitern können

Das Spiel mit den Akzenten

Wahrnehmungsmuster und Vorstellungskraft

Aufwärmen erhöht die Wahrnehmungsfähigkeit

Gedanken und Gefühle ausdrücken

Gefühle und Emotionen

Emotionen und Verhalten

Privat oder persönlich

Nonverbales Verhalten

Gestische Ausdrucksmittel

Lexikalisierte Gesten

Beschreibende Gesten

Spannung abbauende Gesten

Zeigegesten

Der Körper spricht

Prosodie – sprecherische Mittel

Akzentuierung

Rhythmus

Sprechmelodie

Sprechgeschwindigkeit

Lautstärke

Stimmklang und Gestus

Wie kommt der Mensch zur Sprache?

Der Spracherwerb

Die Fähigkeit zur Kooperation

Den Klang der Welt nachahmen – mit Sprache spielen

Das Klangballspiel

Dreiecksbeziehungen

Sprechen und Denken

Konzeptuelle Semantik – die Perspektive wechseln

Der Körper denkt mit

In Metaphern denken

Denken wir in anderen Sprachen anders?

Die Artikulation – das Denken ordnen

Aussprachestandards der deutschen Sprache

Die Vokale

Die Konsonanten

Koartikulation und Synkinese

Artikulation und Mienenspiel

Phonostilistische Varianten

Aussprachekorrekturen

Ausgewählte Übungen

Die Artikulationsorgane

Der gelöste Kiefer

Das aufgespannte Gaumensegel

Der weite Rachen

Die bewegliche Zunge

Die schwingungsfähigen Mundlippen

Die Sprechweise

Strukturierte Prosa – die Lenznovelle

Gebundene Sprache

Wie wir Verse erkennen

Metrische und sinngebende Takte

Versfuß und Versmaß

Verse sprechen – Ein gleiches

Syntaktische Gliederung im Vers

Das Enjambement

Inversionen

Die Arbeit am künstlerischen Text

Erlesen des Textes

Konzepte und Schemata – Sinn und Sinnlichkeit – Ein gleiches

Wie wir mit dem Text in einen Dialog treten

Mit dem Text handeln – Sprechsituationen

Odysseus/Penthesilea/Kleist

Die Situation wahrnehmen und Sprechhaltungen entwickeln

Sprechhandlungen durchsetzen

Die Sprache aushören

Fabulieren

Begleitende Übungen und Spiele

Der Gestus der Kleist’schen Sprache

Versmaß und Aussprache nutzen

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Über die Autorin

Vorwort

Es war der letzte Unterrichtstag im ersten Jahr an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Wir waren voller neuer Eindrücke, tief verunsichert, und die anfängliche Euphorie war gänzlich verschwunden. Jedenfalls bei mir. Ich wusste nicht mehr, was das ist – spielen! Dabei schien es doch so einfach zu sein, am Anfang. Ich dachte, dass ich es kann. Es sollte während des Studiums nur noch perfektioniert werden, und dann war’s das.

Und nun war das erste Jahr rum. Ich hatte zweimal die Woche das Fach Sprecherziehung bei einer gewissen Frau Doktor Schmidt und das Gefühl, dass ich nie wirklich wissen werde, was dieses verdammte GESTISCHE SPRECHEN überhaupt ist! Ich stand da, vor ihr, sie sah mich an, lehnte sich zurück und fragte mich in ihrer direkten Art: „Na ja, möchten Sie denn, dass wir im nächsten Jahr wieder zusammenarbeiten? Sie können mir ganz direkt sagen, wenn Sie den Sprecherzieher wechseln wollen, das ist wirklich kein Problem. Denken Sie doch kurz mal darüber nach!“

Mir lief es eiskalt über den Rücken, und einzelne Szenen aus den Unterrichtsstunden zogen wie ein Schnellzug vor meinem inneren Auge vorüber: Zum Beispiel dieser bescheuerte Text „Mann im Fahrstuhl“, den ich probiert und probiert, aber nie hinbekommen hatte. Dieses Gefühl – froh zu sein, wenn der Unterricht vorbei ist, aber trotzdem immer unzufrieden zu sein mit sich selbst. Und jetzt sollte ich wechseln dürfen – sollen – wollen? Aufgeben? Niemals!

Das zweite Jahr hat mir Mut gemacht, dass ich’s doch irgendwann kapiere. Ich konnte mich öffnen, die Verspannungen im Kopf lösten sich, und du, liebe Vio, hast das honoriert. Denn du hast alles ganz genau beobachtet. Immer. Und gnadenlos ausgewertet. Und so konnte ich lernen und weiterkommen.

Als ich fünfzehn Jahre nach dem Abschluss an der HfS auf der Bühne stand und eine bestimmte Stelle, einen tiefen, langen Schrei, nicht hinbekam, habe ich dich angerufen, und wir haben uns getroffen und zwei lange Stunden miteinander verbracht, die mir wahnsinnig Spaß gemacht und geholfen haben. Und zum Abschied sagtest du: „Wenn was ist, melde dich einfach wieder – jederzeit!“ Und das werde ich.

Jetzt hast du deine Methode aufgeschrieben.

Liebe Vio, ich bin dir unendlich dankbar.

Devid Striesow

„Es geht ums Hinsehen, begreifst du?

Das ist das Wichtigste: Schau hin!

Versteh die Leute. So schwer ist das nicht.

Sie sind nicht kompliziert.

Sie wollen nichts Ausgefallenes, nur will jeder das,

was er will, auf etwas andere Weise.

Und verstehst du einmal, auf welche Weise

einer etwas will, dann musst du nur wollen wie er,

und dein Körper wird folgen,

dann ändert die Stimme sich von selbst,

dann blicken auch deine Augen richtig.“

Daniel Kehlmann, Tyll

Einleitung

Seit über dreißig Jahren bin ich Sprecherzieherin. Fragen mich Menschen außerhalb meines unmittelbaren Arbeitsumfelds nach meinem Beruf, wird meine Antwort häufig korrigiert: „Ach, Sie sind Spracherzieherin. Welche Sprache?“ Weise ich darauf hin, dass ich Schauspielstudierende unterrichte, höre ich manchmal: „Die können ja schon sprechen.“ Was wird im Fach Sprechen vermittelt? Die Erwartungen der Erstsemester sind unterschiedlich. Atem und Stimme sollen trainiert, Zischlaute und mundartliche Färbungen korrigiert werden. Manchmal wird auch der Wunsch geäußert, wie bekannte Schauspieler zu klingen. Doch die an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch entwickelte Methode des gestischen Sprechens kann viel mehr. Sie bedient sich unserer Fähigkeit zur Kommunikation, über die wir als biologische und soziale Wesen verfügen, und lädt zum spielerischen Umgang mit gesprochener Sprache ein. So bilden sich Kompetenzen und Fertigkeiten heraus und unsere Ausdrucksmöglichkeiten werden erweitert.

Begleiten Sie mich in den folgenden Kapiteln dabei, Ausdruckspotenziale zu entdecken und zu entwickeln. Lernen Sie die Methode des gestischen Sprechens kennen. Erfahren Sie, worauf sie gründet und wie sie angewendet wird.

Das Sprechen ist ein vielschichtiges Phänomen. Wir werden es aus vielen Blickwinkeln betrachten und die Perspektiven häufig wechseln. In einem spiralförmigen Lehr- und Lernprozess werden wir einige Umwege gehen und mit neuen Anregungen immer wieder zu unseren Ausgangsfragen zurückkehren. Die Ausbildung des Sprechens auf der Bühne bleibt unser Bezugspunkt. Wie das gestische Sprechen unsere basalen Fähigkeiten sinnlich erlebbar macht und weiterentwickelt, vermitteln ausgewählte Übungen und Spiele. Die Methode bedient sich natur- und gesellschaftswissenschaftlicher Gesetzmäßigkeiten. Wenn wir ihr ganzheitliches Prinzip verinnerlicht haben, können wir selbstständig damit arbeiten. Die Übungen sind wiederholbar, in anderen Zusammenhängen anwendbar und können verändert und neu erfunden werden, ohne den Grundsatz des handelnden Sprechens unter Berücksichtigung konkreter Kommunikationssituationen aufzugeben.

Wir leben in einer Zeit, in der wir Sprache zunehmend lediglich als Mittel zur Informationsübertragung verwenden. Wir reden über Gefühle, ohne sie zuzulassen. Die Methode des gestischen Sprechens stellt den handelnden Menschen in das Spannungsfeld, das sich zwischen Wahrheit und Lüge auftut, um das Denken und Erleben zu erweitern und Klarheit in das Chaos der Welt zu bringen. Darum lege ich den Studierenden und Absolventen die Prinzipien des gestischen Sprechens ans Herz und empfehle sie ihrem Verstand. Aber nicht nur Schauspieler, sondern auch Regisseure, Puppenspieler, Choreografen, Dramaturgen, Autoren und alle, die öffentlich sprechen, profitieren von diesem Training. Interessierte Fachkollegen sind eingeladen, die Methode zu entdecken oder einen neuen Blick auf die Prinzipien des gestischen Sprechens zu werfen. Dass die Methode und ihre Anwendung die rasanten Entwicklungen unserer Zeit aushalten kann, bleibt zu hoffen. An den Veränderungen unserer Welt wird immer wieder neu zu überprüfen sein, wie sich die Sprache und das gestische Sprechen entwickeln.

Ohne die vielen Studierenden, die über die Jahre mit mir gearbeitet haben, gäbe es dieses Buch nicht. Vor allen anderen gilt ihnen allen mein Dank für ihr Vertrauen und den lustvollen Dialog, den ich mit ihnen führen durfte. Mein besonderer Dank gilt meinem Kollegen und Mentor Klaus Klawitter sowohl für Lob als auch Kritik auf meinem Weg in den Beruf und für dieses Buch. Ich bedanke mich bei dem Kollegium der Fachgruppe Sprechen für Rat und Tat und beim Rektor der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch, Holger Zebu Kluth, für die hilfreiche Unterstützung. Philipp Kronenberg sei bedankt für die grafische Umsetzung meiner Gedanken. Ein herzliches Dankeschön geht an meine Lektorin, Nicole Gronemeyer. Danke Mathias für dein geduldiges Zuhören. Danke Devid für dein freundliches Vorwort.

Aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit habe ich auf die gleichzeitige Nennung weiblicher und männlicher Sprachformen bzw. genderneutrale Begriffe verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.

Sprache als Zeichensystem – Sprechen als Handlung

Sprache ist ein abstraktes System, Sprechen ist ein sinnlicher Vorgang. Sprache besteht aus Zeichen, die an Vorstellungen gebunden sind. In der gesprochenen Sprache ist das Zeichen ein akustisches Ereignis – ein Lautbild. Wenn wir z. B. das Wort Tisch aussprechen oder hören, können wir uns ein Möbelstück vorstellen. Die gesprochene Sprache besteht aus Sprachlauten. Das sind Vokale und Konsonanten, die wir als unterscheidbare Schallereignisse wahrnehmen. Das Wort Tisch besteht aus drei Lauten. Die Konsonanten /t/ und /sch/umschließen den offenen Vokal /i/. Die Kombinationsmöglichkeiten von Sprachlauten sind in den jeweiligen Sprachen durch Regeln festgelegt. So lässt die deutsche Sprache z. B. die Verbindung /frf/ in einem Wort nicht zu, obgleich /fr/ im Wort /frisch/ und /rf/ im Wort /darf/ möglich ist. Diese phonotaktischen Regeln bilden zusammen mit zu Worten zusammengesetzten Lauten und den Regeln der Grammatik das System Sprache. Eine beliebige Sprache enthält immer ein begrenztes Inventar an Sprachlauten. Mit diesem Inventar und den dazugehörigen Regeln kann eine unendliche Menge an Bedeutungen hervorgebracht werden. Im Sprechen verkörpert sich das Bedeutung erzeugende System Sprache. Wenn wir das Wort Tisch in einer konkreten Kommunikationssituation aussprechen, fügen wir der einfachen Wortbedeutung weitere Bedeutungen hinzu. Je nachdem, wie wir das Wort Tisch aussprechen, können wir den konkreten Tisch z. B. bewundern oder abwerten. Wir bringen also zum Ausdruck, ob es sich um einen besonders schönen oder einen hässlichen Tisch handelt. Dadurch stellen wir eine Beziehung zu einem konkreten Gegenstand und zu einem oder mehreren Hörern her. Wir übertragen demnach sowohl Bedeutungen, die sich auf uns als Sprecher als auch auf den Tisch und darüber hinaus auf den oder die Hörer beziehen.

Sprechen und Hören oder allgemeiner formuliert Senden und Empfangen bedingen einander. Wir kommunizieren, wobei wir Informationen übertragen und austauschen. Menschen, Tiere, Pflanzen, Maschinen bedienen sich dieses Transfers auf unterschiedliche Weise. Die Naturwissenschaft beschreibt ein Kommunizieren auf molekularer Ebene als Prinzip, Leben zu erhalten und zu verändern. Können wir diesen Grundsatz in der menschlichen Kommunikation erkennen? Müssen wir kommunizieren, um uns zu erhalten? Meiner Ansicht nach lautet die Antwort Ja, aber wir werden dieser Frage weiter nachgehen. Informationen sind an Zeichen gebunden, die Bedeutungen tragen. Können die Bedeutungen entschlüsselt werden, führt das dazu, dass wir einander verstehen. Eine gemeinsame Sprache erleichtert die Verständigung, anderenfalls sprechen wir „mit Händen und Füßen“. Dann sind wir, um uns verständlich zu machen, auf Zeichen angewiesen, die nicht an eine Sprache gebunden sind. Diese Zeichen senden wir in jeder Kommunikation unentwegt aus. Körper und Atem, Stimme und Aussprache, Mimik und Gestik übertragen Bedeutung. Unser gesamtes Verhalten wird entschlüsselt und führt zum Verstehen oder Missverstehen. Und unser Verhalten ist an Situationen gebunden, die konkret und beschreibbar sind.

Meine Verständigung mit der freundlichen Bedienung in dem Berliner Café, in dem ich gerade sitze, wird gut funktionieren, solange keine gravierenden Probleme auftauchen. Wir verfügen über einen gemeinsamen, wenn auch begrenzten Wortschatz in Englisch. Unsere Körpersprache ist an die Situation angepasst. Wir wissen beide, wie wir uns zu verhalten haben. Wir bemühen uns, eine gemeinsame Sprache zu sprechen. Wir sind sowohl Sender als auch Empfänger in einer klar umrissenen Kommunikationssituation.

Sprecher übertragen mit dem sprachlichen Zeichen mehr Informationen als die reine Wortbedeutung. Hörer nehmen diese Informationen auf und interpretieren sie. Dadurch entsteht ein Dialog – ein Geben und Nehmen. Es entsteht eine Beziehung. Sprecher und Hörer verändern durch das an die Beziehung geknüpfte Verhalten die Situation, in der sie kommunizieren.

Karl Bühlers Organonmodell

In dem von dem deutschen Sprachtheoretiker Karl Bühler 1934 erarbeiteten Kommunikationsmodell erkennen wir das Verhältnis von Sender, Empfänger und Gegenständen oder Sachverhalten, auf die sie sich gemeinsam beziehen (vgl. Abb.1). Der Kreis in der Mitte der Abbildung verweist auf das akustische Phänomen als sprachliches Zeichen. Das Schallereignis enthält objektive Informationen über die dargestellten Gegenstände und Sachverhalte. Dadurch symbolisiert es, worüber gesprochen wird. Gleichzeitig informiert es über den Ausdruck des Sprechers. Es gibt also Auskunft darüber, mit wem wir es zu tun haben. Alter, Geschlecht, soziale Zugehörigkeit und Stimmung lassen unter anderen Symptomen den subjektiven Aspekt des sprachlichen Zeichens erkennen. Nicht zuletzt appelliert es an den Hörer und erfüllt damit seine Signalfunktion und deren intersubjektiven Aspekt. Beim Kommunizieren repräsentiert das sprachliche Zeichen demnach mehr als nur mit Bedeutung aufgeladene, einzelne oder zusammengesetzte Sprachlaute, die einem System zuzuordnen sind, das wir Sprache nennen.

Der Ausdruckswille des Sprechers beeinflusst die Darstellung von Inhalten. Motive und Intentionen verändern sprachliche Inhalte. Sprache entsteht, indem wir sie benutzen. Die Sprechhandlung schließt Sprecher, Hörer, Gegenstände und Sachverhalte ein. Darstellung, Ausdruck und Appell sind in jedem Fall Teile einer Sprechhandlung, wenn auch in jeweils unterschiedlicher Ausprägung. Das erkennen wir, wenn wir eine Vorlesung mit einer Trauerrede oder einem Werbeblock vergleichen.

Die Frage nach Tee oder Kaffee, Milch oder Zucker lässt sich innerhalb meiner klar umrissenen Kommunikationssituation im Café eindeutig so beantworten, dass keine Missverständnisse aufkommen. Ich sage, was ich meine. Das sprachliche Zeichen ist darauf ausgerichtet, die Dinge, die ich haben möchte, möglichst klar zu benennen. Ändert sich die Situation dahingehend, dass die Bedienung mir statt des gewünschten Kaffees einen Tee bringt, wird die Appellfunktion das sprachliche Zeichen stärker dominieren. In jedem Fall kann ich nicht verhindern, dass ich mich als Person ausdrücke, die Lebensalter, Gesundheit, soziokulturelle Zugehörigkeit und Stimmung erkennen lässt.

Abb. 1 Organonmodell

Die Leistung Bühlers ist nicht hoch genug einzuschätzen. Er schreibt dem Motiv und der Intention des Sprechers eine Bedeutung differenzierende Funktion zu und betrachtet Sprechen als eine Handlung. „Denn jedes konkrete Sprechen steht im Lebensverbande mit dem übrigen sinnvollen Verhalten eines Menschen; es steht unter Handlungen und ist selbst eine Handlung.“1 Auch auf die besondere Funktion der Sprechsituation, die konkretes Verstehen in einigen Fällen erst möglich macht, weist Bühler hin.

Schauen wir noch einmal auf meine konkrete Situation im Café. Haben meine Körpersprache, Mimik und Gestik nicht bereits einen Informationsfluss in Gang gesetzt, bevor das erste Wort gesprochen wurde? Und hat das lange Warten auf die Bedienung meinem unverfänglich gemeinten „Hello“ nicht einen ironischen Unterton gegeben? Oder klang ich eher erleichtert, weil ich nun endlich bestellen konnte? Spiegelte mein Stimmklang, dass ich mich über die Warterei ärgerte, obwohl ich mich bemühte, freundlich zu sein? Verriet lediglich die Körpersprache meine Ungeduld und sendete so einen unausgesprochenen Appell aus?

Die Kommunikationssituation verändert das Verhalten von Sender und Empfänger, und das Verhalten von Sender und Empfänger verändert die Kommunikationssituation.

John L. Austin – Die Sprechakttheorie

Aus der „Zur Theorie der Sprechakte“ betitelten Vorlesungsreihe „How to do things with Words“ des britischen Philosophen und Begründers der Sprechakttheorie John L. Austin erfahren wir, dass die Bedeutung von sprachlichen Äußerungen in ihrem Gebrauch liegt. Unterschiedlich gebrauchte Äußerungen haben unterschiedliche Bedeutungen. Es kann sich um Mitteilungen, Versprechen, Warnungen, Drohungen usw. handeln. Nach Austin wird mit der Äußerung etwas gesagt und getan und möglicherweise ausgelöst. Die Sprechhandlung besteht nicht allein im Vorgang des Sprechens. Unter bestimmten Umständen handeln wir dadurch, dass wir sprechen. Als typisches Beispiel wird das Ereignis des Eheversprechens vor dem Standesbeamten ausführlich diskutiert.2 Ein Jawort und die nachfolgende Erklärung verändern die Lebenssituation bis hin zur Steuerklasse. Austin macht deutlich, dass es gewisser Umstände und einer Absicht bedarf, um Handlungen durch Sprechen vollziehen zu können. Ein Sprechen, das handelt, ist performativ und unterscheidet sich von einem konstativen Sprechen, das benennt, beschreibt, erklärt. Die Äußerung „heute ist Dienstag“ kann sich als wahr oder falsch herausstellen und ist somit konstativ. Mit der performativen Äußerung „ich erhebe Einspruch“ wird im Sprechen eine Handlung vollzogen.

Paul Watzlawick – Verhalten hat kein Gegenteil

Paul Watzlawick war ein österreichisch-amerikanischer Kommunikationswissenschaftler, Psychotherapeut, Soziologe und Philosoph. Für ihn ist „menschliche Kommunikation ein Medium beschreibbarer Formen menschlicher Beziehungen.“3 Auch das sprachliche Zeichen betrachtet er unter diesem Aspekt. Es steht in Beziehung zu anderen sprachlichen Zeichen. Das ist seine syntaktische Funktion. Es drückt eine Beziehung zu dem aus, was es bezeichnet, und erfüllt damit eine semantische Funktion, und es hat eine Beziehung zum Zeichenbenutzer, es erfüllt eine pragmatische Funktion. Die pragmatische Funktion der sprachlichen Äußerung besteht darin, dass sich ihre Bedeutung erst vor dem Hintergrund einer konkreten Kommunikationssituation zu erkennen gibt und dadurch, dass sie das Verhalten aller Kommunikationspartner beeinflusst. Jede Interaktion geht mit einer Positionierung einher und definiert dadurch die Beziehung zwischen Sprecher und Hörer. Dieser Prozess ist einer ständigen Veränderung unterworfen, da sich die Kommunikationspartner wechselseitig beeinflussen. Watzlawick folgert daraus, dass Verhalten kein Gegenteil hat und wir uns nicht nicht verhalten und demnach auch nicht nicht kommunizieren können. Auch Schweigen und Verweigern von Handeln wird interpretiert. Die sprachliche Äußerung enthält neben der semantischen und syntaktischen Information auch immer eine Anleitung dazu, wie diese Information verstanden werden soll – eine „persönliche Stellungnahme zum anderen“.4 Der Beziehungsaspekt bestimmt den Inhaltsaspekt. Watzlawick hat den pragmatischen Aspekt menschlicher Kommunikation unter besonderer Berücksichtigung von Verhaltensstörungen untersucht und ist zu folgendem Schluss gekommen: „Es hat den Anschein, dass wir Menschen mit anderen zum Zweck der Erhaltung unseres Ich-Bewusstseins kommunizieren müssen.“5 Menschen scheinen sich gegenseitig bestätigen zu müssen. Aus über einer Milliarde Sinnesreizen trifft unser Gehirn eine Auswahl, die ein Bild ergibt, das wir Wirklichkeit nennen. Diese Empfindung von Wirklichkeit scheinen wir mitteilen zu müssen. Dabei gehen wir Beziehungen ein, die durch Strukturen innerhalb von Systemen geprägt sind. Beispielhaft hat Watzlawick unter der Kapitelüberschrift „Das System George-Martha“ das Beziehungsgefüge der Figuren in Edward Albees Stück „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ beschrieben. Wie wir in unseren Beziehungssystemen interagieren, ist zunächst darauf ausgerichtet, Stabilität herzustellen und zu erhalten, zu bestätigen und Bestätigung zu erfahren. Dass das nicht immer gelingt, wissen wir aus eigener Erfahrung. Wie das auf extreme und dennoch sehr unterhaltsame Weise misslingt, erfahren wir in Albees Stück.

Warum und wozu sprechen wir?

Wenn der Weg zum anderen der einzige Weg zu sich selbst ist, wenn der Mensch nur über das Du zum Ich gelangt, wie Watzlawick andeutet, sprechen Menschen dann, um sich im anderen zu erhalten? Sprechen wir, um unser Sein zu bestätigen? Ich spreche, also bin ich? Manchmal hat es den Anschein, als ob das Sprechen nur um des Sprechens willen geschieht. Da wird geschnattert und getratscht. Sprechen erscheint dann mehr als Tätigkeit denn als bewusste Handlung. Beobachten wir menschliche Begrüßungsrituale wie das Winken aus großer Entfernung verbunden mit einem zugerufenen Hallo, den förmlichen oder freundschaftlichen Händedruck oder die Umarmung mit den jeweils begleitenden Worten, finden wir zwar soziokulturelle Unterschiede, im Grunde geht es aber in allen Kulturen, Klassen und Schichten darum, soziale Beziehungen aufzubauen, zu erhalten und zu erneuern. Der amerikanische Verhaltensforscher Desmond Morris bezeichnete dieses Phänomen als „grooming talk“.6 Der Austausch von sprachlichen Floskeln und ritualisierten Gesten sei ein Äquivalent zur Körperpflege der Tiere und diene hier wie dort der Stabilisierung sozialer Systeme. Putzgespräche sind ein gegenseitiges Lausen auf Abstand; Gesten und Sprechen stellen soziale Ersatzhandlungen dar. Man könnte auch sagen, Menschen berühren einander mit gesprochener Sprache. Kontaktaufnahme ist also die Antwort auf die Frage, warum wir sprechen. Wir wollen mit anderen in eine Beziehung treten. Das ist unser Motiv. Es bleibt die Frage nach unserer Absicht. Wozu sprechen wir? Ich behaupte, wir sprechen, um andere in Teilen ihres Verhaltens zu verändern. Wir möchten, dass sie uns zuhören, dass sie ihre Position im Raum verändern, dass sie uns helfen, uns bestätigen usw. Die sich daraus ergebende Frage, was dadurch verändert werden soll, lässt sich in der Alltagskommunikation nicht immer sofort beantworten, für die Kommunikation auf der Bühne erscheint sie mir unerlässlich und zieht weitere Fragen nach sich. Was soll durch das Sprechen ausgelöst werden, welche weiteren Handlungen werden in Gang gesetzt, wie geht es mit der Beziehung weiter, welche schauspielerischen Vorgänge lassen sich aus der Beziehung entwickeln, und wie wird das Sprechen Teil dieser Vorgänge? Welche Motive und Absichten führen uns zum Sprechhandeln, und wie unterscheidet sich ein stark motiviertes und intendiertes Sprechen von weniger stark motivierten und intendierten Äußerungen? Wie hoch muss der Erregungszustand des Zentralnervensystems als unabdingbare Voraussetzung zum Handeln sein, damit eine Handlung in Gang gesetzt werden kann? Wann löst diese Erregung eine gesamtkörperliche Handlungsbereitschaft aus, die sich im veränderten Körperverhalten zeigt? Wann wird der Blick gesucht, wann und wie steigt der Muskeltonus, richtet sich der Körper dem anderen entgegen, wie wird eine Sprechspannung aufgebaut? Das gestische Sprechen kann diese Fragen beantworten und nutzt und entwickelt die Fähigkeiten, über die wir als biologische und soziale Wesen verfügen. Auch wenn sich im konkreten Ausdruck individuelle und soziokulturelle Unterschiede zeigen, können wir von einer wesenhaften Strukturgleichheit des Sprechens in allen Sprachen ausgehen.

Was ist gestisches Sprechen?

Die Methode des gestischen Sprechens, wie sie hier beschrieben wird, wurde an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch für die Arbeit mit Schauspielstudierenden im Fach Sprechen entwickelt. Herkömmliche Ausbildungsmethoden schienen zu sehr auf die Entwicklung einzelner Fertigkeiten ausgerichtet. Den ganzen Menschen, sein Denken, Fühlen, Handeln, im Sprechen abzubilden, fordert die Entwicklung von Fähigkeiten. Das gestische Sprechen geht von folgendem Grundverständnis aus: Sprechen ist Teil menschlichen Verhaltens. Verhalten ergibt sich aus den relevanten Bedingungen einer Situation. Es ist komplex und bezieht sich auf das Verhalten anderer. Verhalten ist die Summe psychologischer und physischer Handlungen. Handlungen sind auf andere gerichtete Tätigkeiten. Sie sind motiviert und intendiert. Menschliches Handeln ist immer sozial. „Die ‚Umstände‘, die sich ändern, sind nichts, was gleichsam von ‚außen‘ an den Menschen herankommt; die ‚Umstände‘, die sich ändern, sind die Beziehungen zwischen den Menschen selbst.“7 Wir sprechen, um mit anderen in Kontakt zu treten, eine Beziehung aufzunehmen, uns mitzuteilen, das heißt, mit anderen etwas zu teilen. Die Sprechabsicht besteht darin, Teile des Verhaltens von Kommunikationspartnern zu verändern, ohne die Fähigkeit einzubüßen, auf die veränderte Kommunikationssituation zu reagieren. Dadurch entsteht ein Wechselspiel von gerichtetem Sprechen und aktivem Zuhören. Es findet ein Dialog statt, auch wenn nur einer spricht. Motiviertes und intendiertes Verhalten mit Körper, Atem, Stimme und Sprache in konkreten Kommunikationssituationen ist gestisches Sprechen. Es ist gerichtetes, gesamtkörperlich sprechendes Verhalten.

Wenn Figuren miteinander sprechen, handeln sie, und der Akt des Handelns besteht nicht allein darin, dass Schauspieler stimmliche und sprachliche Äußerungen im Sinne physiologischer Abläufe hervorbringen. Im Sprechen auf der Bühne entäußern sich Denken und Fühlen von handelnden Figuren bezogen auf die durch Schauspieler wahrgenommene und fantasierte Wirklichkeit, gerichtet auf Spielpartner, die ebenfalls aus der Figurenperspektive interagieren. Sprechen ist Teil des Ausdrucks, der sich aus Eindruck speist. In der Alltagskommunikation ist es nicht immer einfach zu beschreiben, wo Eindruck aufhört und Ausdruck beginnt und wo der Ausdruck des einen schon wieder Eindruck des anderen ist. Auch während des Ausdrucks findet weiterhin Wahrnehmung statt. Vor allem bei multilateraler Kommunikation scheint ständig alles in Bewegung zu sein und sich gegenseitig zu beeinflussen.

Die schauspielerische Kommunikation auf der Bühne wird in den Proben entwickelt. Hier werden die Sprechhandlungen, die sich innerhalb einer Spielsituation ergeben, erfunden, probiert und fixiert. So wird das gestische Material der Schauspieler in der Interaktion mit Spielpartnern geordnet. Sprechhandlungen entstehen im Dialog, der sich aus dem Widerspruch unterschiedlicher Absichten speist. Ist gesamtkörperliches Sprechen motiviert und intendiert, dann ist es gestisches Sprechen.

Der Brecht’sche Gestusbegriff

In den 1920er Jahren hatte Bertolt Brecht begonnen, nach zeitgemäßen realistischen Theaterformen zu suchen. Er wollte dem Einfühlungstheater der bürgerlichen Gesellschaft die Darstellung sozialer Konflikte entgegensetzen. Vor diesem Hintergrund hat Brecht den Begriff des Gestus entwickelt, um menschliches Verhalten so zu zeigen, dass darin die gesellschaftlichen Zusammenhänge, die es hervorbringen, sichtbar werden. Brecht betrachtet die Fähigkeit, Verhalten zu ändern und mit verändertem Verhalten die Wirklichkeit zu verändern, als menschliche Grunddisposition. Wenn Menschen einerseits abhängig sind von sozialen und ökonomischen Zwängen, dann sind sie andererseits auch in der Lage, diese zu verändern, indem sie ihr Verhalten und damit die Verhältnisse ändern. Soll die Welt verändert werden, muss die Welt als veränderbar dargestellt werden. Die gesellschaftlichen Widersprüche können erkannt und kenntlich gemacht werden, um sie aufzuheben.

Die epische Spielweise, die er aus diesem Anspruch entwickelt hat, verlangt einen Standpunkt in der Welt, politisches Urteilsvermögen, soziale Fantasie und die Fähigkeit, das Verhalten der darzustellenden Figuren in seiner Widersprüchlichkeit zu erkennen. Im Gegensatz zur psychologisch-realistischen Spielweise bleibt hier die Differenz zwischen Schauspieler und Figur sichtbar. Statt seine Figur zu verkörpern, zeigt er ihre Handlung, Brecht erläutert das am Beispiel einer Straßenszene. Indem konkrete Handlungen nachgeahmt werden, wird Verhalten sichtbar, und wir können einen Blick in andere Lebenswelten werfen. Wenn wir uns alltägliche Vorkommnisse erzählen, schlüpfen wir kurzzeitig in die Rolle derjenigen, über die wir berichten. Wir imitieren die Sprechweise, die Gestik, die Körperhaltung. Aber auch Handlungen, Entfernungen, Zusammenhänge werden mit dem uns zur Verfügung stehenden gestischen Material gezeigt. „Wie erklärt man einem Kind eine Wendeltreppe?“8

Der Gestus des Zeigens ist ein unverzichtbares Hilfsmittel des gestischen Sprechens. Körper, Atem, Stimme und Sprache lassen das Verhalten von Figuren in konkreten Situationen als von Schauspielern dargestellt erkennbar werden. Die Mittel, die zur Darstellung führen, können auf diese Weise untersucht und entwickelt werden. Es werden Figuren gezeigt, die sich in beschreibbarer Weise verhalten. Dieses Zeigen ist gestischer Natur. Es ahmt Verhalten von Menschen nach, die in konkreten sozialen Beziehungen stehen. Je konkreter die Situation, in der Figuren sich verhalten, fantasiert wird, desto genauer kann sich ihr Verhalten in Körper, Atem, Stimme und Sprache abbilden. Im Gestusbegriff wird konkret wahrnehmbares menschliches Verhalten zu einem Komplex zusammengefasst. Dadurch entsteht einerseits eine verallgemeinernde Qualität, etwas Typisches, Wiedererkennbares, das sich andererseits in konkretem körperlichem und sprechsprachlichem Ausdruck zu erkennen gibt.

Bertolt Brecht hat den Begriff Gestus als Terminus technicus seiner Theaterarbeit kreiert: „Unter einem Gestus sei verstanden ein Komplex von Gesten, Mimik und für gewöhnlich Aussagen, welchen ein oder mehrere Menschen [an] einen oder mehrere Menschen richten. Ein Mann, der einen Fisch verkauft, zeigt unter anderem den Verkaufsgestus. […] Ein Gestus kann allein in Worten niedergelegt werden (im Radio erscheinen); dann sind bestimmte Gestik und bestimmte Mimik in diese Worte eingegangen und leicht herauszulesen (eine demütige Verbeugung, ein Auf-die-Schulter-Klopfen). […] Worte können durch andere Worte ersetzt, Gesten durch andere Gesten ersetzt werden, ohne daß der Gestus sich darüber ändert. […] Ein Mann, seinen Gott anrufend, wird bei dieser Definition erst ein Gestus, wenn dies im Hinblick auf andere geschieht oder in einem Zusammenhang, wo eben Beziehungen von Menschen zu Menschen auftauchen.“9 Der Brecht’sche Gestusbegriff kennzeichnet den Zusammenhang zwischen der Einstellung von Sprechern, ihrer daraus resultierenden gesamtkörperlichen Haltung und der sprechsprachlichen Äußerung in Bezug auf Hörer in einer konkreten Situation.

Gestus und Geste

Unser Verhalten ist dadurch geprägt, dass wir auf sehr verschiedene Weise Beziehungen zu anderen eingehen. Diese Tatsache lässt sich entwicklungsgeschichtlich begründen. Wir sind soziale Wesen, die in bestimmten Konstellationen aufeinander angewiesen sind und sich in anderen voneinander abgrenzen. Die Art und Weise, wie Beziehungen hergestellt werden, variiert einerseits hinsichtlich sozialer und kultureller Zugehörigkeit, andererseits wird sie durch die individuelle Entwicklungsgeschichte eines jeden Menschen geformt. Aber auch die zahlreichen Determinanten einer konkreten Situation, in der die Beziehung hergestellt wird, bestimmen das Verhalten. Wieder begegnet uns ein vielschichtiges Phänomen, das einerseits durch Motive und Absichten und andererseits durch Konventionen geprägt ist.

Der Gestusbegriff schafft eine Möglichkeit, einzelne Handlungen aus dem Gesamtverhalten zu isolieren und sie gegeneinanderzustellen. Der Gestus setzt sich aus gestischen und mimischen sowie sprachlichen und stimmlichen Komponenten zusammen und ist immer Ausdruck des gesamten Körpers, der eine Haltung zu anderen einnimmt. Haltungen sind verkörperte Denkprozesse, auch wenn der Begriff in seinem Wortstamm auf etwas Statisches hinzuweisen scheint. Halte aus, halte ein, halte ab, halte auf, halte an … Das klingt nach einer Unterbrechung im Handeln, die uns zu einer neuen Haltung führen kann. Die Geste als Muster koordinierter Bewegungen gehört zum Gestus. Die Geste kann etwas zeigen oder auf etwas verweisen. „Gesten erhalten wir umso mehr, je häufiger wir einen Handelnden unterbrechen.“10 Die Geste ist eine „Momentaufnahme“ der Beziehung von Mensch zu Mensch. Sie hat einen Anfang, sie hat ein Ende, sie ist isolierbar, sie ist wiederholbar.11 Die Geste als Teil einer Sprechhaltung ist ein unerlässliches Hilfsmittel der Methode des gestischen Sprechens.

Wie funktioniert die Methode des gestischen Sprechens?

Meine Kollegen Klaus Klawitter und Herbert Minnich haben den Begriff Gestus für die sprecherzieherische Praxis genutzt und daraus eine Methode für die Ausbildung von Schauspielstudierenden entwickelt, angewendet und durchgesetzt. Sie beschreiben die schauspielerisch-gestische Äußerung als „die unter Berücksichtigung der Situation motivierte, gesamtkörperlich vollzogene Äußerung“.12 Jede sprechsprachliche Äußerung ist für sie durch eine aus der psychophysischen Gesamtlage resultierende Körperspannung charakterisiert, die unmittelbar vor der Äußerung erzeugt wird. Diese gesamtkörperliche Bereitschaft zum Handeln mit Sprache löst eine entsprechende Sprechhaltung und Sprechspannung aus. Sprechen ist geistiges, intellektuelles sowie emotionales und physisches Handeln. Handlung ist Aktivität der Schauspieler innerhalb der Rolle und der Situation im Hinblick auf konkrete Handlungsziele. Aktivität im Sinne von Beschäftigung oder Tätigkeit ist noch keine Handlung, kann aber Ausdrucksmittel einer Handlung sein.

Der Begriff Handlung ist sowohl Element der Figur als auch der Fabel. Schauspieler stellen Handlungen der Fabel durch konkrete Handlungen der Figur dar. Die Figuren haben Handlungsmotive und Handlungsziele, die sich aus der Gesamtheit ihrer Beziehungen entwickeln lassen. Nennen wir die Gesamtheit dieser Beziehungen Einstellungen und meinen damit relativ konstante, habituelle Verhaltensdispositionen, die das Handeln und Erleben bestimmen, dann sind gesamtkörperliche Haltungen Ausdruck von Einstellungen. Körperliches Verhalten in konkreten Situationen, das sich aus dem Zusammenspiel biologischer und sozialer Einflüsse ergibt, bildet sich in der Stimme und Sprechweise ab. Gerichtetes Verhalten mit Körper, Atem, Stimme und Sprache ist die Voraussetzung für schauspielerisch-gestische Äußerungen. Es wird durch eine konkrete Situation und die sich aus ihr ergebenden Handlungsziele hinsichtlich von Kommunikationspartnern bestimmt und resultiert aus der gedanklichen und emotionalen Einstellung, die zu einer gesamtkörperlichen Haltung und eine an sie gebundene sprechsprachliche Äußerung führt. Die Art und Weise, wie wir uns anderen absichtsvoll sprechend nähern, kann geplant oder spontan sein. In jedem Fall sprechen wir aus Haltungen, die wir der Kommunikationssituation im Spannungsfeld unseres Agierens und Reagierens immer wieder neu anpassen.

Eine Person, die betet, können wir akustisch von einer Person, die militärische Befehle gibt, gut unterscheiden. Beide Personen sprechen aus konkreten Haltungen. Es ist nicht einmal nötig, dass wir die Personen sehen, wir können uns allein aufgrund der Sprechweise ein Bild von ihnen machen. Wir können mit den Ohren sehen. Es ist auch nicht nötig, dass wir die Sprache, in der die Personen sich äußern, verstehen. Die Personen sprechen aus Haltungen, die eine bestimmte Körperlichkeit abbilden. Sprechmelodie und Rhythmus, Klangfarbe, Lautstärke und Artikulation der Personen unterscheiden sich. Wir können die Sprechhaltungen erkennen und sagen, da betet einer, und da befiehlt einer. Dabei kann die Art und Weise des Betens oder Befehlens erheblich variieren. Die Nuancen in der Sprechweise der betenden Person sind Antworten auf die Fragen nach der Situation, in der gebetet wird. Hören wir genauer hin, können wir unterscheiden, ob zu Göttern oder Dämonen gebetet wird und ob es aus Verzweiflung oder Dankbarkeit, ob es seit Stunden oder Tagen oder eben mal schnell zwischendurch, ob es in einem Schützengraben oder in der Kirche geschieht.

Die Kommunikationssituation ist anhand folgender Fragen beschreibbar: Wer spricht worüber zu wem? Warum und wozu, wo, wann und wie wird gesprochen? So lässt sich das Bühler’sche Modell um Raum und Zeit erweitern und hinsichtlich der Kommunikationspartner ausdifferenzieren. Alle Komponenten der Kommunikationssituation sind voneinander abhängig und beeinflussen sich gegenseitig. Antworten auf die W-Fragen beschreiben die Kommunikationssituation, erschaffen und verändern sie. Beten und Befehlen sind Sprechhandlungen in einer konkreten Situation. Das Verhalten von Betenden und Befehlenden ist sozial determiniert. Wir erfahren etwas über die persönliche Situation, in der sie sich als Vertreter einer soziokulturell beschreibbaren Gruppe von Menschen im Bezug zu anderen Menschen in bestimmter Weise verhalten. Sie gehören einem Geschlecht, einer Alters- und Berufsgruppe an, sie entstammen einer sozialen Schicht und sind kulturell zuzuordnen, sie sprechen eine Sprache, vielleicht einen Akzent oder Dialekt, sie sind krank oder gesund und emotional gestimmt. Wir können auch etwas über den Widerspruch zwischen der persönlichen und gesellschaftlichen Situation, in der sie sich als soziokulturell geprägte Personen befinden, erfahren. Dadurch ist es uns möglich, gesellschaftliche Strukturen als Hintergrund persönlicher Schicksale zu erkennen. Denken wir an Gretchens Gebet in Goethes „Faust“, Maries Versuch zu beten in Büchners „Woyzeck“ oder den des Claudius in Shakespeares „Hamlet“.

Die Methode des gestischen Sprechens nutzt unsere Fähigkeit zur Kommunikation, über die wir als biologische und soziokulturelle Wesen verfügen. Unser Bedürfnis, mit anderen Menschen etwas zu teilen, indem wir uns ihnen mitteilen, ist das Herzstück dieses Ansatzes. Es liegt ein Prinzip der Hoffnung darin, dass sich Menschen in der Kommunikation umeinander bemühen.

Die Realität des Theaters – wofür bilden wir aus?

Kommunikationssituationen auf der Bühne sind Spielsituationen. Die Wirklichkeit der Bühne ist eine Behauptung, die interagierenden Menschen sind in der Regel Figuren, der gesprochene Text ist meistens eine Erfindung der Dichter. Die einschränkenden Formulierungen „in der Regel“ und „meistens“ versuchen auszudrücken, dass das Theater natürlich viel breiter aufgestellt ist. Geschichten lassen sich nicht nur erzählen, indem Figuren in dramatischer Spielweise miteinander interagieren. Nicht immer soll eine Geschichte erzählt werden. Texte werden als Klangflächen benutzt, das Sprechen wird vom Text gelöst. Stückentwicklungen, Performances, Crossover-Projekte und Arbeiten unter der Überschrift „The Actor as Creator“ erobern die Spielpläne und stellen an die Ausbildung von Schauspielstudierenden auch im Fach Sprechen neue Fragen.

Der Dramaturg und Autor Bernd Stegemann beschreibt vier Sprechweisen, die sich im Gegenwartstheater auffinden lassen. Er unterscheidet das hervorrufende, das handelnde, das formalisierte und das moderierende Sprechen.13

Das hervorrufende Sprechen

Das hervorrufende Sprechen holt eine abwesende Wirklichkeit auf die Bühne, indem es Vorstellungen von dieser Wirklichkeit sprechend imaginiert. Wir finden diese Sprechweise im Botenbericht und in der Mauerschau. Vergangene oder im Moment beobachtete Ereignisse, die auf der Bühne nicht dargestellt werden können oder sollen, werden sprechend hervorgerufen. Das Geschehen entsteht, indem es erzählt wird, vor dem inneren Auge der Zuhörer. In einem in der sprecherzieherischen Arbeit oft und gern verwendeten Text aus dem Stück „Penthesilea“ lässt Heinrich von Kleist im 1. Auftritt (vgl. Kapitel Odysseus/Penthesilea/Kleist) die Figur des Odysseus öffentlich den Kampf zwischen Griechen, Trojanern und Amazonen in einer Weise berichten, die die Vorgänge für die Zuschauer erlebbar macht. Die Zuschauer werden über das Geschehen, das sie nicht sehen können, in Kenntnis gesetzt, um die Geschichte zu verstehen und ihr im weiteren Verlaufe der Handlung folgen zu können. Ihre Vorstellungskraft ist gefordert. Das Zuschauen wird zu einem aktiv mitzufabulierenden Prozess.

Odysseus, der die Geschichte erzählt, befindet sich nicht mehr oder nur zum Teil in der erzählten Situation. Die erzählende Situation ist durch seine Motive, die Geschichte zu erzählen, und die Handlungsabsichten bezüglich seiner Kommunikationspartner bestimmt. Diese situativen Merkmale beeinflussen die Art und Weise, wie er die Geschichte erzählt. Er verhält sich zu den erzählten Geschehnissen und zu den Kommunikationspartnern. Die Geschichte wird aus einer konkreten Perspektive in einer Spielsituation erzählt. Es lässt sich vielerlei und je nach Interpretation oder Schwerpunktsetzung Unterschiedliches über die Spielsituation sagen, in der erzählt wird. Wir werden in dem Kapitel, das sich mit der Arbeit am künstlerischen Text beschäftigt, darauf zurückkommen und erleben, wie die Spielpartner in einer Beziehung zueinander stehen, die sich in der Interaktion, im Dialog ausdifferenziert. Die Spielpartner handeln, indem sie erzählen.

Das handelnde Sprechen

Handelndes Sprechen verbindet sich mit hervorrufendem Sprechen. Durch ihre unterschiedlichen Handlungsmotive geraten die Figuren in einen Widerspruch zwischen Wollen und Können. Um diesen Widerspruch zu lösen, entwickeln sie Handlungsabsichten, die sie sprechend durchzusetzen versuchen. Der Charakter der Figur Odysseus kann sich in den Sprechhaltungen sowohl aus seinem sozialen Verhalten in der konkreten Situation als auch aus seiner Biografie und seiner momentanen Gestimmtheit, die sowohl psychologisch als auch physisch bedingt sein kann, erklären. Darüber hinaus ist die Mauerschau, die Elemente des Botenberichts enthält, ein Element der Fabel, da sie die Zuschauer in die Situation des Stückes einführt. Hervorrufendes und handelndes Sprechen lassen sich aufgrund einer konkreten Spielsituation im Falle der beschriebenen Mauerschau nicht voneinander trennen. Die Zuschauer erhalten sich wechselseitig beeinflussende Informationen auf allen Ebenen des von Bühler beschriebenen Kommunikationsmodells. Insofern ist handelndes Sprechen auf der Bühne als eine Nachahmung menschlichen Kommunikationsverhaltens zu verstehen.

Das formalisierte Sprechen

Formale Mittel können eingesetzt werden, um zu zeigen, welchen Widerstand der Sprecher beim Sprechen in einer Spielsituation überwinden muss. So kann die Not des Boten, der unmittelbar aus der Schlacht kommt, ungehemmtes Erzählen verhindern und den Sinn des Gesagten z. B. durch übertriebenes Atmen, Stottern, Stocken usw. unkenntlich machen. Um bei unserem Beispiel der Odysseus-Figur zu bleiben, könnte etwa ihr ungestillter Durst dazu führen, dass es ihr unmöglich ist, korrekte Laute hervorzubringen. Der Zustand der Figur kann dadurch überdeutlich gemacht werden oder als zu überwindendes Hindernis auf dem Weg zum sprechenden Handeln benutzt werden. Zustände von Figuren werden von halbwegs empathischen Zuschauern relativ leicht erkannt. Auch in Alltagssituationen können wir Gefühlszustände von Menschen nachvollziehen und von ihnen angesteckt werden oder uns von ihnen distanzieren. Neuerliches Interesse an Menschen oder Figuren entsteht oftmals erst, wenn wir begreifen, wie viel es sie kostet, aus ihren Zuständen herauszukommen, das heißt, wie viel Energie sie aufwenden, um ihren Zustand handelnd zu verändern. Während der Arbeit an dem noch genauer zu beschreibenden Kleist-Text bot mir ein Studierender an, die Verse auf einem Bein stehend zu sprechen. Das andere Bein hatte er nach hinten gebunden. Die theatrale Behauptung, die er sich ausgedacht hatte, bestand darin, dass Odysseus im gerade beendeten Kampf den Unterschenkel verloren hat. Konfrontiert mit der Situation, die einen Bericht über das Geschehene verlangt, nimmt die Figur alle Kraft zusammen, verbeißt sich den Schmerz und spricht den Text in ebendieser Weise. Dabei wurde das Ausdrucksverhalten im Gebrauch körperlicher Mittel stark reduziert und das Sprechen formalisiert, um einen Aspekt der Situation nach vorn zu stellen. Chorisches und/oder rhythmisiertes Sprechen bzw. die eingeschränkte oder exzeptionelle Wahl bestimmter sprecherischer Mittel gehören ebenso zum formalisierten Sprechen. Nicht immer lässt sich ihr Einsatz sofort aus der Situation erklären. Ich erinnere mich an die Arbeit an einem relativ langen Monolog, der von einem Schauspieler auf die Einatmung gesprochen werden sollte. Die Überforderung, die durch den ungewohnten Gebrauch der Sprechstimme entstand, sollte zum theatralen Ereignis werden, blieb aber nicht mehr als eine Idee. Ein eindrucksvolles Beispiel formalisierten Sprechens hat die Regisseurin Susanne Kennedy mit der Inszenierung „Warum läuft Herr R. Amok?“ (2014) von Rainer Werner Fassbinder an den Münchner Kammerspielen gezeigt. Die Entfremdung der Figuren wird dadurch sinnlich erlebbar gemacht, dass die maskierten, wie Puppen stumm agierenden Schauspieler lippensynchron von Laien gesprochene Playbacks nachahmen. Durch den artifiziellen Kommunikationsvorgang wurde den Zuschauern die Handlungsunfähigkeit und Beziehungslosigkeit der Figuren gezeigt.

Das moderierende Sprechen

Das moderierende Sprechen als vierte Kategorie verzichtet nun ganz auf den dem Sprechen innewohnenden Handlungsaspekt. Der Text wird in den Vordergrund geschoben. Die Sprechhandlung wird vom Text abgekoppelt. Die Sprecher treten hinter das Gesagte zurück. Sie übernehmen dafür keine Verantwortung. Dieser Vorgang kann durch technische Hilfsmittel wie das Ablesen vom Blatt oder durch die verschiedenen Spielarten des Mikrofonsprechens unterstützt werden. Die Sprecher behaupten in keiner Weise, Urheber des Textes zu sein, sie stellen den Text lediglich zur Verfügung. Sie nehmen zu dem Text keinen Standpunkt ein, der Fragen nach dem Warum oder Wozu des Sprechens beantworten würde. Die Hörer können sich entweder wie bei einer Vorlesung ganz auf den Text konzentrieren oder auf die Art und Weise, wie er performt wird, oder die Rezeptionsebenen wechseln. Wenn wir den der menschlichen Kommunikation innewohnenden Beziehungsaspekt, wie ihn Watzlawick mit den treffenden Sätzen „man kann nicht nicht kommunizieren“ und „Verhalten hat kein Gegenteil“ beschrieben hat, ernst nehmen, müssen wir uns fragen, welche Beziehung durch das moderierende Sprechen hergestellt werden soll. Die Sprecher können sich nie ganz von ihren Äußerungen lösen. Ihre Absicht, das zu tun, ist bereits ein Ereignis, das wir interpretieren.

Als eine Variante des moderierenden Sprechens beschreibt Stegemann das ironische Sprechen. Hierbei stellen sich Sprecher nun nicht mehr ganz in den Dienst des Textes. Es entsteht ein Widerspruch zwischen Sagen und Meinen. Die Sprecher platzieren sich gleichsam neben dem Text und blicken auf ihn aus einer ironischen Distanz. Wollen sie schlauer erscheinen als der Text oder deutlich machen, dass sie ihm nicht vertrauen? Solange ironisches Sprechen dialogisch geführt wird und in einer Beziehung zu anderen steht, wird der handelnde Aspekt in einer Weise bedient, die zum Mitdenken anregen kann. Die Sprecher nehmen einen Standpunkt zum Text ein. Verhandeln sie den Text ironisierend nur noch mit sich selbst, wird dieser Standpunkt unkenntlich und der Text für beliebige Interpretation freigegeben. Das kann auf sehr artistische und unterhaltsame Weise geschehen, wie wir sie z. B. in Regiearbeiten von Herbert Fritsch erleben können.

Hervorrufendes, handelndes, formalisiertes und moderierendes Sprechen stehen im Gegenwartstheater nebeneinander. Manchmal sind sie schwer voneinander zu trennen. Eine Schwerpunktverlagerung hin zu der einen oder anderen Form lässt sich als ästhetischer Kommentar zur Art des Kommunizierens in der postmodernen Gesellschaft verstehen. Das Forschungsprojekt „Methoden der sprechkünstlerischen Probenarbeit im zeitgenössischen deutschsprachigen Theater“ untersucht neue Sprechweisen und -ästhetiken. Die Untersuchungen fanden aufgrund von Probenanalysen ausgewählter Inszenierungen des Gegenwartstheaters statt. Als neue Herausforderungen in der Ausbildung von Schauspielstudierenden werden beschrieben: phänomenologische Texterarbeitung, bei der die Materialität der Stimme im Vordergrund steht, das Aushören musikalischer Qualitäten eines Textes und das Experimentieren mit sprecherischen Gestaltungsmitteln.14 Texte werden chorisch, simultan, monologisch und losgelöst von Handlungen präsentiert. Analoge und digitale Technik erlaubt Interaktion mit bewegten Bildern und Installationen sowie die technische Manipulation der Stimme wie im Forschungsprojekt „Disembodied Voice“ der Zürcher Hochschule der Künste beschrieben.15 Die innovative Audiotechnologie, die der britische Schauspieler, Autor und Mitbegründer des Théâtre de Complicité Simon McBurney in seiner Soloperformance „The Encounter“ (2015) einsetzt, erzeugt unmittelbare physische Reaktionen. McBurney stattet die Zuschauer mit 3-D-Kopfhörern aus und nimmt sie mit auf eine gedankliche Reise in den Amazonas-Dschungel, die durch Dialoge mit seiner schlaflosen kleinen Tochter unterbrochen wird. Wir sehen ihn auf der Bühne und haben das Gefühl, er bewegt sich hinter uns oder haucht uns ins Ohr. Seine Stimme verändert Zeit und Raum, spielt mit unserer Wahrnehmung und schafft eine eigene Realität in unseren Köpfen.

Künstler haben von jeher auf die Veränderungen ihrer Zeit reagiert. Welches handwerkliche Rüstzeug geben wir den Schauspielstudierenden an die Hand, um den Herausforderungen des zeitgenössischen Theaters gewachsen zu sein? Auf welche Fähigkeiten können sie aufbauen? Wie bringen wir Tradition und Postmoderne in einen fruchtbaren Diskurs?

Das Ziel meiner Arbeit sehe ich vor allem darin, menschliche Kommunikation als soziales Phänomen erlebbar zu machen. Das handelnde Sprechen steht für mich im Vordergrund der Ausbildung. Studierende lernen, einen Standpunkt zum Gegenstand des Sprechens und zu den Kommunikationspartnern einzunehmen und zu verteidigen, bewusst aufzugeben oder zu verändern. Ausgehend von diesem Standpunkt wird ein begründeter Dialog mit Kommunikationspartnern geführt, der die Kommunikationssituation sowohl erschafft als auch verändert. Das hervorhebende oder erzählende Sprechen steht dem in nichts nach. Beginnend mit dem Verstehen eines Textes (wenn es sich um einen Fremdtext handelt), arbeite ich zusammen mit den Studierenden die Vorgänge im Text heraus und trainiere auf diese Weise das Sprechdenken. Auf der sinnlichen Ebene untersuchen wir, welche Eindrücke und Empfindungen dem Text zugrunde liegen und wie sie sich in Ausdruck bringen lassen. Erzählendes und handelndes Sprechen überlagern und ergänzen sich. Beide Formen des Sprechens zu verbinden, ist ein lustvolles Unterfangen, an dem alle Komponenten des Sprechvorgangs entwickelt werden können. Formalisiertes Sprechen, das sich aus einem Widerspruch herleiten lässt, erarbeite ich vor dem Hintergrund einer Spielsituation. Ich versuche zu erreichen, dass die Studierenden Mittel der Äußerung zunächst anbietend ausprobieren, dass sich ihre Fantasie am Text und an der Spiel- und Sprechsituation entzündet. Formale Mittel wie Rhythmus, Dynamik, Diktion und Klangstruktur können ihnen in der Erarbeitungsphase eines Textes beim Erlesen, Verstehen und gestischen Sprechen helfen. Ein reines Training formaler Mittel für das artifizielle Sprechen findet erst statt, wenn die Studierenden die Ergebnisse des Trainings selbstständig in die Spiel- und Sprechsituation zurückführen können.

Wir wollen glauben, was wir hören

Wie gut es uns in der Ausbildung auch gelingt, die beschriebenen Sprechweisen zu entwickeln und miteinander zu verbinden, ein entscheidendes Kriterium bleibt die Glaubhaftigkeit. Die sinnliche Qualität von Behauptungen ist gering. Wie kann das Verhalten der Spieler beim Sprechen einsehbar und nachvollziehbar, zu den Zuschauern geöffnet und dadurch glaubhaft bleiben? Die Parrhesia verleiht nach Bernd Stegemann den vier beschriebenen Sprechweisen Glaubhaftigkeit. „Die Parrhesia vereint das komplexe Verhältnis stimmlicher Qualität mit der sozialen Position des Sprechenden und seiner Aussagen. In der Parrhesia gelingt die Mitteilung einer Wahrheit aufgrund des Standpunkts des Sprechenden, der sich im Moment seines Sprechens formuliert.“16 Die Sprecher stehen zu ihren Äußerungen. Ihre Stimmen und ihre Sprechweise lassen sie als Personen erkennen, weil sie einen Widerhall in ihren Stimmen bekommen. Standpunkt und verkörperte Persönlichkeit bilden sich im Stimmklang ab und berühren Hörer, die allein durch das Zuhören eine sinnliche Vorstellung von den Sprechern bekommen und sich zu ihnen ins Verhältnis setzen können. „Die Verquickung der moralischen Dimension des ‚Wahr‘-Sprechens mit der sinnlichen Dimension des Vertrauenschaffens macht die Figur der Parrhesia zu einer besonders wichtigen Sprechweise des Theaters. Die Wirkung der Parrhesia vereinigt die vier Möglichkeiten des Sprechens (Hervorrufen, Handeln, Formalisieren, Moderieren) und übersteigt sie zugleich in ihrer Dimension.“17

Michel Foucault beschreibt die Parrhesia als freimütiges Sprechen. Parrhesia heißt, alles sagen, ohne Verheimlichung oder Zurückhaltung, ohne rhetorische Stilmittel, einfach die Wahrheit sagen – Wahrsprechen. Wer Parrhesia spricht, macht die Wahrheit, die er ausspricht, als seine Wahrheit kenntlich und setzt dadurch die Beziehung zum Hörer aufs Spiel. Es ist riskant, andere zu provozieren und sie zum Handeln zu zwingen. Parrhesia ist „Wahrheit mit dem Risiko der Gewalterfahrung“.18 Das setzt Mut auf beiden Seiten voraus. Denn die Parrhesia gilt nur, wenn die Hörer ihre Bedingungen akzeptieren. Sie erkennen den Mut der Sprecher an, indem sie denen, die das Risiko eingehen, Gehör schenken. Sie nehmen in Kauf, dass die Wahrheit gesagt wird und dadurch eine Freundschaft oder sogar das eigene Leben zu verlieren. In der Parrhesia gibt es eine zwingende Verbindung zwischen den Sprechern und dem Gegenstand ihrer Rede. In der Rhetorik besteht die zwingende Verbindung zwischen dem Gegenstand der Rede und den Hörern, die überredet oder überzeugt werden sollen durch geschickt gesetzte Argumente. Die Parrhesia lockert die Verbindung zwischen Sprechern und Hörern durch das Risiko, die Beziehung zu zerstören. Welch ein wunderbarer Widerspruch! Wir sprechen, weil wir eine Beziehung wollen, und wir setzen Wahrheit sprechend die Beziehung um der Wahrheit willen aufs Spiel. Für Dieter Mersch beruht die Parrhesia weniger auf einem Wahrheitsanspruch als auf dem Ethos der Selbstbezeugung. Gemeint ist „die Art des Auftretens, der Selbstsetzung, womit die Rede sich aus den Fesseln und Würgegriffen bestehender diskursiver Praktiken löst, ihre eigenen Akzente setzt und damit erst Beziehung herstellt. […] Die stimmliche Präsenz kommt dieser Selbstsetzung gleich, die sich aufgrund der Kraft der Aussetzung in ein Verhältnis zum Anderen setzt und sich zu verantworten weiß. Buchstäblich fordert sie, vermöge körperlicher Präsenz, zur Antwort heraus. Die Parrhesia ist diese Art der Ver-Antwortung in der Rede, die auf unmittelbare Weise durch den Körper der Stimme ausgetragen wird“.19 Mit der Stimme behaupten Sprecher ihre Position im Dialog. Sie beziehen Stellung, indem sie körperlich zu ihren Worten stehen. So Sprechende behaupten ihren Platz im sozialen Geschehen und übernehmen Verantwortung für ihre Äußerungen. Auf diese Weise setzen sie sich anderen aus, und diese Aussetzung ist eine körperliche. Übertragen wir die Idee der Parrhesia auf die sprecherzieherische Arbeit mit Schauspielstudierenden, ergibt sich ein anzustrebendes Verhalten, das unverstellt und deshalb einsehbar ist, das etwas Bekennerisches und Inniges enthält. Die Sprecher sind sich des Widerstandes bewusst, der von anderen ausgeht. Sie nehmen einen erkennbaren Standpunkt zum Gegenstand ihrer Rede, zu den Kommunikationspartnern und zur Situation ein. Sie wenden sich, indem sie die Stimme erheben, anderen körperlich offen zu und fordern Antwort im Sinne eines „hier stehe ich und kann nicht anders“. Wir können uns dieser Äußerungsform nachahmend annähern und lernen dabei, unser Denken und Empfinden mit Körper, Atem, Stimme und Sprechweise glaubhaft zu verbinden.

Sprechen im digitalen Zeitalter

Parrhesia können wir uns ausgehend vom Kommunikationsverhalten im digitalen Zeitalter fast nicht mehr vorstellen. Kommunikation scheint bezogen auf die immense Fülle an Informationen, auf die wir in immer kürzerer Zeit zugreifen können, auf Schlagwörter reduzierbar. Google erklärt uns die Welt und ist immer zur Hand. Wahrheit ist relativ geworden, Fakten haben ihre Alternativen. Die Wahrheit des einen muss noch lange nicht die Wahrheit der anderen sein. Mit dem Standpunkt des Betrachters wechselt auch die Wahrheit, die nur noch eine gefühlte ist. Aber auch den Gefühlen kann man nicht mehr trauen, wenn sie im zunehmenden Kommunizieren via Smartphone lediglich als Emoticons daherkommen. Es wird zunehmend mittelbar kommuniziert. Komplexe, sich rasant entwickelnde, aber leicht bedienbare Technik schiebt sich zwischen die Körper, die für die Kommunikation scheinbar nicht mehr gebraucht werden. Talking Heads plappern sich körperlos durch den Äther und informieren die Welt via Facebook und Twitter, WhatsApp, WeChat und Instagram über jede Belanglosigkeit ihres persönlichen Lebens. Der körperliche Aufwand, der betrieben werden muss, um zu kommunizieren, verringert sich, während sich die Möglichkeiten zu kommunizieren erweitern. Der Sprachwissenschaftler Peter Schlobinski spricht von der zweiten Gutenberg-Revolution, die wir gerade erleben. Die Erfindung des modernen Buchdrucks durch Johannes Gutenberg um das Jahr 1450 revolutionierte die Welt der Wissenschaft und das gesellschaftliche Leben des Abendlandes. Hatten im Mittelalter nur einige wenige Gelehrte und Geistliche Zugriff auf wertvolles, mühevoll per Hand abgeschriebenes Wissen, so wurde das Buch im 18. Jahrhundert für breite Bevölkerungsschichten zugänglich. Die Alphabetisierungsrate stieg, die Auflagen schossen in die Höhe. Das Buch begann seinen Siegeslauf um die Welt und veränderte sie. Seit die Sumerer und Ägypter vor etwa 5000 Jahren die Schrift erfunden und Kommunikation unabhängig vom Gedächtnis und der räumlichen und zeitlichen Anwesenheit der Kommunikationspartner gemacht hatten, schien die Menschheit auf Johannes Gensfleisch genannt Gutenberg aus Mainz gewartet zu haben. Er hat die Voraussetzung geschaffen, das Buch zu einem Massenprodukt zu machen: „Die Erfindung des modernen Buchdrucks erhöhte die Reichweite und Frequenz der schriftsprachlichen Distanzkommunikation mit entsprechenden Auswirkungen auf Sprach- und Kommunikationsgemeinschaften.“20 Die Wahrnehmung und das Denken veränderten sich. Dem Hinsehen kam nun eine weit größere Bedeutung zu als dem Zuhören. Die Vorstellung von zyklischen Zeitabläufen musste in räumlich lineare Vorstellungen transformiert werden. Auf der Grundlage oraler Kommunikationstraditionen bildeten sich literale Gesellschaftsmodelle heraus, aus denen die deutsche Standardsprache hervorging. Diese Entwicklung vollzog sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund des aufblühenden Handels. Die deutsche Standardsprache bekam eine Verbindlichkeit im öffentlichen Raum und beeinflusste damit auch zunehmend die gesprochene Sprache, für die entsprechende Aussprachestandards entwickelt wurden. Den zwei großen Medienrevolutionen – Erfindung der Schrift und Erfindung des Buchdrucks – folgten im Laufe der Jahrhunderte weitere. Im 19. Jahrhundert wurden das Telefon, die Fotografie und die Kinematografie entwickelt, später die Verbindung von Bild und Wort im Tonfilm. Das Fernsehen ließ die Distanzen zwischen Sprecher und Hörer gefühlt weiter schrumpfen. Wer hätte gedacht, dass das, was die Menschen der Babyboomer-Generation in Science-Fiction-Serien ihrer Kindheit als unmöglich belächelt hatten, noch zu ihren Lebzeiten Wirklichkeit werden würde? Der Wunsch nach schnellem und von Zeit und Raum unabhängigem Zugang zu Informationen bestimmt unser Zeitalter in gleichem Maße wie zu allen Zeiten. Dass die technischen Möglichkeiten heute diese Rasanz haben, scheint Segen und Fluch zugleich zu sein. Elektronische Publikationen sind per Knopfdruck erreichbar und unabhängig von Fernleihgebühren und Bibliotheksöffnungszeiten. Kaum ein Studiengang kommt ohne E-Learning aus. Neue Kommunikationsformen haben sich entwickelt und mit ihnen eine neue Sprache. Wir chatten, wir mailen, wir simsen und twittern. Wie verändert das unsere Wahrnehmung, auf welche Weise organisiert sich unsere Kommunikation, unsere Sprache und unser Denken neu? Geht die Vorherrschaft des Alphabets nach 3000 Jahren ihrem Ende entgegen? Wenn das Medium die Botschaft und die Welt ein globales Dorf ist, wie es der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan in den 1960er Jahren prophetisch postulierte, mit welchen Entwicklungen haben wir es in der Gegenwart zu tun, und was erwartet uns in der Zukunft?21 Der Schriftsteller Klaus Theweleit fragt, ob die alten Alphabetisten die neuen Analphabeten sind. Verändern die digitalen Medien unsere Hirnstrukturen? Ticken die Digital Natives anders als die analogen? Wissenschaftliche Beweise finden sich dafür nicht, gleichwohl gibt es Beobachtungen. Theweleit bemerkt bei der heranwachsenden Generation eine Abneigung gegen das Lesen, die er darauf zurückführt, dass junge Leser nicht mehr in der Lage sind, „die Augen auszurichten auf den handschriftlichen oder gedruckten Zeilenfall einer Buchseite oder eines Blattes Papier. Man kann bei Schülern beobachten, dass sie, wenn sie einen Aufsatz schreiben sollen, es mit der Hand nicht hinbekommen, aber am Laptop“.22 Dass die Lesefähigkeit der Studierenden, die ich unterrichte, zunehmend abnimmt, kann ich bestätigen. Bisher habe ich es damit zu begründen versucht, dass die moderne, digitale Welt so viel mehr und immer wieder neue Unterhaltungsmöglichkeiten bietet, als es das Lesen vermag. Darin ungeübten Studierenden fällt das Prima-Vista-Lesen tatsächlich schwer. Sie erfassen mit dem Auge immer nur einzelne Worte und Wortgruppen und können Sinnzusammenhänge lediglich in einfachen Sätzen mühelos erschließen. Lange Gedankenbögen zu verfolgen, bereitet ihnen Schwierigkeiten. Sie verstehen komplizierte Texte nur langsam und sind schnell frustriert. Ich werde immer wieder gefragt, zu welchem Zeitpunkt der Ausbildung ich an welchen Texten arbeite. Die Antwort ist simpel: immer vom einfachen Text zum schweren. Was aber einfach und was schwer ist, muss aufgrund der aktuellen Möglichkeiten jedes einzelnen Studierenden entschieden werden. Es ist nicht schwer, Schauspielstudierende für Texte zu begeistern. Technische Lesedefizite lassen sich durch Übungen aus der Leselehre ausgleichen.

Um die Fülle an neuen Informationen, die die Welt zu bieten hat, zu verarbeiten, steht uns nur begrenzt Zeit zur Verfügung. In immer kürzerer Zeit müssen immer mehr Informationen verarbeitet werden. Der Anspruch – immer mehr in immer weniger Zeit – verdichtet Information hin zu Schlagzeilen, Spotlights, Videoclips, SMS, MMS usw. Ich bemerke, dass ich mich sehr konzentrieren muss, um schnell geschnittenen Filmen aufmerksam zu folgen, während sich junge Menschen bei langen Kameraeinstellungen schnell zu langweilen scheinen. Die Beobachtung, dass es Studierenden zunehmend schwerer fällt, einen Bogen zu denken, ihn zu sprechen oder zu spielen, teile ich mit vielen meiner Kollegen. Handelt es sich aber tatsächlich um eine andere Sinneswahrnehmung aufgrund veränderter Konventionen? Oder ist die heranwachsende Generation einfach an anderen Dingen interessiert? Dass wir es nur mit einem Generationsproblem zu tun haben, kann ich noch nicht ganz glauben. Theweleit hat weiterhin beobachtet, dass Schülern das Denken in zeitgeschichtlichen Abläufen abhandenkommt. Er spricht vom Untergang des Geschichtsdenkens. Geschichte als linearer Zeitverlauf im Sinne eines Nacheinander kann schwerer erfasst werden als die Gleichzeitigkeit des Jetzt und Heute und die ständige Verfügbarkeit von Informationen zu Themen aus aller Zeit und aus jedem Raum. Dass wir Zeit und Raum in der gesprochenen Sprache abbilden können, indem wir die Vokale dehnen und damit deutlich machen, dass wir noch einenw e i t e n W e gvor uns haben, scheint paradox, da wir doch jederzeit mal schnell nach New York jetten oder uns via Skype verbinden können.

Was Theweleit für den neuen Umgang mit Geschichte, Raum und Zeit beschreibt, betrifft auch die Zuordnung literarischer Texte. Sie können in der Suchmaschine isoliert von den Kontexten, in denen sie stehen, aufgerufen werden. Relevante Informationen, die sich aus dem historischen Gesamtzusammenhang eines Stückes oder Werkes ergeben, bleiben dadurch unberücksichtigt. Wohin werden uns die Entwicklungen der digitalen Welt führen?

Schlobinski entwirft Zukunftsszenarien, die deutlich machen, auf welche Kontexte wir uns einstellen können. „Szenario 3. Sie befinden sich in Tokio, verloren im Reich der Zeichen. Sie setzen eine Brille auf, die Informationen mithilfe eines Mikrochips direkt auf die Netzhaut projizieren kann. Sie fokussieren auf die japanischen Zeichen im 8. Stock des gegenüberliegenden Gebäudes und erhalten auf Englisch die Information, dass sich dort ein Internetcafé befindet. Ein Blick auf ein ikonisches Zeichen zeigt Ihnen Bilder aus dem Café sowie eine Preisliste. Eine solche Anwendung gibt es noch nicht. Aber: An entsprechenden Datenbrillen wird seit 1968 gearbeitet – und dies mit Erfolg. Mittlerweile haben Forscher eine Kontaktlinse entwickelt, die als Netzhautbildschirm fungiert. Zwar noch unscharf können so Bilddaten direkt ins Auge übertragen werden […]“.23

Schlobinski beschwört ein integriertes, allumfassendes Kommunikationssystem, das Sprache und Kommunikation globalisiert und das er Unimedium nennt. Er geht davon aus, dass Sprache sich verändern wird, spricht sich aber gegen einen sogenannten Sprachverfall aus, der den neuen Entwicklungen vielfach unterstellt wird. Er glaubt, dass die Nutzer digitaler Medien sehr genau zu unterscheiden wissen, in welchem Medium es angemessen ist, Sprache auf ein Mindestmaß zu verkürzen. Bei 280 zur Verfügung stehenden Zeichen müssen sprachliche Formen optimiert werden. Außerdem gebe es im Netz auch ganz andere Formen der sprachlichen Entäußerung, finden wir im digitalen Raum sehr unterschiedliche Kommunikationsformen und Textwelten. Für ihn ist die digitale Welt sprachlich ebenso bunt wie die reale.

An jedem Tag des Jahres 2016 wurden weltweit sechs Milliarden Emojis verschickt, lässt uns der Journalist Adrian Lobe wissen.24 Emojis sind Bildschriftzeichen, die im SMS- und Chat-Verkehr längere Begriffe ersetzen. Sie sind universell und weltweit zu verstehen. Wir können damit Pizza bestellen und Politiker unterstützen. Es bleibt zu hoffen, dass die Entwicklung zurück zur Bildersprache eine vorübergehende, spielerische Erscheinung ist. Lobe bezieht sich in seinem Artikel auf den Journalisten Joe Weisenthal, der sozialen Netzwerken eine Ähnlichkeit mit präschriftlichen, mündlichen Welten zuschreibt. Tweets hätten den Charakter einer Mundpropaganda. Sie folgen den Gesetzen gesprochener Alltagssprache, unterliegen aber auch den Gefahren der stillen Post. Werden aus diesem Grunde so viele Fotos und Videos gepostet, um das sinnliche Defizit, das beim mittelbaren Kommunizieren entsteht, auszugleichen?

Bleibt die Frage, wohin sich Sprache entwickeln wird. Die Szenarien klingen nach psychischer Über- und physischer Unterforderung. Wie sehen die physischen Herausforderungen des Kommunizierens aus? Wie viel Körper wird dafür überhaupt noch gebraucht? Und welche Auswirkungen hat das auf die Ausbildung von Schauspielstudierenden? Deren körperliche Voraussetzungen waren und sind immer individuell und unterschiedlich. Gemeinsam stehen sie vor der Herausforderung, das Sprechen vom Kopf in den Körper zu bekommen und es, wenn es endlich angekommen ist, dort zu lassen. Denn der Gedanke, kaum im Kopf geboren, verlässt diesen oft auf kürzestem Weg, ohne den mühevollen Umweg über den Körper zu nehmen, als eine „hysterische Idee, die den Körper als melancholische Verlustmasse hinter sich her schleift“.25

Wie uns Konventionen beeinflussen und der Kopf den Körper kontrolliert

Wenn sich der Körper im Sprechen nur bedingt abbildet, bleiben die Äußerungen unverbindlich. Wir haben es nur mit den Gedanken, aber nicht mit der Kraft ihrer Eroberung und Durchsetzung zu tun. Wie sollen Gedanken im Sprechen verkörpert werden, wenn das Denken den Körper nicht ergreift? Das akustische Phänomen dieses Sprechverhaltens besteht in geringer Körperresonanz, wenig Klang und fehlender Durchlässigkeit. Wir können mit den Ohren wenig sehen. Der Informationsaustausch findet hauptsächlich auf der Symbolebene statt, um bei Bühlers Kategorisierung zu bleiben. Die Sprecher bleiben hinter den geäußerten Gedanken zurück. Sie übernehmen keine Verantwortung für ihre Worte. Sie verhalten sich nach dem Motto: Wer mit unseren Gedanken rechnet, muss noch lange nicht mit unseren Körpern rechnen. Auch in der Sprechweise findet sich eine Tendenz zum Unverbindlichen. Der Duktus der Aufzählung, landläufig als Leiern bekannt, signalisiert, dass sich die Sprecher nicht festlegen wollen. Den Gedanken, die sie entäußern, verleihen sie keine Schwere. Alles klingt ähnlich, Wichtiges wird von Unwichtigem nicht getrennt. Die Worte haben kein Gewicht, wie die Sprecher keinen Standpunkt haben. Die Körper sind nicht im Spiel.

Das von Paul Warren für den amerikanischen und englischen Sprachraum beschriebene und in anderen Sprachen häufig zu vernehmende Phänomen des Uptalk sei in diesem Zusammenhang erwähnt. Dabei heben Sprecher die Intonationskurve am Ende von Aussagesätzen an, als würden sie eine Frage stellen. Diese Sprechweise entwickelte sich aus einem Soziolekt, der auch als Valley Girl Speech bezeichnet wird und der in den 1970er Jahren in Kalifornien aufkam.26